Damals, als René viel älter war - Ismael Buur - E-Book

Damals, als René viel älter war E-Book

Ismael Buur

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Beschreibung

René, der Protagonist erzählt Ismael aus seinem Leben. Im Dialog hinterfragt er viele seiner Entscheidungen. Dies ­geschieht nicht streng chrono­lo­gisch, die Ge­dan­kensprünge sind gewollt – der Leser soll mit Konflikten konfrontiert werden, die ihn selbst betreffen könnten. Um die Dilemmata Renés zu verdeutlichen und mög­licherweise lösen zu können, werden ­philosophische Ansätze und Ismaels Fragen herangezogen. Eine wesentliche Erkenntnis ist die, dass getroffene Entscheidungen nicht per se zu verurteilen sind, wenn sich im Nachhinein herausstellt, dass sie aus heutiger Sicht nicht optimal waren – das Leben geht weiter und ­erfordert immer neue Entscheidungen und auch die ein oder andere Kurskorrektur.

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Seitenzahl: 304

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Ismael Buur

Damals, als Renéviel älter war

Roman

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2024 by R. G. Fischer Verlag

Orber Str. 30, D-60386 Frankfurt/Main

Alle Rechte vorbehalten

Schriftart: Savoy

Herstellung: rgf/1B

ISBN 978-3-8301-1933-3 EPUB

Inhalt

Nostalgie

Wir werden Eltern

Das andere Leben

Jobangebot

Algier

Treffen in Senegal

Gedankenspiele

Anno 2017

Coronaschock

Omar

Jetzt kommt Ouly

Nachtragend

Epilog

»Müßiger Leser! – Ohne Schwur magst du mir glauben, dass ich wünsche, dieses Buch, das Kind meines Geistes, wäre das schönste, lieblichste und verständigste, das man sich nur vorstellen kann. Ich habe aber unmöglich dem Naturgesetz zuwiderhandeln können, dass jedes Wesen sein Ähnliches hervorbringt; was konnte also mein unfruchtbarer, ungebildeter Verstand anders erzeugen als die Geschichte eines dürren, welken und grillenhaften Sohnes, der mit allerhand Gedanken umgeht, die vorher noch niemand beigefallen sind, geradeso wie einer, der in einem Gefängnisse erzeugt ward, wo jede Unbequemlichkeit zu Hause ist und jedes traurige Geräusch seine Wohnung hat?«

Miguel de Cervantes, aus Don Quijote

Das Leben ist ein verdammter Jahrmarkt. Es dreht sich alles, wie im Karussell. Oder es geht auf und ab, wie in einer Achterbahn.

»René, spring aus dem Kettenkarussell!«

»René, tritt auf die Bremse, es geht abwärts!«

Aber nein, er will nicht hören. Und so geht der Scheiß weiter. Unaufhaltsam. Und René kann dem Strudel, der ihn immer tiefer reißt, nicht entkommen.

Kennst du das? Sicher. Entscheide dich, spring aus der Achterbahn, spring vom Kettenkarussell!

Hast du den Mut dazu?

Wird der Sprung gelingen oder ist der Aufschlag so hart, dass es dich zerreißt oder zermatscht?

Und wird es wirklich besser, nachdem du die irre Fahrt unterbrochen hast?

Wo kriechst du nun hin, wenn du noch kannst, nach dem Sprung? Hinein in die beschissene Geisterbahn?

Ja, geh doch! Geh endlich. Hau ab!

Folge den Irrlichtern, den Vexierspiegeln. Folge den verlogenen Fratzen, die dich lockend anlächeln und dich letztendlich doch nur verarschen. Das Licht am Ende des Weges, entlang den Illusionen, wird dich erst verführen und dann blenden. Und schließlich wirst du erneut vor Entscheidungen stehen, die dich zu neuen Enttäuschungen führen. Und wenn du über deine Misserfolge so richtig die Galle ausgekotzt hast, dann streck den Mittelfinger in die Höhe und halte ihn so weit nach oben, dass er auch dann noch aus dem Sumpf herausragt, wenn du schon längst über deinen Kopf hinweg hinabgesogen wurdest. Kämpfe und verliere oder gib auf und verliere auch.

Verlieren wirst du in jedem Fall. Doch klammere dich an die verbleibende Hoffnung und halte deinen Kopf so nahe und so lange du kannst an den gestreckten Finger, verbunden wie Pech und Schwefel, die in der Hölle kleben.

Sieh die Hölle als warmen, kuscheligen Platz an, dann musst du nicht in der Kälte der Verzweiflung erfrieren.

Aber pass auf, wenn du vor dem Abgrund gehst. Schau zurück, gehe nicht mehr weiter nach vorn. Bleib einfach stehen, René! Schau zurück auf dein Leben, vergiss dabei den Verstand, misstraue der Vernunft. Ich, als dein Freund, ich kann dich nur von außen schauend begleiten, auf deiner Irrfahrt, in deiner nimmer endenden Karussellfahrt. Deshalb meine letzte Mahnung:

Wem das Leben Streiche spielt,

gern selbst aufs Spielen zielt.

Gibt vorschnell Regeln selber vor,

wird, verlierend, schnell zum Tor.

Wer dem Leben Streiche spielt,

Hoffnung aus dem Spiel sich zieht,

versinkt gnadenlos mit falschem Trumpf

im bodenlosen Lebenssumpf.

Drum wag es nicht, dein eigner Gott zu sein.

Verzweiflung folgt der falschen Hoffnung. Pein,

wenn du die letzte Karte hast vertan.

Warte nicht, geh schnell, dein Leben ist getan.

Nostalgie

Irgendwann in Kairo. Wir saßen in der Bar des Sheratons am Tresen und tranken einen über den Durst. Es war ein schlimmer Tag. Für mich lagen endlos lange Verhandlungen mit ägyptischen Kunden hinter mir, für René hatte der Tag wieder einmal endlose Diskussionen mit Ingenieuren und sogenannten Fachkräften auf seiner Baustelle, einem Zementwerk, 40 km südlich von Kairo, im Angebot. Das Werk hatte er vor Jahren mit aufgebaut und nun sollte er, obwohl er schon in Rente war, Dinge richten, die nicht richtig liefen und neu eingestelltes Personal schulen.

