Dagegen die Elefanten! - Dagmar Leupold - E-Book

Dagegen die Elefanten! E-Book

Dagmar Leupold

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Beschreibung

Herr Harald ist der Mann in der Garderobe. Er gehört zum Theater wie der Vorhang, aber niemand kommt seinetwegen, das Rampenlicht ist für andere. Er nimmt den Menschen die Mäntel ab, die Taschen, was immer sie ihm anvertrauen, um für kurze Zeit unbeschwert zu sein, und wartet bis zum Schlussapplaus, das ist sein Einsatz. Doch eines Abends bleibt ein Mantel zurück, und in dem Mantel findet sich eine Pistole. Herr Harald trägt sie nach Hause, nur: Was will er damit tun? Er kann sich schlecht gegen alles zur Wehr setzen, was ihm an der Welt und den Mitmenschen als Zumutung erscheint. Aber vielleicht kann er ihre Aufmerksamkeit auf jemanden lenken, der wie er ein Schattendasein führt: die Frau, die für einen anderen die Noten umblättert und die er aus der Ferne verehrt.Der tragische wie komische Protagonist dieser hinreißend erzählten Geschichte ist ein Held des Alltags, ein Mann in Dienstkleidung, einer, dem es niemand dankt. Und gäbe es die Literatur nicht – und Autorinnen wie Dagmar Leupold –, wie sollten wir wissen, was für ein Reichtum an Gedanken und Gefühlen, wie viel waches Leben und wehe Sehnsucht sich dahinter verbirgt.

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in de Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2022 Jung und Jung, SalzburgAlle Rechte, einschließlich der Vervielfältigung, Veröffentlichung,Bearbeitung und Übersetzung, bleiben vorbehaltenUmschlagbild: Gambe accavallate, 2007 © Michelangelo PistolettoUmschlaggestaltung: BoutiqueBrutal.comeISBN 978-3-99027-184-1

DAGMAR LEUPOLD

Dagegen die Elefanten!

Roman

Die Arbeit der Autorin am vorliegenden Werk wurde vomDeutschen Literaturfonds e.V. gefördert.

Für Clara

Für Cornelius

Für Ruben

Confirming All who analyze

In the Opinion fair

That Eloquence is when the Heart

Has not a Voice to spare

Emily Dickinson

A wound gives off its own light

surgeons say

if all the lamps in the house were turned out

you could dress this wound

by what shines from it

Ann Carson, The Beauty of the Husband

Inhalt

IM FEBRUAR

IM MÄRZ

IM APRIL

IM MAI

IM JUNI

IM JULI

IM AUGUST

IM SEPTEMBER

IM OKTOBER

IM NOVEMBER

IM DEZEMBER

IM JANUAR

IM FEBRUAR

DAGMAR LEUPOLD

NADINE SCHNEIDER

ALIDA BREMER

IMFEBRUAR

Da ist er.

Herr Harald lässt seinen Blick über die Mäntel, Schirme, Rucksäcke, Aktentaschen und Einkaufstüten schweifen, deren vorübergehender Hüter er ist. Inventur. Am Geruch erkennt er den Unterschied zwischen Reichtum und Behauptung. Er könnte es beschreiben – aber wem und wozu? Sein Einsatzort: Die Oper, Balkon links, und, wenn Not am Mann ist, die Philharmonie, im unwirtlichen Untergeschoss. Ein Wald aus Gestänge, wie Totholz. Als Einspringer, wenn auch selten, übernimmt er zusätzlich einen Garderobenabschnitt im Schönsten Theater der Stadt. Am liebsten die Nummern 700 bis 850, genau gegenüber der zweiflügeligen Eingangstür und der Vorfreude in den Gesichtern der Gäste. Meist ist er bei Klavier solo oder Kammermusikabenden im Einsatz, die feierlich sind, ohne einzuschüchtern, darum liebt er sie. Zugig ist es dort in der Garderobe, deshalb ist er besonders froh um die weißen, vornehm fadenscheinigen Handschuhe, die er, der Schuppenflechte wegen, trägt. Wie ein Archivar, der Kostbares verwaltet. Warme Hände, warmes Herz.

Einsam wacht, wie es im Weihnachtslied heißt, wäre die zutreffendste Beschreibung für das, was er tut. Würde er, fragte jemand nach seiner Arbeit, womöglich sagen. Überhaupt hat er schöne Antworten auf nicht gestellte Fragen parat, schlanke Gedanken. Schlank, denn sie haben eine gute Figur. Er denkt zum Beispiel über den Unterschied zwischen Hintergrund und Untergrund nach. Aussprechen lassen sich solche Gedanken jedoch nicht, sie würden bei Luftkontakt zerstäuben, so flaumig sind sie. Lange denkt er an diesem Abend über das Wort »Sitzfleisch« nach – Zeit gibt es im Übermaß –, und wartet, wie an vielen anderen Abenden, die ersten Klänge ab, die wie durch ein Federkissen gedämpft zu ihm dringen, bevor er sich auf einen in den äußersten Winkel verbannten Schemel setzt. Öffnet, wenn nicht das gelegentlich mitgebrachte Wochenblatt, das im Hausflur ausliegt, die Diensttasche, ein altes Stück Leder mit zerkratzten Metallschnallen, entnimmt ein heftgroßes Buch und notiert dies und das. Besser gesagt: Der Stift tut das. Zum Beispiel, den Bildern einer Fernsehsendung über Vulkane und Erdbeben am gestrigen Abend nachhängend: Die Lavaschlange kringelt an der Bergflanke hinab wie eine Haarlocke im Nacken einer Frau. Dann steckt er den gespitzten Bleistift zurück in den Gummizug seines Notizbuchs. Der Einband aus Kunststoff fühlt sich lebendig an, weich, das spürt er durch die Handschuhe hindurch, und es ist Nähe genug. Herrn Haralds Gesicht, gegen Ende der Woche mit leichtem Bartschatten – Rasur nur am Wochenende –, leuchtet inmitten der im gedimmten Licht verschwimmenden Mäntel. Wie ausgeweidet hängen sie an den wuchtigen Haken. Herr Harald hat einen Nachnamen erst nach Dienstschluss oder vor Dienstantritt. Und möglicherweise heißt er nicht einmal Harald, es hat sich so eingebürgert, auch in ihm. In der Oper kontrolliert er die Eintrittskarten, denn niemand darf an seiner Garderobe etwas abgeben, das nicht zum Bereich Balkon links gehört. Wenn alles seine Richtigkeit hat, übergibt er, weiß behandschuht, die gestanzte Messingmarke mit der Nummer an den Eigentümer des noch körperwarmen Mantels. Frauen verstauen die Plakette behutsam, als wäre sie eine Oblate, die sie später auf ihre Zunge zu betten gedenken.

