Dacorah - Schwertzeit - M. R. Karma Krohn - E-Book

Dacorah - Schwertzeit E-Book

M. R. Karma Krohn

4,9

Beschreibung

"Totgeglaubte kämpfen länger" Der hochdekorierte Kriegsherr Lord Terek, der Sturm von Morgenrot, findet sich nach einem blutigen Hinterhalt halbtot auf einem Schlachtfeld in der Wüste wieder. Ihm wird von unerwarteter Seite geholfen. Er gesundet und gerät wider Willen in eine gnadenlose Odyssee, in deren Verlauf er nicht nur sein eigenes Leben verteidigen muss, sondern auch das Schicksal des Kontinents. Terek stößt dabei auf die größte Verschwörung in der Geschichte Dacorahs, mit dem Ziel der Erweckung eines uralten Unheils aus eisiger Vorzeit: einem leibhaftigen Erzdämonen und keinem Geringeren als dem Nagogh höchstselbst. Für Terek eine Ungeheuerlichkeit, denn er muss erkennen, dass die Verschwörer keine Unbekannten sind und das Vorhaben längst außer Kontrolle ist ... "… wenn der Kampf um die eigene Existenz zum Kampf um die Welt wird."

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Dacorah

Schwertzeit

M. R. Karma Krohn

Fantasyroman

Alle Rechte, insbesondere auf digitale Vervielfältigung, vorbehalten. Keine Übernahme des Buchblocks in digitale Verzeichnisse, keine analoge Kopie ohne Zustimmung des Verlages. Das Buchcover darf zur Darstellung des Buches unter Hinweis auf den Verlag jederzeit frei verwendet werden. Eine anderweitige Vervielfältigung des Coverbildes ist nur mit Zustimmung ders Coverillustrators möglich.

www.net-verlag.de

Zweite Auflage 2016

© Coverbild: Detlef Klewer

Covergestaltung: net-Verlag

Lektorat + Layout: Ines Voigt & net-Verlag

© net-Verlag, 39517 Tangerhütte

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2016

ISBN 978-3-95720-148-5

Vorwort

»(…) Ein Teil der Zeit wird uns entrissen, ein anderer unbemerkt entzogen, ein dritter zerrinnt uns.

Doch der schimpflichste Verlust ist der, der aus Nachlässigkeit erwächst; und betrachten wir’s genauer, so verfließt den Menschen der größte Teil der Zeit, indem sie Übles tun, ein großer, indem sie nichts tun, das ganze Leben, indem sie andere Dinge tun, als sie sollten.

Wen willst Du mir nennen, der einigen Wert auf die Zeit legte, der den Tag schätzte, der es einsähe, dass er täglich stirbt?

Das ist unser Irrtum, dass wir den Tod in der Zukunft schauen: Er ist zum großen Teil schon vorüber; was von unserem Leben hinter uns liegt, hat der Tod.

(…)

Halte alle Stunden zusammen; ergreife den heutigen Tag, so wirst du weniger von dem morgigen abhängen.

Indem man das Leben verschiebt, eilt es vorüber.

Alles ist fremdes Eigentum, nur die Zeit ist unser allein. Dieses so flüchtige, so leicht verlierbare Gut, ist der einzige Besitz, in den uns die Natur gesetzt hat; und doch verdrängt uns daraus, wer da will.

Und so groß ist die Torheit der Sterblichen, dass sie das Geringste und Armseligste, wenigstens das Ersetzbare, haben sie es empfangen, sich aufrechnen lassen, dagegen niemand sich in Schuld glaubt, wenn er Zeit erhalten, während diese doch das Einzige ist, was auch der Dankbare nicht erstatten kann.«

Lucius Annaeus Seneca,

»Der richtige Umgang mit der Zeit«

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Tracklist

Prolog

Kapitel I Sand

Kapitel II Schlange

Kapitel III Geist

Kapitel IV Sturm

Kapitel V Ring

Kapitel VI Fürst

Kapitel VII Ostwärts

Kapitel VIII Festung

Kapitel IX Erkenntnisse

Kapitel X Ankunft

Kapitel XI Imperator

Epilog

Glossar

Namensverzeichnis

Nachwort

Widmung

Autorenbiografie

Buchempfehlungen

Tracklist

In der folgenden Geschichte sind einige wenige Musikstücke verlinkt, die, wie ich meine, sehr gut die passende Stimmung zu einzelnen Szenen aufnehmen und die ich Ihnen im Netz oder vielleicht sogar direkt aus Ihrem Plattenschrank heraus ans Herz legen möchte. Die Platten zu den genannten Titeln aufzulegen lohnt sich in jedem Fall.

Nicht jeder Text trifft sicherlich die entsprechende Szenenhandlung, doch scheint die jeweilige Grundstimmung trotzdem einigermaßen zu passen. Zumindest für mich.

Wer mit Gitarrenmusik im Allgemeinen und mit Heavy Metal im Speziellen eher weniger anfangen kann, dem sei gesagt: zu spät! Beziehungsweise, der kann diese Seite mit einem scharfen Gegenstand einfach aus dem Buch heraustrennen.

#1#   Fjara – Sólstafir

#2#   Amon Amarth – Gods of War Arise

#3#   Cavalera Conspiracy – Inflikted

#4#   Behemoth – Blow Your Trumpets Gabriel

#5#   Type O Negative – Black #1

#6#   Pain – Dirty Woman

#7#   The 69 Eyes – Gothic Girl

#8#   Amorphis – Battle for Light

#9#   Ghost – Ritual

#10#   Grand Magus – The Naked and the Dead

#11#   Steven Wilson – Drive Home

Wie auch immer, ob mit oder ohne musikalische Unterstützung, viel Vergnügen mit Dacorah.

Prolog

Etwas Ungutes lag in der Luft.

Der Unantastbare starrte für einen Moment abwesend in die Kerzenflamme und hob langsam den Kopf.

Lithon kannte das Gefühl, aber er ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen. Vielleicht war es auch nichts, und so fuhr er fort.

»… aus diesem Grunde möchte ich bitte die Hauptlande des Kontinents noch einmal hören. Geordnet nach ihrer geopolitischen Bedeutung in der vierten Epoche nach Som. Bitte in der Reihenfolge der Bedeutung ihrer damaligen Großkönige für die herrschende Binnenpolitik in puncto Kooperation des …, sagen wir … des Eisen- …, ahm, nein, des Kohlehandels.

Ihr bitte, da hinten rechts.«

Jemand in der gegenüberliegenden Ecke schien zu gähnen.

Meister Lithon zeigte auf einen gedrungenen jungen Mann im hinteren Teil des Hörsaals, worauf dieser sich eilig erhob. »Rumia, Axor, Asklepion, Dana Som, Sika Som, Dacorah.«

»Richtig!«, stellte Meister Lithon zufrieden fest, wohlweislich, dieses Thema in all den Jahren des Unterrichtens schon Hunderte Male abgefragt zu haben.

»Liebe Schüler, somit schließen wir und wenden uns einem neuen Thema zu: den Dynastien der großen Reiche.«

Meister Lithon schritt hinter sein Pult, ordnete die entsprechenden Unterlagen und ließ seinen Blick in den offenen Hörsaal schweifen. Vierundzwanzig Studierende hatten sich dort versammelt.

Und was Meister Lithon als Schüler bezeichnete, waren keine Schüler im eigentlichen Sinne, sondern junge oder mittelalte Erwachsene und ausschließlich Adelssprösslinge oder reiche Bürgersöhne und -töchter aus den höchsten Schichten des Kontinents, die seit vielen Jahren im Orden die Lehre erhielten. Sie galten als Elite und waren unter den Besten ihrer Jahrgänge in ihren jeweiligen Ländern ausgewählt worden.

Sie sollten im Orden der Unantastbaren das Compendium Vibricca studieren und so einmal das gesammelte Wissen der Welt dokumentieren und weiterführen. Es war eine Ehre.

Meister Lithon war mittlerweile fast siebzig Jahre alt und besaß einen der höchsten Grade der sogenannten Unantastbaren.

Seine Leidenschaft war das Lehren, weshalb er nicht mehr so oft auf Reisen ging, wie er das früher gerne tat. Doch ungeachtet seines fortgeschrittenen Alters besaß er noch eine glänzende Konstitution und einen messerscharfen Verstand.

Gerade wollte er zur Einführung des neuen Themas ansetzen, als leise die Tür des Hörsaals aufschwang und Meister Rochos den Raum betrat. Schnurstracks eilte er auf Lithon zu und nahm ihn mit einem kurzen Gruß beiseite. »Entschuldigen Sie den Meister einen Augenblick!«, tönte Rochos laut und deutlich ins Auditorium hinein und ging mit Lithon ein paar Schritte abseits des Pultes. »Meister Mol ká Nura aus Dacorah ist tot.«

Lithon musste einen Moment überlegen. »Hm, … Mol ká Nura? Mol ká Nura? … Ah, Mol ká Nura. So alt war der doch noch gar nicht. Ich erinnere mich. Wir waren vor einigen Jahren einmal zusammen auf Reisen. Sehr angenehmer Mensch. Litt er an einem Fieber? Einer Krankheit? Ich hoffe, er hatte keinen Unfall oder dergleichen.«

»So einfach ist es leider nicht, geschätzter Lithon«, erklärte Rochos, geleitete seinen Meisterkollegen abermals ein paar Schritte weg vom Auditorium und erzählte weiter im Flüsterton: »Wir hatten seit einigen Wochen keine Briefe mehr von Nura erhalten und waren deswegen etwas in Sorge. Zumal die Briefe, die er uns in letzter Zeit geschickt hatte, etwas …, nun ja, wie soll man sagen, … merkwürdig waren.

