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Wie gelingen der Umgang und die Begleitung von Menschen mit herausforderndem und »schwierigem« Verhalten? Scheitert die Unterstützung an den Ansprüchen und Vorurteilen der Helfenden oder an institutionellen Grenzen und unzumutbaren gesellschaftlichen Verhältnissen? Welche neuen und alternativen Wege und Ideen braucht es, um ungewohnte Situationen zu meistern? Die Autor*innen des Buchs versammeln viele Fallgeschichten und komplexe Praxisbeispiele, um mögliche Wege aufzuzeigen. Über die Praxis hinaus weisen sozialpolitische Denkanstöße und Grundsatzhaltungen, die persönliches, aber auch gesellschaftliches Umdenken ermöglichen.
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Seitenzahl: 184
Veröffentlichungsjahr: 2025
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PraxisWissen
Klaus Obert, Kerstin Folgner,
Claudia Reinhardt
Sozialpsychiatrische Begleitung von Menschen in prekären Lebenslagen
Klaus Obert, Dr. rer. soc., ist Diplom-Sozialpädagoge und war von 1982 bis zu seiner Berentung in Stuttgart im Auf- und Ausbau Sozialpsychiatrischer Dienste sowie weiterer Bausteine des gemeindepsychiatrischen Verbunds und deren Koordination tätig. Stellvertretender Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft Gemeindepsychiatrischer Verbünde und Gründungsmitglieddes Bundesweiten Netzwerks Sozialpsychiatrischer Dienste.
Kerstin Folgner ist Diplom-Pädagogin. Bevor sie als Referentin für Sozialpsychiatrie an die Akademie für Öffentliches Gesundheitswesen ging, arbeitete sie fast zwanzig Jahre beim Landkreis Oder-Spree. Die meiste Zeit davon im Sozialpsychiatrischen Dienst.
Claudia Reinhardt, Diplom-Sozialarbeiterin, ist Fachdienstleiterin des Gemeindepsychiatrischen Zentrums Stuttgart Bad Cannstatt (Caritas).
Weitere AutorenMatthias Albers, Dr. med., ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, leitet die Abteilung Soziale Psychiatrie des Gesundheitsamts der Stadt Köln und ist Sprecher des Bundesweiten Netzwerks Sozialpsychiatrischer Dienste.Detlev E. Gagel, Dr. med., Dipl.-Psych., ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Öffentliches Gesundheitswesen, Psychologischer Psychotherapeut. 1999–2022 Leitung Sozialpsychiatrischer Dienst, Gründungsmitglied des Bundesweiten Netzwerks der Sozialpsychiatrischen Dienste.Klaus Petzold ist Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Er leitete von 1996 bis 2022 den Sozialpsychiatrischen Dienst des Kreises Ostholstein und ist Gründungsmitglied des Bundesweiten Netzwerks der Sozialpsychiatrischen Dienste.
Wirbedanken uns bei Dagmar Starke von der Akademie für Öffentliches Gesundheitswesen (AÖGW), die das Projekt mit Technik, Raum und Zeit förderte.Wir danken Frau Prof. Dr. Minou Banafsche für die kritische Durchsicht des Textes und für wichtige und relevante Differenzierungen im Rechtsteil.
Die Reihe PraxisWissen wird herausgegeben von:
Michaela Amering, Andreas Bechdolf, Karsten Giertz, Caroline Gurtner, Klaus Obert, Tobias Teismann und Maike Wagenaar
Klaus Obert, Kerstin Folgner, Claudia Reinhardt
Sozialpsychiatrische Begleitung von Menschen in prekären Lebenslagen
PraxisWissen 19
1. Auflage 2025 ISBN: 978-3-96605-313-6
ISBN E-Book (PDF): 978-3-96605-320-4
ISBN E-Book (EPUB): 978-3-96605-321-1
Weitere Bücher zu psychiatrischen Störungen finden Sie im Internet:
www.psychiatrie-verlag.de
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http://dnb.d-db.de abrufbar.
© Psychiatrie Verlag GmbH, Köln 2025
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf ohne Zustimmung des Verlages vervielfältigt, digitalisiert oder verbreitet werden.
