Dämmerung der Hoffnung - Lynn H. Blackburn - E-Book

Dämmerung der Hoffnung E-Book

Lynn H. Blackburn

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Beschreibung

Ein neuer, packender Roman in dem Genre Romantik&Spannung von der preisgekrönten Autorin Lynn H. Blackburn. Dr. Ivy Collins ist schön, intelligent und erfolgreich – als Gründerin von Herdera Inc. hat sie eine neue Prothese entwickelt, die bald auf den Markt kommen soll. Doch plötzlich wird ihr Leben auf den Kopf gestellt, als drei Fremde in ihre Wohnung eindringen, um an ihre Passwörter zu gelangen. Ein Team von Ermittlern, bestehend aus Secret Service und FBI, tritt auf den Plan. Einer von ihnen: Secret-Service-Agent Gil Dixon – Ivys Freund aus Kindertagen und erste große Liebe. Gemeinsam mit seinem Team versucht Gil, die Unbekannten zu fassen und Ivy vor weiteren Angriffen zu schützen, doch das ist nicht so leicht, wenn alte Gefühle aufflammen und falsche Fährten die Ermittlungen behindern …

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LYNN H. BLACKBURN

Dämmerung der Hoffnung

Deutsch von Dorothee Dziewas

Copyright © 2022 by Lynn H. BlackburnOriginally published in English under the title Malicious Intent by Revell, a divison of Baker Publishing Group, Grand Rapids, Michigan, 49516, U.S.A.

All rights reserved.

Der Bibelvers aus Psalm 19,14 folgt dem Wortlaut der Übersetzung Hoffnung für alle®, Copyright © 1983, 1996, 2002, 2015 by Biblia Inc.®

Verwendet mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers Fontis.

© 2023 Brunnen Verlag GmbH Gießen

Redaktion: Alexandra Eryiğit-Klos

Umschlagfoto: Adobe Stock

Umschlaggestaltung: Jonathan Maul

ISBN Buch 978-3-7655-3667-0

ISBN E-Book 978-3-7655-7665-2

www.brunnen-verlag.de

Für Jane B. Huggins alias Granny,für ein Leben voller Erinnerungen undden Mumm, den du mir vererbt hast.

In unserer Familie gibt es keine zimperlichen Frauenund ich vermute, dass du der Grund dafür bist.

Und in Erinnerung an Houston Huggins alias Pa,den ich über alles geliebt habe undder mich über alles geliebt hatund der bestimmt mein größter Fan gewesen wäre.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Dank

1

Das Geldbündel auf seinem Schreibtisch hätte genauso gut von einem Monopoly-Spiel sein können.

Secret Service Special Agent Gil Dixon drehte einen der trügerischen Zwanzig-Dollar-Scheine hin und her und musterte seine Rückseite. Es gab einige Gemeinsamkeiten mit einer echten Banknote, aber bei Weitem nicht genug, um jemanden zu täuschen, der genauer hinsah.

„Ein bisschen Taschengeld?“, fragte sein Kollege Zane Thacker, als er an Gils Schreibtisch vorbeiging.

„Nicht genug, um etwas Gescheites damit anzufangen.“ Gil warf einen weiteren Blick auf den Stapel. 200 Dollar in Zwanziger-Scheinen. Selbst wenn die Person, die das Geld bei der Bank eingezahlt hatte, damit etwas Illegales plante, würde sich kein Staatsanwalt mit der Sache befassen. Das war es einfach nicht wert.

„Wo kommt das her?“, fragte Zane, doch sein Ton zeigte, dass er eigentlich nur zum Zeitvertreib nachhakte, nicht, weil es ihn wirklich interessierte.

„Hedera, Inc.“

Zanes Kopf erschien über der Wand, die ihre Schreibtische voneinander trennte. „Du machst Witze!“

„Nee.“

„Was will Dr. Collins denn mit Falschgeld?“

„Keine Ahnung.”

„Wann triffst du sie?”

„Heute Nachmittag. Ich hab gedacht, ich schaue erst mal in ihrem Büro vorbei, weil das Geld von ihr eingezahlt wurde.“

„Wieso sollte eine Firma wie Hedera überhaupt irgendwo Bargeld einzahlen?“ Genau diese Frage stellte sich auch Gil, seit der Fall auf seinem Schreibtisch gelandet war.

