Da, wo ich nie war - Claudia Reinhardt - E-Book

Da, wo ich nie war E-Book

Claudia Reinhardt

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Beschreibung

Ein Roman über Herkunft, Freundschaft und das Abschiednehmen Alex lebt mit ihrem Freund Børre in Berlin, sie ist Künstlerin und arbeitet zum Broterwerb in einem Behindertenheim. Nach vielen Jahren ohne Kontakt zu ihrem Jugendfreund Tom, erhält sie die Nachricht, dass er an Krebs erkrankt ist. Erinnerungen an ihre gemeinsame Jugend in der Kleinstadt und den Kampf um die eigene Identität, den sie zusammen kämpften, werden wieder wach. Um Tom noch einmal zu sehen, reist Alex nach Hamburg. Dort stirbt er in einem Hospiz. Jetzt ist er da, wo ich nie war, denkt Alex und erkennt, wie wichtig Tom in ihrem Leben war. Toms Mutter Roswitha fällt in eine tiefe Trauer. Alex unterstützt sie und kommt ihr dadurch näher. Doch als Roswithas Katze eingeschläfert werden muss, verliert sie allen Lebensmut und zieht sich vollends zurück. Nun sind die wichtigsten Zeugen von Alex' Herkunft, die, die ihr Leben prägten, verschwunden. Der Prozess des Gedenkens beginnt.

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Seitenzahl: 170

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Die Autorin

Claudia Reinhardt wurde 1964 in Viernheim, Südhessen, geboren und wuchs dort auf. Nach dem Abitur zog sie nach Berlin. In Hamburg absolvierte sie ein Studium an der Kunsthochschule. Nach dem Studium verbrachte sie mit Hilfe eines DAAD Stipendiums ein Jahr in den USA. Von 2000 bis 2012 war sie Professorin für Fotografie an der Kunst- und Designhochschule Bergen, Norwegen. Bisher sind vier Monografien von Reinhardts Fotoarbeiten erschienen. Killing Me Softly - Todesarten, Aviva, Berlin, 2004, No Place Like Home, Verbrecher Verlag, Berlin 2005, Tomb of Love-Grabkammer der Liebe, Verbrecher Verlag, Berlin 2016, Witwen/Widows,The Green Box Verlag, Berlin 2020. Zur Zeit lebt und arbeitet sie als bildende Künstlerin, Fotografin und Autorin in Berlin. Das vorliegende Buch ist ihr Debütroman.

...

Just remember in the winter

Far beneath the bitter snows

Lies the seed that with the sun’s love

In the spring becomes the rose.

Bette Midler „The rose“

written by Amanda McBroom

Für Peter 27.04.1962 - 25.02.2013

in Erinnerung

Inhaltsverzeichnis

ALEX

Kapitel 01

Kapitel 02

Kapitel 03

Kapitel 04

Kapitel 05

TOM

Kapitel 01

Kapitel 02

Kapitel 03

Kapitel 04

Kapitel 05

Kapitel 06

FREUNDE

Kapitel 01

Kapitel 02

Kapitel 03

Kapitel 04

Kapitel 05

Kapitel 06

Kapitel 07

Kapitel 08

ROSWITHA

Kapitel 01

Kapitel 02

Kapitel 03

Kapitel 04

Kapitel 05

Kapitel 06

ALEX

01

Mir ist, als seien die heißen Sommertage nie gewesen. Schon färben sich die ersten Blätter. Das Laub strahlt gelb und rot und fällt. Bald weiß ich nicht mehr, wie der Sommer sich anfühlt.

Auf der Arbeit im Behindertenheim ist wieder jemand ausgefallen. Seit Monaten ist die Sozialstation unterbesetzt und sie finden keinen Ersatz, der länger als ein paar Wochen bleiben will.

Der Bus hält an der Endstation, die letzten Meter gehe ich zu Fuß durch den Wald. Die kranken Fichtenbäume erinnern mich an das Waldschwimmbad aus meiner Kindheit. In den langen Sommerferien waren wir jeden Tag dort, bekamen eine Dauerkarte und ein paar Brote eingepackt, die ganz weich wurden und trotzdem herrlich schmeckten nach dem Baden. Ich kann das Chlor riechen und spüre die Sonne auf meiner Haut. Dann erreiche ich das Neubaugebiet.

Die kleine Siedlung besteht aus zwanzig Häusern, in denen Behinderte wohnen. Alle Häuser sind identisch mit einem kleinen Vorgarten und nur einem Stockwerk. Schmale Wege führen von einer Wohneinheit zur anderen, alles ist rollstuhl- und behindertengerecht.