Lektorat: Uwe Britten, Eisenach
Umschlagkonzeption und -gestaltung: studio goe, Düsseldorf
Umschlagabbildung: New Africa / stock.adobe.com
Typografiekonzeption: Iga Bielejec, Nierstein
Typografie und Satz: Barbara Hoffmann, Leipzig
Druck und Bindung: Plump Druck & Medien, Rheinbreitbach
Schwer zu erreichen – Einführung
In diesem Buch geht es um eine besondere, eine wichtige, aber insgesamt doch noch nicht genügend in den Vordergrund gerückte Thematik. Im Zentrum steht jener Personenkreis, für den in erster Linie, aber nicht ausschließlich die Sozialpsychiatrischen Dienste (SpDi) zuständig sind. Es geht um Menschen, die in neuerer Zeit als »hard to reach« charakterisiert werden. Diese Zuständigkeit, Verantwortung und Bedeutung resultieren sowohl aus den festgelegten Aufgaben und Funktionen als auch aus ethisch-moralischen und fachpolitischen Gründen. Die Verantwortung für diese Menschen kann nicht abgegeben werden, auch wenn nicht selten mit einem neoliberal gefärbten Bezug auf Selbstbestimmung und Autonomie versucht wird, sich dieser Verantwortung zu entledigen.
Es handelt sich aber nicht um ein Buch über Sozialpsychiatrische Dienste, sehr wohl aber über die Anfragen an diese Dienste und über deren Vorgehen. Einerseits stellen die Anfragen an den SpDi eine Besonderheit dar, andererseits sind die beschriebenen Fallkonstellationen und die daraus abgeleiteten und verallgemeinerten Handlungsempfehlungen ebenso für die weitergehenden sozialpsychiatrischen Hilfen gültig. Die in den Fallbeispielen des Buches auftauchenden Dynamiken, Merkmale, Abläufe, Strukturen, An- und Herausforderungen finden sich in allen sozialpsychiatrischen Hilfen wieder. Schließlich werden viele dieser Personen, für die bei den Sozialpsychiatrischen Diensten angefragt wird, sofern die Kontaktaufnahme schließlich gelingt und eine tragfähige Beziehung aufgebaut wird, in weiterführende Hilfen vermittelt. Daneben finden sich Fallkonstellationen, für die es notwendig ist, alle erdenklichen Ideen zur Verbesserung der Lage auszuprobieren, um überhaupt einen Zugang zu erreichen.
Im Folgenden wird die Arbeit mit diesem Personenkreis hinsichtlich der Anforderungen an das tägliche methodische Handeln mit jeweiligen Handlungsregeln und -orientierungen erörtert. Die Grundlage dafür stellen Beispiele psychisch erkrankter Menschen dar, die mit besonderem Aufwand, mit Geduld, hoher Verantwortung, solider Kompetenz sowie mit intensiver Teamarbeit und Kooperation einhergehen – und auch nicht immer »gut ausgehen«.
Bei diesem Personenkreis handelt es sich um Menschen mit einem komplexen Hilfebedarf. Sie entziehen sich häufig der Beratung, Betreuung, Begleitung und Behandlung oder sind zumindest nur schwer dazu in der Lage und brauchen lange, um Hilfe und Unterstützung anzunehmen. Es sind Menschen, die aus unserer Sicht objektiv und subjektiv leiden, die sich langsamer oder schneller auf den sozialen und individuellen Abgrund zubewegen, und zwar auf Situationen zu, die nicht selten mit Suizidversuchen einhergehen oder gar mit vollendeten Suiziden; Menschen, mit denen sich die Umgebung schwertut, die das Umfeld »manchmal fast zum Verzweifeln« und zum Mitleiden bringen, die nicht selten sich und andere gefährden, mal akut, mal weniger akut.
