Muttermale - Dagmar Leupold - E-Book

Muttermale E-Book

Dagmar Leupold

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Beschreibung

Virtuos, behutsam und unerbittlich: Dagmar Leupold bringt Dinge zum Sprechen – sie erzählen von der Mutter, aber auch von Krieg, Flucht und Fremdheit.Wie erzählt man von der eigenen Mutter? Vor über hundert Jahren in Ostpreußen geboren, vor der Roten Armee geflohen, auf Umwegen irgendwo im deutschen Westen angekommen und dort, im neuen Leben, in der neuen Zeit nach dem Krieg, von dem bald keine Rede mehr war, immer fremd geblieben. Fremd auch der eigenen Tochter, die sich weiter und weiter entfernte, bis die Geschichte der Mutter irgendwann unbegreiflich geworden war. Muttermale ist der Roman einer Annäherung. In immer neuen Anläufen versucht Dagmar Leupold, Verlo- renes wiederzugewinnen. Sie greift dazu auf das zurück, was vom Leben der Mutter geblieben ist, Alltagsgegen- stände, Gewohnheiten, Fotos, gern gebrauchte Wörter und Sätze: alles, was über die Zeit hinweg von der Mutter zu ihr spricht. Sie lauscht diesem Sprechen, um ihm Geheimnisse und Unausgesprochenes abzulauschen, und findet immer wieder Spuren eines Traumas.

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Seitenzahl: 157

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Dagmar Leupold

Muttermale

Roman

Jung und Jung

Für PB

 

Dem Andenken von Herta und Willi Keszler

Laß mich wenigstens durch die Einbildungskraft teil an deinem vergangenen Leben nehmen! Erzähle mir alles, ich will dir alles erzählen. Wir wollen uns womöglich täuschen und jene für die Liebe verlornen Zeiten wieder zu gewinnen suchen.

 

Johann Wolfgang Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre

Vorspann: 31. Dezember

Über allem ein Flaum von Unwirklichkeit. Die Luft schmauchsatt. Darin Viren, Treibladung, Stoßseufzer. In der Isar oder dem Rhein oder der Spree, wer weiß das schon, treiben bereits seit Tagen kieloben zwei tote Gänse, dem Braten entronnen. Lange vor Mitternacht ist das alte Jahr sturzbetrunken, rumpelt und torkelt ins neue. Schlimmer aber ist die Nüchternheit, sie stammt ab von der Nacht, die man bis zum Frühgottesdienst mit leerem Magen bestehen muss: Das macht hungrig und zornig. Es knallt gewaltig, Böller und Sirenen, alarmiert rutscht man ins neue Jahr, mit gezogenen Waffen. Statt klirrender Kälte Nieselregen, in dem die Pappeverkleidung der Feuerwerkskörper sich rasch mit Essensresten, Tränen und Wut zu Matsch verbündet.

Dass der Hl. Silvester ausgerechnet als Schutzpatron der Haustiere gilt, ist zum Lachen – sind es doch die Hunde und Katzen, die sich winselnd und maunzend unter die Schränke und Betten verziehen, wenn es kracht. Allein sind sie dort nicht, sie leisten den ansässigen Gespenstern Gesellschaft. Wie auch ich – den geerbten und den eigenen. Ich verkrieche mich in die Asservatenkammer, ich könnte auch sagen: Ich erinnere mich. Die Regale dort sind brechend voll mit Dingen, Worten, Getanem und Ungetanem. Fotoalben: angenagte Bindungen, die Rücken kaputt. Hinter zartem Raschelpapier das Leben der Toten in Schwarz-Weiß. Auch deins.

Schwefel und Schwarzpulver kriechen in die Atemwege. Von draußen, einzige Lichtquelle, die bis ins Archiv durchdringt, bengalisches Feuer.

