Damen an die Macht - Martin Breutigam - E-Book

Damen an die Macht E-Book

Martin Breutigam

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Beschreibung

160 entscheidende Momente stellt Martin Breutigam vor, fast alle stammen aus Partien der aktuellen Meistergeneration. Ein Diagramm zeigt jeweils den Ausgangspunkt einer besonderen Fragestellung, mal knifflig, mal kurios, immer unterhaltsam. Begleitet werden die Rätsel von Anekdoten und Geschichten rund um die jeweilige Partie. So kommt auch auf seine Kosten, wer sich mehr für die Menschen hinter den erstaunlichen Schachzügen interessiert.

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Seitenzahl: 169

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Der Autor

Martin Breutigam, Jahrgang 1965, ist ein Internationaler Meister im Schach und langjähriger Bundesligaspieler. Er schreibt als freier Journalist u. a. für die Süddeutsche Zeitung und den Tagesspiegel. Im Verlag Die Werkstatt hat er bereits zwei Bücher mit Schachkolumnen veröffentlicht sowie „Genies in Schwarzweiß“ über die bisherigen Schachweltmeister.

Vom selben Autor:

Todesküsse am Brett. 140 Rätsel und Geschichten der Schachgenies von heute

Himmlische Züge. Neue Rätsel und Geschichten aus der Welt der Schachgenies

Genies in Schwarzweiß. Die Schachweltmeister im Porträt

Bildnachweis:

Imago-Sportfoto: 29, 71, 109, 133, 139, 157, 163, 175, 179, 183

International Chess Federation FIDE, Mark Livshitz: 191

Frederic Friedel: 31

Nordwest-Zeitung Oldenburg: 11

Wikimedia Commons / Postage Service of Ukraine: 19

Wikimedia Commons / Jennifer Huemmer, CC BY-SA 4.0: 37

Wikimedia Commons / Saeima, CC BY-SA 2.0: 51

Wikimedia Commons / Illustratedjc, derivative work Lämpel: 63

Wikimedia Commons / Wolfgang Jekel, CC BY 2.0: 73

Wikimedia Commons / Barnos, CC BY-SA 4.0: 91

Wikimedia Commons / Andreas Kontokanis from Piraeus, Greece, CC BY-SA 2.0: 97

Wikimedia Commons / GFHund, CC BY-SA 4.0: 101

Wikimedia Commons / Waldemar Franz Hermann Titzenthaler: 127

Wikimedia Commons / Rob Croes / Anefo, CC0: 143

Wikimedia Commons / Olga Posaškova, CC BY-SA 4.0: 153

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Copyright © 2022 Verlag Die Werkstatt GmbH

Siekerwall 21, D-33602 Bielefeld

www.werkstatt-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Satz und Gestaltung: Die Werkstatt

Medien-Produktion GmbH, Göttingen

ISBN 978-3-7307-0597-1

Inhalt

Vorwort

2015

2016

2017

2018

2019

2020

2021

Gebrauchsanweisung für Einsteiger

Für Maike, Rike und Lotta

Vorwort

Sieben Jahre umfasst diese Auswahl von Zeitungskolumnen. Jahre, in denen täglich irgendwo etwas Neues und Gutes auf die Schachbretter gekommen ist. Jahre, in denen sich der globale Zeitenwandel auch in der Welt des Schachs spiegelt: Vom göttlichen Tiefblick einer Künstlichen Intelligenz inspiriert, stellt sogar Weltmeister Magnus Carlsen seinen Stil ein wenig um. Nebenbei wird der Norweger endgültig zum Global Player und geht mit seinem Unternehmen an die Börse. In europäischen Parlamenten sitzen plötzlich Großmeisterinnen. Und ein zarter Hauch der Klimaschutzbewegung „Fridays for Future“ weht in die Bundesliga. Die Netflix-Serie „Das Damengambit“ wird zu einem Welterfolg, der einen Schachboom auslöst. Das Coronavirus sorgt wie andernorts auch unter Schachprofis für etliche Verlierer – und wenige Gewinner. Junge, brillante Köpfe kommen, alte bleiben oder gehen.