Es handelt sich um Menschen, die aus unserer Sicht nicht sich selbst überlassen werden dürfen, genauso wie wir die Umgebung mit ihnen nicht allein lassen sollten. Die Arbeit in diesem Feld erfordert eine ständige Auseinandersetzung im Spannungsfeld zwischen Autonomie und Fürsorge, wobei es immer darum geht, die Würde der Menschen, die als hilfebedürftig identifiziert werden, unter allen Umständen zu bewahren. Das heißt: Die Mitarbeitenden der SpDi können sich nicht mit dem Verweis auf Selbstbestimmung, persönliche Freiheit und eigene Verantwortung aus der Situation herausziehen, sondern müssen sich auf dem schmalen Grat zwischen Recht auf Eigensinn, Verwahrlosung, Erkrankung und dem Recht auf Gesundheit, Schutz und Fürsorge in jedem dieser Einzelfälle bewegen. Gelegentlich gefährden sich diese Menschen selbst oder andere, allerdings reichen womöglich die Gründe für eine zwangsweise Unterbringung als Ultima Ratio noch nicht aus.
Zudem besteht eine wichtige Aufgabe sozialpsychiatrischer Hilfen darin, wenn möglich Zwangsunterbringungen zu vermeiden und aktiv zu verhindern. Und das, obwohl die Menschen im unmittelbaren Umfeld sich händeringend an den SpDi wenden und um Unterstützung und Hilfe bitten, da die Situation aus ihrer Sicht nicht mehr auszuhalten sei und nicht mehr verantwortet werden könne. Dies tun diese Personen mit der eindeutigen Aufforderung, dass »etwas geschehen« müsse.
Dabei gefährden die Betroffenen ihre Lebenslage, drohen abzudriften in Wohnungslosigkeit bzw. sind schon wohnungslos oder stehen ohne Arbeit und Einkünfte da. Die Umgebung wendet sich mehr und mehr von ihnen ab mit der Folge von Isolation und Selbstisolation, von Selbstausgrenzung und Ausgrenzung, Stigmatisierung und Selbststigmatisierung.
Natürlich betreuen und begleiten der SpDi wie auch andere Einrichtungen und Dienste der sozialpsychiatrischen Hilfen mehrheitlich »leichtere Fälle«, die dann auch wieder an andere Hilfen weitervermittelt werden können oder bei denen die langfristige Begleitung, Betreuung und Behandlung relativ unkompliziert verlaufen. Es handelt sich in diesem Buch meistens nicht um Personen mit »verrückten« Lebensentwürfen und Planungen, mit seltsam oder eigensinnig scheinender Lebensführung, sondern um Menschen, die einigermaßen zurechtkommen und die soziale Umgebung auch mit ihnen. Es geht um Menschen, die wie auch immer leiden und/oder unter denen andere leiden, die Hilfe ablehnen oder nur schwer Unterstützung annehmen können.
Diese Menschen weisen in der Regel einen komplexen Hilfebedarf auf und/oder stellen eine nicht unbeträchtliche Herausforderung für ihre unmittelbare Umgebung dar. Es fällt ihnen aufgrund unterschiedlicher Erfahrungen und Eigenschaften (krankheitsbedingte Faktoren, negative Erfahrungen im privaten Umfeld oder mit dem Hilfesystem etc.) schwer, sich auf Kontakte, Beziehungen, Begleitung oder gar Betreuung durch sozialpsychiatrische oder andere Hilfen einzulassen, und sie fordern sowohl die unmittelbare Umgebung als auch das Hilfesystem in besonderem Maße heraus.
Wie kann es gelingen, diese Menschen in Hilfemaßnahmen zu »verwickeln« und sie zu integrieren? Was gilt es zu berücksichtigen, wenn die Kontaktaufnahme scheitert, wenn diese Menschen sich nicht auf einen Kontakt, eine Begleitung oder gar auf eine Behandlung einlassen, diese aber aus unterschiedlichen Gründen aus fachlicher Sicht dringend angezeigt sind? Um diese Herausforderungen geht es im vorliegenden Buch, und zwar im Kontext regionaler Versorgungsverpflichtung und der übergreifenden kommunalen Aufgabe der Daseinsvorsorge, in die der Sozialpsychiatrische Dienst eingebunden ist.