Braune Butter

Ich stelle dir nach, ich fahnde nach dir, ich nehme dich in Beschlag – und du bringst mich in große Verlegenheit, denn du hast keinen Namen. Mutter. Behausung. Kerker. Verschlusssache. Oberbefehlshaberin. Du bist meine Mitgift, mein ungelöster, mein unlösbarer Fall. Unzählige solcher Fälle hat der Krieg hervorgebracht. Eine Recherche ergäbe, dass du Dorothea heißt. Geheißen hast. Aber eine Nachstellung ist kein Standesamt, sie ist auf dunkle Quellen angewiesen.

Stolz warst du auf deine grünen Augen – nur zwei Prozent aller Menschen haben sie –, und auf die schönen Halbmonde der Fingernägel. Zum Staunen, wie du manchmal die Hände mit gespreizten Fingern auf dem Tisch abgelegt und sie betrachtet hast wie eine eigentlich zu teure Anschaffung. Maniküre war sonntags, die kleinen Gerätschaften, Feile, Schere, Nagelhautschieber, lagen auf einem Tuch wie zur Vorbereitung einer Operation oder einer Messe. Sie hausten in einem Etui aus grünem Leder, vornehm, zum Siezen. Heute ist der Reißverschluss zahnlos, das Metall angelaufen in der Farbe von Brühe. Ich habe das Etui in Verwahrung genommen, als – gar nicht amtliche – Bewacherin des Beschlagnahmten. Seine Lederhaut ist so mürbe, dass sie sich anfühlt wie die eines lebendigen Tierchens, das noch ohne Fell ist. Mit den schönen Händen, die nach dem Schneiden, Feilen, Polieren und Cremen sehr denen ähnelten, die auf der Dose mit der Glycerin-Handcreme (ohne Arme) abgebildet waren, hast du den kleinen eisernen Topf auf den Herd gestellt, darin ein großes Stück Butter: Vorbereitung für Apfelklöße mit Zimt und Zucker und brauner Butter. Das Sonntagsgebet. Der Topf war womöglich einer derjenigen gewesen, die an den Sprossen der Leiterwagen angebunden hingen und laut klapperten, als sie das Frische Haff mit Ziel Pillau im Januar des letzten Kriegsjahres überquerten. Ohne dass er, mitsamt dem Leiterwagen, in einer der tiefen, ins Eis gerissenen Bombenwunden verschwand. Der Topf war ein Held. In der Butter, wenn sie begann sich zu kräuseln und kleine Blasen zu schlagen, von Gelb ins Braun wechselte, trudelten winzige Eisenflocken, feinste Späne, dünnhäutig wie Blattgold oder verkohltes Papier. Die Flucht schmeckte nach Metall. Du hast mir den Rost vermacht. Die Apfelklöße, fest und weich zugleich, waren essbare, köstliche Verstärkung gegen alles Wacklige, von dem der Ort, die Wohnung und ihre Bewohner erfasst waren. Vertriebene haben keine Schwerkraft. Die Klöße dagegen waren leibhaftig. Leibhaftige Gefahrenabwehr. Leibspeise. Mit vollem Mund spricht man nicht. Doch, dann erst recht und nur dann. Wo sonst die Kraft hernehmen? Schüttete man die braune heiße Butter über die Apfelklöße oder andere süße Einsprüche – Milchreis, Grießbrei, Backobst –, ließ sich ein leises Zischen beim Aufprall hören. Das, dachte ich, ist vernehmbare Kommunion. Ausland für Protestanten, eigentlich. So wie das katholische Rheinland-Pfalz. Die braune Butter versiegelte die Zungen, füllte, zusammen mit dem Brei oder den Klößen, wundersam friedlich die Mundhöhle, schönes Verstummen im Gaumenalphabet. Stumm ging es oft zu, aber eben nicht schön stumm. Beim Zubereiten dieser Festessen warst du sehr ernst, konzentriert, die Liturgie des verlorenen Landes, sein Evangelium, die Rezepte, hast du nicht nur auswendig, sondern inwendig behalten und vor Verwitterung geschützt. Geschützt, indem du das Ankommen, den fortgesetzten Lokaltermin mit dem neuen Ort, den neuen Menschen, darunter die Tochter, verweigert hast. Dein Leben nach dem Krieg zu würdigen, bedeutet Schadensvermessung. Ramponiert, leckgeschlagen – wie die Minensucher, Torpedoboote, Kreuzer, Schlepper, Eisbrecher, Fischdampfer und Kohlenfrachter, die es, den Bauch voller Flüchtlinge und Verletzter, noch gerade so oder gar nicht vom Land der dunklen Wälder aus in die Häfen von Danzig, Swinemünde oder Kopenhagen schafften. Die straffe Haube der Rotkreuzschwester hielt stand. Entschlossenheit. Wachheit. Tätigsein. Hatten sie dir eingebimst – nachzulesen.