Endlich im Warmen, klopfe ich meine schweren Boots gründlich ab, bevor ich den Flur betrete.

„Guten Abend!“, begrüße ich meine Kollegin, „alles gut gelaufen?“

„Keine großen Vorkommnisse“, sagt sie und blickt kurz zu mir auf, während sie ihren Arbeitsbericht fertig schreibt. „Du musst Charlotte ein bisschen im Auge behalten, die hat heute viel Lärm gemacht. Du weißt ja.“ Sie legt den ausgefüllten Arbeitsplan in die Schublade und zieht Schuhe und Mantel an. „Und Gustav ist krank. Hat erhöhte Temperatur und wollte früh ins Bett. Morgen muss er nicht zur Arbeit, den kannst du ausschlafen lassen.“

Nachdem meine Kollegin gegangen ist, mache ich mir einen Kaffee und setze mich an den gedeckten Tisch. Hier gibt es nur Filterkaffee wie früher in meinem Elternhaus. Für mich hat der Duft etwas Heimeliges, und ich könnte noch lange so sitzen und dem Blubbern in der Kaffeemaschine lauschen.

Eine Weile verharre ich und betrachte die Zeichnung von Gustav, die mit Flecken und zerknitterten Ecken unter einem Teller liegt. Eine Sonne und bunte Blumen, die bis zum Himmel reichen, hat er mit Buntstiften über das ganze Blatt gekritzelt. Der Himmel ist mit kräftigen Strichen gemalt und die fettigen Farbpigmente lassen ihn glänzen wie einen blauen Spiegel. Ein Haus hat er neben einer grob gezeichneten Figur platziert, die weder Mann noch Frau ist. Sie hat einen gigantischen Kopf mit einem großen, roten Mund, groß wie das halbe Blatt Papier. Die dünnen Ärmchen hält die Figur weit von ihrem Körper ausgestreckt in die Höhe, als versuche sie zu fliegen. Die Lippen reichen von einem Ohr zum anderen.

Ich hefte das Blatt an die Kühlschranktür, die vollgeklebt ist mit den Werken, die tagtäglich von den Heimbewohnerinnen und -Bewohner produziert werden. Nie bringe ich es übers Herz, nur eines davon wegzuwerfen und habe zu Hause einen ganzen Stapel, den ich hüte wie einen Schatz.

Aus meiner Kindheit besitze ich kein einziges Bild von mir oder meinen Geschwistern. Es wurde alles weggeschmissen. Die vielen Kleider und Puppen, die meine Mutter für uns nähte, existieren nicht mehr. Sobald wir Kinder aus dem Haus waren, wurde alles entsorgt.

Ich räume das Geschirr in die Spülmaschine und fege den Fußboden. Als ich lautes Wimmern aus einem der Zimmer höre, gehe ich nachsehen. An jeder Tür bleibe ich stehen und lausche. Aus Herberts Zimmer höre ich ein Brummen und öffne vorsichtig die Tür. Halbnackt und mit rotem Kopf sitzt er auf dem Boden, um sich herum ein Wust zerrupfter Watte, und kaut auf seiner Windel. Ich nehme ihm den aufgeweichten Vlies aus dem Mund und ziehe die nasse Schlafanzughose herunter, die ihm um die Knie klebt. Als ich mich zu ihm beuge und ihm meine Hand reiche, wehrt er sich und hält sich an seinem entblößten Geschlechtsteil fest. Ich versuche es mit gutem Zureden. Verspreche ihm, dass er gleich wieder in sein Bett darf, wenn er eine neue Windel angezogen und ich sein Bett frisch bezogen habe. Aber er schreit und schlägt wie wild um sich, wenn ich ihn anfasse. Ich lasse ihn und kümmere mich um die anderen Bewohnerinnen und -Bewohner, die durch Herbert geweckt, im Flur hin und her flitzen und brüllen wie am Spieß. Eine gute Stunde brauche ich, bis endlich alle beruhigt sind, in ihren Betten liegen und Ruhe eingekehrt ist.

In der Zwischenzeit hat sich Herbert abreagiert und schläft wie ein Baby. Leise schließe ich die Tür und schleiche mich durch den langen Gang ins Wohnzimmer. Auf meinem Handy sehe ich, dass eine Nachricht hinterlassen wurde.