Regionale Versorgungsverpflichtung bedeutet: Niemand darf in seinem Sozialraum, in seinem Gemeinwesen ohne die ihm angemessene Hilfe bleiben. Niemand wird gegen seinen Willen außerhalb seiner Region untergebracht. Regionale Versorgungsverpflichtung wird im verbindlich vereinbarten Gemeindepsychiatrischen Verbund umgesetzt. Darin übernehmen die SpDi eine zentrale Kernaufgabe, indem sie in ihrer sozialraumorientierten Verortung und Verankerung auch für psychisch kranke Menschen zuständig sind, die nicht mehr oder noch nicht in der Lage sind, sein können oder sein wollen, sogenannte höherschwellige Hilfen wie Betreutes Wohnen in Anspruch zu nehmen.
Aufgrund der verschiedenen Kernaufgaben der Sozialpsychiatrischen Dienste, wie sie vom Bundesweiten Netzwerk der SpDi formuliert und herausgegeben wurden (Albers & Elgeti 2024), stehen die SpDi in erster Linie in der Verantwortung, diesen Personenkreis in den Blick zu nehmen und ihn als vorrangige Aufgabe anzusehen.
Die Beschreibung und Erörterung dieser Arbeit erfolgt anhand von Fallbeispielen, die nicht immer zum Positiven ausgehen. Das professionelle Handeln kann durchaus auch scheitern und immer wieder wie bei Sisyphus’ Aufgabe von Neuem beginnen. Es ist uns ein Anliegen, diese Situationen zu vermitteln und Handlungsempfehlungen zu formulieren, was jeweils aus unserer Sicht zu tun ist. Trotz »manch harter Kost« zeigt sich, wie lohnend, wichtig und wertvoll diese Arbeit aus verschiedenen Gründen ist, da mit Geduld, Durchhaltevermögen, Erfahrung, Kompetenz und Zuversicht immer etwas erreicht werden kann – selbst wenn es vermeintlich kaum wahrnehmbare Schritte sind.
Schwierige Konstellationen: Informationen, Erwartungen, Aufträge
Von wesentlicher Bedeutung und zentraler Wichtigkeit bzw. geradezu konstitutiv sind der Kontakt, der Aufbau einer Beziehung und die Entstehung von Vertrauen in der Beratung, Begleitung und Behandlung der psychisch erkrankten Menschen. Pointierter formuliert: Ohne eine gewisse Nähe und Beziehungsgestaltung wird sich die Arbeit mit psychisch erkrankten Menschen als äußerst schwierig erweisen. Um Zwangsmaßnahmen zu vermeiden, sind Nähe und Beziehung erforderlich und selbst zwangsweise Maßnahmen als Ultima Ratio schließen eine solche Beziehungsgestaltung nicht aus, sondern ein.
Selbstmeldung: Kontaktaufnahme gelingt zügig, aber …
Es ist eher unüblich, dass sich Betroffene von sich aus an den SpDi oder an das Hilfesystem wenden. Eine Selbstmeldung bedeutet allerdings nicht, dass der Fallverlauf, die Betreuung und das Ergebnis von vornherein günstig und positiv verlaufen, wie das folgende Beispiel zeigt. Herr Keller, ein junger Mann, 23 Jahre alt, stellte sich im Beisein seines zwei Jahre jüngeren Bruders im SpDi vor. Die beiden hätten durch den »Tag der seelischen Gesundheit« von Unterstützungsmöglichkeiten wie dem SpDi gehört und wollten sich nach Hilfen für Herrn Keller erkundigen. Auch wenn die Anzahl der Selbstmeldungen in der Arbeit der Sozialpsychiatrischen Dienste vergleichsweise selten ist, verdeutlicht der Fall von Herrn Keller, wie wichtig es ist, auch an diesen Fällen »dranzubleiben«, denn sie sind eben nicht immer »leichte« Fälle.