»Scheißtag.«

»Ja, Scheißtag, kannst du laut sagen.«

»Komm, lass uns einen saufen.«

In der Hotelbar wurde es leider auch nicht besser. Der junge Kellner, der uns bediente, präsentierte uns bei jeder Bestellung und bei jedem Blickkontakt seine hervorragenden und umfangreichen Deutschkenntnisse: »Whisky, Danke-Bitte?«

»Alles gut, Danke-Bitte?« Oder einfach nur: »Danke-Bitte.«

Auch dann, wenn man ihn lediglich anschaute, in seiner viel zu großen Kellner-Uniform, kam einem sein, wie aus der Pistole geschossenes, »Danke-Bitte«, entgegen.

Nachdem seine hochjubilierten Danke-Bitte-Attacken gefühlte tausendmal über uns ergangen waren, konnten wir nicht mehr. Unsere Nerven machten einfach nicht mehr mit. Wir mussten uns heute auf der Arbeit schon so viel Schwachsinn anhören, da war es jetzt einfach genug. So schnappten wir uns die angebrochene Whisky-Flasche und verabschiedeten uns mit einem ironisch gemeinten »Danke-Bitte«, um auf mein Zimmer zu gehen.

Aber unser kellnerierender Sprachkünstler behielt natürlich das letzte Wort: »Danke-Bitte!«, erschallte es hinter uns. »Schreib es aufs Zimmer, Danke-Bitte!«

Und das Echo: »Danke-Bitte!«

»Gute Nacht.«

»Danke-Bitte.«

Raus, raus, weg, schnell weg, ich kann’s nicht mehr hören.

Im Zimmer angekommen mussten wir uns erst einmal von diesen Verbalattacken erholen und schnell waren von jedem zwei Gläser Whisky geleert.

»Ach, Ismael«, fing René plötzlich an, »ich muss dir heute einmal etwas aus meinem früheren Leben erzählen, also von ganz früher.«

»Na, da bin ich aber mal gespannt. Leg einfach los, ich bin ganz Ohr.«

»Danke-Bi…«, weiter kam er nicht. »Noch einmal und ich springe aus dem Fenster!«

René hatte öfters die Angewohnheit, mir aus früheren Zeiten zu erzählen. Besonders, nachdem er ein wenig getrunken hatte. Ich genoss das immer. Wenn ich heute allerdings so darüber nachdenke, dann bin ich fast überzeugt, dass er an diesem Abend irgendwie seinen Abgang vorbereiten und Dinge loswerden wollte, die er nicht verarbeitet hatte, die ihn beschäftigten. Auch nach Jahren noch. Ich wusste damals schon, dass er krank war, aber ich machte mir zu diesem Zeitpunkt, ehrlich gesagt, keine besonderen Gedanken darüber. Irgendein Zipperlein hat ja wohl jeder und wer wird denn gleich ans Sterben denken?

So alt war er ja nun auch noch nicht. Vor allem denkt man doch nicht an seinen Abgang, wenn einem der Whisky noch so gut schmeckt. Und da konnte er ein Tier sein. Ich habe noch nie einen Menschen erlebt, der so viel Whisky auf einmal trinken konnte, ohne richtig besoffen zu werden. Auch am nächsten Tag war von einer durchzechten Nacht bei ihm nichts zu sehen. Kater, hang over, das gab es bei ihm nicht. Sein Spruch war immer: »Wer saufen kann, der kann auch arbeiten. Und wer arbeitet, der darf auch saufen.«

Er brauchte auch keinen Wecker. Er war einfach pünktlich zur richtigen Zeit wach, egal mit wie viel Whisky er einschlief.

Eine weitere Marotte von ihm war, dass er bei seinen Erzählungen immer wieder ins Philosophieren geriet. Da musste man ihn ab und zu auch schon mal bremsen, sonst war man schnell in einem Hamsterrad gelandet und noch schneller war der Whisky alle. Vor allem konnte er, während er von einer Überlegung in die nächste kam, die Schlagzahl des Whiskykonsums ruckzuck erhöhen und man hatte das Gefühl, je mehr er trank, desto mehr konnte er erzählen oder je mehr er ins Reden kam, desto größer wurde sein Durst. Ich weiß nicht, wie herum es richtig ist. Lange Rede, kurzer Sinn, hier nun die Geschichte, die er mir an diesem Abend erzählte.

»Ja«, begann er, »es klingt vielleicht wie ein Märchen, was ich dir nun erzähle und fast bin ich geneigt mit ›Es war einmal …‹ anzufangen. Aber hör’ zu und dann liegt es an dir, was du mit der Geschichte anfängst.«

»Warum so theatralisch?«, fragte ich ihn.

»Ach, gieß noch einen ein. Oder noch besser, wir holen erst noch Nachschub, wird länger dauern.«

»Wie, soll ich etwa bei Danke-Bitte …?«

»Okay, okay, ich geh ja schon selbst, bin ja alt genug.«

Er hatte mir bis zu diesem Tage schon viele seiner Anekdoten erzählt und in der Regel ging es um lustige, meist selbstironische Geschichten. Heute hatte ich den Eindruck, ging es ihm um etwas anderes, als einfach nur witzig zu sein. Ich war gespannt. Er war auch so komisch drauf, irgendwie.

Als er zurückkam, begann er damit, nachdem der erste Whisky aufgeteilt war, seine Geschichte zu erzählen. Ich lasse ihn, der Einfachheit halber, selbst zu Wort kommen.

Wir werden Eltern

»Anno 1970. Mit 16 aus der Schule, ab in die Lehre, Freundin, Liebe, und direkt ein Kind gebastelt. Kaum die Pickel ausgedrückt, mit 18 vor den Traualtar!

Lebenslauf entschieden, alles erledigt?