„Hallo Alex, hier ist Roswitha“, höre ich eine Stimme auf meiner Mailbox. „Tom ist im Krankenhaus.“

Dann ist es still in der Leitung bis auf ein schwaches Rauschen und ihr unterdrücktes Weinen. „Tom hat Krebs.“

Ich warte und halte die Luft an. Nach dem harten Räuspern klingt ihre Stimme gefasster, so als spräche eine andere Person. Sie nennt mir das Krankenhaus, in dem Tom untergebracht ist und wiederholt die Adresse, zweimal, zum Mitschreiben. „Ich wollte dich das wissen lassen, es ging alles so schnell“, sagt sie noch bevor sie mit einem kurzen Gruß auflegt. Ich muss die Nachricht ein paar Mal hören, um zu kapieren was los ist.

Roswitha.

02

Wenn alle schlafen, nutze ich die Zeit zum Lesen und wenn ich Glück habe, kann ich bis zum frühen Morgen die Ruhe auskosten. Das ist das Gute an diesem Job. Man lässt mich in Frieden. Ein passender Ausgleich zu meiner eigentlichen Arbeit als Künstlerin, wo ich mich permanent beweisen muss.

Heute aber fasse ich kein Buch mehr an. Roswithas Nachricht hat mich völlig durcheinander gebracht.

Draußen wird es Tag. Ich kann das Dröhnen von der nahen Stadtautobahn hören, wo sich der Berufsverkehr vom Norden in den südlichen Teil der Stadt schlängelt.

Ursula ist wie immer die erste, die wach wird und verschlafen zum Badezimmer tappst. Sie möchte morgens gerne alleine sein und ich lasse sie in Ruhe und schaue nur ab und zu nach, ob sie etwas braucht.

Ursula ist von Geburt an geh- und sprachbehindert. Ihre Hüfte ist so schwer deformiert, dass sie nicht ohne Gehhilfen laufen kann. In der Regel kann sie sich allein anziehen, wenn ich ihr die Kleidung aus dem Schrank hole und sie sorgfältig auf ihrem Sessel drapiere. Manchmal aber trödelt sie vor sich hin, sodass ich sie auffordern muss, sich zu beeilen, damit sie den Schulbus nicht verpasst, der um sieben kommt.

Ich kontrolliere, ob ich die Tassen und Teller richtig verteilt habe. Wenn etwas nicht stimmt, kann der ganze Ablauf ins Stocken geraten und völliges Chaos ausbrechen. Gustav bekommt Panik, wenn auf seinem Frühstücksgedeck Steffis Koalabär-Tasse steht statt sein Becher mit dem Kaiserpinguin-Pärchen. Es muss die Tasse mit dem abgeschlagenen Henkel sein, die ihm seine Oma zum Geburtstag geschenkt hat, und die Scheibe Brot mit Teewurst muss ich ihm in exakt vier gleich große Teile schneiden, damit er sie isst.

Es gibt eine lange Liste, auf der die Vorlieben aller Bewohnerinnen und -Bewohner vermerkt sind. Was Ursula morgens trinken will, warme Milch mit Honig, Kakao mit zwei gehäuften Esslöffeln Zucker für Herbert, Hagebuttentee ohne Zucker für Charlotte. Pfefferminztee und zwei Scheiben Toast möchte Ingrid haben, keinen Zucker für Gustav. Regina soll man jeden Morgen fragen, was sie essen und trinken möchte. Mal sind es Haferflocken und dann lieber Schwarzbrot.

Das strenge Einhalten dieser Wünsche bedeutet Geborgenheit und es rührt mich, dass es in dieser Sache keine Kompromisse gibt.

Ursula ist noch nicht fertig, als der Schulfahrdienst Punkt sieben kommt. Charlotte steht nackt in einer Ecke, will sich nicht duschen und rupft sich die Haare aus. Herbert hat in sein Zimmer gekackt und Kai ist erst gar nicht aufgestanden.

Resigniert lasse ich ihn schlafen und überlasse diese Aufgabe meiner Kollegin aus der nächsten Schicht.

Charlotte kann ich nach einer halben Stunde dazu bringen, sich anzuziehen und Herbert bleibt heute zu Hause.

Als ich im Bus sitze, höre ich nochmal Roswithas Nachricht ab. So ernst und verzweifelt habe ich sie noch nie sprechen hören.

Ich versuche mich abzulenken und an den blöden Fernsehfilm zu denken, den ich gestern Nacht gesehen habe. Wie ging der nochmal zu Ende? Haben sich die beiden versöhnt?