Eine Begegnung mit Vincent Keymer eröffnet dieses Buch. Der damals 10-jährige Wunderjunge nahm 2014 an der deutschen Meisterschaft teil, neben einigen Profis. Es konnte noch niemand ahnen, dass Vincent schon mit 16 Vize-Europameister werden sollte – und das war nicht mal sein größter Erfolg in diesen sieben Jahren …

Die meisten der schlaglichtartigen Momente auf den folgenden Seiten stammen aus Turnierpartien von Großmeisterinnen und Großmeistern. Die Kolumnen sind zwischen dem Jahresende 2014 und 2021 im Berliner „Tagesspiegel“ erschienen, teils auch im Bremer „Weser-Kurier“. Sie können auf verschiedene Weise nachgelesen werden. Der eine interessiert sich vielleicht mehr für die Menschen und Geschichten hinter den erstaunlichen Schachzügen, die andere möchte vor allem die Aufgaben lösen und dabei ihr taktisches Gespür schärfen.

Viel Spaß!

Martin Breutigam

„Bringt mir Schach bei!“

Vincent zuckt nur die Schultern und schaut mit leuchtenden braunen Augen zurück. Er weiß auch nicht, wohin das noch führen wird. Er weiß aber noch genau, wie alles anfing: „Ich kam morgens um sieben ans Bett meiner Eltern und hab gesagt, bringt mir Schach bei!“ Die Quelle dieses Wunsches blieb unklar; zu Hause stand irgendwo ein Brett herum, aber seine Eltern spielten überhaupt kein Schach. Damals war Vincent Keymer fünf. Nun ist er gerade zehn geworden – und ein Riesentalent! In seiner Altersklasse ist er hierzulande konkurrenzlos. Selbst Weltmeister Magnus Carlsen hatte erst mit elf Jahren eine ähnliche Wertungszahl wie Vincent heute (Elo 2116, im November 2014).

Das Gymnasium im rheinland-pfälzischen Nieder-Olm stellte den Fünftklässler neulich über eine Woche vom Unterricht frei, weil er die deutsche Einzelmeisterschaft mitspielen durfte. Und Vincent sammelte im niedersächsischen Verden immerhin 3,5 Punkte. Er besiegte sogar den Internationalen Meister Juri Boidman! Auch gegen Tomislaw Bodrozic sicherte sich Vincent mit Weiß am Zug klaren Endspielvorteil. Wie?

Lösung: 1.Dc6! (Sehr schlau. So wird der Freibauer bestens unterstützt. Falsch wäre 1.Lc5? Dc8.) 1…Sf6 (Falls 1…Sxe3, nicht 2.Dc7?? Da8!, sondern 2.d7! nebst 3.Dc8, bzw. 2…Kf8 3.Dc5+! Kg8 4.Dc8.) 2.Lb6 (Vincent sammelt nun einfach die Bauern am Damenflügel ein und steht auf Gewinn.) 2…Dd7 3.Da8+ Se8 4.Lxa5 f6 5.Lxb4 Kf7 6.Da6 e5 7.Dc4+ Kg6 8.f5+ Kxf5 9.Dg4 matt – 1:0.

Carlsen hat schlechte Laune

Warum saß Magnus Carlsen so genervt im Presseraum? Der eben errungene Turniersieg in Wijk aan Zee/Niederlande wäre doch ein Grund zur Freude gewesen. Seine schlechte Laune erklärte der Weltmeister mit einem „enttäuschenden“ Remis in der Schlussrunde. Als Perfektionist neigt er ohnehin dazu, Remispartien mit eigenem schwachen Spiel zu erklären. Lob für einen gut mitspielenden Gegner hört man selten. Er fühle sich an Wijk aan Zee 2010 erinnert, sagte Carlsen. Auch damals habe er ein starkes Turnier mit einer schwachen Partie beendet. „Ich hatte mir vorgenommen, beim nächsten Mal ein glückliches Gesicht zu machen. Das ist nun dabei rausgekommen.“ Allgemeine Heiterkeit im Presseraum. Humor hat er eben auch.

