Damals beim Bund - Jan-Uwe Thoms - E-Book

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Jan-Uwe Thoms

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Beschreibung

Jan-Uwe Thoms ging 1965 als Berufsoffiziersanwärter zur Bundeswehr. Die Schikanen der Grundausbildung, seine Erfahrungen als junger Vorgesetzter und als Leiter der Sicherheitsabteilung im NATO-Stab der Heeresgruppe Mitte schildert er in der ihm eigenen, mal ernsten, mal humorvollen Art. Im Glauben an die Richtigkeit dessen, was die politische und die militärische Führung vorgaben, bildete er seine Soldaten aus. Je höher er die Karriereleiter emporkletterte, desto stärker wurden die Zweifel an der Richtigkeit sowohl seines eigenen Tuns als auch der offiziellen sicherheitspolitischen Verlautbarungen. Mit zunehmendem Wissen wuchsen auch seine Skrupel, die ihm anvertrauten Soldaten ständig im Rahmen der sicherheits¬politischen Bedrohungsanalysen zu belügen. Thoms Erinnerungen spiegeln nicht nur sein eigenes berufliches Leben wider, sondern auch 25 Jahre Entwicklung der Bundeswehr.

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ISBN 978-3-89876-828-3 (Vollständige E-Book-Version des 2016 im Husum Verlag erschienenen Originalwerkes mit der ISBN 978-3-89876-814-6) Umschlaggestaltung: Ausschnitt einer Bundeswehrkompanie aus dem Jahr 1965 (Foto: privat) © 2016 by Husum Druck- und Verlagsgesellschaft mbH u. Co. KG, Husum Gesamtherstellung: Husum Druck- und Verlagsgesellschaft

„Ich bin der Zeiten Sohn. Nicht wir machen, was wir machen, wir werden geschoben, sind Werkzeuge.“

(Adalbert von Chamisso, romantischer Dichter und preußischer Offizier, 1781–1838)

„Handle nie gegen Dein Gewissen, selbst wenn der Staat es verlangt!“

(Albert Einstein, Physiker und Nobelpreisträger, 1879–1955)

„Der Soldat, der anfängt zu denken, ist schon fast keiner mehr!“

(Heinrich Böll, Schriftsteller und Nobelpreisträger, 1917–1985)

„Soldaten sind Mörder!“

(Kurt Tucholsky, Publizist, 1890–1935)

„Ich schwöre, der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen, so wahr mir Gott helfe.“

Eidesformel des Berufssoldaten und Soldaten auf Zeit der Bundeswehr, 1956–heute

Vorwort

Vor einigen Monaten kam ein Freund von seinem dritten Einsatz in Afghanistan nach Deutschland zurück – als einer von vielen, die nach ihrem Kriegseinsatz traumatisiert zu ihren Familien heimkehrten. Hauptmann Gunther Berings Familie zerbrach daran. Denn Gunther Bering durfte nicht erzählen, was er erlebt hatte. Das wäre Geheimnisverrat gewesen. Nur ein Facharztteam im Hamburger Bundeswehrkrankenhaus kannte seine ganze Geschichte und versuchte Berings posttraumatische Belastungsstörung zu therapieren.

Der Grund der Traumatisierung waren aber nicht kriegerische Ereignisse, denn die hatte Gunther Bering als Mitarbeiter eines Informationsteams nur zum Teil unmittelbar erlebt. Dennoch kannte er genau alle sogenannten „Besonderen Vorkommnisse“, Kampfeinsätze mit Toten und Verwundeten ebenso wie Minenopfer oder Anschläge von Selbstmordattentätern. Er kannte auch die Einsätze der streng geheimen deutschen Spezialkräfte, die Jagd auf Al-Kaida-Terroristen machten und immer wieder mit Erfolg ins deutsche Hauptquartier zurückkehrten. Nicht einmal die nahen Verwandten dieser Spezialkräfte durften wissen, dass diese Soldaten als Hinrichtungskommandos im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet unterwegs waren.