„Versteh ich auch nicht.“ Das Geld auf den Konten der Firma hätte eigentlich beinahe vollständig digital sein sollen. Aber es waren insgesamt ein bisschen mehr als 2000 Dollar eingezahlt worden, von denen 200 Dollar diese Blüten waren. „Deshalb möchte ich ja mit Dr. Collins sprechen.“

Das war ein Grund, aber nicht der einzige.

Jeder im Büro wusste, dass Hedera Dr. Ivy Collins gehörte. Aber niemand wusste, dass sie seine Ivy war.

Nein. Nicht mehr seine. Schon seit langer Zeit nicht mehr.

Die Ivy aus seinen Erinnerungen war zu einer schlanken Frau mit feurigen Augen herangewachsen, die ihn von der Website der Hedera, Inc. anfunkelten. Sie hatte diese Firma vor vier Jahren gegründet.

Ivy war seine beste Freundin gewesen. Gemeinsam hatten sie ihr ganzes Leben geplant. Schule, College, Heirat. Es war ihnen so einfach vorgekommen. Neben Emily, Gils Zwillingsschwester, war sie für ihn die wichtigste Person der Welt gewesen, deswegen war es ein logischer Schluss gewesen, mit ihr sein ganzes Leben zu verbringen. Keiner von ihnen hätte je gedacht, dass sie etwas auseinanderbringen könnte … bis sie sich eines Tages verabschiedet hatte und in das Auto ihrer Mutter gestiegen war. Er war auf einen Baum geklettert und hatte dem Auto nachgeblickt, bis es außer Sichtweite war. Zurückgeblieben war ein 9-Jähriger mit gebrochenem Herzen.

Als er sie wiedergesehen hatte, war sie 16 gewesen, er ein Jahr älter. In diesem Sommer hatte sie ihm sein Herz gestohlen.

Und dann … war sie fort gewesen.

Oft hatte er darüber nachgedacht, ob er ihr hätte nachgehen sollen, aber es war nie etwas daraus geworden. Was hätte er auch sagen sollen? „Warum hast du mich einfach weggestoßen?“, „Was ist nur los mit dir?“ oder einfach „Ich vermisse dich“?

15 Jahre waren seit ihrer letzten Begegnung vergangen – niemals hätte er ein Wiedersehen unter solchen Umständen erwartet. Würde sie überrascht sein? Wusste sie überhaupt, dass sie in derselben Stadt wohnten? Dachte sie jemals noch an ihn?

Nichts davon war wichtig. Oder zumindest sollte es das nicht sein.

Aber wem machte er etwas vor? Sie war für ihn die Eine gewesen. Die ganz große Liebe. Diese Frau verfolgte ihn nun schon seit Jahren und er musste ihr Geheimnis endlich lüften.

Es war so weit. Er würde seine Antworten bekommen. Heute noch!

Sechs Stunden später bogen Gil und Zane auf den leeren Parkplatz der Hedera, Inc. ein. Zane deutete auf die verlassenen Parkplätze. „Es ist gerade mal halb fünf. Warum ist niemand mehr hier?“

Gil hielt und wählte die Telefonnummer der Firma. Eine weibliche Tonband-Stimme mit leichtem Südstaatenakzent informierte ihn, dass Hederas Geschäftszeiten zwischen 7:00 Uhr und 16:00 Uhr lagen, und ermutigte dazu, eine Nachricht zu hinterlassen.

„Von 7 bis 4? Da würde ich auch gerne arbeiten!“ Zane warf einen Blick auf seine Uhr. „Und was jetzt?“

Gil war nicht bereit, einfach aufzugeben. Noch nicht. „Hast du Zeit, bei ihr zu Hause vorbeizufahren?“

„Klar. Was sollte ich auch sonst tun?“ Zane lachte, doch seine Worte klangen ein wenig bitter. Eigentlich war er ein lustiger Typ, aber in den letzten Monaten hatte er oft mitgenommen und verschlossen gewirkt. Wahrscheinlich war dafür das Trauma verantwortlich, das er im letzten Frühling erlebt hatte. Zane war angeschossen worden und hatte dann sein Auto, sein Zuhause und fast seinen ganzen Besitz verloren. Und als wäre das nicht schlimm genug gewesen, hatte sich sein Jobwechsel zum Personenschutz um unbestimmte Zeit verschoben. Genug Gründe, um niedergeschlagen zu sein.