Als sein Hausverwalter uns dann aber auf Rückfrage schrieb, der Meister, sein Leibwächter und einer seiner Novizen wären bereits seit einer Weile abwesend, ebbten unsere Sorgen ein wenig ab. Womöglich war er mit seinen Leuten einfach auf einer Reise und zu beschäftigt, um Briefe zu verfassen. Kommt ja öfters einmal vor so was. Trotzdem war es insofern komisch, als dass auch der Hausverwalter nicht wusste, wo Meister Mol genau steckte. Er war einfach weg.

Nun, gestern erreichte uns ein offizielles Schreiben aus Dacorah, gezeichnet vom Imperator höchstselbst.« Rochos machte eine bedeutungsschwere Pause und blickte in die Leere des Raumes.

Lithons Gedanken sprangen Bögen. Mol ká Nura tot. Ein offizielles Schreiben aus Dacorah, gezeichnet vom Kaiser persönlich. Bemerkenswert.

»Ihr wollt nicht etwa andeuten, mit Meister Mol sei etwas Ungewöhnliches geschehen?«

Rochos übergab Lithon den Brief. »Ihr begreift noch immer recht schnell, mein Freund. Ich befürchte allerdings, doch. Hier, Ihr könnt ihn im Detail später lesen.«

Meister Lithon überflog den Brief. Erst schnell, dann glitt sein Blick langsamer über das Papier. »Aber das ist doch un …« Lithon bemerkte, wie seine Stimme laut wurde, und senkte sie sogleich wieder, als Rochos ihm den Arm auf die Schulter legte.

»Aber das ist doch unmöglich. Seit Jahrhunderten wäre es das erste Mal, dass ein Mitglied des Ordens gewaltsam zu Tode gekommen ist. Nicht einmal die Barbarenstämme im Norden oder die Kannibalen in den Sümpfen des südlichen Tuska Cor haben es meines Wissens jemals gewagt, einen geweihten Meister anzugreifen. Selbst im Gebirge der Eisriesen wüsste ich nicht, dass es jemals einen Vorfall gab. Das ist, das ist …«

Rochos’ Blick wandte sich wieder Lithon zu, und ohne auf dessen Bemerkungen einzugehen, fuhr er fort: »Sein Körper wurde weit außerhalb, nahe einem Randbezirk der Hauptstadt gefunden. Ohne Kopf allerdings. Der Leibwächter des Meisters war gleichermaßen zugerichtet, und dem Novizen wurde der Schädel eingeschlagen. Zudem wiesen die Körper gebrochene Knochen, verrenkte Gliedmaßen und zahlreiche Blutergüsse auf.«

Lithon blieb für einen kurzen Moment die Luft weg, und ihm wurde schummrig. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Die Situation war geradezu absurd, und Übelkeit stieg in ihm auf.

»In dem Brief wird weiterhin berichtet, dass die Frevler bereits gefasst wurden. Hierzu ließ sich der Schreiber des Dacoreahnischen Kaisers sehr umfangreich aus. Der Imperator hatte offensichtlich schnell reagiert und sowohl die Geheimpolizei als auch das Militär auf die Ermittlungen und das Ergreifen der Täter angesetzt. Am Ende war das Militär schneller. Neun Männer wurden verhaftet, geständig gemacht und noch in derselben Nacht gehenkt. Das Kaiserreich bietet weiterhin äußerst umfangreiche Wiedergutmachung an, entschuldigt sich aufs Demütigste … und so weiter und so weiter.«

Lithon atmete ein paar Male tief durch, sein Gehirn ratterte, und schließlich gewann die Fassung wieder die Oberhand, und seine Gedanken gingen in den gewohnten Pragmatismus über. »Dann ist der Fall ja erledigt, nehme ich an. Trotzdem sollte wohl das Hochmeistergremium zusammentreten und beraten, was zu tun ist. Ich vermute, wir müssen schnell einen neuen Meister entsenden.« … und die kleine Zusammenkunft rückt näher.

»Das Gremium ist heute am frühen Morgen bereits zusammengetreten, Meister Lithon, und es gab einen Entschluss.«

»Ach, das ist ja interessant, dann lasst mal hören!«

»Ihr sollt der neue Statthalter des Ordens in der südlichen Hauptstadt von Dacorah werden – zumindest übergangsweise, bis wir einen neuen, ständigen Nachfolger bestimmt haben.«

Meister Lithon sprach nun laut in den Kreis der Studierenden, da er die aufkommende Unruhe auf den Sitzbänken bemerkt hatte: »Die südliche Hauptstadt von Dacorah?« Er zeigte mit dem Finger auf eine junge Frau an einem der vorderen Tische des Hörsaals. Diese stand sogleich auf und rollte mit den Augen. »Shivanesse natürlich! Weiß doch jeder …, tz!« Worauf sie sich wieder hinsetzte.

Meister Lithon nickte. »Wir werden Euch Akaro mit auf den Weg geben.« Lithon lächelte gequält.

»Nun ja, in Anbetracht der Umstände ist das wohl keine gänzlich unpassende Wahl.«

»In der Tat. Wir gehen zwar mittlerweile von keiner Gefahr mehr aus, und wenn Ihr vor Ort seid, werdet Ihr eine zusätzliche Eskorte aus der kaiserlichen Wache erhalten, aber sicher ist sicher. Akaro wurde von uns derweil bereits zurückbeordert und müsste in den nächsten Tagen aus dem Gebiet der Eisriesen zurückkehren. Ab dann könnt Ihr aufbrechen, wann es Euch beliebt.«

»Nun ja, ich war schon einige Jahre nicht mehr in Dacorah und bin sehr gespannt, was sich seitdem dort verändert hat. Ich nehme den Beschluss des Gremiums gerne an.«

»Das Gremium weiß es zu schätzen. Eure Erfahrung wird uns hierbei von Nutzen sein.«

Die beiden Unantastbaren verneigten sich zueinander, und Meister Rochos verließ den Saal.

»Ach, Meister!« Lithon rief dem anderen Meister im Hinausgehen hinterher. »Sein Gebiet?«

Rochos drehte sich um. »Wie meinen?«

»Sein Kerngebiet. Welches war nochmals das Kerngebiet von Meister Mol? Irgendetwas mit Ge …? Geografie? Geologie? Ge …? Ge …?«

»Geschichte.«

Rochos hielt den Türgriff bereits in der Hand.

»Frühgeschichte, um genauer zu sein. Im Wesentlichen ging es um den Zeitraum bis kurz nach dem Großen Verhängnis.«

Leichte Unruhe kam von Neuem im Hörsaal auf, und um zu unterbinden, dass sich irgendwelche Neugier Bahn brach, bewegte Lithon seine dünnen Lippen, während er bereits schnellen Schrittes auf das Dozentenpult zusteuerte.

»Wo waren wir stehen geblieben? Ach ja. Bitte nennt mir die Ahnenreihe der Drakale aus Asklepion von Beginn an! Bitte jeweils mit den Verwandtschaftszweigen des ersten und zweiten Grades, deren ehelichen, nicht aber unehelichen Kindern und die Machtanspruchsverhältnisse untereinander in puncto des Thron- …, ähm …, nein, besser des ländlichen Erbschaftsanspruches.« Meister Lithon zeigte erneut auf die vordere Tischreihe. Dieses Mal blieb das Augenrollen der jungen Frau allerdings aus.

Nur wenige Tage später verließen Meister Lithon und sein Gefährte Akaro die Insel Kyria. Das sagenhafte Archipel der Unantastbaren mit ihren grünen Wäldern, sprudelnden Wasserfällen, den exotischen Tieren überall und dem gesammelten Wissen der Menschheit.

Festgehalten in der großen Bibliothek. Dem Kodex Vibricca.

DACORAH

Schwertzeit

Glänzend und golden der Boden,

wie Bernstein und Honig der Wind,

Luft wie des Drachens feuriger Odem,

wenn die Weite ihr Hohelied singt.

(Chor)

Kennst du sie nicht,

(1. Sänger, Pause)

 … die Worte der Weite,

(2. Sänger, flüstert)

bete, du schwebtest

(1. Sänger, Pause)

 … im Traume dahin.

(2. Sänger, flüstert)

Hörst du sie nicht,

(1. Sänger, Pause)

 … die wispernden Worte der Weite

(2. Sänger, flüstert)

Und findest dich wieder darin.

(Chor)

Stirb.

(alle, flüstern)

(Oper, Asklepion: Goldenes Meer)

Kapitel I

SAND

»Wer zielstrebig ist, ist unaufhaltsam.«

(Yamamoto Tsunemoto: Hagakure)

Totenstille lag über dem Sand, und Tereks Genick knirschte wie eine aufbrechende Walnuss, als er den Kopf nach vorne schob.

In weiter Ferne heulte der leise Gesang des Wüstenwindes und ergoss sich dabei wie ein leiser Choral über die ausgedörrte Ebene.

Der Kriegslord vernahm nur seinen Puls und das Rauschen des Blutes in seinen Ohren. Pochend und dröhnend und laut wie Kesselpaukenschläge.

Nasser Schweiß rann ihm über Stirn und Kinn bis weit hinein in die Brust, und der goldene, fein ziselierte Prunkhelm, den er bei sich trug, glitzerte und blendete indes schrill in der unbarmherzigen Wüstensonne.

Ausladende Adlerschwingen, die kunstvoll an beiden Seiten des Helms angebracht waren, funkelten und reflektierten die auftreffenden Strahlen in aller Herren Richtungen, und nicht einmal die kleinen filigranen Schuppenverzierungen um Helm und Visier vermochten es, auch nur einen einzigen Lichtstrahl zu schlucken.

Wie ein träger Schleier beherrschte Grabesstille die Szenerie, und hoch am Himmel unter der grellgelben Sonne zog ein Schwarm Totenkopfgeier seine Bahn.

Lediglich ein paar zaghafte Windböen ließen den sengenden Wüstensand in kleinen Wirbeln umhertanzen und verliehen der gnadenlosen Weite so einen Hauch illusorischer Lebendigkeit.