Nichts zu lachen gab es für seine Gegner in der Mitte des Turniers, als Carlsen sechs Partien in Folge gewann, unter anderem gegen Teimour Radjabow: Die Position sei sehr komplex gewesen, sagte Carlsen, „ich habe nicht wirklich verstanden, was vor sich ging“. Am Ende behielt er, mit Weiß am Zug, wieder den Durchblick.

Lösung: 1.Sxg7! Kxg7 (Das Endspiel 1…Dxf5 2.Sxf5 Txe4 wäre mühelos gewonnen für Weiß, z. B. 3.Td8 Txf4 4.Txf8+ Kh7 5.Txf6.) 2.Dh5! (Neben dem Läufereinschlag auf h6 droht nun auch 3.Tg3+.) 2…Sh7 3.Lxh6+ Kh8 4.Dg6! Dg8 (Falls 4…Tg8, führte 5.Td8! zum Matt.) 5.Lg7+! Dxg7 6.Dxe8+ Df8 (Auch nach 6…Dg8 dominiert Weiß: 7.De7 c6 8.Td7 nebst e4-e5.) 7.De6 Dh6 8.e5 Dc1+ 9.Kh2 Df4+ 10.Tg3 1:0.

Sediert an Tisch fünf

Draußen ruht das Zwischenahner Meer, das eigentlich ein See ist. Paare gehen mit Kindern spazieren, ein Labrador schnüffelt im Schnee. Drinnen im warmen Saal scheint kaum jemand diese Sonntagmorgen-Idylle zu bemerken. Statt durch die wandhohen Glasscheiben, blicken hunderte Augenpaare stur auf Schachbretter: Nordwest-Cup im niedersächsischen Bad Zwischenahn. An Tisch fünf, beispielsweise, hat es Filiz Osmanodja, die Vize-Jugendweltmeisterin und Medizin-Studentin an der Berliner Charité, mit dem vierfachen bulgarischen Landesmeister Boris Tschatalbaschew zu tun. Keine Spur von Idylle. Der favorisierte Großmeister will sie offenbar im Mattangriff überrumpeln. Er sitzt in dieser kritischen Phase aber schon etwas geduckt da. Osmanodja hingegen wirkt selbstsicher, nur das Wackeln ihrer Beine verrät innere Anspannung. „Ich bin sehr nervös geworden“, wird sie später sagen, „weiß auch nicht, warum“. Hatte sie doch, mit Weiß, zur Ruhigstellung der schwarzen Angreifer die einzig wirksame Medizin verabreicht. Welche war‘s?

Lösung: 1.Db5! (Damentausch ist hier die richtige Medizin! Nicht 1.dxe7?! Tfb8!) 1…Sc3+ (Nichts wäre 1…Dxb5? 2.Lxb5 und 3.dxe7.) 2.bxc3 Dxa3 3.Da6! (Damentausch!) 3…Dxc3 (Nun wäre 4.Dd3 gut genug. Oder noch besser 4.Lc4!, Idee Td1-d3, z. B. 4…Lxd4 5.Txd4 und 6.dxe7. Osmanodja machte es mit 4.dxe7?! b3! wieder spannend. Am Ende gewann sie trotzdem.) 1:0.

Nervös geworden und ruhig gestellt: Filiz Osmanodja in Bad Zwischenahn

Wagner macht Tempo

Bei Dennis Wagner steckt Tempo im Leben. Abitur mit 16, Notendurchschnitt Einskommanull. Jetzt ist er 17 – und Schachgroßmeister. „Als ich zur Schule ging, hatte ich noch die Doppelbelastung“, sagt er. Seit einigen Monaten konzentriert er sich aufs Schach. Trainieren, in ferne Länder reisen, Turniere spielen. Dies hat dem Hessen bislang so viel Spaß gemacht, dass er sich vorstellen kann, ein weiteres Schachjahr dranzuhängen. Das angepeilte Studium („irgendwas Naturwissenschaftliches“) kann warten. Erst recht, wenn es so weitergeht mit den Erfolgen: Zweiter bei der deutschen Einzelmeisterschaft, Erster beim Open in Vandoeuvre und zuletzt in Gibraltar sensationell Sechster von 250 Teilnehmern, darunter etliche Topspieler. Viel Zeit nimmt sich Wagner auch am Brett nicht; flott spielend versucht er, die Gegner unter Druck zu setzen. „Ich habe gemerkt, welch große Rolle das spielt.“ Oben ein Fragment aus der Bundesligasaison 2013/14. Wie bezwang Wagner mit Schwarz Großmeister Alexander Rustemow?