Die Frau, die Hauptprotagonistin, erinnerte mich an jemanden. Nach zwanzig Jahren verliebt sie sich wieder in ihre Jugendliebe. Sie kommt zurück und verzeiht ihm, dass er sie damals hänselte, weil sie pummelig war und eine Brille trug. Obwohl er sich überhaupt nicht verändert hat, sie aber vom Pummelchen zur Karrierefrau wurde, kommen sie nach anfänglichen Neckereien endlich zusammen und heiraten. Bis zum Schluss habe ich mir den Film angesehen.

Wenn ich nachts alleine fernsehe, berührt mich die dümmste Geschichte.

Schläfrig blicke ich durch das beschlagene Fenster auf die Straße. Um diese Zeit sind nicht viele Leute unterwegs. Schon gar nicht in dieser Gegend, in den Außenbezirken von Berlin.

Das sanfte Schaukeln und die warme Heizungsluft beruhigen mich. Als ich zum Busfahrer schaue, blickt er in den Rückspiegel und gähnt. An der Haltestelle stoppt er und eine Horde pubertierender Jungs stürmt herein. Lautstark streiten sie um die Sitzplätze. Immer wieder schlagen sie sich gegenseitig hart in die Rippen und in die Schöße und lachen dabei. Ich schiebe meine Füße weiter zu mir heran, kreuze die Hände über meine Brust, schließe die Augen und stelle mich tot.

Es ist halb neun, als ich zu Hause ankomme. Die Wohnung ist dunkel und riecht nach Kümmel, schwarzem Pfeffer und Majoran. Ich schalte das Licht an, ziehe den nassen Mantel aus und schleiche ins Schlafzimmer. Børre schläft. Er hält die Arme verschränkt über seine Brust und atmet ganz tief ein und aus wie ein Buddha.

Ich zerre mir meine Schuhe von den Füßen und werfe sie in die Ecke. Børre dreht sich um, öffnet kurz die Augen und schläft sofort wieder ein.

Die Slimfit-Jeans klebt mir an den kalten Schenkeln. Mit einem Bein schwanke ich über dem Fußboden und versuche mir die Hose abzustreifen. Das T-Shirt behalte ich an. Mir fröstelt bei dem Gedanken, nackt sein zu müssen. Hastig schlüpfe ich unter die Decke und schmiege mich an Børres haarigen Körper. Er riecht nach Bier und Zigaretten. Ich drehe mich um und lasse mich von seinen Beinen umklammern. Er umfasst meine Hüften. Sein Becken drückt an meine Pobacken und mir wird warm. Ganz nah an meinem Ohr höre ich Børres schneller werdenden Atem und fühle seine Hände auf meinen Brüsten. Sachte dreht er mich um und schiebt meine Beine auseinander. Er presst sich auf meinen Körper und fängt an mich zu küssen.

Ich schließe die Augen.

Mein Handy, das auf meinem Nachttisch liegt, vibriert lautlos. Auf dem Display sehe ich, dass Inger-Lise schon zweimal versucht hat, mich zu erreichen. Kurz überlege ich, ob ich sie zurück rufen soll. Wahrscheinlich will sie mir von ihrem Date berichten. Sie hat sich gestern Abend mit diesem Typen getroffen, den sie auf Tinder kennenlernte. Die Vorstellung, fremde Leute zu treffen, um Sex zu haben, stößt mich ab. Vielleicht hätte ich es vor zehn, fünfzehn Jahren interessant gefunden, jetzt aber ist mir die Vertrautheit, das immer Gleiche der Monogamie, ganz recht. Eine unkomplizierte Zärtlichkeit bestimmt heute meine Beziehung zu Børre. Wir berühren uns ständig. Flüchtig beim Vorbeigehen. Ganz unverhofft drückt er mich ganz fest an sich, einfach so, aus heiterem Himmel.

Morgens kommt er auf meine Bettseite und kuschelt sich an meinen Körper. Wenn es zu heiß wird unter der Decke, kriecht er, ohne mich zu wecken, aus dem Bett und geht in die Küche, um Kaffee zu kochen. Manchmal haben wir wochenlang keinen Sex miteinander und lachen nur darüber. Unsere Liebe verändert sich. Die stürmischen Begierden der ersten Jahre lassen nach, dafür kommen neue, unbekannte Gefühle hinzu, die nicht minder schön sind und vielleicht erst eine richtige Liebe ausmachen.