Beispiel
Herr Keller, als Hilfesuchender, und der ihn begleitende Angehörige kamen in die offene Sprechstunde des SpDi und baten um einen Beratungstermin. Beide berichteten von starker Antriebsarmut Herrn Kellers und von einer gedrückten Stimmung, die schon Monate anhalte. Derzeit lebe er bei einem weiteren, drei Jahre älteren Bruder. Mit seiner Mutter, bei der er gemeldet sei, wolle er eigentlich nichts zu tun haben, deshalb schlafe er auf der Couch des Bruders. Herr Keller wünschte sich eine eigene Wohnung und Unterstützung auf dem Weg zu einem selbstbestimmten Wohnen und Arbeiten.
Mit einem guten Zehnte-Klasse-Realschulabschluss hatte er eine Ausbildung angefangen, diese aber wegen zu vieler Fehlzeiten abgebrochen. Von Behandlungen oder seelischen Problemen berichtete er nichts. Es wurden verschiedene Schritte zur Unterstützung mit ihm überlegt, etwa der Vorschlag, einen Facharzt zur Diagnostik aufzusuchen und gegebenenfalls Medikamente zur Unterstützung zu erhalten. Ein Antrag auf Eingliederungshilfe nach Sozialgesetzbuch (SGB) XII (jetzt SGB IX, auch als Bundesteilhabegesetz, BTHG, bezeichnet) wurde besprochen, um Ziele in unterschiedlichen Lebensbereichen angehen zu können.
Doch stellten sich schnell Probleme ein. Bei einem ersten niedergelassenen Psychiater wurde Herr Keller mangels Kapazitäten nicht angenommen. Bei einem weiteren Psychiater nahm er die Termine nicht wahr. Den Antrag auf Eingliederungshilfe stellte Herr Keller mithilfe des SpDi. Ein Gespräch zur Begutachtung wurde mit dem Arzt im SpDi geführt. Dieser stellte eine mittelgradige Depression und Anpassungsstörungen fest. Ein Verdacht auf weitere Störungen bestand nicht. Eine Unterstützung in Form des ambulanten Betreuten Wohnens durch das Sozialamt wurde bewilligt. Des Weiteren wurden Hilfeplangespräche mit dem zuständigen Jobcenter hinsichtlich unterstützender Maßnahmen zum Erwerb eines Berufsabschlusses angeregt. Hierzu gab es verschiedene Anläufe für eine Begutachtung nach dem SGB II zur Frage der Leistungseinschätzung.
Herr Keller erhielt recht zügig eine Wohnung und wurde dort durch die Eingliederungshilfe bei der Verselbstständigung unterstützt. Mit ihm und den Kolleg*innen der Eingliederungshilfe wurde vereinbart, dem SpDi zum Stand der Entwicklung der Hilfe(n) Bescheid geben zu dürfen. Zu diesem Zeitpunkt waren die Aufgaben des SpDi mit der Vermittlung in Hilfen des ambulanten Betreuten Wohnens, der Leistungsdiagnostik im Jobcenter und mit der Sensibilisierung für die Lage des jungen Mannes erfolgreich erledigt.
Nach sechs Monaten wurde im Rahmen der quartalsweise stattfindenden Dienstberatungen mit dem örtlichen Träger der Eingliederungshilfe bekannt, dass Herr Keller die Termine zur Unterstützung wenig bis gar nicht mehr wahrnahm. Die Kolleg*innen gaben an, er würde sich sehr zurückziehen und den Aufgaben zur Führung eines eigenen Haushalts nicht gerecht werden (können). Nachbarn beschwerten sich regelmäßig über vor der Wohnungstür gelagerte Mülltüten und ungewöhnliches Scharren in der Nacht.
Sowohl die Kolleg*innen des Leistungserbringers als auch des SpDi bemühten sich, die Kontakte aufrechtzuerhalten bzw. wieder zu intensivieren. Allerdings wurden diese »Andockversuche« immer schwieriger. Bei Terminen, an denen Herr Keller anzutreffen war, sprach er nicht bzw. antwortete nur mit Ja oder Nein. Auf offene Fragen oder Gesprächsangebote ging er nicht ein. Ihm wurde zu diesem Zeitpunkt mehrfach erklärt, er würde seine Wohnung nicht halten können, wenn er sich nicht aktiv um einen einigermaßen wohnfähigen Lebensstil bemühe.