Lösung: 1…Lxg2! (Zerrt den König ins Freie.) 2.Kxg2 Dg5+ 3.Kf3 (Oder 3.Kh1 Dh4 4.Kg2 Dxh2+ 5.Kf3 Dh3+ 6.Kxf4 Txc3 und gewinnt.) 3…Ld6! (Nach diesem stillen Zug droht vor allem 4…Df4+ 5.Kg2 Dxh2+ nebst …Dh3+, …Tfe8+ und Matt.) 4.Tfe1 (Falls 4.Tg1, so 4…Txc3+! 5.Dxc3 Dd5+!, z. B. 6.Ke3 Te8+ 7.Kd2 Dxa2+ 8.Dc2 Txe2+.) 4…Df4+ 5.Kg2 Dxh2+ 6.Kf3 Dh3+ 7.Ke4 Tfe8+ (Weiß gab auf.) 0:1.

Polgars Gabe

„Ohne falsche Bescheidenheit kann ich sagen, dass ich von meinen frühen Jahren an unterhaltsam und ziemlich gut gespielt habe“, schreibt Judit Polgar im letzten Band ihrer Trilogie, die den bisherigen Lebensweg der Ungarin nachzeichnet, vom Wunderkind zur Weltklassespielerin. Unterhaltsam und ziemlich gut sind eher Untertreibungen, wenn man betrachtet, welch grandiose Partien sie selbst gegen Weltmeister wie Garri Kasparow und Magnus Carlsen gespielt hat. Der jüngste, auf Englisch erschienene Band („A game of queens“) handelt von Polgars Schaffen zwischen den Jahren 2001 bis zu ihrem Karriere-Ende 2014. Eine Mischung aus Schach-Biografie und Lehrbuch, unter Mithilfe des renommierten Autors Mihail Marin. Je ein Kapitel ist beispielsweise Polgars An- und Einsichten über Eröffnung, Mittelspiel und Endspiel gewidmet. Besonders ausgeprägt wirkt ihr Blick für verborgene Taktikmotive. Diese Gabe kam ihr auch gegen Mustafa Yilmaz bei der EM 2014 in Jerewan zugute: Was hatte Polgar mit Weiß im Sinn?

Lösung: 1.Tf5! (Einfach genial. Dieses Feld ist nicht tabu – Polgar gewinnt wertvolles Material!) 1…fxg5 (Auch 1…gxf5 2.f3 verlöre die Dame.) 2.f3 Dxf5 3.exf5 gxf5 4.De3! (Die Dame dringt ein.) 4…f4 5.De4 Tcc8 (Und Schwarz überschritt zugleich die Bedenkzeit. Seine Stellung war aber ohnehin verloren, z. B. 6.Db7+ Sd7 7.Txd6. Auch 5…Tc7 6.Txd6 Txd6 7.Dxe5+ hätte nichts geholfen.) 1:0.

In neuen Schuhen

Damenschuhe könnten im Duell Zehlendorf gegen Norderstedt die entscheidende Inspirationshilfe gewesen sein. Dies ist einer Randnotiz auf der Webseite des SK Norderstedt zu entnehmen. Demnach habe Marta Michna, Nummer zwei der deutschen Frauen, laut eigener Aussage dank ihrer neuen Schuhe gewonnen. Wenn sie es auch teils spaßig gemeint haben mag, werden solche Phänomene wohl niemals restlos geklärt: Wieso zum Beispiel Frauen öfter Schuhe kaufen und Männer lieber Schach spielen. Laut einer YouGov-Studie aus dem vergangenen Jahr besitzen deutsche Frauen mit 17,3 Paaren im Schnitt mehr als doppelt so viele Schuhe wie Männer. Wenn man als Mensch mittleren Alters in die Schuhschränke seines persönlichen Umfelds blickt, dürfte das Ungleichgewicht noch krasser aussehen. Aber bestimmt nicht so wie im Schach, wo etwa in der zweiten Liga Nord unter 172 Spielern nur vier Frauen gemeldet sind. Eine davon Marta Michna. Wie verhalf sie, in neuen Schuhen und mit Weiß, ihren Norderstedtern zur Tabellenführung?