Als Mitarbeiter des Informationszentrums hatte Gunther Bering eine ganz wesentliche Aufgabe: Er musste vertuschen und beschönigen, nur das öffentlich preisgeben, was ohnehin bereits öffentlich war. Und viele Interna über den Truppenalltag musste er einfach herunterschlucken. Über unzureichende Winterausstattung, mangelhafte Ausrüstung und meist tödliche Führungsfehler durfte er nicht reden.

Die Führungsfehler, die Gunther Bering so sehr zu schaffen machten, dass er inzwischen aus gesundheitlichen Gründen aus der Bundeswehr ausgeschieden ist, begannen schon in Deutschland: die psychologische Vorbereitung auf den Kampfeinsatz war unzureichend. Die Bundeswehrführung setzte offenbar auf die Abenteuerlust der jungen Soldaten, die jedoch nach dem ersten „scharfen“ Einsatz meist schnell einer andauernden Angst vor dem nächsten Einsatz wich.

Junge Soldaten auf einen Kriegseinsatz realistisch vorzubereiten, war noch nie die Sache der Bundeswehrführung. Soldaten dreier Kontingente, die in den Kosovo sollten, habe ich persönlich auf ihren Einsatz vorbereitet. Mit Videos und Fotos, die ich während meines Kriegseinsatzes als Berichterstatter des Auswärtigen Amtes und der Europäischen Union im Balkankrieg zwischen 1993 und 1995 an allen Fronten „geschossen“ hatte, versuchte ich den Soldaten realistische Bilder davon zu vermitteln, was sie im Kosovo erwarten könnte.

Sicher waren die Bilder und Videosequenzen ebenso wie meine Erläuterungen nichts für zarte Seelen. Aber niemand würde in einem Kriegsgebiet mit diesen Soldaten zart umgehen. Nach dem dritten Vorbereitungsseminar wurden meine Ausführungen von der Bundeswehr untersagt. Meine Darstellungen seien zu realistisch und würden insbesondere auf jüngere Soldaten ­demotivierend ­wirken …

Ich war von 1965 bis 1990 Soldat, und offenbar hat die Bundeswehr seither nichts dazugelernt. Wie ich zu dem Entschluss kam, Berufsoffizier zu werden, um dann 25 Jahre später auf eigenen Wunsch auszuscheiden, will ich hier erzählen. Es ist keine wissenschaftliche Betrachtung der Sicherheitspolitik jener Jahre, sondern es sind lose, aufeinander folgende subjektive Erinnerungen. Nicht jeder mag diesen Erinnerungen zustimmen, mancher wird gleiche Erlebnisse subjektiv in anderer Erinnerung haben. Dennoch ist keine meiner Schilderungen erfunden oder unwahr.

Wir erleben gerade, dass Amerika wieder einmal einen neuen Feind braucht. Den sogenannten Krieg gegen den Terrorismus musste Amerika weitgehend einstellen, weil selbst eine Supermacht gegen Terrorismus militärisch nicht gewinnen kann. Also wenden wir uns doch wieder einem vertrauten Feindbild zu: Amerikas „Reich des Bösen“ im europäischen Osten – Russland.

Jan-Uwe Thoms

Ein Weihnachtsbrief im Kalten Krieg 1985

Im Dezember 1985, als ich den folgenden Brief schrieb, war ich Chef einer Stabs- und Versorgungseinheit, besaß seit einigen Jahren den Dienstgrad eines Majors. Zehn Jahre zuvor hatte ich mit ordentlichem Ergebnis den „Stabsoffizierslehrgang“ bestanden, der die Voraussetzung schafft, in die Gehaltsgruppen A 13 (vergleichbar Studienrat) und höher des öffentlichen Dienstes aufzusteigen. Die damals neu geschaffene „Fortbildungsstufe C“ an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg war inhaltlich und strukturell mit früheren Laufbahnprüfungen nicht zu vergleichen. Zum ersten Mal spielten Taktik und Strategie in der militärischen Führerausbildung nur noch eine marginale Rolle. Der fünfmonatige Lehrgang setzte auf wissenschaftliche Ausbildung und Themen wie Politikwissenschaften mit Schwerpunkt Sicherheitspolitik, Betriebs- und Organisations-Wissenschaften sowie Sozialwissenschaften mit den Schwerpunkten Führungs- und Motivationslehre. Die Prüfungsarbeiten verlangten von mir plötzlich eigene Recherchen als Grundlage für ein eigenständig erreichtes Ergebnis, nachdem ich bis dahin nur gelernt hatte, das an meine Soldaten weiterzugeben, was mir von oben vorgedacht und schriftlich vorgegeben war.