Das Gute am Älterwerden ist, denke ich und werde immer schläfriger, dass man nicht mehr alles erleben muss.

Ich drehe mich um und betrachte Børres Gesicht, das ganz dicht an meinem liegt. Dünne Nervenstränge zucken um sein linkes Auge, und die Mundwinkel sind leicht nach oben verzogen, als würde er von etwas Schönem träumen. Ich bemerke die zarten Falten um Mund und Augen, seine gebogenen Wimpern streifen das Kopfkissen. Lange betrachte ich ihn, bis er sich bewegt, etwas Zärtliches murmelt und seine Hand nach mir streckt.

03

Die Sonne sickert durch den verhangenen Himmel und wirft ein schwefelgelbes Licht auf die Tapete. Børre muss aufgestanden sein und hat das Haus verlassen, ohne dass ich ihn hörte.

Ich tappse in die Küche. Zigarettenrauch hängt in der Luft. Die Lampe über der Anrichte hat Børre wie immer vergessen, auszuschalten. Die angerauchte Zigarette ohne Filter, dick gedreht mit dünnem Blättchen, liegt im Aschenbecher neben der Espressotasse. Zu seinem Kaffee raucht Børre jeden Morgen eine halbe Zigarette. Wenn er ein oder zwei Züge gemacht hat, legt er sie auf den Aschenbecherrand und lässt sie ausgehen. Am Abend, wenn er zurück kommt, raucht er sie zu Ende oder lässt sie bis zum nächsten Morgen ungerührt liegen. Mich macht Nikotin zum Frühstück schwindelig und von starkem Kaffee bekomme ich Bauchschmerzen.

Auf dem Küchentisch liegt ein Zettel mit einer Zeichnung. Ein Strichmännchen hebt einen großen Pinsel und lacht. “Vi sees ikveld - puss & klem!”, hat er geschrieben und ein Herz dazu gemalt.

Die Burger vom gestrigen Abendessen hat Børre für mich aufgehoben und liebevoll mit Petersilie und Kirschtomaten dekoriert. Ich schiebe mir eine Tomate in den Mund und schließe die Kühlschranktür. Das heiße Wasser gieße ich in den Kaffee, weil er sonst zu stark ist und gehe zurück ins Bett.

Aus dem Treppenhaus höre ich ein nerviges Geschrei. Bestimmt ist es wieder das Nachbarskind, das von seinen Eltern drangsaliert wird, dieser Junge, der immer verstummt, wenn ich ihm auf der Treppe begegne.

An der grauen Brandmauer vor dem Fenster hängen dünne, verdorrte Äste Efeu vom vergangenen Sommer. Selbst im Winter klammern sich Schwärme von Vögeln wie Ertrinkende an die dürren Zweige und picken die letzten Samen mit ihren Schnäbeln auf. Mit viel Lärm streiten sie sich um jedes Korn.

Mein Handy klingelt. Es ist Børre.

„Guten Morgen älskling. Hab ich dich geweckt?“

„Nein, hast du nicht. Ich bin schon lange wach. Schön, dass du anrufst“, antworte ich und meine Stimme hört sich an wie die einer uralten Frau.

„Alles okay? Du klingst so komisch.“

Jetzt kann ich mich nicht mehr halten und fange laut zu weinen an.

„Hey, älskling. Was ist denn los?“

„Tom“, plärre ich in den Hörer. „Tom ist im Krankenhaus.“

Es bleibt lange ganz still in der Leitung. „Bist du noch da?“

„Ja, ja. Natürlich. Entschuldige aber das kommt so plötzlich. Ich weiß gar nicht was ich sagen soll. Ist es schlimm?“

„Krebs“, presse ich heraus.

„Oh, mein Gott. Das tut mir so leid älskling.“ Ich lege meinen Arm auf die Stirn und schließe die Augen. Bis auf mein Schluchzen und sein tiefes Atmen höre ich nichts. Alles schließt sich wie in einer luftdichten Kapsel. In meinem Kopf hämmert es, als würden kleine Lebewesen darin nisten. „Wusstest du, dass er krank ist?“. Ich antworte nicht und konzentriere mich auf das Pochen der kleinen Tierchen hinter meinen Stirnhöhlen. „Willst du nach Hamburg fahren und Tom besuchen? Vielleicht solltest du das älskling“, sagt er dann, ohne meine Antwort abzuwarten.

„Ja“, sage ich kaum hörbar und alles ist ganz hell, als ich die Augen wieder öffne.