Aber Luke Powell, einer ihrer Kollegen, war davon überzeugt, dass der eigentliche Grund Zanes angespannte Beziehung zu Tessa Reed war, der einzigen Agentin im Büro.

Doch jetzt war nicht der Zeitpunkt, um nachzuhaken. „Sie wohnt nur fünf Minuten entfernt. Schauen wir mal nach, ob sie zu Hause ist.“

Gil verringerte das Tempo, als sie sich Ivys Haus näherten. Es befand sich in einem älteren Stadtteil von Raleigh, wo die Grundstücke groß und die Grenzen nicht klar zu erkennen waren. Zwei Etagen. Wahrscheinlich noch ein Keller. Dahinter circa ein Hektar bewaldetes Grundstück.

Langsam bog er in ihre Einfahrt ein und parkte bei dem gepflasterten Weg, der zur Veranda führte. Gil und Zane stiegen aus und gingen zur Haustür.

Sollte er Zane über seine Vergangenheit mit Ivy aufklären? Soweit sein Partner wusste, würde das hier nur ein freundlicher Plausch werden. Zögernd blieb er stehen. „Zane …“

Zane griff um ihn herum und drückte die Klingel. „Was?“

Jetzt war es zu spät, um so ein Gespräch anzufangen. „Schon gut.“

Sie warteten, aber es waren keine Schritte zu hören. Gil trat vor und klopfte. Die Tür schwang von alleine auf, als seine Knöchel das Holz berührten. Das war nicht normal.

War es möglich, dass Ivy ihre Haustür einfach offengelassen hatte? Ganz bestimmt nicht.

Gil zog seine Waffe aus dem Holster und Zane rief bereits Verstärkung. Gut! Vorsicht war besser als Nachsicht.

Gil stieß die Tür ganz auf. Lautlos schwang sie zur Seite. Mit allen Sinnen konzentrierte er sich auf die neue Umgebung. Das Foyer war klein, zu seiner Linken machte er ein sechseckiges Büro aus. Der Raum rechts sah wie ein Esszimmer aus. Beide waren leer. Geradeaus erkannte er ein Wohnzimmer mit Sofas, einem großen Fernseher und gemütlichen Stühlen. Der Raum war ordentlich und nirgendwo war etwas Ungewöhnliches zu erkennen.

Aber zwei signifikante, völlig unterschiedliche Gerüche lagen in der Luft: Zimt und verkohltes Fleisch.

Zane nickte nach rechts. Gil folgte ihm und sie stießen auf zwei Schlafzimmer und ein kleines Bad. Dann übernahm Gil die Führung und sie durchquerten das Wohnzimmer. Eine Tür zu ihrer Rechten führte wahrscheinlich zu einem weiteren Schlafzimmer. Falls das Haus sinnvoll geplant war, musste sich nun am Ende des Ganges auf der rechten Seite die Küche befinden.

Eine Tür öffnete sich am anderen Ende des Hauses und er hörte, wie jemand eine Treppe hinunterpolterte. Aber auch hier, auf der anderen Seite dieser Wand, bewegte sich jemand.

Wurde da ein Schrank geöffnet?

Nach einem kurzen Seitenblick auf Zane schob Gil sich in den nächsten Raum. Zu seiner Linken stand ein Esstisch und eine Tür führte nach draußen, rechts befand sich die Küche.

Auf der anderen Seite der großen Kochinsel stand Ivy Collins.

Seine Ivy.

Es war, als wäre überhaupt keine Zeit vergangen. Keine Jahre des Schweigens. Etwas Starkes und Wahrhaftiges zog ihn zu ihr hin. Sein Körper wollte die Distanz zwischen ihnen überbrücken, aber sein Verstand weigerte sich. Jahre des Trainings zwangen ihn, den Raum mit den Augen abzusuchen.

„Bleib du hier. Ich durchsuche das Bad.“ Wut ließ Zanes Stimme vibrieren, während seine Schritte sich langsam entfernten.

Blut lief über Ivys rechte Wange und tropfte von ihren vollen Lippen zu Boden. Ihr Pullover war zerrissen und entblößte eine hässliche Brandwunde auf ihrer Schulter. Irgendetwas stimmte mit ihrer rechten Hand nicht, aber Gil konnte sich nicht darauf konzentrieren, da sie in der anderen eine Pistole hielt.