Ich lernte also zu denken …

1985 gehörte ich dann zu den damals sogenannten „kritischen Offizieren“. Da wurde mir Anfang der 1980er-Jahre von einem Vorgesetzten schon mal in einer dienstlichen Beurteilung vorgehalten, „politisch am Rande der Norm“ zu stehen. Mein Kommandeur Oberstleutnant S. äußerte sich selbst politisch eher rechtsnational-konservativ und sah wohl dort die Mitte seiner Norm. Und genau dort stand auch die große Mehrheit der Bundeswehroffiziere. Wer kritisch war, stand eben am Rande der Norm – wie sehr zeigt ein Brief, den ich am 18. Dezember 1985 als Weihnachtsgruß an eine befreundete Politologin sandte, mit der ich seit Längerem Gedanken zur Sicherheitspolitik austauschte.

Liebe Inka, der Generalinspekteur hat der Bundeswehr gestern während der Kommandeurstagung vor allen deutschen Generälen Mängel in ihrer „Durchhaltefähigkeit“ bescheinigt. Er begründete dies unter anderem mit dem für die Neunzigerjahre zu erwartenden Personalmangel, dem unzureichenden Führungs- und Informationssystem der Bundeswehr und mit dem Mangel an ausreichender und modernster Munition.

Genau diese Mängel dienten ihm auch als Beleg für die Notwendigkeit von Atomwaffen – ich sage unsere Abhängigkeit von Atomwaffen. Wer konventionell nicht durchhalten kann, muss als Erster zu Atomwaffen greifen. So jedenfalls die Logik unserer deutlich proklamierten Ersteinsatzoption!

Seit zwanzig Jahren wird uns genau diese Schwäche eingeredet und so die psychologische Grundlage geschaffen, immer neue Atomwaffen zu entwickeln und zu stationieren. Unsere angebliche Schwäche wird als Fakt dargestellt, sodass in einer bewaffneten Auseinandersetzung genauso leichtfertig wie in unseren Großübungen nach dem Einsatz von Atomwaffen gerufen wird. Unsere Politiker und unsere militärische Führung haben sich und uns so lange unsere Unterlegenheit gegenüber Moskau eingeredet oder einreden lassen, dass sie heute zu einer objektiven Lagebeurteilung gar nicht mehr fähig sind.

Die Moskauer Lagebeurteilung über die Stärke der NATO scheint mir wesentlich treffender zu sein. Hielte die Sowjetunion uns für so hoffnungslos unterlegen, wie wir uns ständig öffentlich darstellen, hätte sie längst den Versuch unternommen, ein solches Machtvakuum mit eigenen Truppen zu füllen, um so ihren Machtbereich weiter nach Westen auszudehnen. Denn das ist nach wie vor erklärtes Ziel ihrer aggressiven und auf Expansion ausgerichteten Politik. Moskau kennt offenbar unsere Stärken besser als wir selbst. Wenn doch unsere Politiker am Inhalt unserer Panzerschränke ebenso interessiert wären, wie es offenbar Moskaus Spione sind, dann könnten auch unsere Politiker vielleicht objektiver über unsere Stärke urteilen.

Wenn es sie nicht schon längst gäbe, könnte ich Bücher darüber schreiben, wo die Stärken und wo die Schwächen in Ost und West liegen. Es gibt diese Informationen, in öffentlichen Quellen ebenso wie in den geheimen Jahrbüchern des Bundesnachrichtendienstes. Man muss die Quellen nur finden wollen und nicht nur selektiv das lesen, was die eigene Meinung bestätigt.