Er liebt den Unterschied zwischen den ruhigen Stunden, wenn im großen Kessel des Opernhauses Schicksale ausgesungen werden, und den geschäftigen, wenn alle Besucher, leicht erhitzt, einen dünnen Schweißfilm auf Stirn und Schläfen, noch halb in der gerade bezeugten und überwundenen Intrige oder dem gelösten Liebesknoten gefangen steckend, nach ihrem Eigentum verlangen, die Nummernschildchen mal sanft, mal herrisch auf der zerschürften Glasfläche der Theke deponieren und gegen andere Anwärter verteidigen, indem sie sie möglichst unauffällig, gleichwohl auffordernd, in seine Richtung schieben. Wie ein Anrecht, sie haben schließlich viel mitgemacht.

Herr Harald hatte einen Trick erfunden, wie schwere Mäntel schadlos von den Haken gelöst werden können. Ohne dass die Schlaufen reißen oder der Kragen leidet. Er packt den Mantel von hinten im Schulterbereich, so als wolle er einen Delinquenten verhaften, mit sehr festem Griff, und schiebt ihn hinauf. Bis er über der oberen Halterung der Garderobe schwebt, dann lässt er ihn auf sich zufallen, stellt sich dabei vor, bei einer Ohnmacht einzuspringen, und achtet sorgsam darauf, den Mantel nicht ungebührlich eng in die Arme zu schließen. Das gelingt ihm mit bis zu drei Mänteln auf einmal. Die Schlange vor seinem Garderobenbereich schrumpft am schnellsten. Neugierig ist er jedes Mal auf die letzte Person, deren Habseligkeiten im Handumdrehen so ergreifend vereinsamen. Alle benachbarten, schützenden Mäntel und Jacken sind ausgegeben, nur dieser eine hängt am Messinghaken, mit gebrochenem Genick. Vielleicht – hoffentlich! – der einer jungen Frau, sie nimmt ihn entgegen, verträumt, die letzten im Duett vorgetragenen Liebesschwüre klingen und schwingen in ihr nach, und sie hat gar nicht gemerkt, dass andere sich an ihr vorbeigedrängelt haben. Auch im Moment der Übergabe ist sie es noch, und sie übersieht Herrn Harald, der ihr den Mantel als Geschenk, ausgebreitet über beide Unterarme, zureicht. Dabei lugt ein Schal aus dem Ärmel hervor, wie ein Tierchen aus seinem Versteck. Herr Harald tröstet sich angesichts ihrer Unaufmerksamkeit mit der Vorstellung, dass sie beide an dasselbe denken, zum Beispiel – ja, warum nicht? – an das Erdbeben in der Sendung von gestern Abend. An die harten Kanten der Erdkrusten, die zusammenkrachen wie die Karren beim Autoscooter.

Gegenüber seiner Garderobe hängt das Porträt eines im vorigen Jahrhundert berühmt gewesenen Kammersängers. Er ist als Donnergott verkleidet, ein lächerlicher Metallkegel auf dem Haupt entstellt ihn noch mehr als das schurzähnliche Gewand, das ihm bis zum Knie reicht, wo es auf zu Stiefeln geschnürte Lappen stößt. Eine traurige Gestalt. Herr Harald schenkt dem Sänger jedesmal einen Blick, das gehört sich. Und malt sich aus, das Bild umzudrehen und die vernagelte Leinwand der Rückseite zur Schau zu stellen. Wie gesagt: ausmalen, nicht ausführen.