Nun bin ich ein Mädel

und wär’ gern Soldat,

da weiß ich mir nur den einen Rat

lern helfen, lern pflegen mit gütiger Hand

und diene als »Schwester« dem Vaterland.

Dichtete das Deutsche Rote Kreuz und fischte aus dem Bund Deutscher Mädel bei Kriegsbeginn die »Schwestern« ab. Auch die Mahnung des Pastors Ringet danach, dass ihr stille seid und das Eure schafft wurde befolgt. Stille sein blieb. Fortan warst du zukunftsschüchtern, erschrocken. Die Geschichte hatte die Zukunft veruntreut, die Knochen trugen es aus, Kreuzschmerzen, versteifte Nackenwirbel vom Kopfeinziehen, Fehlrotation des Atlas, die Schultern gerafft. Füße, die den Boden verloren hatten und das Auftreten verlernt. An die Stelle der Körperspannung trat Strenge. Die Kriegserfahrung und auch keine weitere Havarie haben ihr etwas anhaben können. Ich ging bei Fuß, an der kurzen Leine.

Elche

Du hast mir Ostpreußen auf die Zunge gelegt. Auf ihr balancierte und stolperte das R, in der Kehle gerollt, und stieß sich an der Zahnwand wund. Roland der Riese vorm Rathaus zu Bremen, aufsagen, wieder und wieder, kleine Folter nach den geschmeidigen Butterexerzitien. Während der Sprachprüfung wurde gebügelt. So wie du das Eisen aufgesetzt hast, galt der Ingrimm etwas anderem als der Wäsche. Das Einsprengen der von Steifheit knisternden Tücher, Bezüge und Hemden übernahm ich, in den Pausen des Heimatkundeunterrichts. Es dampfte und roch nach Beginn. Ich versuchte die Zunge in der hintersten Ecke des Mundes zu verstecken, eine Drückebergerin, die nicht mehr antreten wollte im Rennen um das R, die Zöpfe ordnungsgemäß geflochten. Du hast mich nachgestellt, nach Bildern der Vergangenheit, als die Scheitel noch mit dem Messer gezogen wurden. Stimmt das? Womöglich. Womöglich nicht. Irgendwann wuchsen sie auch dir, die Zöpfe, dem einstigen Wildfang mit Dreck unter den Fingernägeln vom Buddeln. Später wurden sie hochgesteckt, die Zöpfe, damit das Häubchen saß. Auf das Häubchen folgte die Dauerwelle, mit viel Haarspray betoniert zur Windfestigkeit. Mehr Helm als Haar. Allein der Regen konnte der Frisur etwas anhaben, daher wurde er gefürchtet wie ein Sittenstrolch, der allgemeine Verwilderung verbreitete.

Manchmal, versöhnlich gestimmt durch das Braune-Butter-Doping, löste sich deine Zunge und du hast vom Schulweg erzählt. In Ostpreußen, ein magisches Wort, Sprungfeder für alle Geschichten. Er führte durch unendlich große Kiefernwälder mit sandigem Boden, der nahen Ostsee verschwistert, genauso rauschend, genauso würzig, Bäume und Wellen ein Kanon, zweistimmig, einvernehmlich. Und dann: Elche! Elche auf dem Schulweg, die so zuverlässig – und schützend – erschienen wie Schulweglotsen. Elche steh’n und lauschen / In die Ewigkeit. Elche mit Riesengeweihschaufeln, Nüstern aus Velours, ein Maul wie aus weichen Lappen und schwermütige Augen, immer feucht, denn die Gründe für Tränen gingen nie aus.