Wenn hier die Stärken von Ost und West vergleichend bewertet werden, wird immer wieder der Fehler gemacht, lediglich die Anzahl der Waffen – oft nur ausschnittsweise – zu vergleichen. So wird zum Beispiel, regional begrenzt auf Mitteleuropa, dem Osten eine gewaltige Überlegenheit ­bescheinigt. Verstärkt wird dieser Eindruck noch einmal durch das sogenannte „worst case“-Denken. Das bedeutet, dass zur Beurteilung der „Feindlage“ immer die für die NATO denkbar schlechteste Möglichkeit der Warschauer-Pakt-Fähigkeiten herangezogen werden. Hier ist über Jahrzehnte ein Popanz erdacht und beurteilt worden, gegen den unsere Strategie, unsere Rüstung, unsere Armeestruktur ebenso wie unsere gesamte Sicherheitspolitik ausgerichtet wurde. Dieser Popanz ist inzwischen so gewaltig und furchterregend geworden, dass allein die Kosten für die Abschreckung dieses Hirngespinstes unsere Freiheit mehr gefährden als alle Armeen des Roten Imperiums.

Ein vielleicht lächerlich klingender Vergleich, der aber genau das Prinzip der selektiven Betrachtung in unseren Kräftevergleichen verdeutlichen soll: Es macht mir überhaupt keine Schwierigkeit, eine Gegend in Bayern zu finden und die dort stationierten Soldaten und Waffen mit den Tiroler Landesschützen zu vergleichen. Dieser Vergleich würde eine signifikante Überlegenheit der Tiroler Landesschützen und damit die Bedrohung Bayerns begründen. Es kommt eben nur auf den Ausschnitt des Vergleichs an. Bei einem Vergleich von NATO und Warschauer Pakt die Beurteilung auf Ausschnitte zu begrenzen, ist also vom Ansatz her unredlich und muss zu den bekannten – offenbar gewollt – falschen Ergebnissen führen.

Richtig ist, dass die NATO heute mehr Soldaten unter Waffen hat als der Warschauer Pakt, fast eine halbe Million Soldaten mehr. Und das, obwohl einige unserer NATO-Partner – auch die USA – keine Wehrpflichtarmeen besitzen, also ihr Potenzial an wehrfähigen Männern im Gegensatz zu allen Ländern des Ostblocks nicht voll ausschöpfen.

Richtig ist auch, dass unsere westliche Wirtschaftskraft der des Ostens weit überlegen ist, überlegen nicht nur durch den Vorteil der freien Marktwirtschaft gegenüber der starren Planwirtschaft, nicht nur gemessen am Bruttosozialprodukt, sondern auch an Innovationsfähigkeit und der daraus resultierenden Technologie, auch an Waffentechnologie. In jedem vergleichbaren in der Truppe im Einsatz befindlichen Waffensystem sind wir, von unwesentlichen Ausnahmen abgesehen, in einer Gesamtschau um bis zu 15 Jahre der sowjetischen Waffentechnologie voraus. Das ist zum Beispiel ein Erfolg der „Industrie-Anlagen-Betriebs-Gesellschaft“ (IABG), die unsere Rüstungsindustrie mit Informationen der westlichen Geheimdienste so punktgenau versorgt, dass unsere Industrie bereits Abwehrwaffen gegen eine erst auf dem Reißbrett entworfene russische Panzergeneration einsatzbereit hat.

Oder schau Dir mit Blick auf die Möglichkeiten landwirtschaftlicher Produktion die geografische Nordlage der Sowjetunion mit allen negativen meteorologischen Erscheinungen an. Der Westen produziert Nahrungsmittel im Überfluss, die Sowjetbürger müssten ohne den freien Welthandel Hunger leiden.