In der Garderobe herrscht striktes Essverbot. Es ist nicht mehr zu ermitteln, ob Herr Harald es sich selbst auferlegt hat oder ob es eine entsprechende Vorschrift seitens der Betreiber gibt. Aber wer sind sie, diese Betreiber? Was sind sie, außer unsichtbar? Ist es der Staat, die Stadt, ein Verein? Ein Mäzen? Eigentlich ist es gar kein Geheimnis, so schade. Es ist der Staat, der über dieses prächtige Haus mit Balkonen, Rängen und Logen bestimmt. Und der den gewaltigen Kronleuchter wartet, von dessen Absturz Herr Harald häufig träumt. Dann kracht er ins Parterre, und die abertausend Kristallscherben funkeln mit den Geschmeiden der Zerschmetterten um die Wette. Und doch bleibt der Betrieb dieses gewaltigen Opernleibs mysteriös, sein Atmen, sein Herzschlag, seine springlebendigen Nerven. Herr Harald ist im Besitz eines Vertrags. Punktum. Das hat einmal angefangen, als etwas anderes zu Ende gegangen war, nach Vorfällen, und jetzt gilt er. Er, Herr Harald, nimmt die Arbeit, die ihm jemand gibt, so einfach. Er isst nicht, nein, aber er gestattet sich Bonbons mit Eukalyptusgeschmack. Und weiß, dass Eukalyptuswälder lichterloh brennen, wenn man sie lässt. Und die Koalas zu fliegen beginnen. Vor Angst.

In einer geräumigen Schublade unter der Theke verwahrt Herr Harald den Grundkurs Italienisch I. Bella Italia. Das Buch hat ein Operngast vergessen abzuholen. Obwohl am Jutebeutel, in dem es steckte, eine Nummer angebracht war, hatte auch Herr Harald nicht rechtzeitig unter der Theke kontrolliert, ob alles ausgehändigt worden war. Und Bella Italia schließlich behalten wie etwas, das ihm zugedacht war. Im Buch lag noch der Kassenzettel, billig, das schöne Italien, denkt Herr Harald, er hätte sich eine neue Sprache teurer vorgestellt. (Aber recht bedacht, ist es eigentlich ja eine gebrauchte). Es freut ihn, dass er nun anstelle von jemand anderem Italienisch lernt. Er liest darin herum, wie auch mitunter in den liegengebliebenen Programmheften mit abgedruckten Libretti. Sein bescheidener aufgeschnappter Wortschatz aus Opernarien rund um Liebesdinge – bramare zum Beispiel, schmachten, oder stelle spietate, grausame Sterne, oder cara speme, liebe Hoffnung, oder lusingare, schmeicheln oder dolor, Schmerz, traditor, Verräter – wird nun eingebettet in ein Italienisch, mit dem er auch in einer Bar etwas bestellen oder sich über schlechte Matratzen und Straßenlärm beschweren könnte. Wenn er denn reiste. Aber darum geht es nicht, es geht um den Klang, um das Runde und Weiche, an dem man sich, anders als in der eigenen Sprache, keine blauen Flecken holt beim Sprechen. Die Zunge ist, hat sie italienische Fahrgäste, viel flinker unterwegs. Manchmal ergibt sich die Gelegenheit, einem italienischen Operngast den Mantel und die Einkaufstüten abzunehmen, dann sagt Herr Harald ecco, wenn er die Nummer überreicht, und prego, wenn sich der Gast bedankt. Er sagt es stumm.

Wächter über etwas zu sein, und seien es Mäntel, ist befriedigend. Herr Harald bewacht die Mäntel, ja, aber er wacht auch irgendwie über deren Eigentümer. Er verwahrt ihr Eigentum und gibt es ihnen so unversehrt zurück, wie er ihnen selbst wünscht zu bleiben. Die gut behüteten Mäntel behüten dann ihre Träger. Auch solcherlei Gedanken notiert sein Stift im Notizbuch, das er jedes Jahr erneuert und nach Monaten führt, nicht nach Tagen. Die sind einfach zu schleunig, statt nachzudenken, gerät man in Galopp.

Das Warten, aus dem seine Arbeit größtenteils besteht, ist bisweilen ein abschüssiger Zustand. Wie Luftbläschen im Sprudelwasser steigt in der Stockung etwas empor. Erinnern ist dann unabweisbar, wie Aufstoßen, da kann man die Luft noch so sehr anhalten. Die Lungen gebläht von in der Vergangenheit Eingeatmetem, das nur in kleinsten Portionen entweichen darf, damit die Flügel nicht fächergleich zusammenklappen. Heute bahnt sich Folgendes seinen Weg nach oben: Das Nachbarkind, Träger eines Doppelnamens mit Bindestrich, rührt im Sandkasten einen garstigen Brei an und schmiert ihn dem Harald-Kind ins Haar. Vor Entsetzen reißt es die Arme hoch und den Mund auf, kein Laut dringt heraus. Und jemand macht ein Foto, schreibt, im Album, in ordentlich geschwungener Schrift darunter: Pech gehabt! Genug, zurück zum Italienischen: io vado, tu vai, lui, lei va. Unregelmäßige Verben steht darüber. Jeder geht anders. Und woanders hin. Wie unartige Kinder. Herr Harald bewundert still den Eigensinn.

Wenn es draußen regnet, ist es in der Garderobe dampfig. Die Mäntel und Taschen schwitzen. Herr Harald macht sich ans Raten. Dabei bemüht er sich, nicht zu schummeln, also nur die Eigentümer zu erraten, die ihm tatsächlich entgangen sind. Zum Beispiel den – oder vielleicht die? – des großkarierten, knöchellangen Mantels aus einem Wollgemisch, das leicht fusselt. In den voluminösen aufgesetzten Taschen Handschuhe und ein zerknülltes Papiertaschentuch. Womöglich der Mantel einer Tochter, die den Vater anstelle der Mutter in die Oper begleitet, einer Mutter, die Kopfschmerzen hat oder andere Ausreden parat. Die Tochter sitzt im pelzigen Dunkel der Opernhöhle, das Telefon ausgestellt, warm in der Handmulde wie ein frisch gebackenes Brötchen, und fühlt sich verlassen. Ihr Kleid, zuletzt bei der Konfirmation getragen, kneift. Nein, schlottert, sie hat hart abgenommen. Oder der Mantel gehört einer Gesangsstudentin mit günstigen Karten für unter Dreißigjährige. Sie und ihr Freund sitzen Hand in Hand, unter den Nägeln der Frau Wollfusseln aus den Manteltaschen. Würde sie ermordet, wäre das ein wichtiges Detail. Die winzige Fluse würde, das weiß man aus Krimis, mit der Pinzette in einem Tütchen verstaut, versiegelt und wie eine Kostbarkeit unter Glas weitergereicht. Es ergibt sich ein weiteres schönes Wort für sein Notizbuch: Garn-Fürsorge.