Die Welt war ein Schlachtfeld und Terek inmitten darin. Tote Körper von Menschen und Tieren, so weit das Auge reichte, lagen wie Baumreste umher, wild verstreut wie nach einem zornigen Hurrikan, der soeben einen ganzen Wald in Stücke gerissen hatte.

Jetzt, da das letzte Geschrei verklungen und das letzte Schwert zu Boden gefallen war und nur noch der Nachhall der Schlacht durch die Geschichte wabern würde, hüllte friedfertiges Schweigen die sandige Ebene ein.

Der Kriegslord taumelte schwer, als er seinen gewaltigen Helm an einer der Adlerschwingen über den sandigen Boden schleifte.

Er stolperte mehr, als dass er ging.

Das Meer aus menschlichen Leibern, umherliegenden Schwertern und Schilden und roh abgetrennten Körperteilen behinderten seinen Weg und erschwerten sein Vorankommen.

Verzerrte Gesichter, die bereits in der Sonne verbrannten, starrten ihn an, und reglos ausgestreckte Hände suchten verzweifelt selbst noch im Tode nach Halt. Wieder andere reckten noch lange genug die Speere dem Himmel entgegen, bis der Sand sie irgendwann unter sich begraben würde.

Terek fehlte allein der Blick dafür.

Seine Augen tränten vom salzigen Schweiß.

Sand und Staub klebten trocken in seiner Kehle, und seine Zunge war wund.

Orientierungslos wankte er zwischen den hohen Sandsteinsäulen von Urath á Taar umher, stolperte, streifte hilflos an den felsigen Sandsteinwänden entlang und schürfte sich Rücken und Schultern dabei blutig auf. Scheinbar war das vergossene Blut im Staub den Göttern noch nicht genug.

Terek strauchelte, knickte ein und stürzte in den Sand. Unter Aufbietung all seiner Kräfte schaffte er es, sich noch einmal aufzurichten. Für einen kurzen Moment ließ er sich gegen einen Felsen sacken und atmete schwer.

Er schloss die Augen und begann zu wanken. Sein Körper zitterte, und die Welt um ihn herum begann sich zu drehen. Felsnadeln tanzten in undurchsichtigen Schleiern auf und ab. Er kniff die brennenden Augen zusammen, und für einen kurzen Moment stand die Welt wieder still. Terek gab sich alle Mühe und versuchte, sich zusammenzureißen, aufrecht zu bleiben, sich noch einmal zu straffen. Doch Helm und Schwert, Insignien seiner Würde und seines Standes, lasteten schwer in seinen Händen.

Die sehnigen, kräftigen Arme, die sich in Jahren des Trainings und Jahren des Kampfes zu wahren Kriegswerkzeugen geformt hatten, zogen sich zitternd zusammen, verspannten sich und verkrampften. Sein ganzer Körper vibrierte vor Erschöpfung und der sinnlosen Anstrengung, am Leben zu bleiben.

Das Großschwert des Nordens entglitt ihm zuerst. Danach der prunkvolle, immer noch strahlende Helm. Tereks linkes Bein gab nach, dann das rechte. Eine kurze Explosion, als Kopf und Felsen aufeinanderprallten.

Kein Laut. Kein Gedanke. Dumpfe Stille.

So fiel der Kriegslord, Fürst von Dacorah, Terek, genannt der Sturm von Morgenrot, in den Staub. Zu Füßen der gewaltigen Sandsteinsäulen vor Urath á Taar, während die Wüste um ihn herum das tat, was die Wüste schon immer tut: Sie ruhte still und bedeckte alles, was in ihr ruhte, schweigend und unaufhaltsam mit Sand.

***

Man verzeichnete einen wunderschönen warmen Sommerabend inmitten dieser wunderbaren Stadt an jenem Tag. Die Luft war lau, und Schwärme zwitschernder, singender, gelbroter Palmschnäbler umkreisten den größten Turm, der sich inmitten des weitläufigen Palastkomplexes erhob.

In der Spitze dieses Turmes befand sich eine weiß getünchte, etwa sieben Meter hohe kreisrunde Halle. Die ausladende Kuppeldecke war vollends mit Spiegeln verkleidet, während Glasmosaike mit vielerlei farbigen Mustern den Boden bedeckten und ungezählten Edelsteinen gleich funkelten. Die Abendsonne strahlte durch bunt gestaltete, spitz nach oben zulaufende Glasfenster in den Innenraum hinein, und die Fenster des Turmes waren, vom Boden aus betrachtet, beinahe so hoch wie der Turmsaal selbst. Farbige Lichtreflexe illuminierten den Raum mit Strahlen in grünem Smaragd, rotem Rubin und blauem Lapislazuli, ähnlich der Gischt von sprudelnden Regenbogenstrahlen aus einer farbenspendenden Bergquelle. Ein herrlicher Abend.

Ein gedrungener, stämmiger Mann, mit kurzem grauen Haar und sorgfältig gestutztem Vollbart schritt durch das einzige Fenster ohne Glasbesatz hinaus auf den Balkon. Dieser war von den Erbauern ringförmig um den hohen Turm herum angelegt worden.

Er legte beide Hände auf die Balustrade und blickte über die unter ihm liegende Stadt hinweg. Sein Blick glitt dabei weit hinaus über die massiven Wehrmauern, deren Spitzen goldglänzend im Abendrot schimmerten. Er schien in weite Ferne zu blicken.

Leichte Windböen ließen den goldenen Umhang des Mannes von Zeit zu Zeit aufflattern. So stand er da, in Gedanken, während die Sonne langsam am Horizont versank.

Als das Tagesgestirn bereits zur Hälfte geteilt war und die letzten Vögel im Abendrot zurück in ihre Nester flatterten, hallten leise Schritte durch den immer noch bunt durchfluteten, allerdings mittlerweile dunkler gewordenen Saal. Vormals grellrote Lichtreflexe waren nun schwer wie Blut, und die schimmernden lapislazuliblauen Strahlen hatten sich in schweres Königsblau verwandelt.

Ein hochrangiger Ordonanzoffizier durchschritt den Raum und trat über die Schwelle des Balkons an den stämmigen Mann heran.

»Hoher Lord, der Bote ist eingetroffen.«

Kaum merkbar nickte der Mann an der Balustrade mit dem Kopf, und der Offizier zog sich zurück.

Nur wenige Augenblicke später erreichte der angekündigte Bote den Balkon und senkte demütig den Kopf.

Eine Windböe ließ den goldenen Mantel des Mannes mit dem kurzen grauen Haar erneut aufwallen.

Dann, irgendwann … ein weiteres, kaum erkennbares Nicken, und der Bote begann zu sprechen: »Hoher Lord, es ist getan.«

Erneut ein leichtes, kaum sichtbares Nicken, und der Bote machte sich davon.

»Habt ihr denn jeden Einzelnen gestellt?«, erklang eine schrille, fast geifernde Stimme aus einem hinteren Teil des Turmsaales.

Der Bote wandte sich überrascht nach rechts, von wo sich ein Mann in blutroter Robe aus einer dunkelgrün gelbvioletten Lichtkaskade schälte.

Es war ein feister Mann mit bleichem Gesicht, hohem schwarzen Hut und schweren silbernen Ketten, die er um seinen weichen schwammigen Hals zu tragen pflegte.

Der Bote senkte erneut den Kopf. »Ein Sandsturm kam uns zu Hilfe, Eure Hoheit. Wir haben sie alle niedergemacht.

Nachdem die Schlacht zu Ende war, brach dieser mächtige Wüstenblizzard über uns herein, sodass die Männer sogar die Plünderungen der Leichen einstellen mussten. Unsere Leute konnten gerade noch entkommen. Der Sturm hat allem, was danach noch lebte, das Fleisch von den Knochen geschabt. Es gibt dort draußen nur noch Knochen und Sand, Eure Hoheit.«

Heiseres Gelächter des Mannes mit der roten Robe und dem schwarzen Hut füllte den Saal. Und auf der Balustrade konnte man ein leichtes Nicken des Mannes mit dem goldenen Mantel und dem kurzen grauen Bart erkennen, und ein Mundwinkel schob sich für einen kurzen Augenblick nach oben.

***

»Der Sandsturm hat Euch gerettet.«

Das Echo einer fernen Stimme tönte in Tereks Ohren.

Er stammelte etwas, doch seine Zunge fühlte sich allerdings an wie ein Fremdkörper. Wie ein dicker, trockener Lappen, den ihm irgendjemand in den Mund gestopft hatte und der dort so nicht hingehörte.

Orientierungslos versuchte er, seinen Oberkörper anzuheben und sich aufzurichten, knickte gleich darauf mit einem Ellbogen wieder ein und sackte hart nach hinten weg. Tereks Augen schlossen sich.

Auf dem Rücken liegend, den Kopf zur Seite gedreht, erwachte er irgendwann erneut und versuchte, träge seine Lider zu öffnen. Er blinzelte ein paar Male, erkannte aber nur verschwommene Schemen. Nochmals schloss er die Augen. Nun für einen längeren Moment, hielt inne und versuchte erneut, seine Umgebung zu überblicken.

Schatten, unscharfe Bäume, Sträucher und diffuses grünes Dickicht.

»Was …, was ist … Wo bin ich?« Erneut versuchte sich der Kriegslord aufzurichten.

»Ihr müsst liegen bleiben«, hörte er eine nicht mehr ganz so ferne Stimme im Dunst seines Bewusstseins.

Noch immer benommen, versuchte Terek, sich zu vergegenwärtigen, wo er war. Warum er war, wo er war. Schlacht! Wie ein Blitz durchzuckten ihn die Bilder. Schwerter. Blut. Geschrei, Verwirrung und Chaos.

Ruckartig schnellte Terek nach oben, und tausend andere Male war er schon ruckartiger nach oben geschnellt. Seine linke Faust fuhr hoch. Genau in die Richtung, von wo aus er die Stimme vermutete, und traf … ins Leere. Die rechte Hand wischte zum Schwertgurt und fasste ebenfalls … ins Leere.