Das Sozialamt bewilligte die Eingliederungshilfe in enger Abstimmung mit allen unterstützenden Beteiligten trotzdem weiter, obwohl sich die Situation zuspitzte, denn bisweilen entwickelten sich regelrechte abstruse »Weglaufsituationen«, wenn Kolleg*innen des Leistungserbringers mit ihm sprechen und arbeiten wollten. Immer häufiger rannte er einfach davon, wenn ein Kontakt mit ihm aufgenommen worden war. Dabei achteten SpDi und Leistungserbringer darauf, dass es jeweils die Bezugspersonen, die Herr Keller zuvor gut angenommen hatte, waren, die als Unterstützer*innen mit ihm den Kontakt aufnahmen.
Eine enge, kooperativ funktionierende Arbeit im Netzwerk ist für die sozialpsychiatrische Arbeit in der Gemeinde unerlässlich. Kein Dienst funktioniert allein. Und so war es für eine Zeit lang gut und wichtig, dass das Sozialamt die Hilfe weiterbewilligte, obwohl formal die Stunden und Kontakte kaum abgerechnet werden konnten. Gleichzeitig aber nahm Herr Keller durch die intensive Netzwerkarbeit zur Besprechung des Falls viel Zeit der Planung und Reflexion in Anspruch.
Beispiel (Fortsetzung)
Trotz aller Bemühungen verlor Herr Keller eineinhalb Jahre nach Unterschrift unter den Mietvertrag seine Wohnung. Wollte man mit ihm sprechen, fand man ihn am ehesten bei seiner Mutter. Obwohl er auch mit ihr kaum sprach, schien sie ihm Halt geben zu können, sodass er nicht auf der Straße landete. Laut Angaben der Mutter – und dies konnten wir als Besuchende über Jahre mitverfolgen – bestand das ambivalente Gefühl und Verhalten von Herrn Keller ihr gegenüber weiter: Einerseits wollte er zu ihr keinen richtigen Kontakt und wollte von ihr und auch anderen wenig gestützt werden, andererseits war sie wenigstens ein, wenn nicht der wichtigste Haltepunkt und Anker für ihn.
Auch für den SpDi wurde die Mutter zu einer wichtigen Bezugsperson, um den Kontakt zu Herrn Keller zu halten und ein wenig von seiner Lebenssituation erfahren zu können. Sie war im wahrsten Sinne des Wortes die Türöffnerin. Selbst wenn er weiterhin bei Kontaktversuchen mit uns nicht sprach, ließ sie uns in die Wohnung und berichtete jeweils zum Stand der Dinge und von den Sorgen um ihren Sohn.
Im Team hatten wir uns zu diesem Zeitpunkt und auch auf Bitten der Mutter und Geschwister dazu entschlossen, das Bemühen um Kontakt und Begegnung mit Herrn Keller aufrechtzuerhalten. Die Ambivalenz zwischen Veränderungswunsch, seiner inneren Not und dem Störungsgeschehen wurde allen, die ihm begegneten, überdeutlich. Dennoch konnten wir uns immer wieder nur darum bemühen, Ansätze zur Begegnung nicht abreißen zu lassen. Begleiterscheinungen in der Anbahnung und dem Aufrechterhalten von Beziehungen zu dieser Klientel sind häufig, Unsicherheiten zwischen Nähe und Distanz, Aufträge zwischen Hilfe und Kontrolle aushalten zu können und, so gut es geht, dabei mitzuschwingen (Ambiguitätstoleranz).
Es stellte sich im Verlauf der Begleitung und Hilfen die Frage, ob die Diagnose einer Depression ausreichend gewesen war oder ob nicht das Leid von Herrn Keller weitaus differenzierter gelagert war.
Beispiel (Fortsetzung)
Die Ärzte des SpDi absolvierten über Jahre Hausbesuche bei Herrn Keller. Leider gab es in diesem Zeitraum im SpDi keine konstante fachärztliche Vollzeitbegleitung, die ähnlich wie im Bereich der Sozialen Arbeit regelmäßig den Verlauf hätte beobachten, dokumentieren und reflektieren können, um zu einer gesicherten diagnostischen Entscheidung hinsichtlich des Störungsbildes kommen zu können.