Die unter Dreißigjährigen können sich aufgrund der Ermäßigung Balkon leisten, nicht aber das teure Programmheft, dick wie ein Roman, und voller Expertenwissen, Gedichten und sicherlich klugen Anmerkungen. Herr Harald blättert sie immer wieder behandschuht durch, wenn er eines findet. Die Gespräche mit den Regisseuren überspringt er, betrachtet aber ausführlich die Fotos von den Proben, die Gesichter in Nahaufnahme, vom Singen gezeichnet und stark geschminkt. Über die Augen der Sängerinnen senken sich dichte, schwere Wimpernreihen, Theatervorhänge, die sich träge schließen. Die Künstlerinnen tragen meist bodenlange Kleider, die knistern beim Gehen wie ein glänzend verpacktes Geschenk, und fegen den Bühnenboden mit ihrem Schwung. Die Männer haben das Nachsehen.

Herr Harald mag die straffen Scheitel nicht, die neuerdings die jungen Herren wieder ziehen. Als wären die zwei Schädelhälften verfeindet. An der Seite der straff Gescheitelten beobachtet er häufig ebenso junge Frauen, die in den für diesen feierlichen Anlass gewählten Schuhen mit halsbrecherischen Absätzen nicht schreiten, sondern torkeln und sich mit vor Anstrengung pulsierenden Schläfenadern in der Armbeuge des Stützenden festkrallen. Er würde die Mädchen – fast noch Kinder – gern entlasten, ihnen anbieten, die niederträchtigen Schuhe an der Garderobe abzugeben, unter seiner Theke müssten diese dann wie fristlos Gekündigte schicksalsergeben ausharren. Und die Mädchen würden, sechs, sieben Zentimeter kürzer, auf lautlosen Sohlen ihre Stuhlreihe erreichen, die Füße unter dem Sitz gegeneinander reiben und massieren und dankbar an den etwas altmodischen Herrn in der Garderobe, Kittel und weiße Handschuhe, zurückdenken. Weil Winter ist – stellt sich dieser etwas altmodische Herr gerade vor – bröckelt der Nagellack ein wenig unter den Strümpfen, erst im Sommer wird er wieder blühen. Jeder Mensch, auf den sein Blick trifft, geht ihn etwas an, so ist das.

Im Dienst trägt Herr Harald einen schlichten dunklen Kittel, eigentlich schwarz, aber vom häufigen Waschen verschiefert im Farbton. Schiefer ist sein Lieblingsgestein. Es hält die Wärme lang-lang, das hat er einmal gelesen. Längst von der Sonne vergessen, gibt der Schiefer die gespeicherte Glut noch immer ab, an die Weinreben, an den Spaziergänger, der sich abends, bei eingebrochener Dunkelheit, davon trösten lässt. Und nicht nur die Wärme – nein, auch das über den Tag aufgenommene Licht spendet der Schiefer noch in der Nacht. Es ist milchig, aber hell genug, dass sich der einsame Spaziergänger begleitet fühlt. Und Schiefer, stellt sich Herr Harald vor, wäre, wenn essbar, eine milde Speise, nicht angeberisch feurig und gewürzt, sondern gaumenfreundlich ausgewogen, Zungenlabsal. Jetzt schweife ich aber ganz schön ab! Herr Harald ruft sich zur Ordnung und richtet sich auf seinem Schemel gerade auf. Das heißt, er schaut weg vom Wollmantel, schließt das Notizbuch und wischt zur Wiederaufnahme seiner dienstlichen Pflichten mit einem feuchten Kosmetiktuch über die Glasplatte der Theke. Zur Entschuldigung der Abschweifung bringt er noch vor: Dort, wo er herkommt, fliest der Schiefer, damit keiner friere, den Boden wie feine Auslegware. Es schickt sich deshalb, hin und wieder dankbar daran zu denken. Wie an ein Geschenk. Ein Geschenk, das keine Verlegenheit auslöst. Herr Harald schaltet sein kleines Radio ein, so leise, dass die Nachrichten im Flüsterton vorgetragen werden. Die Katastrophen verpasst er, es ist bereits und abschließend vom Wetter die Rede. Die Niederschläge ziehen sich im Laufe der Nacht an den Alpenrand zurück, verspricht eine zuversichtliche Stimme. Freundlich, die Niederschläge.