Er versuchte, sich aufzurichten, wurde aber von mehreren Händen an den Schultern gepackt und zu Boden gedrückt.

Geschlagen ließ er sich niederwerfen. Verharrte. Wartete. Versuchte, erneut hochzufahren, und wurde zum zweiten Mal auf den Rücken gepresst.

»Wenn wir Euren Tod wollten, hätten wir Euch nur im Sand liegen lassen brauchen.« Die Stimme eines älteren Mannes brandete in Tereks Ohren auf. »Wenn Ihr leben wollt, bleibt liegen, ruht Euch aus und schlaft.«

»Halt, nein, wo bin …? Was …? Wer seid …?« Mehr konnte Terek nicht sagen. Ein Lederschlauch mit einer süßlichen Flüssigkeit wurde ihm in den Mund gedrückt, und ein kräftiger Mann presste ihm unterstützend die Nase zusammen.

Der Kriegslord prustete, verschluckte sich, versuchte, nach Luft zu schnappen … Leere. Schwärze. Stille …

Als Terek irgendwann erwachte, erschien die Umgebung um ihn herum heller. War es Mittag? Ein neuer Morgen? Unmöglich zu sagen.

Terek schaffte es, sich aufzurichten, und fühlte sich besser, stärker. Er setzte sich in die Senkrechte und erblickte um sich herum geschäftiges Treiben. Kinder rannten über schroffe Steinpfade, Frauen mit Wasserkübeln unterhielten sich. Männer richteten ihre Speere oder brieten kleine Tiere an offenen Feuern.

Über ihm ragten hohe, helle Sandsteinfelsen in den Himmel, die die Schlucht, in der er sich zu befinden glaubte, in einen angenehmen Halbschatten tauchte. Dazwischen stachen mehrere Terrassen und Vorsprünge aus den Felsen, die allesamt aussahen, als wären sie direkt dem Sandstein entwachsen, hervor.

Natürliche, höhlenartige Vertiefungen in den Wänden dazwischen erweckten den Eindruck von gewaltigen schwarzen Mäulern.

Ein gutes Stück vor ihm endete ein solcher Terrassenvorsprung, und darunter erkannte Terek einen kleinen Teich, der von Büschen und niedrigen Bäumen umgeben war. Er war in den Klippen von Urath á Taar, so viel stand fest.

Es war bekannt, dass in den Klüften und Schluchten Menschen lebten. Das riesige Felsmassiv von Urath á Taar, das im Norden in den Felsennadeln auslief, von wo aus der Überfall stattgefunden hatte, und im Süden an das große Wüstenreich der Gottkönige von Asklepion grenzte, wurde durch eine große Schlucht, die Pforte von Saana’a, von Nord nach Süd in zwei gewaltige Hochplateaus geteilt. Wobei das östliche Plateau das weitaus größere und unübersichtlichere war. Hier musste Terek sich befinden. Aber wo genau?

Kein Herrscher, der Terek aus der Geschichte bekannt war, hatte je den Versuch unternommen, sich auf eine Eroberung von Urath á Taar einzulassen, weder die Völker zu versklaven suchen noch in Bündnisse zu bewegen. Dazu war das Felsmassiv zu weitläufig und unwegsam, und die Menschen, die hier lebten, waren einfach nicht zu finden ‒ wenn sie nicht gefunden werden wollten. Obgleich man von ihnen offensichtlich sehr schnell gefunden werden konnte, wenn sie es wollten.

Terek bemerkte auch kleinere Hütten und Umzäunungen, als er seinen Blick umherschweifen ließ, und erstarrte abrupt. Waren das seine Leute?

Er glaubte, den drahtigen Mann, der einige Meter rechter Hand vor einer Hütte saß, zu kennen. Der Soldat hatte die Stirn und einen Arm verbunden, nichtsdestotrotz erkannte er diesen Mann: Simion Nekori aus den Steppenlanden. Ein Lord der Schlacht und ein Mann seines Banners. »Nee …, krrrr …, rrrr …, hrrr«, versuchte er zu rufen, doch aus Tereks Mund kam nur ein Krächzen. Seine Kehle war rau wie Sandstein, und immer noch hatte er diesen unförmigen Lappen zwischen den Zähnen. Terek räusperte sich, versuchte es von Neuem und wollte mit seinem linken Arm auf sich aufmerksam machen, während er sich mit dem rechten am Boden abstützte. Der Kriegslord bekam den Arm allerdings nur bis zur Schulter gehoben, dann durchzuckte ihn ein stechender Schmerz. Terek sah den Verband an seinem Arm. Zumindest war der Arm noch da, wo er hingehörte. Gut so.

»Neeekoooriii«, krähte er erneut, und dieses Mal ging es tatsächlich deutlicher.

Der Schlachtenlord bemerkte Terek sofort, riss seinen gesunden Arm nach oben und humpelte, so schnell es ihm möglich war, in Tereks Richtung. »Hoher Protektor, Lord Terek. Wir haben gebetet. Es stand nicht sehr gut um Euch.«

»Oberst Nekori, so wie Ihr …, ahm, angehoppelt kommt, stand es um Euch wohl auch nicht unbedingt besser. Wie geht es Euch? Wie geht es den Männern?«

»Lord Terek, ich kam vor zwei Tagen zu Bewusstsein. Seitdem versuche ich, den Klippenleuten hier zur Hand zu gehen, um …«, er stockte, »… na ja, um dem Rest des Kommandos zu helfen, wieder auf die Beine zu kommen.«

»Dem Rest des Kommandos? Was bitte ist der Rest des Kommandos? Was war los?« Knapp drang die Frage aus Tereks Mund.

»Der Rest des Kommandos, Kriegslord, besteht im Wesentlichen aus Euch, mir und zwei Kriegsknechten, wobei einer der beiden ein Anwärter des Banners zu sein scheint, um den es aber, mit Verlaub … Wahrscheinlich geht es mit ihm bald zu Ende.

Die Klippenmenschen haben mir erzählt, dass es weitere Verletzte im Sand gab, die meisten waren jedoch zu schwer verwundet, um ihnen noch helfen zu können, und dann zog ein Wüstenblizzard von Osten her auf.«

»Der Prinz, was ist mit dem Prinzen?«

Nekori senkte den Blick und schüttelte bedächtig langsam den Kopf. »Im Sand, Lord Terek. Ich kannte ihn kaum, aber an den Kleidern der Geretteten sah ich, dass es kein Mitglied des Adels, weder tot noch halbtot, zu den Klippenmenschen geschafft hat, und alle, die noch im Sand zurückgeblieben waren, wurden vom Sturm zerrieben.«

Terek, immer noch benommen, senkte den Kopf, nickte stumm und ließ sich auf den Rücken fallen. »Nekori, holt mir Wasser und berichtet ausführlich! Wie lange sind wir denn schon hier? Wie kommen wir überhaupt hierher?«

»General, leider kenne ich selbst nur Bruchstücke und habe das ein oder andere hier und da aufgeschnappt, jedoch erschließt sich mir die Sache noch nicht. Allerdings haben die Klippenmenschen einiges von dem gesehen, was in der Wüste vor sich ging. Ich bin gleich zurück.«

Nekori erhob sich und humpelte, so schnell es ging, in Richtung der Quelle. Kurze Zeit später kehrte der verwundete Schlachtenlord mit einer jungen Frau, die einen Krug Wasser trug, sowie einem älteren und einem jüngeren Mann des Klippenvolkes zurück. Alle drei hatten von der Sonne gebräunte Gesichter, während das des älteren Mannes von der Sonne regelrecht gegerbt worden war und die Furchen um seinen Mund den rissigen Klippen des Sandsteingebirges in nichts nachstanden.

»Erzählt dem Kriegslord hinterher, was ihr gesehen habt«, hieß Nekori die Klippenleute. Die Frau reichte Terek den Krug.

Nekori setzte sich auf den Sandsteinboden rechts neben den Kriegslord, und die Klippenmenschen taten es ihm nach.

»Ich bin Belker, Bewahrer des Wassers und Stammesführer der tiefen Klippen von Saal ‒ Urath á Taar, wie ihr unser Land zu nennen pflegt. Dies sind mein Neffe Sala und meine Tochter Alix.« Belker deutete mit der Hand auf die beiden.

Terek wusste, dass sich alle Stammesoberhäupter in den Klippen Bewahrer des Wassers, Wasserschützer, Wasserverkündiger oder so ähnlich nannten. Sie bekamen von ihren Stämmen die Autorität verliehen, über die Wasserquellen in den Schluchten zu wachen, sodass diese nicht von den Bewohnern verunreinigt oder die knappen Ressourcen verschwendet wurden. Sie konnten sogar in Zeiten starker Trockenheit die Wasservorräte rationieren.

Da die Wasserquellen in den Schluchten das Überleben der einzelnen Stämme sicherten, konnte der Stammesführer drakonische Strafen für bestimmte Vergehen, die mit den Wasserquellen zusammenhingen, verhängen und sogar, sollte das Wasser des Stammes versiegen, Kriege gegen andere Schluchtenstämme ausrufen, um neue Ressourcen zu erschließen.

Dies endete nicht selten mit der Vernichtung eines der kriegführenden Stämme. In manchen Fällen, wenn eine Quelle des konkurrierenden Stammes ergiebig genug war, konnten unterschiedliche Stämme des Hochplateaus aber auch ineinander aufgehen.

Und so erzählte Belker dem Kriegslord seine Geschichte.

»Es war zwei Tage, bevor euer Heer an den Stelen des Windes angekommen ist. Ich war mit meinem Neffen Sala, der neben mir sitzt, an den hohen Außengrenzen unseres Wasserkreises unterwegs, als wir in der Ferne plötzlich etwas Dunkles sahen … Und nach drei Tagen seid Ihr erwacht. Und nun werden wir essen.«

Die grob zusammengezimmerte, knorrige Tafel aus altem Wurzelholz stand fest verankert ganz in der Nähe des kleinen Frischwasserteiches, den Terek kurz nach seinem Erwachen erblickt hatte. Dieser wurde aus einer Quelle gespeist, welche direkt dem Sandsteinfelsen entsprang. Hier war das Zentrum des Dorfes. Der Ort, an dem sich in den Abendstunden der ganze Stamm nach getaner Arbeit und den Strapazen des Tages zum Nachtessen traf.