Das war aber Gott sei Dank jetzt nicht die Frage von damals, nein, nein. Immerhin gab es ja Schmetterlinge im Bauch, Glück im Wolkenkuckucksheim, meine große Liebe Christa. Wunschkind unterwegs, alles paletti.

Nein, es ist eher eine Frage aus Sicht von heute, die da lautet: War das richtig, sich schon so früh zu binden? Hätte mein Leben anders, besser, verlaufen können? Hätte Kants Frage ›Was darf ich hoffen?‹ etwas geändert?

Aber, wer könnte eine Antwort geben, jetzt, aber auch schon damals?

Eine sinnvolle Antwort meine ich natürlich. Denn Antworten, vor allem ungebetene, die gab es damals aus allen Ecken. Vor allem solche: ›Ach, ihr seid doch noch so jung. Ihr müsst doch euer Leben erst einmal leben und nicht schon auf Familie machen.‹

Oder ganz brachial: ›Du hättest deinen Schwanz besser in die Türe geklemmt!‹

Lehrmeisterhaft: ›Ihr seid doch noch grün hinter den Ohren.‹ ›Lernt erst einmal was.‹

Besorgt: ›Wie wollen Kinder denn Kinder großziehen?‹

Nun, das waren, aus heutiger Sicht, noch harmlose Sprüche. Damals klang das jedoch schon sehr hart. Sogar von guten gleichaltrigen Freunden, von denen man nicht gedacht hätte, dass sie so altgescheit daherreden können, selbst noch grün hinter den Ohren, musste ich mir solchen Bullshit anhören.

Bauchschmerzen verursachten mir damals aber doch meine Gedanken an Eltern, Großeltern und die Verwandtschaft. Jetzt nicht, dass ich mir Gedanken um irgendwelche Strafaktionen machte. Nein, das nicht. Es war eher so, dass ich mich vor Überreaktionen fürchtete, vor allem mit Blick auf meine Mutter und meinen Schwiegervater in spe.

Die beiden waren bei solch unerwarteten Vorkommnissen unberechenbar. Bei meiner Mutter war schon bei einfacheren Anlässen ein ausgeprägter Hang zur Tragödie erkennbar. Christas Vater, ein herzensguter Mensch, konnte bei extremen Anlässen, die ihn überforderten, schnell aus der Haut fahren.

Und, man hatte ja so komische Geschichten aus der Vergangenheit gehört, vor allem vom Großvater. Zum Beispiel, dass in früherer Zeit eine nahe Verwandte aus der Familie ausgestoßen wurde, weil sie sich mit einem Nachbarjungen eingelassen hatte und sie damals ebenfalls noch sehr jung war. Sie wurde als Hure bezeichnet und mit Schimpf und Schande aus dem Hause gejagt. Solche Geschichten waren natürlich für meine Mutter immer ein gefundenes Fressen, um eigenes Leid daraus abzuleiten und sich in eine Stimmung zu versetzen, die jedem zeigte, wie schlecht die Welt war und vor allem, wie schlecht die Welt ihr gegenüber war. Nun, dass ich mit meiner Vermutung nicht so ganz danebenlag, dass meine Mutter noch Teil eines denkwürdigen Schauspiels werden würde, das erzähle ich im weiteren Verlauf noch.

Mein Großvater war natürlich immer darauf bedacht, dass die Familie nach außen keinen Makel zeigt und ich konnte mir gut vorstellen, dass er ein Problem damit haben würde, dass sein Enkel schon so jung Vater wird und das mit einem noch jüngeren Mädchen. Also, ob er das verkraftet und welche Konsequenzen er daraus ableiten würde, das war mir nicht so eindeutig klar. Ich rechnete zumindest mit einem lautstarken Disput über Familienehre und so weiter. Was den Vater meiner Braut anging, sah ich auf jeden Fall die allergrößten Probleme auf uns zukommen.

Christas Eltern waren aus dem Sudetenland geflüchtet, hatten sich hier eine neue Existenz aufgebaut und ihre Tochter war ihr Ein und Alles. Und nun kommt einer wie ich daher und schwängert sie, beide kaum trocken hinter den Ohren. Eine Schande für die Familie!

So hatte ich mir einige Schreckensszenarien zurechtgedacht und bangen Herzens bereitete ich mich innerlich auf den Gang nach Canossa vor.

Was mich in große Aufregung versetzte und mir das Gefühl gab, strengen Richtern vorgeführt zu werden, um diesen die wichtige Neuigkeit, diesen Straftatbestand der Sünde bekannt zu geben, erwies sich als ein Schauspiel der besonderen Art. Wie gehe ich am besten vor, überlegte ich. Was sage ich meinen Eltern?

›Ich werde Vater!‹ oder besser ›Du wirst Oma.‹ ›Du wirst Opa.‹ Oder ganz dramatisch: ›Es ist etwas passiert.‹

Vielleicht locker: ›Stellt euch mal vor …‹

Oder spitzbübisch dümmlich: ›Habt ihr schon gehört …?‹

Nun, das geht wohl gar nicht, verwarf ich diese Idee, denn was sollen sie schon gehört haben, weiß doch keiner nix. Nun gut, los geht’s. Nur wer Angst hat, fürchtet sich.

Beichtstunden

Zu meiner ersten Beichtstelle hatte ich meine Mutter als die am wenigsten gefährliche Anlaufstelle auserkoren. Sie konnte zwar laut werden, aber aus dem Alter, in dem sie mich wie früher überbrüllte, war ich raus und den Kochlöffel, den sie in meiner Kindheit als pädagogisches Hilfsmittel zum Einsatz brachte, musste ich auch nicht mehr fürchten.

In der Küche, sie war gerade beim Kochen, kommt nun das Geständnis. Natürlich wartete ich ab, dass sie nichts in der Hand hatte, was sie hätte fallen lassen oder nach mir werfen können. Ich wollte eigentlich mit ›Frau Richterin, Eure Exzellenz, ich habe etwas zu gestehen, lassen Sie Gnade walten‹ beginnen, aber dann eröffnete ich meine Beichte doch etwas weniger offiziell: ›Mama, ich muss dir etwas sagen.‹

›Ja?‹

›Also, es ist so … äh.‹

›Ja, was?‹

›Na ja …‹

›Was, na ja, ihr habt nicht aufgepasst! Stimmt’s?‹

Wau, darauf war ich jetzt gar nicht vorbereitet, dass sie schon vermutet, um was es geht und so war mein ausgeklügelter Schlachtplan einer beherzten Offensive schlagartig im Eimer.