Pausendeserteure sind im Vorhinein nicht leicht zu erraten. Man kann aber sagen, dass die unauffällig Angezogenen eher nicht dazu gehören. Die kommen aus Liebe. Liebe zur Musik. Die Pausendeserteure versuchen erfahrungsgemäß beim nervösen Einsammeln des Abgegebenen – nicht selten auch große Einkaufstüten von Geschäften rund ums Theater –, ihm ein Trinkgeld zu geben, Ablass für ihr schlechtes Gewissen, dessen Zeuge er wird. Trinkgeld lehnt Herr Harald stets mit dem Hinweis ab, er trinke nicht. Eine Portion Stolz, bis zur Pause durchgehalten zu haben, ist manchen Gesichtern gleichwohl eingeschrieben. Herr Harald weiß Bescheid, aus langjähriger Beobachtung, er weiß sogar, wie es den früh Flüchtenden im Innern des gewaltigen Opernleibs ergeht: Bei der Ouvertüre, da sind alle dabei – so ein Schwung! –, bevor es losgeht, verschicken sie noch rasch Fotos von sich inmitten roter Samtpolster. Und dann kommt das behäbige träge Öffnen des Vorhangs, dahinter ein zu lüftendes Geheimnis, das beschleunigt durchaus den Puls. Im ersten Akt erst Aufbau, dann Abbau einer pochenden, großen Erwartung, dieses Gefühls aus Kindertagen, das, während der ersten Takte, die Knie sogar im Sitzen weich macht. Nicht-Schwimmer-Ängste. Da kennt er sich aus! Unbehagen ensteht, die Zeit klemmt, man hat noch so viel Arbeitsschulden – deren Abtragung geht vor Kunstgenuss. Herr Harald nickt ein wenig, all das sieht er, ohne zu sehen. Die Entscheidung zur Flucht fällt. Die Garderobennummer in der Hosenoder Handtasche schon einmal ertastet, sicherheitshalber. Herr Harald lehnt sich zurück. Er ist vorbereitet.

Aber es gibt auch die, die von Beginn an Totzeit empfinden. Das Theaterabonnement gehört zu ihrem Leben wie der Zahnarztbesuch. Die Pausendeserteure – die einen wie die anderen – reißen jedenfalls Herrn Harald ihre Mäntel förmlich aus der Hand und fädeln die Arme im Gehen ein, von den Anstehenden vor den Toilettentüren tadelnd gemustert.

Herr Harald erlebt, dass viele Kolleginnen die Zeit mit Kreuzworträtseln vertrödeln. Nichts für ihn, er hat anderen Zeitvertreib: Beim Umherschauen in seinem kleinen Regierungsbezirk zählt er und legt vorher fest: Worauf mein Blick bei der erreichten Zahl fällt, darüber denke ich nach. Mit der Zahl überrascht er sich jedes Mal selbst, die Grenze liegt bei fünfzehn. Bei elf öffnet er die Augen und schaut auf das H von »Herrentoilette« und ist aufgefordert, so will es das Spiel, alle Begriffe aufzurufen, die er für diesen Ort kennt: das stille Örtchen, Abort, Abtritt, WeCe, Klo und Klosett, Lokus, Toilette und oo. Nullnull. Mehr fällt ihm nicht ein, und die Liste lässt ihn kalt. Auch andere Listen meidet er, er hält sie für gemogelt, Ausdruck der Überzeugung, dass es immerzu etwas zu erledigen gibt. Dagegen Muße! Herrn Haralds Betrachtungen und Aufzählungen sind Bekundungen der Muße, um die es ihm geht, auch. Das schöne Abwarten, bis die Zeit sich im luftig wachsenden Innengewölbe ausdehnt und gleich einem Schirm aufspannt. Dann wird etwas spürbar – nein, sichtbar! –, das zuvor im Falz eines erschlafften Balgs verborgen war. Als solch einen schlaffen Balg stellt er sich die Seele vor. Das Schulkind hatte einmal, auf Aufforderung der Religionslehrerin hin, die Seele so zu malen, wie es sich diese vorstellt, kein engelgleiches Wesen und auch keine Taube gezeichnet, sondern eine Fledermaus. Eine Fledermaus, die kopfunter hängt, die großen Schwingen leblos gefaltet. Er zählt ein zweites Mal, bei fünf trifft sein Blick auf die schal-weiße Decke, dringt durch sie hindurch, erreicht weit darüber das staubgewebte besternte Tuch, das den Stolas ähnelt, die manche Besucherinnen um ihre Schultern tragen. Frohlocken. Leises Klirren im Radio. Eiswürfel beim Tanz. Bis in die untersten Lungenspitzen atmet Herr Harald perlende Luft ein, strafft sich ein weiteres Mal und schließt die Augen. Erfrischt. Mußedusche. Sein Wort des Monats Februar: Muße. Es ist, so lautet die Zusammenfassung dieser besonderen Pause, es ist gut, Luft für jemanden zu sein. Auch für sich selbst. Herr Harald nimmt erneut ein Reinigungstuch zur Hand und poliert die Nummernschildchen, die an den freien Haken auf ihren Einsatz warten, so lange, bis sie glänzen.