Neben der Tafel loderte ein großes Feuer, über dem verschiedene Speisen zubereitet wurden und die kleine Schlucht gerade so erhellte. Das Licht drang jedoch nicht über die Klippen hinaus, dafür ließ es monströse Schatten an den hohen Sandsteinwänden tanzen. Das Sonnenlicht hatte die Schlucht derweil schon lange verlassen.

Der Kriegslord blickte Nekori eindringlich an. »Wir müssen aufbrechen, sobald wir uns gestärkt haben, dann haben wir noch einige Stunden im Schutz der kühlen Nacht.« Er hielt einen Spieß mit einer Art gebratener Eidechse in der Hand und ließ seinen nachdenklichen Blick langsam von seinem irdenen Wasserkrug in Richtung des Schlachtenlords wandern. »Wer weiß, was in der Zwischenzeit alles geschehen ist. Ihr, Nekori, werdet zurück nach Dacorah reiten, und zwar so schnell Ihr könnt. Dort werdet Ihr Euch Gehör verschaffen und dem Rat des Imperators Bericht erstatten. Corrin und ich reiten, wie geplant, nach Süden und werden versuchen, dem Drakal von Asklepion die Sache zu erklären. Mein Name ist bekannt, und ich hoffe, der Drakal wird mir auch ohne die hohe Abordnung Gehör schenken.« Euer Gnaden, geehrter Drakal, die verdammte hohe Abordnung aus Dacorah kann leider nicht vollumfänglich erscheinen, da sie in der Wüste liegt und verrottet.

»Belker aus Saal«, wandte sich Terek an den Bewahrer des Wassers, der zu seiner Rechten saß und ebenfalls an so etwas wie einer gegrillten Eidechse knabberte. Wir danken Euch und Eurem Stamm für Eure großzügige Hilfe und die Gastfreundschaft, die Ihr uns gewährt habt. Seid Euch des ewigen Dankes Seiner Hoheit, des Imperators von Dacorah, versichert. Wir benötigen Pferde, Essen und Wasser für etwa fünf Tage. ‒ Nekori, wie steht es um den anderen Überlebenden? Was sagtet Ihr, ein Anwärter Bannerträger?«

»Unverändert, General, und auf keinen Fall in der Lage, mit uns zu reiten.«

»Gut, dann überlassen wir ihn der Obhut der Klippenmenschen. Wenn wir aus Asklepion zurückkommen oder Ihr uns nach Eurer Rückkehr nach Dacorah eine Standarte entgegenführt, nehmen wir ihn mit. Sofern er dann noch lebt. Corrin, lasst Euch zeigen, wo unsere Rüstungen und Schwerter liegen, überprüft den Zustand und erstattet mir anschließend Meldung!«

»Jawohl, General!«

Corrin, im Rang eines Kriegsknechts, eines einfachen Gefreiten, war wohl um die sechzehn oder siebzehn Jahre alt, so kam es Terek zumindest vor. Er machte einen wachen und intelligenten Eindruck und diente bereits seit drei Jahren im Heer des Imperators.

Terek hatte den jungen Soldaten zuvor nicht gekannt, jedoch von ihm selbst erfahren, dass er zum Banner von Kriegslord Dorn aus Talint gehörte und unter den Besten seines Jahrgangs ausgewählt wurde, um seinen Kriegslord in der hohen Abordnung nach Asklepion zu begleiten.

Belker saß zur Rechten des Kriegslords, hatte die Stirn leicht gerunzelt und die dunklen Augen ernst zusammengekniffen.

»Das wird nicht gehen, wir haben keine Pferde, nur Maultiere.«

Es entstand eine kurze Pause, während sich Terek dem Bewahrer des Wassers zuwandte und ihm eigentlich etwas entgegnen wollte.

»Was?«

»Und außerdem ist es euch nicht gestattet, die Felsen von Saana’a zu verlassen.«

Belker sprach nicht bedrohlich, es hörte sich eher beiläufig und wie eine Selbstverständlichkeit an: »Niemand, der je bei uns eingekehrt ist, geht wieder zurück. Ihr werdet unser Volk bereichern, ihr habt ein zweites Leben geschenkt bekommen. Seid dankbar! Wir werden Euch mit Freude bei uns aufnehmen.« Belker lächelte sanft und zwinkerte Terek zu. »Und unsere Frauen mögen tapfere Krieger.«

Aus den Geschichten erinnerte sich Terek, dass die Leute der Klippen zwar vom Grundsatz her friedfertige Völker waren, jedoch abgeschottet für sich lebten und nicht gefunden werden wollten und zudem gerne auch dankbar für frisches Blut durch Neuankömmlinge waren.

Und nun ging es ganz schnell.

Noch ehe der Bewahrer des Wassers sein Lächeln zurücknehmen konnte, fand er sich mit dem Genick an die Kante der großen Tafel gedrückt. Terek krallte seine Hände tief in das schwarze, krause Haar des Mannes, riss dessen Kopf nach hinten und setzte dem alten Belker den fingerdicken Eidechsenspieß, an dem er eben noch geknabbert hatte, ans Auge. Faserige Fleischreste hingen noch daran.

Tereks Stimme war fast zu ruhig für die Schnelligkeit, mit der er Belker an der Tischkante fixiert hatte. »Nekori, stellt Euch hinter mich und schützt meinen Rücken mit Eurem Körper.«

Der Schlachtenlord stand bereits hinter ihm. »Wollt Ihr denn ein zweites Leben, Bewahrer des Wassers?«

Terek grollte tief und laut und sehr, sehr langsam.

Die Klippenmenschen hatten sich erhoben, aber wussten nicht so recht, mit der Situation umzugehen, dafür ging alles zu schnell.

Corrin war ebenfalls aufgestanden und bewegte sich langsam und mit wachsamem Blick an die Seite von Nekori, um den Kriegslord abzuschirmen.

Belker war zu überrascht und schockiert, um etwas zu sagen.

Terek beugte sich tief an Belkers Ohr und flüsterte: »Wenn ich diesen Stock durch Euer Auge in Euren Schädel bohre, seht Ihr aus wie ein Einhorn. Ein totes Einhorn allerdings. Wisst Ihr, wie ein verdammtes totes Einhorn aussieht? Ich schon. Euch wird nichts geschehen, hört mir zu.« Terek richtete sich auf und sprach lauter und nochmals etwas langsamer als zuvor. »Keiner …, keiner bewegt sich! Keiner!«

Tief und zischend zog er die Luft durch seine Nase ein. »Bewahrer, ich frage Euch noch einmal: Wollt Ihr ein zweites Leben geschenkt bekommen?«

Immer noch zu schockiert angesichts der Situation, entgegnete Belker nichts und riss nur seine, mit tiefen Falten umrandeten dunkelbraunen Augen auf.

Da hörte Terek hinter sich leises Flüstern: »Du bist nervös, das bin ich auch, zeig es nicht«, besprach sich Nekori mit Corrin. »Tu, was ich dir gesagt habe. Los!«

Corrin machte eine schnelle Drehung, griff der jungen Frau Alix, die neben ihnen am Tisch saß, in ihre langen schwarzen Haare und riss sie von der Sitzbank. Kreischend und zeternd schrie sie auf, während Corrin sie mühevoll mit seinem rechten Knie auf den Boden niederdrückte. Für einen unbeholfenen Moment blickte Corrin sich um, wusste nicht genau, was tun, fing sich wieder, ergriff einen kantigen Sandsteinbrocken und holte aus. So verharrte er, den schweren Stein drohend über Alix’ Kopf schwenkend.

Mit einem kurzen Seitenblick erkannte der Kriegslord die Situation, nickte knapp und zwang den Kopf des Klippenmenschen in die Richtung, in der Corrin auf Alix kniete.

»Belker, Bewahrer des Wassers, reißt Euch zusammen! Wollt Ihr Alix ein zweites Leben geben?«

»Ja!«, krächzte Belker knapp, während sich Corrin mit dem Stein in der Faust ein wenig entspannte. Geht doch. Terek war erleichtert.

»Ich will nur Euer Wort. Bekomme ich Euer Wort?«

Belker nickte langsam.

»Wir müssen euch verlassen, und zwar schnell.« Terek ließ sich das Pochen in seinem Schädel und das heftige Brennen in seinem Arm nicht anmerken. »Wir haben einige sehr wichtige Dinge zu tun. Ihr gebt uns Maultiere, Wasser und Proviant. Danach verbindet uns die Augen und führt uns aus der Schlucht. Glaubt mir, bei meinem Wort als Fürst Seiner Majestät, ihr habt nichts zu befürchten und seid nach wie vor der Schuld des Imperators gewiss.« So bewahrt er hoffentlich das Gesicht vor seinen Leuten – und vor sich selbst. »Habe ich Euer Wort?«

»Ihr habt mein Wort«, stieß Belker leise hervor.

»Lasst es sie hören, Euer Volk. Sprecht lauter!«

»Ihr habt mein Wort!«, krächzte Belker nun angestrengt.

Und beinahe so schnell, wie der Eidechsenspieß zuvor unter Belkers Auge angesetzt war, nahm Terek ihn beiseite, ließ den Bewahrer sich setzen und setzte sich selbst, nahm eine weitere gegarte Eidechse, goss sich und dem Bewahrer des Wassers Wasser ein und trank.

»Danke«, sagte Terek leise.

Corrin stand etwas unbeholfen auf und half der jungen Frau, die er gerade noch am Boden hielt, auf die Beine.