Herrn Kellers Allgemein- und Ernährungszustand wurde zusehends schlechter. Er sprach nicht, wechselte nicht mehr die Kleidung, pflegte sich nicht, aß zu Hause nur noch einseitige Kost, die er, wenn überhaupt, allein zubereitete. Über die Jahre aß er am häufigsten Tiefkühlpizza, die vorab niemand berühren durfte, auch nicht seine Mutter. Alkoholkonsum kam hinzu, wenngleich er nie jemandem gegenüber handgreiflich wurde; er war immer ruhig und angepasst. Seine Motorik und Mimik waren eingeschränkt.
Nach weiteren zwei Jahren übernahm seine Mutter die rechtliche Betreuung für ihren Sohn. Er selbst stellte grundsätzlich keine Anträge mehr. Leistungen nach Sozialgesetzbuch II musste sie für ihn beantragen. Selbst wenn er mal zu einem Termin erschien, sprach er nicht. Weitere zwei Jahre später kam es zu Hause zu einem Vorfall, sodass die Mutter ihren Sohn in die Notaufnahme der zuständigen Klinik brachte. Herr Keller ließ dies zu. Er kam zur Diagnostik und Stabilisierung auf die Akutstation der Psychiatrie. Dort wurde die Verdachtsdiagnose »paranoide Schizophrenie« gestellt. Leider verließ Herr Keller nach drei Tagen das Krankenhaus ohne Abstimmung und ließ es auch nicht zu, eine stationäre Behandlung oder überhaupt eine Behandlung oder Unterstützung in die Wege zu leiten.
In Hilfegesprächen mit der Mutter, aber auch im Beisein der Brüder wurde mehrfach darauf hingewiesen, dass es sinnvoll sein könnte, Herrn Keller in eine psychiatrische Klinik einzuweisen, gegebenenfalls auch gegen seinen Willen, um dort Hilfe und Unterstützung zu erhalten.
Seine Mutter als rechtliche Betreuerin lehnte diese Überlegung sechs Jahre lang ab. Herr Keller selbst wirkte nie mehr mit. Er lief weiterhin bei Versuchen zur Begegnung davon. Der Sozialpsychiatrische Dienst hatte in diesem Verlauf jeweils in Zeitabständen von drei Monaten den Kontakt zur Familie gehalten und sich stets bemüht, auch mit Herrn Keller zu sprechen. Selten kam es wirklich zu Begegnungen, die länger als ein paar Minuten dauerten. Mal zeigte er sein Zimmer, einmal ließ er sich von der Kollegin des SpDi, die ihn besuchte, spontan die Haare schneiden, meist aber lief er einfach wortlos aus der Wohnung, wenn wir kamen.
Nach diesen sechs Jahren wurde bei einem Krankenhausaufenthalt in der örtlichen psychiatrischen Klinik die Verdachtsdiagnose der paranoiden Schizophrenie bestätigt. Seine Mutter gab zu diesem Zeitpunkt die rechtliche Betreuung an eine Berufsbetreuerin ab. Herr Keller war inzwischen in einem sehr schlechten Allgemein- und Ernährungszustand, sodass er wegen akuter Selbstgefährdung eingewiesen wurde.
Seine Mutter hatte zu diesem Zeitpunkt nicht nur Sorge um ihren Sohn, sondern auch um sich selbst. Herr Keller machte ihr Angst. Er hatte Steckdosen in der Wohnung und am Herd manipuliert. Sprach sie ihn darauf an, antwortete er sehr wirr. Sie entwickelte Ängste, dass er ihr gegenüber gewalttätig werden könnte. Mit »Beschluss« nach PsychKG wurde Herr Keller für eine geplante Unterbringung über sechs Wochen mit Medikamentengabe in der psychiatrischen Klinik untergebracht. Dies hatte die Betreuerin mit Unterstützung des SpDi in die Wege geleitet.