Ein Telefon klingelt, als Herr Harald gerade auf dem Schemel Platz genommen hat, die Hosenbeine etwas hochgezogen, damit der Stoff auf Kniehöhe nicht ausbeult. Der Klingelton: ein Schlager, Azzurro heißt blau, viel zu laut. Drinnen, das hört und weiß Herr Harald, geht es gerade um die letzten Dinge, um Sterben und Aufopferung und Verrat. Jetzt ist Handeln gefragt. Sein Verdacht fällt auf den Parka, den er, mangels Schlaufe, an der kunstpelzbesetzten Kapuze aufgehängt hat, die Seitentasche auf Rippenhöhe, jawohl, da ist es. Herr Harald zieht das lärmende Gerät vorsichtig heraus, an einem Feuerzeug und einer Zigarettenschachtel vorbei. Das Gesicht einer Frau ist auf dem Bildschirm zu erkennen, sie lächelt, darunter steht home. Herr Harald drückt auf das kleine rote Telefon, rot ist immer Verbot. Mehr kann er nicht tun. Weiß denn home nicht, dass der Mann in der Oper ist? Als er wieder sitzt, stülpt sich Traurigkeit über ihn. Durch das Schaufenster eines Friseursalons hat er einmal eine Dame gesehen, die unter der Trockenhaube saß, am ganzen Kopf Drähte. Sie las dabei in einer Zeitschrift, aber so gebeugt, als säße ihr ein Unglück im Nacken. Irgendwann wandte sie unter Verrenkungen den Blick zu ihm, der still vor der Eingangstür stand, ihr Blick wie von einem Tier, das ihn um Befreiung ansuchte. Herr Harald greift sich an die Schläfen, spürt das Jochbein, die knochige Schädelkontur. Das darf wohl als Gewissheit zählen.

IMMÄRZ

Es beginnt kalt. Wenn Herr Harald sich die Knospen der Magnolien anschaut, hat er den Eindruck, sie wollten sich wieder zurückziehen in ihre pelzige Schote. Verständlicherweise. Er hat Gänsehaut, als er im Schönsten Theater der Stadt eintrifft. Gänsehaut sieht man nur dann, wenn die Gans bereits gerupft ist. Das gibt zu denken.

Er besucht einen Liederabend, es ist sein freier Tag, ein außen wie innen frostiger Tag, denn eine Abendgestaltung ohne den Umhang einer – noch so entfernten – Musik setzt ihn aller Unbill aus. Es hagelt und stürmt, die Haut ist ungezogen, der Kopf saust, das Herz hinkt. Die Musik ist sein schützendes Federkleid. Und schon wieder ist er beim Gerupftsein. Herr Harald nimmt Platz.

Zu dritt treten sie ein, Sänger vorweg, ein berühmter Mann, dann sein Begleiter auf dem Klavier und schließlich, drei Schritte hinter diesem, eine mitteljunge Frau im schwarzen Kleid, das Haar offen, so geschnitten, dass es bei gebeugtem Kopf das Profil verbirgt. Frauen mit Dutt ängstigen Herrn Harald, wenn sie ihm einfallen, wendet er den Gedanken sofort ab. So wie man seinen Blick von etwas Unerfreulichem abwendet. Diese hier dagegen darf er anschauen, diese hier betrifft ihn. Mit den ersten Klängen beginnt seine Erholung, das Jucken lässt nach.

Die Umblätterin sitzt links vom Pianisten, einen halben Meter nach hinten versetzt, kippelt beinah auf der Stuhlkante, den rechten Fuß leicht vorgeschoben. Um schneller aufspringen zu können, Herr Harald nickt einverstanden, so muss es sein. Nervös ist er dennoch, er kennt die Pannen: zwei Seiten auf einmal umschlagen, da Capo-Anweisungen übersehen, zu spät oder zu früh umblättern. Seine Sitznachbarin dagegen ist gelassen, das Programmheft im Schoß, die Beine übergeschlagen, möglicherweise bereits eingenickt. Er will sie keinesfalls mit seiner Unruhe anstecken, gar wecken, und klemmt seine Hände zur Bezwingung zwischen die Knie. Ganz schmal ist die Umblätterin, ihr Gesicht liegt im Schatten, der Scheinwerfer ist auf die Noten und auf den Sänger gerichtet. Er macht sich zur Aufgabe, es zu erraten: feine Augenbrauen, gerade verlaufend über grauen Augen, deren unterer Lidrand leicht gereizt wirkt, vom Wind, von der Heizungsluft, vom Ausbleiben eines Blicks. Feinporige Haut, eher trocken und daher zu Falten neigend, feine Falten, plissiert an den Schläfen. Die Lippen sind im Zarten und Zurückgenommenen, geradezu Unfertigen des Gesichts das Üppigste: fest aufeinander gepresst vor Konzentration und doch voll, schimmernd und klar konturiert. Kein Lippenstift in alarmierendem Rot, höchstens rosa. Winterliches Ausfransen vorbei oder nie aufgetreten. Er lässt das Raten sein und traut einen kurzen Moment lang seinen Augen. Der Scheitel ist silbrig, also wurde bei dem kräftigen Fohlenbraun der glatten Haare nachgeholfen. Das macht seine Kollegin in der Oper auch. Zu Hause, nicht beim Friseur. Er sieht die Umblätterin vor dem beschlagenen Badezimmerspiegel stehen, in dem ihr Gesicht zerrinnt wie aus Wasserfarben, die Tönung tropft schlammig auf das verschlissene Handtuch, das ihr Unterkleid schützen soll. Das Handtuch stammt aus den Familienbeständen und war einmal ein witziges Geschenk der Großeltern an das Kind: ein 500-DM-Schein mit dem gemalten Porträt eines bartlosen Mannes, ausgeleierte Frotteemaschen hängen wie festgenähte Tränen auf dessen Wangen. Die Umblätterin föhnt ihr Haar, das im warmen Wind urlaubt. Herrn Haralds Blick kehrt zur Bühne zurück, er ist sicher, dass im Schulterbereich des schönen schwarzen Kleids ein paar glänzende Haare hängengeblieben sind, sich schlängeln auf rauem Stoff, bei Reibung und trockener Luft unvermeidlich. Auch in den Krägen der von ihm verwahrten Mäntel findet er oft anhängliche Haare – und entfernt sie, als Zuständiger, in einem kleinen Abfalleimer. Diese Haare jedoch, die bestimmt nach Aprikosenshampoo duftenden zwei, drei Ausreißer, die im Nackenbereich und den Schultern der Umblätterin festhängen, die würde er mit sachten Fingerspitzen entfernen, ebenso sacht und zielstrebig wie sie die Noten umwendet. Daumen und Zeigefinger bilden dabei ein entschlossenes O, mit sanfter Gewalt zuschnappende Handschellen. Ein Zugriff, der das Entwischen der Seite verhindert, die behutsam, nach knappster Verwahrung, aus der Gefangenschaft nach links entlassen wird. Die Umblätterin setzt sich wieder, den Blick fest auf die Partitur gerichtet. Da stützt sich der Sänger mit einer Hand am Flügel ab, hebt das Kinn und schmettert: Auf jeden weißen Zettel möcht ich’s schreiben, dein ist mein Herz. Dabei wölbt sich seine Brust mächtig, entlässt Zweifel und Verzweiflung. So ansteckend ist die Zuversicht, dass Herr Harald vom eigenen tiefen Ausatmen überrascht wird. Er lenkt seinen Blick zurück zu der Gestalt im Schatten, im Achtern des Geschehens, und denkt oval, als er das Gesicht der Umblätterin für sich zusammenfasst. Oval, wie die schönen Rahmen alter Fotografien von Menschen, die jemandes Ahnen sind.