Weiter. Vorsichtig tasten, vielleicht war das ja schon der Hinweis auf die Möglichkeit eines schmerzlosen Gestehens. Die Hoffnung auf Verständnis und Akzeptanz machte sich bei mir breit.

›Ja also, es ist so …‹ – neuer Anlauf – ›Ja, es ist so, … es ist eben passiert.‹

Ein ›Ich bin unschuldig‹, habe ich mir allerdings verkniffen, hätte sie mir ja wahrscheinlich sowieso nicht abgenommen.

›Ach. Also doch‹, entfuhr es ihr spitzfindig, ›hättet ihr nicht aufpassen können?‹

›Na ja, wie denn?‹ Ich dachte noch für mich: ›Wer passt denn schon in so einer Situation auf, wenn einen das Glück übermannt und dabei das Kondom kaputtgeht?‹ Genau, da kann ich doch einen Schuldigen präsentieren. Hätte ich auch gleich draufkommen können.

›Und außerdem ging das Kondom kaputt!‹, fügte ich deshalb schnell hinzu.

›Ach so‹, entgegnete sie ironisch, wobei sie das so soooo lang zog, ›na das ist aber wirklich Pech, Betonung auf Pech, das e wie ein ä gezogen. So ein Pech aber auch! Das glaubt man ja nicht. Na ja, dann sieh mal zu, wie du das deinem Herrn Vater klarmachst. Der fällt bestimmt aus allen Wolken, bei so viel Pech.‹

Das ›Herr Vater‹ war bestimmt deshalb gewählt, weil sie ja wusste, inwiefern er sich um meine Aufklärung gekümmert hatte. Nämlich gar nicht.

Wie es der Zufall will, kommt Papa ins Zimmer, sieht uns an, merkt, dass etwas Weltbewegendes passiert ist, stellt Fragen, nicht verbal, sondern mit ungläubigem, fragenden Blickwechsel zwischen mir und Mama.

Mama: ›Da, hör dir mal an, was dein großer Bub angestellt hat.‹ Betonung liegt auf ›dein Bub‹ und auch auf ›großer‹.

Papa, zurückhaltend, vorsichtig wie immer: ›Ich kann mir das schon denken, hm, hm, hm‹, schüttelt den Kopf, ›das habe ich schon lange befürchtet.‹ Pause. Zu mir: ›Habe ich dir nicht immer gesagt, du musst aufpassen?‹ Pause. Dreht sich um, geht zur Tür: ›Ja, egal, ich muss jetzt erst mal in die Singstunde.‹

Längere Sprechpause, steht schon an der Tür: ›Was ihr alles so macht, hm, hm, hm, in eurem Alter.‹

Er geht tatsächlich in die Singstunde. Abgang, Vorhang fällt. Stille. Meine Erholungspause. Innerer Kniefall. Innerer Rückzug vom Schlachtfeld. Schnell hoch in mein Zimmer, Musik an: ›That’s how strong my love is‹ von den Stones, durchatmen.

Ja, ›Du musst aufpassen!‹, die geniale Strategieansage meines Vaters, des besten Aufklärers aller Zeiten. Der stellt Kant in den Schatten. Dieser Satz war nämlich alles, was jemals im Zusammenhang mit Aufklärung, sprich Geschlechtsverkehr, über die Lippen meines Vaters kam. Und das mit hochrotem Kopf und sofort einsetzendem Hustenanfall, der eine weitere Konversation erst einmal unmöglich machte. Weitere Fragen meinerseits erübrigten sich damit und über kurz oder lang stellte ich meine Versuche, mehr wissen zu wollen, ein.

›Bub, du musst einfach aufpassen.‹

›Ja, auf was denn?‹, wollte ich damals bei meinem letzten Versuch, Erkenntnisse zu gewinnen, endlich doch noch wissen.

Aber die Antwort wurde, wie jedes Mal, mit dem Hinweis auf den unsäglichen Hustenanfall, in Form einer abwehrenden Handbewegung verweigert. ›Später mal‹, war ein Krächzen zu vernehmen.

Ohne meine Freunde, die wenigstens irgendwie aufgeklärt wurden, entweder tatsächlich vom Vater oder von älteren Brüdern bzw. ohne Dr. Sommer aus der Bravo, hätte sich der Einstieg in mein Sexualleben, außerhalb der unmittelbaren Reichweite der eigenen prädestinierten Körperteile, eher schwierig gestaltet, wenn nicht gar als unmöglich erwiesen. Aber wozu hatte man denn Freunde und die Bravo?

Heute ist das für die angehenden Eroberer des anderen Geschlechts kein Problem mehr, sich rechtzeitig für den Ausflug in die Welt der erotischen Abenteuer vorzubereiten. Film, Fernsehen und nicht zuletzt das Internet bieten hier ausreichend Anschauungsmaterial, das mir damals nicht zur Verfügung stand. Höchstens der Playboy, war aber viel zu teuer. Wobei ich nicht verschweigen darf, dass es ja immerhin schon Oswald Kolle gab. ›Helga‹, das war ja die Attraktion in unserem Dorfkino schlechthin. Und dann kamen Filme wie ›Liebesgrüße aus der Lederhose‹, ›Das gelbe Haus am Pinasberg‹ und andere sehenswerte Klassiker der anspruchsvollen Freikörperkultur. Alle filmischen Kunstwerke trugen Gott sei Dank dazu bei, dass sich die Aufklärungsarbeit meines Vaters erübrigte. Glück für ihn, hoch lebe die moderne Informationsverbreitung, schon damals.