Die Infrastruktur der Sowjetunion, die Lage und Anzahl der Industriezentren, das Schienen- und Wegenetz lassen eine Lähmung der Sowjetunion mit wesentlich weniger zerstörten Zielen denkbar werden, als die Sowjetunion bekämpfen müsste, um uns zu lähmen. Der Osten ist schon im Frieden nicht in der Lage, seine Manövertruppen ohne den Einsatz tausender westlicher Eisenbahnwaggons in sinnvollen Zeiträumen von A nach B zu transportieren. Im Etat der Bundesbahn ist das zwei Mal im Jahr ein riesiger Einnahmeposten. Aber selbst bei aller Geldknappheit unserer Bundesbahn kann ich mir nicht vorstellen, dass sie im Krieg oder Spannungsfall dem Warschauer Pakt die benötigten Eisenbahnwaggons zum Angriff gegen den Westen zur Verfügung stellen würde.

Unsere Vorstellung der Schaffung und Fortentwicklung individueller Freiheiten in einem aus Einsicht akzeptierten Gemeinwesen ist der sowjetischen Ideologie der unantastbaren Partei- und Staatsherrschaft ohne individuelle Freiheiten ebenfalls langfristig bei Weitem überlegen. Aus Sicht der Staaten des Warschauer Pakts ist unsere Ideologie aggressiv, denn das Streben nach persönlichen Freiheiten würde dort die bestehenden Machtstrukturen zerstören und die Theoretiker des Marxismus-Leninismus widerlegen. Die Ideologie des Ostens hingegen ist aus unserer Sicht aggressiv, weil das Ziel der sogenannten Weltrevolution durch die Sowjetunion nie aufgegeben wurde. Die Entwicklungen nach dem 2. Weltkrieg aber beweisen, wer mit seiner Beurteilung recht hat. Unsere Ideologie bedroht den Bestand marxistischer Herrschaft wesentlich stärker als umgekehrt.

Die sowjetische Militärstrategie ist ebenso auf Aggression ausgelegt wie die Ideologie. Strukturen, Waffen und Ausbildung sind auf eine Strategie der „Kühnen Stöße“ ausgerichtet, andere Kampfarten wie Verteidigung oder Verzögerung sind dem Angriff untergeordnet.

Unsere Militärstrategie gibt sich den Namen „defensiv“. Unsere Ausbildung, mehr noch die staatsbürgerlichen Pflichtunterrichte als die Waffenausbildung und die ­Führerweiterbildung, ist auf Verteidigung eingestellt. Unsere Strukturen, Panzer- wie Panzergrenadierdivisionen ebenso wie unsere Hauptwaffensysteme, tragen den gleichen aggressiven Charakter wie die sowjetischen oder ehemaligen deutschen Wehrmachtsdivisionen. Auch wenn wir das entsprechende Namensschild vor uns hertragen: Wir sind genauso wenig defensiv gegliedert wie die Truppen des Warschauer Pakts – nur unsere entscheidenden Waffensysteme sind besser.

Ein weiterer Aspekt unserer Überlegenheit ergibt sich aus unserem Selbstverantwortung fordernden Führungsverhalten der militärischen Führer aller Ebenen. Wir kennen nicht das starre sowjetische Festhalten an einmal gegebenen Befehlen und gesteckten Zielen. Von einem bis ins kleinste Detail ausgearbeiteten Gefechtsbefehl kann ein sowjetischer Führer nicht ohne Genehmigung abweichen. Er wird durch das unbewegliche Festhalten am Plan unfähig, auf schnell wechselnde Lagen und überraschende neue Entwicklungen selbstständig und lagegerecht reagieren zu können. Unsere Führer einschließlich unserer Unteroffiziere können das, sind zumindest dahingehend ausgebildet worden.

Als Musterbeispiel unserer Unterlegenheit wird immer wieder die Nachführung von Reserven an Personal und Material über den Atlantik angeführt und dabei besonders die Bedrohung durch die sowjetische Marine dargestellt. Die Sowjetunion hingegen könnte ihre Reserven schnell und sicher auf dem Luft- und Landweg an unsere Grenzen heranführen.

Das ist Argumentation auf Bild-Zeitungs-Niveau! Natürlich können auch wir im gleichen Umfang wie die Sowjetunion Reserven im Lufttransport herbeischaffen. Der Flug von Washington nach Frankfurt dauert nicht länger als der Flug von Taschkent nach Ost-Berlin.