„Willst du, dass ich mitkomme?“

„Das brauchst du nicht. Ich fahre, sobald ich mir von der Arbeit frei nehmen kann“, höre ich mich sagen und sehe vor dem Fenster gerade noch eine Gruppe Mauersegler vorbei fliegen und hinter dem Kirchturm verschwinden.

„Gut. Mach das, wie du es für richtig hältst“, sagt er und fragt ein paarmal, ob er noch etwas für mich tun kann und ich schüttele nur mit dem Kopf. „Und wie lange willst du bleiben?“

„Ich weiß nicht. Ich nehme ein Hotel. Ich finde bestimmt etwas Billiges.“ Jetzt die Nacht zu erwähnen, in der wir damals in Hamburg auf St. George landeten, kommt mir unpassend vor und ich sage nicht, dass ich an diese romantische Reise denke, als Børre mich zum ersten Mal auf eine meiner Vernissagen in einer anderen Stadt begleitete.

An diesem Abend, beim Essen in einem sündhaft teuren Restaurant, zu dem uns der Museumsdirektor einlud, lernten sich Børre und Tom kennen. Sie mochten sich auf Anhieb, lästerten über die versnobten Leute, die mit an unserem Tisch saßen und tranken zusammen Wodka bis zum frühen Morgen.

„Tom hat einen guten Humor“, sagte Børre auf dem Nachhauseweg und wiederholte amüsiert Toms bissige Kommentare zu dem Sammlerehepaar aus Südamerika. „Er nimmt kein Blatt vor den Mund. So schlagfertig wie er diese Neureichen angemacht hat, das war großartig. Hast du gesehen, wie eingeschüchtert die von ihm waren?“ Er lachte, nahm meine Hand und schüttelte immer wieder anerkennend mit dem Kopf. Mich machte es stolz und ich war glücklich, dass sich die beiden so gut verstanden.

Als wir zurück ins Hotel kamen, sahen wir Frauen in kurzen Kleidern und hohen Stiefeln am Eingang stehen und auf Kundschaft warten. Mir war der kräftige Geruch nach Desinfektionsmittel schon beim Einchecken aufgefallen und ich war sicher, dass wir in einem Bordell gestrandet waren. Schnell, ohne etwas zu sagen, gingen wir an ihnen vorbei auf unser schäbiges Zimmer und Børre schlief sofort ein. Auf den Fluren wurden ununterbrochen Türen auf und zu geschlagen, ich hörte Männer laut reden und Frauen schimpfen und stöhnen. In dieser Nacht wurde mir klar, dass Tom und Børre die wichtigsten Menschen in meinem Leben sind, egal was kommen mochte.

„Weißt du was, ich habe heute nicht viel zu tun im Atelier. Ich hole uns etwas von der französischen Konditorei und bin in einer Stunde zu Hause.“

„Das ist wirklich lieb von dir“, sage ich und denke an die vielen Kalorien.

„Gut! Dann bleibe wo du bist. Ich bin gleich da.“ Wir legen auf und ich zwinge mich aus dem Bett, denn wenn er kommt, will ich ihn nicht mit verheultem Gesicht und ungeputzten Zähnen empfangen.

In der Küche mache ich mir noch einen Kaffee und checke meine Mails. Wie immer gibt es mindestens zwanzig Eingänge, die mir etwas verkaufen wollen, was ich nicht brauche, oder um meine Unterschrift bitten für dringende Projekte, weit entfernt von meiner Welt. Ich markiere die Werbung und die Spendenaufrufe und werfe sie gesammelt in den virtuellen Papierkorb. Kurz fühle ich mich unwohl bei dem Gedanken, wie mühelos ich Elend und fremde Not beiseite schieben und ignorieren kann.

Ein paar Einladungen für Ausstellungseröffnungen werfe ich ebenfalls ungelesen weg.

04

Den Rest Mandelsplittertorte packe ich auf einen Porzellanteller. Die Macarons haben wir gestern alle aufgegessen, weil die, laut Børre, nur frisch gut schmecken. Zum Sekt passt ein Stück Kuchen ganz gut, denke ich und schiebe die bunte Serviette, die von der Geburtstagsfeier im Heim noch übrig war, unter das Tortenstückchen, so dass nur noch das “Happy“ von “Happy Birthday” zu lesen ist.

Es gibt etwas zu feiern. Børre hat das Aufenthaltsstipendium in Dale bekommen und wird für drei Monate in Norwegen sein.