Später beim Essen ziehen dann doch noch dunkle Wolken auf. Vater ist heil und psychisch unbeschadet zurück aus der Singstunde. Setzt sich an den Küchentisch, trommelt mit den Fingern auf der Tischplatte. Wahrscheinlich noch ein Nachgang zu dem Gesungenen aus der Singstunde. Stille. Keiner traut sich, etwas zu sagen. Man hört nur das nervige Schaben der Essbestecke auf den Tellern, was so klang, als müsste das Porzellan mit dem Besteck lupenrein nachpoliert werden. Natürlich, es dürfen ja auch keine Reste auf dem Teller zurückbleiben. Mit dem Essen ist man erst fertig, wenn der Teller so saubergekratzt ist, dass man ihn direkt in den Schrank stellen könnte. Und nur dann, wenn alles aufgegessen wurde, gibt es morgen schönes Wetter. So die Logik der späten sechziger Jahre, zumindest bei uns zu Hause.

Wir sind also bedächtig beim Polieren des Porzellans, als plötzlich Mutters sorgenvolle Stimme die vom Kratzen untermalte Stille zerreißt, fast flehend kommt es aus ihr heraus: ›Wenn das Oma und Opa erfahren, die überleben das nicht.‹ Sie gibt sich, als hätte sie das Leid der Welt alleine zu tragen.

Sonst sagt keiner etwas. Weiteressen. Jeder ist nun innerlich nachdenklich in diesen Satz und äußerlich in weiteres Kratzen vertieft. Die Frage, wie lange denn zugewartet werden solle, wurde natürlich nicht beantwortet. Diese Frage stellte auch niemand. Wäre schon irgendwie interessant gewesen. Aber, nur keine Forderungen stellen, da könnten ja Konsequenzen folgen.

Ja, Oma war herzkrank, Aufregungen konnten für sie tatsächlich tödlich sein. Das hatte ich schon mehrfach erlebt. Meistens dann nämlich, wenn ich wieder einmal irgendeinen Streich ausgeheckt hatte und sie damit überraschte. Das artete dann manchmal schon so aus, dass der Arzt kommen musste.

Da mich Chemie immer schon interessierte, habe ich als Schüler öfters mit allem Möglichen, vor allem aber mit Schwarzpulver herumexperimentiert. Eines Tages hatte ich eine besonders geniale Idee. Ich wickelte eine Handvoll Schwarzpulver in Packpapier, fixierte einen Docht und befestigte das Ganze auf einem Rollschuh. Den platzierte ich im Hof, Richtung Treppe. Ich wartete darauf, dass irgendjemand aus der Haustür kommen würde. Dann zündete ich die Rakete und die donnerte dann laut zischend über den Hof. ›Ah, was ist denn das? Hilfe!‹ Nun, wer schrie da, wen hatte ich überrascht? Oma natürlich.

Sie greift sich an die Brust in der Herzgegend und sackt zusammen. Jetzt war der Schreck bei mir. Aber es ging gut aus, Gott sei Dank. Oma beruhigte sich wieder, also nach einer Spritze vom gerufenen Arzt, der um die Ecke seine Praxis hatte, verabreicht. Ich bekam eine heftige Verbalspritze und Berufs- also Experimentierverbot.

Also, zurück am Esstisch. Sollte ich diesen Gerichtstermin mit Oma und Opa erst einmal verschieben? Gut, Mutter hat ausnahmsweise mal Recht, wenigstens heute noch nicht. ›Pffffff‹, Erleichterung, auch gut, nur nicht nachhaken.

Canossa

Ein sehr viel schwierigerer und auch wichtigerer Gang stand ja sowieso am nächsten Tag bevor: Der Gang nach Echt-Canossa. Untertitel: Wie beichte ich es den Eltern meiner Liebsten? Statt König Heinrich IV. zu Papst Gregor dem VII., ging Klein-René zu Vater Hans.

Große Angst machte sich wieder breit, Bauchschmerzen. Denn wie schon gesagt, Christas Vater neigt zu cholerischen Anfällen, besonders oder auch nur dann, wenn es große Probleme gibt, die nicht in sein Alltagsmuster passen.

Der Plan: Erst einmal behutsam die Mutter einweihen. Das würde einfacher werden, denn sie war sowieso meine große Verbündete. Ich war zudem so etwas wie ein eigener Sohn. Also, raus mit der Ansage, Flucht nach vorne. Wir, also Christa und ich, besprachen uns dahingehend, dass wir es der Mutter gemeinsam sagen wollten. Ja, so hatten wir uns abgesprochen.

Wir kommen in die Küche und ich will gerade die Einleitung zelebrieren, komme aber nicht weit. Christa, einfühlsam wie immer, also wie ein Backstein, zögerte erst gar nicht, wartete ganz direkt und unverblümt mit der Neuigkeit auf: ›Mama, ich bin schwanger!‹ Sogar die berühmte fallende Stecknadel war nicht zu hören. Schweigen.

Dann Mutter, eine Hand an der Stirn, die andere vor sich herfuchtelnd, Blässe breitet sich auf ihrem Gesicht aus, dann Röte: ›Ach! Wie? Was?‹, längeres Schweigen, ›Oje, wie sagen wir das dem Papa?‹ Verdreht die Augen: ›Nein, das muss ich alleine machen, ihr geht am besten aus dem Haus, bevor er von der Arbeit kommt. Geht einfach – jetzt! Er kommt doch schon gleich.‹

Panik, Hektik. Wir gehen also, spazieren, angstvoll, nichts Gutes ahnend. Angst vor allem um die Mutter, wer weiß, was passiert. Unterwegs umarmen wir uns immer wieder, drücken uns, schauen uns mit Hoffnung in den Augen an, sprechen nicht viel. Jeder trägt seine eigenen Gedanken. Meine gehen in etwa so: ›Wir hatten uns mal acht Kinder gewünscht, aber nicht sofort, also nicht so schnell.‹

Es dauert nicht lange und wir entschließen uns, wieder zurückzugehen, wollen nicht länger warten. Der Druck wird immer größer, die Sorgen und die Ungewissheit immer belastender. Und dann das große Zittern.