Als er bemerkte, dass er immer noch den Stein in der Hand hielt, ließ er ihn fallen und kratzte sich verlegen im Nacken. »Ähm …, tja, musste wohl sein.«

Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, setzte sich Alix wieder an ihren Platz und ließ sich von einer älteren Frau, die noch runzliger war als Belker, tröstend in den Arm nehmen.

»Nekori, Ihr seid in besserer Verfassung als ich und als Ranghöchster des Kommandos nach mir.« Und als beinahe einziger Überlebender. »Reitet nach Dacorah, wie wir es besprochen hatten. Heute Nacht. Erzählt dem Imperator, was geschehen ist, beschönigt nichts und verschweigt nichts. Wir wurden überrascht und komplett aufgerieben. Es ist nun einmal so, wie es ist. Ich kann mir noch immer keinen Reim auf diesen Überfall machen, aber vielleicht können die Weisen des Imperators etwas erkennen. Erzählt dem Imperator, ich würde wie geplant zum Drakal nach Asklepion reiten, mit der Hoffnung, dass er mich auch ohne die große Repräsentanz empfangen wird. Immerhin verkörpere auch ich als Lord des Krieges und Hochprotektor des Nordens das Reich. Nun nehmt Euch, was Ihr braucht, und macht Euch fertig!«

Ohne eine Erwiderung vonseiten Nekoris abzuwarten, wandte er sich dem Kriegsknecht zu. »Corrin, mach das Gleiche, such deine Ausrüstung zusammen und was du sonst noch benötigst. Den Toten nimmst du Gold und Silber ab, wenn du welches findest. Weißt du, wie der Helm eines Kriegslords aussieht?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr Terek fort. »Sucht ihn und mein Schwert! Es sollten die gleichen Flügel wie am Helm eingearbeitet und irgendwo mein Titel und mein Name an der Oberseite der Scheide, etwa auf der Höhe am Ricasso, eingraviert sein. Wenn Ihr der Meinung seid, Ihr habt alles, legt Euch ein paar Stunden aufs Ohr, wenn Ihr zum Aufbruch nicht ausgeruht seid, wird’s ein unangenehmer Tag. Ich werde Euch vor Tagesanbruch wecken.«

»Jawohl, General, Lord Terek.«

Corrin wandte sich ab und trottete in die nächtlichen Schatten, die vom Lagerfeuer bisweilen an die schroffen Felswände geworfen wurden.

Terek knabberte an einer weiteren Eidechse. Die starken Sandwurzelkräuter, mit denen die Schluchtenmenschen an ausgelassenen Abenden ihr Wasser zu versetzen pflegten, und das regelmäßige, dumpfe Pulsieren in der Schulter seine Gedanken abschweifen ließen, zurück an den Tag ihres Aufbruchs …

»Hätten wir je Asklepion eingenommen, wäre der Aufmarsch an Würdenträgern wohl kaum größer gewesen«, spottete Kriegslord Dorn aus Talint, während er neben Terek auf einem rotbraunen Schlachtross durch die Prozessionsaufstellung trabte.

Terek grinste, er mochte den alten Dorn, der bereits jetzt eine lebende Legende war und schon lange ein Kriegslord, als Terek sich seine ersten Sporen in der schwarzen Rüstung eines imperialen Schlachtenlords im Norden verdiente.

»Wenn es nur nicht so früh am Morgen wäre und wir nicht alle in Unterwäsche ausreiten würden«, amüsierte sich Terek.

»Na ja, zumindest dem kann ich etwas abgewinnen. Bin, ehrlich gesagt, ganz froh, dass der Rat es uns freistellt, nicht tagelang in voller Rüstung durch die Wüste zu reiten, wahrscheinlich würde dann nicht einmal die Hälfte von uns ankommen.«

»… und die, die ankommen, würden alle Oasen des Drakals so schnell aussaufen, dass wir Asklepion ohne einen einzigen Schwertstreich einnehmen könnten.«

Diesmal lachte Dorn. In seiner, kehligen, abgehackten Art klang es wie das Meckern einer Ziege, was Terek jedes Mal ein Schmunzeln abrang.

Terek schaute sich um, und tatsächlich trugen fast alle Krieger nur leichte Lederrüstungen und dünne Umhänge. Bei genauem Hinsehen erkannte man anhand der Rangabzeichen auf der Brust und verschiedenfarbigen Abzeichen an der Soldatenkleidung die einzelnen Waffengattungen und auf welcher Hierarchiestufe die Lords, Ritter und Gardisten standen. Die Stimmung war ausgelassen, und sogar einige klerikale Würdenträger scherzten untereinander.

Einen Aufmarsch wie diesen hatte selbst Terek noch nie erlebt. Die wichtigsten Fürsten waren angetreten, dazu hohe geistliche Würdenträger und ein riesiger Versorgungstross mit den Prunkrüstungen der Lordschaften und erlesenen Gastgeschenken für den Drakal. Zudem wurden jede Menge Wasser und ausreichend Vorratsrationen verladen.

Unter normalen Umständen wäre der zentrale Versammlungsplatz von Shivanesse von jubelnden und blumenwerfenden Menschen übergelaufen. Allerdings hatte der Hohe Rat in weiser Voraussicht erlassen, die Aufstellung außerhalb der Stadtmauern zu organisieren, und der Abmarsch sollte bereits mit den ersten Sonnenstrahlen erfolgen.

»Jetzt will der alte Hund also doch einen richtigen Anlauf für einen Waffenstillstand machen, so etwas hatten wir seit, glaube ich, zweihundert Jahren nicht mehr. Wahrscheinlich will er als Trilos der Friedfertige in die Geschichte eingehen«, gluckste Dorn.

»Na ja, soll mir recht sein, vielleicht kann ich mich sogar bald zur Gänze auf meinen Weinberg oben an der Küste, an den Hängen von Lesseth, zurückziehen, meinen Enkeln Holzschwerter basteln und ein bisschen darauf einwirken, dass sie nicht irgendwann Priester oder Kaufleute werden wollen, hehehe! Jeden Abend werde ich auf der Terrasse sitzen. Kann mir die ankommenden Schiffe ansehen, wie sie über die glitzernden Wellen in der Abendsonne im Hafen von Salassa einlaufen, die angenehme Meeresbrise im Gesicht, und mir einen anständigen Roten zu Gemüte führen.«

»Ja, genau. Du und Ruhestand. Und zwei Wochen später suchst du dir irgendwo einen Gaul, nimmst deinen Schnitter von der Wand und stehst an der Spitze der Dritten, um dir die Eisriesen zu unterwerfen«, scherzte Terek.

»Nein, lieber Freund, ich glaube, dieses Mal ist es anders. Ich glaube, Barden sollten eines Tages besser Lieder über meinen Wein singen als über meine geschlagenen Schlachten. Außerdem glaube ich, ist es in den Ausläufern des Eisgebirges ein wenig zu kalt, um Wein zu keltern.«

»Du meinst es ernst.«

»Ehrlich gesagt, habe ich mich tatsächlich gefreut, als der Hohe Rat dieses Waffenstillstandsdekret erlassen hat. Unser Rat hat wohl seit längerer Zeit im Geheimen mit den Leuten aus Asklepion verhandelt. Und der Imperator hegt ja schon seit langem keinen Zweifel daran, dass er eine Einigung für einen Waffenstillstand herbeiführen will. Nun müssen wir mal abwarten, was dabei herauskommt. Aber ich glaube, selbst der Drakal von Asklepion hat noch nie eine so beeindruckende Abordnung wie diese erlebt. Also wenn das mal keinen Eindruck macht!«

Dorn deutete mit der offenen Handfläche hinter sich. »Wenn wir zurück sind, Lord Terek, werden wir die ein oder andere Karaffe miteinander leeren, und dann ist es an Euch, das Gebiet der Eisriesen ins Reich einzuverleiben.« Dorn gluckste abermals und gab seinem wiehernden Pferd die Sporen.

Corrin!

Terek schreckte aus seinen Erinnerungen auf, legte seinen Eidechsenspieß in die Holzschale vor sich und stapfte in Richtung der Hütten, von wo er Corrins Schrei vernommen hatte.

»Was ist passiert?«, keuchte Terek, als er eine der Türen mit einem kräftigen Tritt aufstieß.

»Ahm, nichts, General Terek, bin nur erschrocken. Ich wollte mir Euer Schwert ansehen und nach den Intarsien suchen, damit es auch das richtige ist. Hab es aus der Scheide gezogen, und mit einem Mal ist die Scheide auseinandergesprungen.«

»Wie die Beine einer gelenkigen Kurtisane, sagte der Hochmeister Schmid einst zu mir«, ergänzte Terek.

»Die kleinen Eigenheiten eines Offiziersschwertes. Offiziere tragen bei uns seit Jahrhunderten keine Lanzen mehr, doch falls man mal eine braucht, drückt man mit zwei Fingern gleichzeitig hier und hier dagegen, und die Scheide klappt durch eine Federung und dieses Gelenk hier oben auf der Innenseite …« Terek zeigte es Corrin mit dem kleinen Finger. »… auseinander, sodass daraus ein kurzer Wurfspeer wird.

Versuch, es wieder zusammenzuklappen, so wie ich es dir eben gezeigt habe. Und dann such die restlichen Sachen zusammen und legt euch schlafen. In wenigen Stunden brechen wir auf. Ach ja, eines noch.« Terek drehte sich noch einmal um. »Das Schwert heißt Seelenklage, und ich habe dir nicht gesagt, du sollst es aus der Scheide ziehen.« Terek beobachtete Corrin einen Moment, dann zwinkerte er dem Gefreiten zu und wandte sich ab.

Als Terek aus der Tür trat, lehnte Nekori draußen an der Hüttenwand und schmunzelte. »Gelenkige Kurtisane? Nicht schlecht. Einmal, als ich diesen einen, letzten Krug Wein zu viel hatte, bin ich auch mal auf das Ding gefallen, ist aufgeklappt und hätte beinahe meine Eingeweide an die frische Luft gesetzt.«

»Es sind schon bessere Männer als wir beide auf schändlichere Art gestorben – und Freund Wein ist dabei nicht selten mit im Spiel.« Terek lachte.