Lösung: 1.Dxc4+! (Weil Schwarz, Zehlendorfs Wolfram Heinig, nach diesem – auf den ersten Blick vielleicht überraschenden – Damenopfer in sämtlichen Varianten verloren wäre, gab er sofort auf; man sehe 1…dxc4 2.Txb7+ Kc8 3.Ta8+ nebst Matt, oder 1…Kb6 2.Dd4+, oder 1…Kd7 2.Txb7+ Ke8 3.Dc6+ usw.) 1:0.

Tief gebohrt

Der Russe Denis Chismatullin ist ein Experte für tiefe Bohrungen. Er hat an der Erdöl-Universität in Ufa sein Studium abgeschlossen, arbeitet aber (noch) nicht im Gas- und Ölbereich. Lieber bohrt er seine Gedanken in die unendlichen Schachtiefen. Was Chismatullin bei der EM in Jerusalem zutage förderte, dürfte zu den genialischsten Entdeckungen des Jahres gehören. In der Partie gegen den ukrainischen Großmeister Pawel Eljanow sah es für Chismatullin auf den ersten Blick kritisch aus; zwar war er in der Bildstellung am Zug, aber auf dem Feld d1 drohte Turmverlust und Matt. Auch Eljanows d-Bauer wirkte gefährlich, ja für Weiß schien trotz des exponierten schwarzen Königs nicht einmal ein ewiges Schach in Sicht. Der Schein trog. Dank welcher tiefgründigen Idee änderte Chismatullin mit Weiß die Vorzeichen? Zwar hätte Schwarz bei bester Verteidigung noch kämpfen können. Aber dies war selbst für einen Könner wie Eljanow schwer zu finden, so dass Chismatullin am Ende sogar den Sieg erzwingen konnte.

Lösung: 1.Kg1! (Enorm geistreich gespielt.) 1…Dxd1+? (Zäher war das „unmenschliche“ 1…Td5! 2.Kh2! Kf6!) 2.Kh2 (Nun steht der weiße König sicher, der schwarze aber nicht.) 2…Txc6 3.De7+ Kh6 4.Df8+ Kg5 5.Dxf7! (Droht u. a. 6.Df4+, 7.g4+ nebst Matt.) 5…Tf6 6.f4+ Kh6 7.Dxf6 De2 8.Df8+ Kh5 9.Dg7 h6 10.De5+ Kh4 11.Df6+ Kh5 12.f5 gxf5 13.Dxf5+ Kh4 14.Dg6 1:0 (falls 14…d2, so 15.Dxh6+ Dh5 16.g3 matt).

Null Toleranz

Dass die Frauen-WM im jährlichen Wechsel als K.o.-Turnier und Zweikampf ausgetragen wird, ist umstritten. Glück spielt in einem K.o.-Modus mit nur wenigen Partien eine vergleichsweise große Rolle. Die Ukrainerin Anna Uschenina profitierte einmal davon und durfte sich im Jahr 2012 Weltmeisterin nennen. Bei der laufenden WM in Sotschi/Russland ist Uschenina wegen einer noch umstritteneren Regel bereits ausgeschieden. Sie war zur zweiten Runde einige Minuten zu spät gekommen, was den sofortigen Partie-Verlust zur Folge hatte. Es gibt wohl keine andere Sportart, in der eine Verspätung derart hart bestraft wird. Intolerante Funktionäre hatten diese so genannte Null-Toleranz-Regel vor einigen Jahren eingeführt. – Uschenina gelang es in der zweiten Partie nicht mehr, den 0:1-Rückstand wettzumachen. Sie eroberte gegen Marie Sebag einen Bauern, aber die französische Großmeisterin fand einen Weg, der ihr eine lange, mühsame Verteidigung ersparte: Wie sicherte sich Sebag mit Schwarz das gewünschte Remis?