Wir gehen, fast schleichend, die Haustreppe hoch. Vorsichtig lauschend durch die Haustüre eintreten, immer noch schleichend wie Diebe. Horchen, was drinnen los ist. Und? Wir schauen uns fragend an. Nichts. Zögernd in die Küche gehen. Schwiegervater steht am Fenster, sieht ernst drein, Arme verschränkt. Und dann, wir erwarten ein Donnerwetter, ohne Vorwarnung, er in ruhigem Ton: ›Na, da müssen wir mal überlegen, wie wir das stemmen.‹

Kein Aufbrausen, kein böses Wort, kein ›Wie konnte das passieren?‹. Wir schauen uns an, Erleichterung, Tränen, Freude, Hoffnung. Er liebt halt seine Tochter, wie könnte er ihr, uns, böse sein? Tochter und Vater umarmen sich, länger. Mutter sitzt am Küchentisch, die Hände auf dem Schoß gefaltet, wirkt entspannt. Es könnte sein, dass sie verstohlen sogar ein wenig gelächelt hat.

Ich glaube, in dieser Nacht habe ich so gut wie gar nicht geschlafen, einfach zu viel Druck, zu viel Erleichterung, zu viele Gedanken, doch gute Gedanken, erster Druck weg, neue Gedanken, wie geht es weiter? Alles überschlägt sich. Dabei muss man wissen, dass ich eigentlich immer gut schlafe, auch heute noch. Wenn ich schlafe, da könnte ein Panzer durchs Zimmer fahren, ich würde nichts mitbekommen.

Außer wenn ich verliebt bin, dann findet der Schlaf mich eher nicht, dann muss ich ihn suchen, habe Herzklopfen und bestimmt auch hohen Blutdruck, mehr als sonst jedenfalls und die Schmetterlinge im Bauch wedeln mir jeden Ansatz von Schlaf weg.

Der letzte Akt des Beichtens

Nun, das Drama, bisher mehr Komödie als Tragödie, war ja noch nicht zu Ende. Oma und Opa standen ja noch immer auf dem Beichtplan. Ich selbst hatte allerdings kein dramatisches Gefühl mehr, das war nun eher meiner Mutter vorbehalten, waren ja schließlich ihre Eltern.

Also, am nächsten Tag mit weniger Unwohlsein zum nächsten Gerichtsverhandlungstermin. Oma ist im Wohnzimmer, strickt. Ich, sofort mutig ansetzend: ›Oma, es gibt Neuigkeiten.‹

Jetzt muss ich noch vorausschicken, dass uns Oma vor einiger Zeit in flagranti in meinem Zimmer erwischt hatte und sich ein ›So geht das aber nicht!‹ nicht verkneifen konnte. Wobei ich glaube, ihre ernste Miene war dabei mehr gespielt als ernsthaft vorwurfsvoll gemeint. Der Versuch, Tadel zu zeigen, kam bei mir jedenfalls nicht so richtig rüber. Zumal ich ihr mit dramaturgisch versierter Gelassenheit versicherte: ›Wir sind doch tatsächlich, weil wir müde von der Arbeit sind, eingeschlafen und haben gar nicht bemerkt, dass wir so eng zusammengeraten sind. Und außerdem ist es doch so warm im Zimmer, dass die Kleidung irgendwie gestört hat.‹

Oma schaut ungläubig in die Runde, verdreht die Augen. ›Also Oma, so denke ich mir das wirklich‹, will ich sie beschwichtigen, bevor sie irgendetwas sagt, ›und dann müssen wir uns eben im Schlaf irgendwie von den Klamotten getrennt haben, wie das eben halt so ist, wenn einem warm ist.‹

Oma: ›Ja, ja, wie das halt so ist, irgendwie. Pass bloß auf, du Schmalspurcasanova! Bis es dann passiert ist! Denkt doch mal nach, ihr seid doch noch Kinder!‹

Wie? Jetzt war ich aber entrüstet! Das war ja jetzt nicht ihr Ernst, oder? Kinder? Wir? Na geht’s noch? Immerhin war ich doch schon siebzehn! Und Christa war immerhin auch schon fünfzehn! Oma ging, murmelte noch irgendetwas vor sich hin, dann aber lauter: ›Die Zimmertür bleibt offen!‹

Nun weiter mit der Offenbarung.

Oma: ›Ich habe mir schon so etwas gedacht. Irgendwie hat sich Christa verändert die letzten Wochen.‹

›Da sieht man wieder mal, was Erfahrung ausmacht‹, dachte ich so für mich. Oma sagt mit einem verschmitzten Lächeln: ›Na ja, ich freue mich jedenfalls auf meinen Ur-Enkel oder auf meine Ur-Enkelin. Ach, das ist ja so schön, dass ich Uroma werde. Dass ich das noch erleben darf.‹

Jedoch gleich in Panik verfallend, ich dachte schon, ein Herzkasper sei zu befürchten: ›Himmel, was wird Opa dazu sagen?‹ Die Hände über dem Kopf zusammenschlagend: ›O Gott, o Gott!‹ Die Stricknadeln hatte sie vorher glücklicherweise schon abgelegt. Wer weiß, was passiert wäre.

Ich konnte mir in diesem Moment nicht verkneifen, so für mich zu denken: ›Es ist schon komisch. Wie ist das jetzt zu verstehen, wie meint sie das, die Oma? Hat sie Opa jetzt zum Gott erhoben? Oder hat sie den Gott gemeint?

Nur, was soll der denn jetzt noch an den Tatsachen der ungewollten Zunahme der Weltbevölkerung ändern, die hier gerade vor irdischem Familiengericht verhandelt wird? Gott hat zudem bestimmt andere Sorgen.‹

Oder meint sie ›O Gott‹ jetzt wegen des Urenkelkindes? Ist Omas Ausruf freudig gemeint oder ist es ein Aufschrei aus Angst, weil der Opa einem Asthmaanfall erliegen könnte, wenn er die Botschaft seines missratenen Enkels vernimmt? Meint Oma vielleicht, dass Opa mich erwürgt oder mit Schimpf vom Hofe jagt, wie das in der Familie ja schon einmal passiert war?