Auch zur Frage des Seeweges und der Bedrohung durch Seestreitkräfte des Warschauer Pakts gibt es deutliche Antworten: Erstens ist deren Anzahl an hochseefähigen Kriegsschiffen und deren Kampfkraft wesentlich geringer als die westlicher Marinestreitkräfte. Die sowjetische Marine ist zuerst für den Schutz der eigenen Küsten und für Landeoperationen an feindlichen Küsten der Randmeere ausgerüstet. Sie ist auf Dauer bis auf wenige Einheiten nicht hochseefähig. Aber wesentlich wichtiger ist, dass die Ostblockmarine eine „Einwegmarine“ ist. Einmal in der Vorbereitungsphase eines Krieges in die Weltmeere ausgelaufen, haben diese Schiffe keine Chance auf Rückkehr in ihre Heimathäfen, keine Chance auf Versorgung und Werftinstandsetzung. Die NATO kann innerhalb kürzester Zeit die gesamten sowjetischen Werftkapazitäten blockieren. Die russischen Ostseehäfen sind nur durch die dänischen Meerengen, die Schwarzmeerhäfen nur über Gibraltar, Bosporus und Dardanellen, Wladiwostok im Fernen Osten nur durch die japanischen Meerengen erreichbar. Und diese Meerengen kontrollieren wir ebenso wie die Passagen zwischen Grönland, Island und Norwegen.

Die sowjetische Marine ist in einer noch gefährlicheren Zwickmühle, als es die deutsche Marine im Zweiten Weltkrieg war. Und hat denn die deutsche Marine irgendwann entscheidend den Nachschub alliierter Truppen und Güter über den Atlantik nachhaltig stören können? Ich würde als Soldat eines Reservetruppenteils lieber auf einem Truppentransporter im Atlantik schwimmen, als in einem Waggon auf einer der wenigen und durch westliche Fernwaffen täglich bedrohten Eisenbahnstrecken irgendwo weit hinter Moskau zu sitzen.

Aber die Panzer! Da sind die Russen uns doch weit überlegen! Auch dieses Argument greift nicht wirklich. Natürlich besitzt der Warschauer Pakt dreimal so viele Panzer wie wir. Das muss er aus seinem Selbstverständnis heraus auch. Er will doch angreifen und der Panzer, dessen Kampfkraft Feuer und Bewegung darstellen, ist nun einmal bis heute Träger des Angriffs. Auch unsere Panzer haben diese Rolle. Nur gegen einen überlegenen Panzerfeind stelle ich nicht in erster Linie eigene Panzer, sondern ein dicht gestaffeltes Netzwerk von äußerst beweglichen Panzerabwehrwaffen und flexibler Artillerie. Die Zeit der großen Panzerschlachten ist vorbei und die enge Bundesrepublik bietet auch nur sehr wenig Raum dafür. Wir müssen also die Fähigkeiten unserer Panzerabwehrsysteme mit den russischen Panzern vergleichen und schon ist deren vermeintlicher Vorteil dahin.

Übrigens ist die geheime und offene sowjetische Militärliteratur voll von gescheiterten Versuchen, im Rahmen von Übungen Lösungen zu finden, unsere Panzerabwehrsysteme mit massiven Panzerangriffen zu zerschlagen. Es ist auch damit für mich bewiesen, wie sehr unsere konventionelle Abschreckung wirkt – und nicht unsere atomare Ersteinsatzdrohung.

Du weißt sicher, dass in der Sowjetunion etwa 150 verschiedene Sprachen gesprochen werden. Weißt Du auch, dass jeder fünfte sowjetische Wehrpflichtige kein Russisch spricht oder auch nur versteht? In seiner Schulzeit war er in seiner Sowjetrepublik in seiner Landessprache unterrichtet worden. Russisch war dann häufig erst an weiterführenden Schulen erste Fremdsprache. Hast Du gewusst, dass die Fahrschulausbildung in der Roten Armee ein ganzes Jahr dauert? Oder dass in vielen Einheiten Schlägereien mit Vorgesetzten an der Tagesordnung sind, dass sogar mehrfach Vorgesetzte von ihren Soldaten erschlagen wurden?