Im Schönsten Theater der Stadt bricht die Pause an. Die Künstler bekommen geizig abgemessenen Applaus, die Beifallverausgabung hebt man sich für das Ende des Konzerts auf, wenn es um Zugaben geht. Ja, ja, so ist das immer, Herr Harald nickt kein bisschen verwundert und klatscht ausführlich. Beim ersten Abgang eilen der Sänger und der Pianist hurtigen Schritts Richtung Bühnenausgang, die Umblätterin setzt unsicher Fuß vor Fuß, eher zögerlich, und folgt in großem Abstand. Im Gehen klaubt sie ein Haar von der Schulter – das Haar, das er schon längst entfernt hatte. Sänger und Begleiter erscheinen zwei weitere Male, obwohl kaum jemand mehr klatscht, sie ist nicht dabei. Herr Harald schließt sich dem Strom der zum Buffet Drängelnden an, mit dem Abstand zum Vordermann, den auch sie zu Sänger und Begleiter eingehalten hat. Das ist eine Verbindung.

Er liebt das Schönste Theater der Stadt, auch weil die Garderoben hier keine Rangfolge kennen: teures Parkett, billige Galerie. Hier gibt es lediglich von links nach rechts aufsteigende Nummern. Jeder Besucher entscheidet selbst, wem er sein Eigentum in Verwahrung gibt, ganz gleich, wo er sitzt. Seine Kollegen in der Oper, die in den Rängen und in der Galerie arbeiten, verstünden, was er meint. Sie bewachen oft leeres Gestänge, denn die Stehplatzinhaber geben, obwohl es nichts kostet, selten etwas zur Behütung ab, sondern winden sich die Ärmel der Jacke um die Taille oder polstern damit die Brüstung, gegen die sie lehnen. Sie müssen sich in keine Schlange einreihen und sind dennoch die Letzten, die das Theater verlassen, weil sie unermüdlich applaudieren. Und übrigens auch zu taktvoll sind, um den Sängern, gar Sängerinnen, mit Feldstechern in den Rachen zu starren, aus dem geheimnisvoll die Töne entweichen. Töne, die den im Dämmer zu einem Körper verschmelzenden Zuhörern zur Atemluft werden. Außer bei denen, die ihre Poren verschließen, aber um die geht es jetzt nicht. Ja, der Musik wird gelauscht, aber eigentlich – Herr Harald geht bis zum Gartenausgang des Schönsten Theaters der Stadt, bevor er weiterdenkt –, eigentlich wird Musik eingeatmet. Durch die Haut.