»Wie weit seid Ihr mit Euren Vorbereitungen?«

»Ich bin so weit fertig, muss nur noch auf mein Maultier klettern und losreiten.«

»Gut, dann lasst Euch aus der Klippe führen. Gute Reise! Es hängt viel davon ab, dass Ihr schnell vorankommt, nehmt Euch lieber noch ein oder zwei weitere Maultiere mit, und reitet sie abwechselnd.«

»Mach ich, Lord Terek.«

Sie reichten sich die Hände.

»Schwertzeit.«

»Schwertzeit.«

Nekori verschwand im Schatten der Klippen.

Terek machte sich auf den Weg zu einem nahen Felsvorsprung auf der anderen Seite des kleinen Teiches, wo er sich die nächsten Stunden ausruhen wollte. Und so dauerte es nicht lange, bis der Kriegslord wieder vor sich hindämmerte …

»Lord Terek, wir sind zum Abmarsch bereit!«, meldete die Stimme eines jungen Rittmeisters.

»Danke, Ritter.«

Terek gab seinem Pferd die Sporen und setzte sich in Bewegung, in Richtung der Spitze der Kolonne.

Kriegslord Dorn stand schon bereit, neben ihm Kriegslord Nothor vom Stein, der eher die gegenteilige Erscheinung des massigen Dorn verkörperte.

»Sind wir vollzählig?«, fragte Terek.

»Beinahe«, entgegnete ihm der Kriegslord vom Stein. »Wir warten nur noch, bis sich die Klerikalen zwischen uns und das Diplomatenkorps vorne an der Spitze geschoben haben, und dann kann’s losgehen.«

Terek war verwundert. Sogar der sonst so bittere Nothor vom Stein, der in seinem Leben einige schwere Schicksalsschläge zu viel wegstecken musste, wirkte irgendwie gelöst und für seine Verhältnisse beinahe gesprächig und entspannt.

»Eigentlich schon ein kläglicher Haufen, mit dem wir da nach Asklepion reiten«, spöttelte Terek und schnalzte mit der Zunge.

»Kläglicher Haufen? Die gesamte Herrlichkeit der Welt ist hier versammelt, und du nennst das einen kläglichen Haufen?«, raunzte Dorn.

»Das meinte ich nicht. Wir reiten ins Kernland unseres Erzfeindes und haben Klerikale, Lords, Fürsten, Diplomaten, Kaufleute und eine Handvoll Truppen im Gefolge. Friedensritt hin oder her, aber wenn der Drakal seine Meinung ändert, könnte die Sache ganz schön haarig werden.«

»Hatte ich dir das noch gar nicht gesagt? Ach ja, ich hatte mit Nothor vorhin darüber gesprochen. Gestern ergab sich noch eine kurze Unterredung mit dem Protogeneral.

Novia meinte, an der Südgrenze, direkt bei den Klippen von Urath á Taar, wird die achte Grenzgarnison von Westen zu uns stoßen, um unserem kläglichen Haufen ein wenig waffenstarrende Würde und Mannstärke zu verleihen.« Dorn meckerte wieder. »Alles harte Hunde, und dazu ein Truppenteil der Ersten. Brauchst also keine Angst haben.«

Terek zog einen Mundwinkel nach oben. »Na, wenn das so ist, sieht der Tag ja gleich ganz freundlich aus.«

Terek nickte zufrieden und wendete Kopf und Pferd, um sich die Aufstellung der Soldaten, Kaufleute und den Rest des Trosses anzusehen, der mittlerweile hinter ihnen Aufstellung genommen hatte oder im Begriff war, Aufstellung zu nehmen.

Blasse Sonnenstrahlen beleuchteten schüchtern den Horizont, und es wurde Zeit, sich in Bewegung zu setzen.

Terek ließ seinen Blick über die Soldaten schweifen und blieb für einen Augenblick im Pulk der Kriegsknechte und Anwärter Bannerträger hängen. Diese formierten sich gerade unter dem Kommando eines Feldwebels.

Er erblickte den jungen Prinzen Liron, der sichtlich Mühe hatte, seinen Platz im Gewirr der jungen Krieger, den besten ihrer Jahrgänge, zu finden.

Liron war das einzige Kind, das Kaiser Trilos noch im fortgeschrittenen Alter vergönnt war. Der zweite Anlauf, nachdem seine erste Frau, Königin Celiah, nach langer Krankheit kinderlos verschieden war.

Trilos hatte daraufhin mit einer Frau, deren Leumund mehr als zweifelhaft war, ein Kind bekommen, jedoch war die Thronfolge damit gesichert.

Es war üblich in Dacorah und auch in vielen anderen Teilen des Kontinents, die kommende Herrschergeneration einer militärischen Ausbildung zu unterziehen, um sich die künftige Loyalität der Truppe zu sichern und die heranwachsenden Reichsträger auf die Härte der Regentschaft vorzubereiten. Nach dieser Mission sollte für den Prinzen die Zeit der Anwartschaft vorüber sein, und er durfte das Banner des vierten Bataillons unter Kriegslord Nothor vom Stein auf die Schlachtfelder führen …

Terek schrak auf. Bannerträger, Anwärter Bannerträger, einer lebt doch noch. Verdammt!

Wie vom Donner gerührt, richtete sich der Kriegslord auf, kam in den Stand, verfiel die ersten Meter in einen leichten Trab und rannte schließlich hastig in Richtung der Hütte, in der noch ein Überlebender lag.

Als Terek vor der knorrigen Tür stand, hielt er einen Augenblick inne, atmete, schob den Riegel nach oben und schwang die Tür vorsichtig auf. Langsam ging er auf die Holzbahre zu, die als einziges Möbel in der Mitte des runden Raumes stand.

Die Wände waren grob mit Lehm verputzt, und darauf hatten die Bewohner ein niedriges Dach aus Stroh und trockenen Zweigen gesetzt. Es roch nach Schweiß und menschlichen Ausdünstungen. All dies wurde überlagert vom starken Duft scharfer Gewürze und heilenden Wüstenkräutern.

Vereinzelt standen Töpfe mit glimmenden Kohlen auf dem Boden. Dichter Rauch quoll daraus hervor, drang in Richtung Decke und mischte sich mit den anderen Düften im Raum. Es war stickig und heiß.

Der Liegende atmete flach, und durch die Kräuterpaste auf seinem Gesicht konnte Terek erst einmal nicht viel erkennen. Soll Belker später einen neuen Sud anrühren lassen.

Terek nahm eine Fackel von der Wand, kniete sich neben die Bahre und bröckelte vorsichtig die verkrustete Kräuterschicht vom Gesicht des Liegenden. Ziemlich aufgeschürft, aber nicht deformiert, keine Keule abbekommen. Glück gehabt.

Stück um Stück legte Terek das wunde Gesicht frei. Stück für Stück erkannte er mehr, und was er sah, genügte.

Bedächtig erhob sich der Kriegslord, atmete langsam ein und wieder aus, senkte nachdenklich den Kopf und trottete hinaus in die Dunkelheit.

Nur noch wenige Stunden blieben bis zum Aufbruch.

Der Kriegslord wandte sich wie ein Wurm auf seiner Strohmatte. Er hatte sich unter einem Felsvorsprung etwas abseits der Hütten niedergelegt, um Ruhe zu finden, fand jedoch sehr lange nicht in den Schlaf.

Wie ein Knäuel frisch gefangener Aale in einem schlammigen Eimer wuselten zu viele Gedanken in seinem Kopf umher.

Der Großteil von Dacorahs Würdenträgern verrottete gerade im bleichen Mondlicht draußen in der Wüste. Keine Handvoll hatte den Überfall überlebt, und der junge Thronfolger rang in einer stickigen Hütte mit dem Tod.

Warum, verdammte Axt, sollte uns der Drakal mitten im Kernland von Dacorah überfallen? Konnte er das überhaupt? Niemand kommt unbemerkt über die Grenzen, und vor allem nicht mit einem Heer! Welchen Sinn sollte es machen, wenn dieFührer von Schwert, Banner, Münze und Glaube ausgeschaltet sind? Nach wie vor stehen die Armeen von Dacorah fest in ihren Garnisonen über das Kernland verteilt und jederzeit zur Verteidigung bereit.

Der Drakal hätte mit all seinen Armeen gleichzeitig alle strategischen Punkte, sowohl an den Grenzen als auch im Inland, einnehmen müssen. Aber so etwas war unmöglich und unbemerkt schon gar nicht. Zudem sind die wichtigsten Säulen des Reiches, Rat und Imperator, nach wie vor sicher in ihren Palästen – hoffentlich ‒ und wissen womöglich nicht einmal, was hier geschehen ist.

Es kann nicht der Drakal gewesen sein. Niemals. Das macht einfach keinen Sinn! Was mache ich jetzt mit dem Prinzen? Hierlassen? Zu unsicher! Mitnehmen? Zu gefährlich! Verdammt!

So dachte Terek noch lange im Kreis, und die Aale in seinem Kopf wimmelten und wuselten. Bis …, bis er wohl doch irgendwann eingenickt war.

»Lord Terek, Lord Terek …«

Der Kriegslord öffnete ein Auge.

»Können wir los?«, hörte er Corrin fragen. »Die Maultiere sind beladen, und Belker und Alix und noch ein paar andere warten bereits auf uns.«

Terek öffnete ein zweites Auge, blinzelte gegen das Morgenlicht und richtete sich auf. »Wollte nicht ich dich wecken?« Er blinzelte noch einmal, ehe er vollständig klarsah.