Lösung: 1…Td5+! 2.Kxa6 Tf5! (Clever abgewickelt.) 3.Txf5 Kxf5 4.e4+ Ke5! (Nicht 4…Kxe4?? 5.Kb6 h4 6.a5 usw.) 5.Kb6 h4 6.a5 h3 7.a6 h2 8.a7 h1D 9.a8D Dxe4 (Auch nach Damentausch wäre es remis; der weiße König steht zu weit entfernt.) 10.De8+ Kf5 11.Dd7+ Ke5 12.Db5+ Dd5 13.f3 Dxb5+ 14.Kxb5 Kd4 15.Kc6 Ke3 16.f4 gxf4 17.gxf4 Kxf4 remis.

Der Entertainer

Schach ist ein Pflichtfach in den fünften und sechsten Klassen des Käthe-Kollwitz-Gymnasiums in Berlin-Prenzlauer Berg. Wie ernst sie es nehmen, zeigt sich auch an der Prominenz ihres Schachlehrers: Großmeister Robert Rabiega, 44, ist vielfacher Deutscher Einzelmeister, meistens im Schnell- und Blitzschach. Gemeinsam mit einem Kollegen unterrichtet er in allen Jahrgängen, Noten gibt es nur für die Fünft- und Sechstklässler. Kein Wunder also, dass die Käthe-Kollwitz-Kids oft die Schulschachmeisterschaften gewinnen. „Wir haben eine total konzentrierte, kreative Stimmung“, sagt Rabiega. Und wie hält er die jungen Geister bei Laune? „Ich bin Entertainer.“ Bei ihm laufe nichts über Druck, sondern „alles über die positive Schiene“. Auch Abwechslung sei wichtig. Neulich stellte Rabiega seinen Schülern eine Aufgabe aus einer eigenen aktuellen Zweitliga-Partie. Ziemlich schwer, keiner habe die subtile Lösung gefunden. Wie krönte Rabiega, Spitzenmann bei König Tegel, mit Weiß (gegen mich) seinen Opferangriff?

Lösung: 1.Tcd1! (Hier merkte ich, dass gegen den Turmschwenk d3-h3 nichts mehr half, z. B. 1…Dc7 2.Td3 De7 3.Th3 Sg5 4.Th1, Idee 5.f4 Sh7 6.Sf6+!) 1…Da8 2.Td3! (Nicht 2.f3?, was die dritte Reihe versperrt.) 2…Lxe4 3.Th3 (Auch dies genügte letztlich. Schneller zum Matt führte 3.Sf6+! Sxf6 4.Th3, Idee: 5.Dh8+.) … 1:0.

Musitschuk ist Weltmeisterin

Wenn eine junge Ukrainerin in Russland eine sportliche Höchstleistung vollbringt, ist dies momentan auch ein Politikum. Ergo wurde die neue Schachweltmeisterin Maria Musitschuk vom ukrainischen Staatspräsidenten Petro Poroschenko persönlich empfangen, als sie aus dem russischen Sotschi zurückgekehrt war. Die 22-Jährige bewies bei dieser K.o.-WM vor allem Nervenstärke; in vier ihrer sechs Duelle setzte sie sich erst in Stichpartien mit verkürzter Bedenkzeit durch. Insgesamt spielte Musitschuk 24 Partien und schaltete dabei einige namhafte Großmeisterinnen aus (Socko, Stefanowa, Koneru, Harika), bevor sie im Finale die Russin Natalia Pogonina mit 2,5:1,5 Punkten bezwang. Musitschuk stammt aus einer Schachfamilie und lebt in der Nähe der westukrainischen Stadt Lwiw. Ihre ältere Schwester Anna schied in Sotschi im Viertelfinale aus; Maria gelang in derselben Runde ein großer Wurf gegen die Inderin Koneru Humpy: Wie trieb Musitschuk mit Weiß ihre favorisierte Gegnerin in eine missliche Lage?