Er steht auf dem Treppenabsatz, eine Hand auf dem Geländer, vor ihm erstreckt sich der Theatergarten, Kieswege, Rasen, ein Brunnen. Die Bäume noch unbelaubt, einzig ein paar mutige trauen sich und zeigen Hellgrün. Die Kastanienknospen, prall, sabbern Sirup. Herr Harald ist ein wenig im Weg, denen zum Beispiel, die zwei Gläser Schaumwein und ein Tellerchen mit Lachsschnittchen balancieren. Die Lachsfarbe gehört neben Lila zu Herrn Haralds verhasstesten. Sie prahlt, und man weiß nicht recht, womit und warum. Da war der Lachsersatz seiner Kindheit ehrlicher, er offenbarte seine knallige Künstlichkeit ohne Wenn und Aber, salziger als Blut. Er kauft sich nichts, stellt sich aber ein Getränk vor: Brause, Waldmeistergeschmack, ein ganzer junger Wald darin, sprudelnd vor Frühling. Schauer im Gaumen. Brausegaumenschauer. Wohlriechendes Labkraut. Weiße Sternblüten. Sehr still steht er, die Augen offen, aber blind, weil er gerade verkostet und mit Entkommen beschäftigt ist. Das ist, auch wenn es anders klingt, eine schöne Beschäftigung, eine, die die gesamte Vorstellungskraft fordert und jetzt dem Kissen aus blühendem Waldmeister ein Moosbett beschert, als Zugabe. Dort, wo der Schiefer wächst, gibt es zwar keine Wälder, aber es gibt sie dort, wohin Kinder mit rachitischer Veranlagung in Gesundungsferien verschickt wurden. Wegen der Trichterbrust. Ein Wort, das ein Loch bohrt bis ins Zentrum. Die Sonne, die sich so rar machte, wurde dagegen nicht wegen Vernachlässigung oder Unterlassung belangt. Die Sonne ist im Italienischen ein Mann, also gewissermaßen sein Stiefvater. Von Stiefvätern muss man sich nichts Gutes erwarten. Aber zurück zum Wald: Falls das Bett aus Moos für ein Liebespaar bereitet wäre, würde der Mann, falls wiederum ein schwarzes Kleid ausgezogen werden würde, dieses sorgfältig zusammenfalten und auf trockenes Laub legen, damit es unbeschadet bliebe. Und die Schuhe mit den Spitzen nach Norden ausrichten, wie einen Kompass. Verlaufen würde so nicht drohen. Und die sparsame Sonne wäre unerheblich, denn der Mann des Liebespaares hätte vorgesorgt: mit einem warmen Mantel, der beide bedeckte. Allein die schmalen Fesseln der Frau, ihre auch im Liegen wachsamen Sprunggelenke blieben unbedeckt. Nicht, um rasch aufspringen zu können, sondern aus Liebe zum Moos. In der Brusttasche spürt Herr Harald die beruhigende Festigkeit des Notizbuchs. Als der erste Gong ertönt, zückt er es rasch und notiert das Wort des Monats März: Moostrost.

Gewappnet und gekräftigt erreicht er seinen Platz, einige wenige müssen sich seinetwegen erheben, er dankt mit einem Neigen des Kopfes. Als er sich setzt, tut er das mit großer Umsicht, Klappstühle sind tückisch. Erstens. Und zweitens möchte er verhindern, dass ein zu energisches Hinsetzen seinen Geruch verbreitet, den er als klamm empfindet.

Die Tür des seitlichen Bühneneingangs öffnet sich, Applaus rauscht auf. Wieder geht der Pianist voran, das kinnlange Haar nach hinten frisiert, der Sänger folgt, die weiße Hemdbrust wie frisch gestärkt, als letzte die Umblätterin, gesenkten Kopfs. Ihre Wege trennen sich vor dem Flügel, die Herren umgehen ihn von vorn, sie von hinten. Sie nimmt Platz im lichtarmen Schwarz. Die Pause hat den Liederzyklus zerrissen, Herr Harald bedauert das und weiß, die Gastronomie ist schuld.

Sie sprach: Es kommt ein Regen, ade, ich geh nach Haus. Jetzt horcht Herr Harald auf: Ist es Einbildung oder hat sie ihn, als der Sänger diese Zeile anschlug und ausklingen ließ, nicht angeschaut? Mit einem Blick, der ausdrückt, dass sie Regen und Verregnetes kennt. Und gleich wieder zurück zur Partitur. Herr Harald entlässt ein lautloses Ja. Dann eine Schrecksekunde, sie steht wieder bereit, leicht nach rechts geneigt, der Pianist hat ihr mit einem kaum wahrnehmbaren Kopfnicken bedeutet, dass es der richtige Moment sei umzublättern. Ihre Hand schwebt über den Noten, greift und greift daneben, fliegt zurück, erwischt den Zipfel und wendet, mit einem Anflug von Ärger, die Seite zu rasch, die wölbt sich auf und droht, in die alte Position zurückzurutschen. Der Pianist versetzt ihr einen Schlag, sie flacht ab. Da wird er zornig, haut in die Tasten: Ach, Tränen machen nicht maiengrün, / machen tote Liebe nicht wieder blühn. Herr Harald entschuldigt sich leise, er wird sie nicht wieder ablenken. Schiebt die Hände unter die Oberschenkel, unterbindet damit das unruhige Kneten und Kratzen. Wenn du, denkt er und sucht dabei nicht den Blick der Umblätterin, wenn du deinen Mantel einmal beim Balkon links abgeben würdest, ich nähte ihm Flügel an.

Herrn Harald schmerzen die Hände vom Applaus. Bei den Zugaben fehlt die Umblätterin, in der kleinen Kammer schlüpft sie in Jeans und Pullover, die paar grünlich-pulvrigen Laubschuppen vom Moosbett an ihrem Kleid bleiben unbemerkt? Ob sie Marie heißt? Ob sie Fahrrad fährt? Ob es in ihr nachsingt? Ob sie einen alten Vater pflegt? Einen jungen Mann liebt? Wo verwelken die Blumensträuße, die von den Künstlern routiniert mit Wangenküsschen in Empfang genommen werden? Warum legt sie niemand ihr in den Fahrradkorb?

Die Nacht wartet mit eisigem Wind auf, fies aus Nordost, der noch junge März gibt sich geschlagen. Und der Himmel da oben, wie ist er so weit. Herr Harald stellt den Kragen auf, streift die Handschuhe über. Warm füllt die Musikmahlzeit den Leib. Aber der Kragen kratzt, die Haut am Hals ist wund und schuppig. Und doch, wer ihn sähe, würde tatsächlich meinen, er denke an ein gutes Essen, so zufrieden ist sein Gesichtsausdruck. Er ist es, weil er es geschafft hat, die Erinnerung an das morgendliche Halswaschen des Harald-Kindes zu entwaffnen. Das ist eine Taktik, die in den Nachrichten als Deeskalation gelobt wird. So geht sie, die Deeskalation