Hast Du gewusst, dass der Alkoholismus so weit verbreitet ist, dass ganze Kampfgeschwader der sowjetischen Luftwaffe nicht einsatzbereit sind? Piloten und Mechaniker filtern alkoholhaltige Betriebsflüssigkeiten durch ein Weißbrot und trinken das Zeug. Der Nachschub kann gar nicht folgen, um den Bedarf zu decken. Der Schwarzmarkt blüht, und die Flugzeuge bleiben – nicht einsatzbereit – am Boden. Wer bei einer Straftat erwischt wird, kann damit rechnen, nach Afghanistan versetzt zu werden – in eines der russischen Strafbataillone. Und die Bindung von mehr als 100000 Soldaten der Sowjetarmee in Afghanistan und ihre dortigen militärischen und politischen Misserfolge lassen mich auch nicht ängstlicher werden.

Ich könnte die Beispiele sowjetischer Schwächemomente fortsetzen. Nur – all diese Schwächemomente zählen nicht, wenn der sowjetische Soldat seine Heimat gefährdet sieht, besonders durch uns Deutsche. 1968 sind die Soldaten der Roten Armee hochmotiviert in Prag einmarschiert, weil ihre Truppenführer ihnen erklärt hatten, das Angriffsziel sei München! Als die Soldaten dann merkten, wo sie wirklich waren, standen sie den Fragen ihrer tschechischen Bündnispartner absolut hilflos gegenüber.

Das alles zeigt unseren weiteren Weg auf, so wie ich ihn für zwingend halte, langfristig unsere Freiheit nicht nur zu erhalten, sondern auch auszubauen. Wir sind gefordert, auch immer noch aus der Verantwortung für zwei Weltkriege, Vertrauensvorleistungen zu erbringen und – obwohl NATO-Partner – einseitig praktische Schritte zur Abrüstung auf ein nur noch abschreckungsbedingt notwendiges Maß an Truppen- und Waffenstärke einzuleiten.

Der Journalist Franz Alt sagte gestern Abend in seiner Report-Sendung, dass der industrialisierte Norden der Welt auf dem Weg sei, sich totzurüsten, während der andere Teil der Welt sich zu Tode hungert. Wir könnten aber alle in Sicherheit und ohne Hunger leben. Die Bundesrepublik hätte in den vergangenen 12 Monaten nur auf die Beschaffung von drei Tornado-Kampfflugzeugen verzichten und das Geld der UNESCO zur Verfügung stellen müssen. Sie hätte von den im letzten Jahr verhungerten 15 Millionen Kindern die Hälfte retten können. Und wir haben viel mehr als nur drei Tornados beschafft.

Die Sowjetunion wird weder ihre Nachbarländer noch die vielen Sowjetnationen dauerhaft in Unfreiheit lassen können. Hier stehen uns in den nächsten Jahren entscheidende Veränderungen bevor. Mit jedem Schritt voran zur Verwirklichung von Menschenrechten in Osteuropa und Asien wird der heutige Ost-West-Konflikt an Bedeutung verlieren. Unsere Politiker sind aufgerufen, der anstehenden Auflösung der Blöcke auf der Nordhalbkugel nicht eine neue Blockbildung in Arm und Reich oder Nord und Süd folgen zu lassen.

Frohe Weihnachten und ein gesundes und friedliches neues Jahr, Dein Jan

Am Rande der Norm?

Als ich den Brief im Dezember 1985 an Inka Bruhns geschickt hatte, musste ich zunächst einmal tief durchatmen. Ich fühlte mich nicht politisch am Rande der Norm, ich fühlte mich mit Erleichterung außerhalb jener rückwärts gerichteten Norm, aus der die Mehrzahl der Offiziere und Unteroffiziere damals ihre Motivation und ihre „Freude am Dienen“ ableitete. Mein im August 1985 gefasster Entschluss, zum 31. März 1990 meine vorzeitige Pensionierung zu beantragen, war richtig gewesen. Um mich herum gab es – von wenigen Ausnahmen abgesehen – nur ­Offiziere, die ihren Kopf offenbar allein zum Stahlhelm-Tragen brauchten.