»Ähm, ich war schon sehr früh wach und konnte nicht mehr einschlafen, also habe ich gleich die Ausrüstung verstaut und die Maultiere beladen. Hier, Euer Schwert.«

»Gut gemacht.« Terek gähnte und griff nach Seelenklage. »Dann lass uns aufbrechen!«

Der Ritt über die verschlungenen Pfade durch die Sandsteinfurchen des Plateaus gestaltete sich länger und umständlicher, als Terek es im Vorfeld vermutet hatte. Zudem machte seiner Schulter jede Unebenheit des Bodens zu schaffen. Terek hatte sich entschieden, den Prinzen hier in Urath á Taar zurückzulassen, damit ihn die Klippenmenschen gesund pflegen konnten.

Nach dem, was er am Vorabend in der Hütte gesehen hatte, und auch nach Belkers Einschätzung würde den jungen Prinzen schon ein Tagesritt durch die Wüste umbringen, wenn nicht allein schon der Abstieg aus dem Felsplateau.

War es die richtige Entscheidung? Was, wenn er aufwacht und sich als der Thronfolger zu erkennen gibt? Was ja durchaus nicht unwahrscheinlich wäre. Welche Gedanken kommen dann so einem Klippenmenschen in den Sinn? Lösegeld? Selbst wenn der Prinz nicht auf den Gedanken kommt zu sagen, wer er ist? Was, wenn sie ihn nicht mehr pflegen, wenn wir weg sind? Warum sich um einen Soldaten kümmern, der einem Reich dient, dessen Absolutheitsanspruch die Klippenmenschen in ihrer Abgeschiedenheit und ihren eigenen Gesetzen ohnehin nicht anerkennen? Ich brauche mehr Sicherheit …

Das Maultier stolperte an einem Felsvorsprung.

Verdammte Augenbinde! Terek musste sich mit ganzer Kraft seiner Oberschenkel an dem Vieh festklemmen, damit er nicht herunterstürzte, und so machten auch seine Gedanken wieder einen Sprung wenige Tage zurück …

Die Nacht war schon lange hereingebrochen, als Terek von der Inspektion seines Kommandoteils zurück zum großen Stabszelt trottete. Im Zelt versammelten sich nach jedem Tagesritt die Generäle, Klerikale und viele andere Vertreter der Reichsrepräsentanz, um den kommenden Tag zu planen. Aber auch, um zusammen Wein zu trinken.

Terek fror und schlang die Arme um sich. Er freute sich auf die versammelte Runde und natürlich auf das doch sehr behagliche warme Zelt. Beeindruckend sah es aus, aus tiefrotem Leinen war es gewoben. In seinem Inneren leuchteten schon eine Menge heller Feuer, und warme Kohlebecken schwelten vor sich hin.

Wie ein gigantischer glühender Rubin inmitten von kleinen Diamanten aus Mannschaftszelten ragte es in den schwarzen Nachthimmel der Wüste. Fast wie die Reflexion von Mond und Sternen über ihnen.

Ein Kälteschauer ließ den Kriegslord erzittern.

»Gute Entscheidung, Sturm. Ich muss sagen, wirklich gute Entscheidung«, hörte er Dorn hinter sich rufen. Dieser kam gerade von seiner Truppeninspektion zurück und stapfte geradewegs auf Terek zu.

»Wie meinen, Lord Bär?« Bedächtig langsam drehte Terek den Kopf zur Seite, sehr darauf bedacht, nicht noch eine Schicht Gänsehaut auf seine schon vorhandene zu bekommen.

»… meinte, den Tag über zu reiten. Ich muss ehrlich sagen …« Dorn hatte ihn nun fast erreicht und atmete ein paar Male kräftig durch. »Wäre es alleine nach mir gegangen, wären wir die Nächte durchgeritten und hätten in der Hitze des Tages geruht.« Er machte eine Pause. »Aber so, wie das jetzt aussieht, wären mir in der Dunkelheit ohne ein paar wärmende Feuer mehr Leute erfroren als die paar Jungs, die sich in den letzten Tagen wegen eines kleinen Hitzeschlages die Eingeweide rausgekotzt haben. Und geschlafen hätte in der Mittagshitze wohl auch keiner.«

Kriegslord Dorn, der Bär aus Talint, legte Terek den Arm um die Schulter. »Komm, Junge, jetzt gehen wir erst mal rein, setzen uns in einen weichen Sessel und wärmen uns von innen auf. Habe ein paar verdammt gute, ich meine so richtig gute Jahrgänge in den Geschenkwagen für den Drakal gesehen. Wahrscheinlich werden es nicht alle Fläschchen bis nach Asklepion schaffen.« Dorn zwinkerte Terek zu.

»Na, das lass ich mir nicht zweimal sagen«, frohlockte der jüngere der beiden Generäle, und so drängten die beiden durch den schweren Eingangsvorhang ins Innere des Zeltes.

»… natürlich wäre es eine große Geste gewesen, wenn der Imperator selbst den Zug nach Asklepion anführen würde, aber eben völlig unangemessen«, hörte Terek den Lordmarschall referieren, der in einer Traube von Kaufleuten und Klerikalen stand und sich offensichtlich in einer Diskussion verfangen hatte.

Als Terek General Nothor in der Gruppe stehen sah, beschloss er ohne Zögern, sich zu der Gesellschaft dazuzugesellen.

»Wer die diplomatischen Spielchen kennt, weiß, dass ein König in solchen Angelegenheiten nicht auf einen anderen König zugeht und selbstredend auch nicht zugehen kann. Für so etwas sind nun einmal Unterhändler wie wir zuständig, meine Herren.

Versucht, Euch doch einmal in den Drakal hineinzuversetzen, Eure Lordschaft«, sprach er in höflichem Tonfall auf den Negus von Ostrien ein, der in der klerikalen Hierarchie direkt dem Erzpatriarchen unterstand.

Der Negus, ein ältlicher kleiner Mann mit strähnigem grauen Haar und wachen, kleinen Vogelaugen, verschränkte die Arme hinter seinem blutroten Talar und schien kurz darüber nachzudenken. »Natürlich, ich verstehe. Wenn der Imperator tagelang durch die staubige Wüste reiten und dann auch noch im Palast der gegnerischen Partei vorsprechen müsste, könnte man das als Schwäche und möglicherweise sogar als Unterwerfungsgeste interpretieren.«

Lord Marschall Kretas schnalzte mit der Zunge. »Genau. Und stellt Euch nur einmal vor, ob gewollt oder auch nicht, der Imperator samt Delegation würde nicht sofort zum Drakal durchgelassen werden und müsste vor den Audienzsälen warten, oder irgendjemand würde einige Punkte des Protokolls nicht einhalten. Ich mag gar nicht daran denken.

Eines darf bei derartigen Verhandlungen niemals passieren: Der Herrscher, egal von welcher Partei, darf sein Gesicht nicht verlieren. Bei uns hingegen …, na ja, wir repräsentieren das Reich, sind jedoch nicht das Reich in Person. Da macht dann unter Umständen auch ein bisschen Warten im Vorzimmer nichts aus.«

Die Umstehenden lachten und nickten zustimmend mit den Köpfen.

»Zudem bin ich als Regierungsmitglied schließlich mit allen Vollmachten des Reiches betraut. Ich denke also schon, dass wir das auch ohne den Imperator ganz gut hinbekommen werden.«

Guter Mann! Eine gewisse Zuversicht, in den nächsten Tagen einen historischen Moment erleben zu können – nämlich einen Waffenstillstand zwischen Dacorah und Asklepion ‒ stieg in Terek auf und kroch als warmer Schauer über seinen Rücken.

»Kommt, General vom Stein«, flüsterte Terek und packte Nothor bei der Schulter. »Ich glaube, Dorn hat uns einen Tisch und einen guten Tropfen besorgt.«

Terek schreckte auf, als das Maultier abrupt zum Stillstand kam. »Wir sind da«, hörte er Belker in gedämpften Worten sprechen. Er musste bereits einige Meter vor Terek zum Stehen gekommen sein.

Terek nahm seine Augenbinde ab, blinzelte einige Male, denn die Wüstensonne stach ihm in die Augen. Mit einem einzigen Satz stieg der Kriegslord von seinem Maultier.

»Du kannst die Augenbinde abnehmen, Corrin.«

»Vielen Dank«, sagte er, an Belker gewandt, »für Eure Gastfreundschaft …«. Der Prinz, der Prinz, der Prinz ‒ verdammt, der Prinz! Was mach ich mit dem verdammten Prinzen? »… und dafür, dass Ihr uns das Leben gerettet habt.«

Der Kriegslord ging auf Belker und seine Leute zu. Er hatte eine Entscheidung getroffen.

»Und dafür, dass Ihr uns zu essen gegeben habt. Eine Bitte habe ich noch an Euch!«

Terek streichelte am Hals von Alix’ Maultier entlang.

»Einer meiner Männer liegt noch zur Genesung bei Euch. Es ist mir ein großes Anliegen, ihn gesund bei unserer Rückkehr wieder hier vorzufinden.«

»Es steht nicht sehr gut um ihn«, entgegnete Belker kühl, dem der Vorfall vom vergangenen Abend vermutlich noch immer im Gemüt saß. Terek streichelte Alix’ Maultier mit der linken Hand am Nacken und führte diese dabei weiter Richtung Sattel.

Blitzschnell umschlang er mit dem linken Arm Alix’ Hüfte und riss die junge Frau mit einem einzigen Ruck vom Rücken des Tieres, während er Seelenklage hastig aus der Seitenscheide zog.

»Quiieeeck!« Alix schrie und zeterte und schlug unkoordiniert um sich, sodass Terek den Kopf einziehen musste, um nicht getroffen zu werden.

»Ich glaube, Eure besten Heiler werden sich seiner annehmen. Einstweilen werden Corrin und ich Eurer Tochter die Wunder von Asklepion zeigen. Ihr wird nichts geschehen, das verspreche ich Euch. Ach, und stellt Späher auf, damit Ihr uns bei unserer Rückkehr rasch erkennt.«

Belker stand der Mund weit offen.