»Und die Geweihschaufeln, sind die nicht schrecklich gefährlich?«

»Nein, nur wenn sie sich angegriffen fühlen, aber wir waren ja Freunde.«

Elche zum Freund! Was muss man da noch fürchten. Auch auf dem Wehlauer Heimatbrief, der ein paarmal im Jahr im Briefkasten steckte, war der Elch als Wappentier mit seinem gewaltigen Geweih abgebildet. Die Frage, unter dem Schutz welchen Tiers wir in Rheinland-Pfalz standen, blieb unbeantwortet. Trakehner trugen das Elchgeweih als Brandzeichen, und Trakehner waren am Rhein so ausgeschlossen wie unbefangenes Reden und Lachen bei Mahlzeiten. Wenn du von den Elchen, den Kiefern und dem Sand sprachst, veränderte sich etwas in deiner Haltung, Begradigung einer Schieflage, und unter der fahlen Gesichtshaut wurde etwas angefacht. Eine Zündung aus so weiter Ferne, dass die Blässe blieb, doch um einen Hauch lebendiger. Die breiten Schultern füllten auf einmal den Fensterrahmen in der Küche aus und versperrten die Aussicht auf das falsche Licht, das vom großen Fluss ausging, falsch wie ein geplatzter Wechsel. Ich stellte mir beim Zuhören vor, von freundlichen Elchschaufeln aufgehoben und dort wieder abgesetzt zu werden, wo braune Butter niemals anbrannte. Sondern sich einfach nur mild auf die nicht eingehegte Zunge legte. Am Abend, den Anbruch der neuen Woche vor Augen, kehrte der Topf zurück in den Schrank, die Schultern sackten wieder herab und die Geschichten verdunsteten.

Lichtspiel 1 (1925)

Drei Dreckspatzen, barfuß, schwarze Fußsohlen und sandpanierte Beine, eine ländliche Zille-Idylle. Links der große Bruder, militärischer Undercut, rechts die große Schwester mit blondem Zopfkranz, in der Mitte du. Die Geschwister sind fünf und drei Jahre alt, du ein Jahr, Stoppelhaare, könnte auch ein Junge sein. Es ist Sommer, die Ärmel kurz, die Hosen auch. Die beiden Großen halten je einen Bernhardinerwelpen im Arm, der dritte, deiner, hat sich losgemacht und schnüffelt neugierig am Boden herum. Im Hintergrund sieht man die Hundemutter, abgewandt, unbesorgt, sie kennt ihre Kinder. Einer der Welpen wird ein Vorfahre von Rolf gewesen sein, dem legendären Bernhardiner, dem die meisten der wenigen Erzählungen galten, die die Flucht, zwanzig Jahre später, überlebten. Rolf selbst brach ein ins Eis, mit wund gelaufenen Pfoten. Das ist weit weg von diesem kleinen sommerlichen Friedensgipfel mit Hunden und abgestreiften Hausschlappen. Alle drei Kinder schauen nach links, zum Fotografen, freundlich, bereitwillig der Aufforderung nach einem Lächeln entsprechend. Alles in Ordnung. Alles so in Ordnung.