Lösung: 1.Dd2! (Denn die Dame ist wegen der Grundreihenschwäche tabu: 1…Txd2? 2.Te8 matt.) 1…Tf8 (Auch andere Züge änderten nichts mehr.) 2.Ld5+! Lxd5 (Oder 2…Kh8 3.De2 nebst 4.Dh5 matt.) 3.Dxd5+ Kh8 4.Df7! (Und Koneru kapitulierte angesichts 4…Txf7 5.Te8+ bzw. 4….fxg5 5.Dxf8+ Kh7 6.Df5+.) 1:0.

Ukrainische Stars: Anna und Maria Musitschuk auf einer Briefmarke

Ein fieser Brief

Hässliches ist bei der Frauen-EM in Tschakwi/Georgien geschehen. Nachdem die als Außenseiterin ins Turnier gestartete Mihaela Sandu ihre ersten fünf Partien gewonnen hatte, wandten sich 15 der 98 Teilnehmerinnen in einem Brief an die Organisatoren und unterstellten der Rumänin Betrug. Gewiss, heute spielt in manchen Turnieren der Zweifel mit, erst recht, wenn zu wenig Maßnahmen gegen heimliche Computerhilfe getroffen werden, wie anfangs auch in Tschakwi. Doch in Sandus Fall handelte es sich allenfalls um Paranoia, vielleicht sogar um ein bewusstes Foul, das eine überraschend stark aufspielende Konkurrentin aus der Fassung bringen sollte. Die 38-Jährige war weder durch ungewöhnliches Verhalten noch durch computereske Züge auffällig geworden. Nach dem Eklat erhielt Sandu von vielen Seiten moralische Unterstützung, dennoch verlor sie fast alle weiteren Partien. Außer gegen Antoaneta Stefanowa (die bulgarische Großmeisterin hatte den Brief übrigens nicht unterzeichnet): Welche Schwäche nutzte Sandu mit Weiß clever aus?

Lösung: 1.Db3+! Kh8 2.c4! (Damenfang! Denn das En-passant-Schlagen würde nun scheitern, weil die schwarze Dame ungeschützt dasteht.) 2…Dxa5 3.Txa5 Txa5 4.Le3 (Und Sandu verwertete ihren großen Materialvorteil nach einigen weiteren Zügen mühelos.) 4…Tb8 5.c5 Txc5 6.Lxc5 Sxc5 7.Df7 Tg8 8.Dc4 Sb7 9.Dxb4 Sd8 10.Dc4 1:0.

Kramniks kühler Kopf

Zu den vermeintlichen Ungerechtigkeiten im Schach gehört, dass man mit König und zwei Springern gegen einen einsamen gegnerischen König keinen Gewinn erzwingen kann. Trotz gewaltigen Materialvorteils müsste sich die stärkere Partei in einer solchen Konstellation mit Remis begnügen. Tatsächlich steckt in der inneren Logik des Spiels aber kein Unrecht, sondern Schönheit. Schach ist ja keine Erbsenzählerei. Wie ästhetisch eine Rettung in bedenklicher Lage sein kann! Sei es durch ein Pattmotiv oder dergleichen.

Dies gilt auch umgekehrt, wenn es nur scheinbar klar nach Remis aussieht wie zuletzt in Dortmund zwischen Wladimir Kramnik und Jan Nepomnjaschtschi. Wieso spielten die denn immer noch? Keine Lust auf die Hitze draußen? Materiell stand es ausgeglichen, und selbst im schlimmsten Fall müsste Schwarz doch irgendwie das besagte technische Remis gegen die weißen Springer arrangieren können, oder? Falsch gedacht. Kramnik behielt kühlen Kopf und erzwang mit Weiß den entscheidenden Bauerngewinn. Wie?