Die Medikamente schlugen insofern an, dass man sich nach drei Wochen wieder mit ihm unterhalten konnte. Endlich antwortete er. Er konnte kurze Kontakte aushalten und bisweilen freute er sich sogar über den Besuch in der Klinik. Er wolle in einer eigenen Wohnung leben, erklärte er nun wieder, denn darin sah er sein größtes Problem. Vieles sei anders gelaufen, sagte er, wenn er immer hätte allein leben können. Eine weitere Reflexion mit ihm war zu diesem Zeitpunkt (noch) nicht möglich.
Nach vier Wochen flüchtete er aus der Klinik. Eine Suche nach ihm und die Rückführung in die Klinik zur weiteren Behandlung wurden seitens der Klinik als nicht notwendig erachtet, auch wenn der SpDi dieser Entscheidung widersprach und dabei auf die positive Entwicklung schon in der kurzen Zeit des Aufenthalts hinwies. Die behandelnden Ärzte lehnten dies ab, sie bescheinigten ihm einen guten Verlauf der Behandlung und argumentierten, es könne ambulant weitergearbeitet werden. Das Gericht hob auf Antrag der Klinik im nächsten Schritt den Beschluss der Unterbringung auf und entließ Herrn Keller auch offiziell nach Hause.
Erneut kehrte er für ein Jahr zur Mutter zurück. Eine weitere Medikation lehnte er ab. Ambulante fachärztliche Behandlung kam wiederum nicht zustande. Herr Keller nahm für ihn vereinbarte Termine nicht in Anspruch und Hausbesuche wurden vom niedergelassenen Psychiater abgelehnt. Wollten wir mit ihm sprechen, lief er davon.
Ein weiteres Jahr später zog er in eine Wohnstätte für chronisch psychisch kranke Erwachsene in einer nahegelegenen Stadt. Seine Mutter hatte angegeben, sie könne nicht mehr mit ihm leben.
Die Begleitung von Herrn Keller macht deutlich: Auch ein vermeintlich einfacher Beginn durch Selbstmeldung heißt nicht, dass eine lineare positive Entwicklung hin zur Genesung erfolgt. Und auch die Ultima Ratio in der Fallgeschichte einer Unterbringung nach PsychKG wegen Eigen- und/oder Fremdgefährdung mit Verabreichung einer Medikation kann eine Veränderung bewirken, muss es aber nicht – und schon längst nicht den ersehnten Erfolg einer dauerhaften vollständigen Genesung liefern.
Im SpDi-Team wurde viele Male über Jahre über die Möglichkeit, vielleicht auch die Notwendigkeit einer Zwangsunterbringung zur Heilbehandlung diskutiert und auch mit der Mutter als rechtlicher Betreuerin und dem zuständigen Betreuungsgericht gerungen. Immer wieder stellte sich die Frage, ob Herr Keller nicht sogar das Recht auf die Verantwortungsübernahme durch einen Eingriff in seine persönliche Integrität und Freiheit erhalten müsse. Gerade nachdem die Hypothese sich entwickelte und später in der Klinik bestätigt wurde, dass es sich doch um eine Diagnose aus dem schizophrenen Formenkreis handelte. Die zuständigen Institutionen lehnten dies lange ab und der SpDi begleitete diese Entscheidungen stets kritisch, entschied sich letztlich aber immer gegen einen Widerspruchs- oder sogar Klageweg. Das Wohl und die Stärkung der Kooperation des Netzwerks zur Hilfe für Herrn Keller und auch für sein soziales Umfeld standen in diesem Fall im Vordergrund, resultierend aus der Einschätzung, dass ein zwangsweiser Eingriff mit Zuführung zur Medikation keinen Erfolg gebracht hätte, bestenfalls kurzfristig. Dies war aber nicht festzustellen. Die Gewissheit auf Genesung durch Medikation gibt es bei psychischen Erkrankungen dieser Konstellation nicht. Und auch »das System« verantwortlich zu machen und eine Schuld zu verteilen ist eine zu einfache Lösung existenzieller komplexer Problemlagen.