Blümerant

Im dunkelsten Winkel der Asservatenkammer gelagert, in der Nähe des Pfui, bei dessen Aussprechen die Lippen so gespannt waren wie ein Katapult, damit das Verworfene und Verwerfliche so weit wie nur irgend möglich ausgespien werden konnte. Blümerant dagegen war die einigermaßen behaglich auszusprechende Chiffre für einen Zustand des Unwohlseins, der, wie die Wortverhunzung des französischen bleu mourant selbst, trüb, unklar, schlammig blieb und dadurch ertragbar. Sterbendes Blau, die Farbe erfrorener Lippen. Ein ausgeliehenes Wort, das so fremd und dunkel war wie das, was es auf Distanz hielt. Wem es blümerant war, der musste nichts erklären und nichts erforschen, kurz vor der Ohnmacht ging es allein darum, diese zu vermeiden. War das Blümerantsein einmal deklariert, verbot sich jede Nachfrage nach dem Warum, man hatte genug damit zu tun, den freigesetzten Kräften des unsicheren Bodens entgegenzuwirken. Blümerant war weiblich: Die Großmutter hatte es an die Tochter, die Mutter an die erneute Tochter weitergegeben. Ein Passepartout für alle Zustände, in die Männer, also Akteure, nie gerieten. Männer hatten nicht ihre Tage, Männern stand männlicher Besuch im häuslichen, nur zur Hälfte abbezahlten Esszimmer mit seinen dunkel gebeizten, unsinnig standfesten Möbeln nicht bedrohlich bevor, ein Esszimmer, in dem nie serviert wurde, was den heimischen Rechteinhabern schmeckte. Denn nur das durfte gekocht und zubereitet werden, was dem Verlorenen abgerungen worden war in einer großen, fortwährenden Anstrengung der Selbstbehauptung. Der eigene, der vertriebene Stoffwechsel durfte nicht fremdgehen. Saumagen, Labskaus, ausgeschlossen – nur zum Preis abtrünniger Zungen. Wenn dir blümerant war, wurdest du, um das Schwindelgefühl zu bezwingen, noch strenger, hast im Vorhinein angeordnet, was vom Aufgetischten ausschließlich den seltenen Gästen zustand – nämlich das meiste – und von der Tochter nicht angerührt werden durfte. Es handelte sich bei dem Menü um eine Art frühe globale Küche ohne Anbindung, die Gefahr der Untreue war so gebannt. Es gab runde Pumpernickel-Schnittchen mit Salami, Leberwurst, Käse, Schinken, gekrönt von einer triumphalen Cocktailkirsche in Korallenrot, alles mit Plastikstochern aufgespießt. Wie die Kirschen lockten! Gerade weil sie künstlich waren, herkunftslos, ohne Vergangenheit, in der Grammatik also für das Futur stehen durften. Ein Mund voll solcher Kirschen, wie wäre er beredt gewesen!

Bei Besuch verlangtest du Mucksmäuschenstille. Die Haut vor Anspannung großporig, als müsse sie zusätzlich Sauerstoff durchlassen, das Gesicht blass. Blümerant. Deine große, starkknochige Gestalt wurde klapprig, wie aus losen Holzscheiten zusammengefügt. Die Kieferknochen so verhärtet, dass es knackte beim Kauen. Das käme, sagtest du, von der Diphtherie, die dich als Kind (oder Jugendliche?) fast erwürgt hat. Wir, die Nachkriegsgeneration, dagegen genössen ja den Schutz von Impfungen, die Würgeengeln und anderen Zumutungen Einhalt geboten – ein Vorwurf, der ähnlich schwer wog und schleierhaft blieb, wie der, dem Krieg entgangen zu sein. Zur Puppe wurde ich bei solchen Gelegenheiten, zum Mutter-Gesellenstück aus kriegsversehrter Werkstatt, zur Puppe, deren Augenlider klapperten, wenn jemand bei Tisch sie ansprach. War blümerant der Siegellack, unter dem alle Erfahrungen und Ereignisse der Flucht über das Frische Haff luftdicht verschlossen wurden? An dem ersten Gehöft stand ein Leiterwagen. An diesen waren vier nackte Frauen in gekreuzigter Stellung durch die Hände genagelt. Hast du dergleichen erlebt? Warst du Augenzeugin? Von den freundlichen Elchen verraten, im Stich gelassen, das Spiel mit den Hundewelpen in sommerlich-kreatürlicher Verbrüderung nur mehr Retusche. Beides, alles, die gesamte Kindheit und Jugend eine faule Hypothek auf ein Lebensgebäude, dessen Statik falsch berechnet war, Geschichtspfusch, Betrug. An blümeranten Tagen blieb das Licht ausgesperrt, die Rollläden auf halbmast, die Wohnung eine Dämmerung, voller Anstoß. Im Halbdunkel wuchs das Misstrauen in dem Maß, wie die Übersicht fehlte.