Lösung: 1.Sd8! (Plötzlich droht Matt auf f7! Gut war auch 1.f4 Ld4? 2.Sd8!) 1…g5 (Falls 1…Txd7, gewänne 2.Sxd7+ Ke7 3.Sxe5 Kxd8 4.Sxg6 Sd5 5.Kf3 und 6.Sf4.) 2.Txd1 Sxd1 3.Sd7+ Ke7 4.Sxe5 Kxd8 (Oder 4…gxh4 5.Sec6+ und 6.gxh4.) 5.hxg5 Ke7 6.f4 Sc3 7.Kh3 Se4 8.Kh4 (Schwarz gab auf, z. B. 8…Kf8 9.Kxh5 Sxg3+ 10.Kg6.) 1:0.

Wahr und schön

Worauf Fabiano Caruana nach seinem letzten feinen Zug im Dortmunder Orchesterzentrum anspielte, dürften nur wenige verstanden haben. „Dies war mein Ortueta-Sanz“, jubelte Caruana via Twitter. Im Jahr 1933 soll es zwischen den Spaniern Martin Ortueta und José Sanz Aguado zu einer spektakulären Partie gekommen sein. Ob sie wirklich stattgefunden hat, ist aber immer noch umstritten. Denn es könnte sein, dass bereits vorher eine völlig andere Partie (Tylkowski-Wojciechowski, Polen 1931) mit der gleichen einzigartigen Kombination gewonnen wurde. Solch ein Zufall wäre zu schön um wahr zu sein.

Was Wahrheit oder Lüge war, kann hier nicht geklärt werden. Zweifellos wahr und schön ist, wie Caruana im Juli seinen nun schon dritten Turniersieg in Dortmund mit einer Kombination krönte, die tatsächlich ein wenig an jene von damals erinnert. Zuletzt hatte der 22-jährige US-Star sehr stark …a7-a5 gezogen, woraufhin Weiß, Liviu-Dieter Nisipeanu, mit Se2-d4 antwortete. Was hatte Caruana mit Schwarz vorausgesehen?

Lösung: 1…axb4! (Caruana opfert seinen Turm und gleich danach seinen Läufer – weil der b-Bauer nicht aufzuhalten sein wird.) 2.Sxc6 b3! 3.Txc7 (Oder 3.Sb4 b2 4.Td1 Sd2! Kaum zäher wäre 3.Sa7, z. B. 3…Sd6 4.Sb5 Sxb5 5.Td2 Sxc3 6.Tb2 Sxe4 7.Txb3 b6 und gewinnt.) 3…Sd6! (Die Pointe! Gegen …b2-b1D hilft nichts mehr.) 0:1.

Und tschüs!

Verbandswechsel kommen offenbar in Mode. Fabiano Caruana rochierte unlängst vom italienischen zum US-Verband, und der Rumäne Dieter-Liviu Nisipeanu spielt inzwischen für Deutschland. Beide haben in ihrer neuen Sportheimat Wurzeln. Anders als Arkadij Naiditsch, 29, Deutschlands einziger Weltklassespieler. Der aus Lettland stammende Dortmunder will fortan für Aserbaidschan am Brett sitzen. Darauf muss man erst mal kommen! Er sei kein Politiker, erklärte Naiditsch im Deutschlandfunk, angesprochen auf die Menschenrechte in Aserbaidschan. Klar, es geht auch um Geld. Und was sagen sie beim Deutschen Schachbund? Schließlich war Naiditsch dort öfters mit harscher Kritik angeeckt. DSB-Präsident Herbert Bastian spricht von einem „schweren Verlust“ und hofft, dieser werde „bei unseren Mitgliedern zu der Einsicht führen, dass wir mehr für den Leistungssport tun müssen“.

Neulich bezwang der Wahl-Deutsche Nisipeanu, mit Schwarz beim Topturnier in Dortmund, den Wahl-Aseri Naiditsch auf stilvolle Weise. Wie?

Lösung: 1…Dxc3! (Eine schöne klare Lösung. Aber auch Turmzüge wie 1…Tde8 oder 1…Tc6 hätten genügt.) 2.Dxf5+ (Oder 2.Txc3 d1D+ und gewinnt.) 2…Kh8 3.Txc3 Te1+!