Opa, der in brenzligen Situationen schon immer in den Verdacht geriet, bei solchen oder ähnlich ›frohen Botschaften‹ einen übermäßigen Asthmaanfall zu bekommen, bleibt unerwartet stoisch gelassen: ›Ach, so was. Ei, ei ei, ihr jungen Leute könnt ja einfach nicht abwarten, immer nur schnell, schnell, schnell. Na ja, egal, gab’s früher auch schon.‹ Ein schelmisches Grinsen war nicht zu übersehen, aber nicht das kleinste Anzeichen von Husten. Asthma, wo bist du? Heute freigenommen? Seltsam, oder? Ich glaube, er hat sich im Geiste heimlich die Hände gerieben. Vielleicht müsste ich doch mal in der Familiengeschichte stöbern. Wer weiß, was da alles zu Tage kommt? Zum Beispiel, wer der junge Mann damals war, wegen dem die junge Dame weggejagt wurde.

So. Das war’s. Alle Familiengerichtstermine waren überstanden. Beichten erfolgt, Gnade vor Strafe. Allgemeine Vergleichsstimmung. Keine Verurteilung. Ich hätte also keine Windel gebraucht, volle Hose fällt mangels Scharfrichter aus.«

Ich unterbreche René: »Das Drama wurde also nicht zur Tragödie. Wurde es nun zur Komödie? Wie erging es nun den Helden?«

Wir tranken einen Schluck Whisky und alberten noch ein wenig über das Erzählte und meine unberechenbare Familie.

»Wenn ich so darüber nachdenke, wie sich ›die Alten‹ verhalten haben, dann kannst du richtig froh sein, mein Lieber«, sagte ich.

»Ja und ich wünschte mir schon oft, ich könnte ihnen heute noch einmal dafür danken. Leider leben sie alle nicht mehr.«

Und nach einer Pause sagte er: »Dankbar bin ich ja nicht nur dafür, wie die konspirativen Enthüllungsgespräche damals verliefen, sondern überhaupt, also auch so im Allgemeinen. Ich muss wirklich zugeben, dass ich Glück hatte. Glück, solche Eltern zu haben, von beiden Seiten.«

»Genau, so eine Geschichte hätte Shakespeare wahrscheinlich nicht inspiriert, ein Theaterstück zu erschaffen. Das Drama Romeo und Julia hätte unter solchen Voraussetzungen mit Sicherheit keinen Einzug in die damals tragödienheischende Theaterwelt gefunden, eben weil der Stoff für eine Tragödie gefehlt hätte«, sagte ich philosophierend.

»Nein, noch gibt es keine Tragödie, aber sie kommt noch.«

Mir ging dann durch den Kopf: »Wenn man die geschilderten Vorgänge kennt und wenn man dem jungen René zugesteht, dass er zwar selbstverschuldet in die Situation der frühen Vaterschaft geraten ist, aber sich doch unschuldig, ob der über ihn gekommenen Gefühlswucht der jungen Liebe, zu dieser bekennen durfte, dann hatte er doch etwas erlebt, was viele in seinem Alter so noch nicht erleben durften.«

Und laut zu René: »Warum kommt die Tragödie noch? Welche?«

»Warte doch ab, du wirst schon sehen. Oder soll ich besser sagen, hören? Ist ja auch egal jetzt.«

Ich war jetzt richtig gespannt, was noch alles kommen würde. Whisky hatten wir noch genug, die Nacht war noch jung. Und so erzählte René weiter.

Planung und Organisation

»Nachdem das große Beichten vorüber war, fingen die Planungen an. Alle Beteiligten waren sich einig: Natürlich muss geheiratet werden, das Kind muss ja Eltern haben. Es muss alles geregelt sein.

Wir freuten uns einfach darüber, dass wir nun endlich richtig zusammen sein werden, und zwar als Ehepaar. Keine Heimlichkeiten mehr, keine abenteuerlichen Verrenkungen auf Hochsitzen oder Gebüschen im Wald, auf Ameisenhaufen, die man vorher nicht sehen konnte oder im Zimmer, wo Oma jeden Moment wehklagend und schimpfend hereinkommen konnte.

Ich darf gar nicht darüber nachdenken, welche Ideen junge Menschen entwickeln, wenn sie das tun wollen, was ihnen von den Erwachsenen verboten wird und doch dem Drang der Begierden unterliegt. Du weißt sehr wohl, Ismael, was ich meine.«

»Sicher, war ja auch mal jung.«

»Und alles ging damals ohne Handy! Das kann sich so mancher junge Mensch heutzutage gar nicht vorstellen. Sex und dabei das Handy aus, wie soll das denn gehen?«

Er erzählt weiter.

»Wir beide schmiedeten indes andere Pläne als die Eltern, hatten wichtigere Sorgen als die Erwachsenen. Beispielsweise, wie das Kind heißen soll.

Soll ich eine Wiege bauen?

Heiraten wir kirchlich?

O, Achtung. Da sind wir bei einem Thema, das es in sich hat. Wenn es nach den Eltern von Christa gegangen wäre, keine Kirche. Wir, also mein Schatz und ich, auch nicht. Mein Vater? Keine Meinung. Da müsste er ja einen schwarzen Anzug anziehen, ist nicht so sein Ding.

Meine Großeltern? Auch egal. Opa war eh nicht gut auf die Kirche zu sprechen, da er sich irgendwann einmal überrumpelt fühlte, wegen des Verkaufs oder Kaufs eines Obstgrundstücks. Um was es da genau ging, das weiß ich allerdings nicht. Ist ja auch egal. Oma war das Sitzen in der Kirche ein Gräuel. Außerdem konnte man da nicht stricken. Was soll sie also da?