Jahrzehnte später ein schlimmer Streit über Krieg und Vertreibung: Die Tochter schießt mit dem Begriff Folgegeschehen einen Giftpfeil ab, der trifft. Oder auch verfehlt, weil es nicht nur im Zentrum der Zielscheibe schwarz ist, sondern überall. Mit der Tochter hast du dir womöglich keine Verbündete geschaffen, sondern eine Gegnerin, eine Saboteurin, eine Frechheit. Blümerant warnte auch davor. Und wuchert, einmal ausgesät, im Wortfeld der Tochter wie ein Bodendecker.

Schuhe

Gingen die Hausschuhe in Rente, wurden sie zu Gartenschlappen. Dann waren die Riemen schon ganz mürbe und etwas ausgefranst, im Fußbett tief eingeschrieben die Fehlstellung des großen Zehs, Hallux valgus, Schmerzausbuchtung. Fußbett – das hört sich behaglich an, nach Ausruhen und Urlaub, tatsächlich aber waren die in ihm beherbergten Fußsohlen Fremdgänger, Wanderarbeiter, nicht Auf-, sondern Wegtretende. Reserve, Ausgemusterte, Statisten für nicht eintretende Fälle. Im Sommer standen die Schlappen, cremefarben, an der Tür zum Garten, leicht bemehlt vom Torf oder Rindenmulch, mit dem du im Frühjahr die Beete adrett ausstaffiert hast. Adrett wie sonst nur auf manikürten Friedhöfen, die den Anschein erwecken, es gäbe den Tod nicht. So hegtest du den Garten ein, als Abbild der Beherrschung, als Ergebnis einer Dressur. Kein Unkraut, nirgends. Vögel und Katzen wurden verjagt, die Primeln, Stiefmütterchen, Tagetes thronten wie Prinzessinnen in braunen Kissen und wurden unbarmherzig nach einer Saison entsorgt und durch neue Einjährige ersetzt. Der Garten war dein Revier, deine Benutzeroberfläche, undeutbar, weil keine Handschrift etwas verriet. Mit Sterilität, mit deren Bedeutung bei drohender Sepsis, kannte die Krankenschwester sich aus. Nicht selten traten schwere Entzündungen bei unbehandelten Wunden auf, zugefügten wie erlittenen. Und gelegentlich durchaus unsichtbar. Vorbeugung ist alles. Und mit der Leugnung nicht nur klanglich verwandt.

Die Spuren deiner Anwesenheit in den ausgetretenen Schlappen verstärkten das Gefühl von Abwesenheit, so als wärest du beim Abstreifen der Schuhe verschwunden. Ihre Beredsamkeit gegen dein Schweigen – wenn ich in ihnen las, tat ich es mit der Verstohlenheit einer Spionin. Im Fußabdruck war alles vermerkt, selbst der kleine, krumme Zeh zeigte seine Niederlassung mit einem schwarzen Punkt an. Nur unter dem hohen Spann des Fußes zeichnete sich nichts ab, eine helle Stelle, ein angedeutetes Fragezeichen. In den Schuhen hatten sich die Sporen einer Erzählung eingegraben, die der Zensur entging. Sie war da, die Erzählung, aber das Alphabet erschloss sie nicht. Allenfalls das Auge. Ich bin die Augenzeugin, die nachträglich sieht, sehen muss. Die gut gepolsterten Füße der Einjährigen, noch ohne Bodenkontakt, sind darin, die strapazierten, vom langen Marsch im Treck der Flüchtenden wund gelaufenen, die brennenden Füße im streng geschnürten Schuhwerk nach langen Schichten als Krankenschwester, interniert in einem Männerhospital im nordöstlichen Dänemark. Deine Patienten: gesichtsverletzte deutsche Wehrmachtssoldaten. Abbild der Mutter, Helferin in der Not, Schwester aus Berufung. Da war der Krieg bereits vorbei, und es ging nicht mehr um Wiederherstellung der Wehrtüchtigkeit ohne Humanitätsduselei. Du hast trotz des Verbots ein wenig Dänisch gelernt, genug, um die Komplimente zu verstehen, die du – ebenso unerlaubt – von manchen Dänen bekamst. Als einzige Frau mit unversehrtem Gesicht inmitten grotesk verstümmelter Soldaten, denen die transplantierten Hautlappen von Nase, Kinn und Wangen baumelten, bis sie festgewachsen waren und zugeschnitten werden konnten.

Zu Besuch bei der Großmutter, deiner Mutter, oder der Tante, deiner älteren Schwester, die den Krieg mit Nierentuberkulose überstanden hatte, sah ich, dass auch ihre Schuhe, selbst die selten getragenen Straßenschuhe, die große Ausbuchtung an ihrer Innenseite hatten, wie auf Verabredung. Stumme Anzeige, das Ressort von Veteraninnen.

Wie schön war es, wenn du, die Gartenschlappen an den nackten Füßen, im Eifer des Jätens und Pflanzens zwar den Boden im Blick hattest, nicht aber die Frisur. Die durfte von noch nicht kupierten Ästen und ausladenden Himbeerranken gezaust werden, und wenn dann einzelne Haarsträhnen trotz aufgetragenen Sprays sich lösten, verwandelte sich das Gesicht, und ihm entwischte ein Ausdruck: Freude. Ein schöner Kontrollverlust, sofort behoben, denn die sandigen Wege wurden zum Abschluss geharkt, proper, leicht japanische Anmutung, nur ohne innere Ruhe. Es verschwanden die Spuren der Vogeltritte und der Katzenpfoten und ein paar windverwehte Blättchen des Vorjahrs, krümelig vor Altersschwäche. Um die schönen Bahnen, die die Rechenzähne hinterlassen hatten, nicht zu zerstören, musste man über das kleine Rasenstück – Vorsicht, Tausendschönchen! – in die Küche zurückkehren, und um die Stufen zur Terrasse zu erreichen sogar einen Satz machen. Da sah ich dich lachen, als wäre das Springen ein auflebendes Zitat aus entrückten Lektüren vom Wildfang. Die Schlappen wurden ausgeklopft und mit dem Bug Richtung Garten verlassen, bereit für kommende Einsätze.

Und im letzten Bild sehe ich deine Füße, wie sie sich unter der Bettdecke frei kämpften und mit Tritten dem Sterben widersetzten. Energisch wie im Leben nicht.

Lichtspiel 2 (1933)

Das Mädchen mit Pagenschnitt, gar nicht blond, gar nicht schüchtern, steht auf einer Leiter und pflückt – Äpfel, Birnen? Der Baum steht nah am Wohnhaus aus soliden Backsteinen. 1933, neun Jahre alt. Furchtloser Blick in die Kamera, Arme erhoben, als wärst du mitten im Tanz. Stämmige Beine, man sieht ihnen an, dass sie viel im Einsatz sind, kletternd, rennend, seilspringend. Kurze Hose, ärmelloses Wams über einem weißen Unterhemd, barfuß. Die Aufmachung eines Laufburschen, eines Stalljungen, eines Lausers. Das Mädchen lächelt nicht, schaut eher milde spöttisch auf die unten Gebliebenen, diejenigen ohne Überblick und ohne Früchte. Schorf an den Knien, die Epauletten mutiger Kinder.

Glockenrock

S