Ich möchte noch bemerken, Christas Familie war katholisch, unsere Familie evangelisch.«

»Hat das eine Rolle gespielt?«

»Nein, für uns hat das keine Rolle gespielt, heutzutage ist das auch weitgehend überholt. Aber damals war das noch ein Thema in vielen Familien und auf den Dörfern. Für uns beide jedenfalls nicht. Trotzdem, wir hatten alle die Rechnung ohne meine Mutter gemacht. Dazu später mehr. Erst muss ich noch berichten, was uns die Rechtsordnung unseres Staates abverlangt hat.

Okay, ich muss sagen, als Staatsbürger ist man ja immer geneigt, staatliche Regularien zu verurteilen und sich über, meist subjektiv empfundenen, Bürokratiewahn aufzuregen.

Aber es ist in der Regel unbedingt notwendig, Regeln in der Gesellschaft einzuhalten. Was ich hier konkret meine? Nun, da ich noch nicht volljährig war, damals war man erst mit 21 Jahren volljährig, wobei man aber mit 18 schon zur Bundeswehr eingezogen werden konnte, musste ich dem Staat beweisen, dass man mir die Volljährigkeit schon mit 18 zugestehen kann, damit ich den ehelichen Pflichten und denen eines Vaters nachkommen kann.

Dazu mussten meine Verlobte und ich zum Jugendamt bzw. zum Familiengericht, um dort an einem Test teilzunehmen. Sozusagen eine Art MPU, also eine medizinisch-psychologische Untersuchung oder noch genauer, ein Idiotentest für jugendliche Heranwachsende, mit der Aussicht, bei Bestehen die eigenen Kinder selbst erziehen zu dürfen. Sieben Stunden Befragung, gefühlt eine Ewigkeit. Einzeln und gemeinsam. Fragen nach Beruf, den Zielen für die Zukunft, welche Filme, welche Musik, welche Bücher, welche Hobbys, wie das Verhältnis zu den Eltern ist und was weiß ich noch alles. Wir gaben unser Bestes, gemeinsam und jeder für sich. Die Prüfer staunten, so viel Übereinstimmung, so viel Aussicht auf Erfolg, das begeisterte sie. Sagten sie uns auch so. Wir hatten es geschafft.

Na ja, noch nicht ganz, also noch nicht an diesem Tag. Aber ein paar Tage später war der Bescheid da: Ich war nun volljährig. Amtlich bestätigt, geschafft. Ich war nun mit 18 ab jetzt schon 21, also gefühlt, halt so gut wie.

Ich durfte ab sofort alles für mich selbst unterschreiben, sogar meine eigene Krankmeldung, wenn ich mal schwänzen wollte. Auch ein Bankkonto durfte ich jetzt ohne Elterngenehmigung eröffnen. Na, das war ja auch besonders wichtig. Wohin ansonsten mit dem vielen Geld, das ich gar nicht bekam. Okay, Scherz beiseite.

Es war geschafft, offiziell stand einer Hochzeit nun auch seitens der Gesellschaft nichts mehr im Wege. Fünf Jahre später wäre uns das erspart geblieben, denn da wurde die Volljährigkeit mit Vollendung des 18. Lebensjahres in Bonn beschlossen.

Das Datum der Hochzeit wurde festgelegt und das Aufgebot bei der Gemeinde bestellt.

Alles fing gut an. Die Schwiegereltern planten, wie sie ihre Räume im Haus umgestalten, damit wir nach der Hochzeit einziehen können. Wir nach oben, sie nach unten. Fernsehzimmer wird zum Schlafzimmer, wir bekommen unser Schlafzimmer oben, Küche, kleines Wohnzimmer, kleines Kinderzimmer. Alles perfekt geplant. So wurde das dann auch umgesetzt.

Ich fand sogar einen Nebenjob. Das war besonders wichtig, da ich ja noch im zweiten Lehrjahr war und von den 82 DM Lehrgeld gingen 55 DM für Bus und Bahn drauf. Meine Christa war auch noch in der Ausbildung, sie hatte irgendwas um die 100 DM im Monat, wovon 30 DM ebenfalls für die Busfahrkarte draufgingen. Also, wenn man es genau nimmt, hatten wir gerade mal 120 Märker im Monat. Nicht gerade viel für einen Haushalt und demnächst noch mit Kleinkind.

Also mit dem Nebenjob, einem Arbeitskollegen auf dem Bau zu helfen, konnte ich mir samstags und manchmal auch während der Woche nach Feierabend ein paar hilfreiche Märker dazuverdienen. Im ersten Monat hatte ich dann auch tatsächlich 200 Mark dazuverdient. Das war wie Weihnachten. So, dachte ich, könnten wir etwas Geld für unser Kind auf die Seite schaffen. Ja, hätten können. Wenn der kleine Teufel der Lebensgeisterbahn mal keine Langeweile gehabt und deshalb eine Dummheit ausgeheckt hätte, für die er mich als Opfer auserwählte.

Unfall

Eines Abends, nachdem ich bei meinem Arbeitskollegen auf dem Bau gearbeitet hatte, stattete ich meiner Zukünftigen noch kurz einen Besuch mit dem Moped ab und fuhr anschließend nach Hause. Es war schon spät, gegen 22 Uhr. Kurz vor meinem Wohnort überholt mich ein Auto, stoppt vor mir. Ich halte ebenfalls an, das Auto kommt mir bekannt vor, kurz darauf kommt noch einer mit seinem Moped angerauscht. Nun, es waren Freunde und mein Cousin Dieter, der Mopedfahrer, Norbert, der Ex meiner Zukünftigen. Sie hatten mich erkannt und wollten mir zur Verlobung gratulieren. Wir wollten uns gerade wieder verabschieden und losfahren, als der hinterlistige Drecksack von Teufel zuschlug.

Von hinten kommt ein Auto, wir wundern uns noch, warum der nicht ausweicht, er fährt direkt … Zu spät. Norbert fliegt mit seinem Moped durch die Luft und schruppt mit dem Gesicht über die Straße, sein Moped fliegt mir ans Bein. Ablaufende Kettenreaktion. Auch ich werde von der Wucht weggeschleudert. Ich rappele mich hoch, sehe, dass mein Moped verbogen und verbeult ist. Kaputt, Scheiße!