Noch bevor er seine Anwesenheit erklären konnte, drückte sie den Abzug …

2

Der Körper des Mannes wurde zurückgeschleudert. Er krachte gegen die Wand und sank dann zu Boden, wo er mit einem dumpfen Aufprall liegen blieb.

Er griff mit der rechten Hand nach seiner linken Schulter, eine reflexartige Handlung, mit der er versuchte, das Blut aufzuhalten, das aus der Schusswunde sickerte. Sein Selbsterhaltungstrieb schien alle anderen Instinkte zu übertrumpfen, sogar den Instinkt, dem er hätte folgen sollen – dem Instinkt zu fliehen.

Denn wenn er geglaubt hätte, sie und ihre Waffe wären eine Gefahr für ihn, hatte er eindeutig keine Ahnung, wie tödlich der Mann war, der jetzt vor ihm stand.

Ivy war nicht sicher, woher sie das wusste, aber sie wusste es. Gil könnte ihn töten. Vielleicht wollte er das sogar. Und es könnte durchaus sein, dass sie das gut fände. Das sollte sie nicht, aber in diesem Augenblick konnte sie keinerlei Mitgefühl für den verletzten Mann empfinden.

Vater, vergib mir.

Gils Blick war unverwandt auf den blutenden Mann gerichtet, der auf dem Boden lag, aber er eilte nicht zu ihm – weder, um ihm zu helfen, noch, um ihn zu verhaften.

„Zane?“ Gils Tonfall war ruhig, fast beiläufig, so als wollte er fragen, ob sein Kollege einen Kaffee wollte. „Wir haben hier alles im Griff.“

Ein Mann kam aus ihrem Wohnzimmer und betrat die Küche. „Bist du okay?“ Der Mann, den Gil mit Zane angeredet hatte, musterte Gil von Kopf bis Fuß und tat dasselbe dann mit Ivy. Er presste die Lippen zusammen und seine Augen brannten vor Wut, als sein Blick auf ihrem Arm, ihrer Hand liegen blieb. „Kümmere du dich um sie. Ich kümmere mich um ihn.“

Gil wandte dem Mann auf dem Boden nicht den Rücken zu. Er entfernte sich rückwärts. Mit jedem Schritt kam er näher auf Ivy zu, aber zugleich blieb er dort, wo er Zane zu Hilfe eilen konnte, sollte das nötig sein. Zane tastete den Mann ab, nahm ihm zwei Waffen ab – die erste aus einem Schulterhalfter, die zweite aus einer Halterung am Fußgelenk – und lief dann zu dem Bad im Flur. Sekunden später kam er mit zwei Badehandtüchern zurück. Eins warf er Gil zu. Das andere dem Mann auf dem Boden.

Zane kniete sich vor den blutenden Mann und übte Druck auf dessen Wunde aus. Als der Mann sich wand, triefte Zanes Stimme nur so vor Verachtung. „Ich versuche Ihnen zu helfen. Mir wäre es ja egal, aber es ist mehr Papierkram für mich, wenn Sie sterben.“

Ivy hörte das alles, konnte sich aber nicht darauf konzentrieren. Zu sehr war ihr bewusst, wie nahe Gil ihr war, der sich in Zeitlupe in ihre Richtung schob. Als Zane den Mann am Boden ganz unter Kontrolle hatte, zögerte Gil nicht, sich Ivy zuzuwenden.

„Gil.“ Sein Name klang heiser, als sie ihn aussprach. Sie versuchte sich zu räuspern, aber ihr Mund war ganz trocken. Was konnte sie sonst noch sagen? Nichts würde dieser Begegnung die Peinlichkeit nehmen.

„Buttercup.“

Bei dem so lange nicht gehörten Spitznamen, den er mit unendlicher Zärtlichkeit aussprach, vergaß Ivy, dass sie fünfzehn Jahre nicht mehr mit Gil Dixon gesprochen hatte. Ihre Füße setzten sich in Bewegung. Sie versuchte, die Arme nach ihm auszustrecken, aber sie gehorchten ihr nicht. Stattdessen wankte sie mit dem ganzen Oberkörper gegen Gil und seine Arme fingen sie auf. „Gil.“

„Ich halte dich, Buttercup.“

Er war so stark. So verlässlich. Und zum ersten Mal, seitdem ihr Albtraum vor einer Stunde begonnen hatte, war sie in Sicherheit.

*

Fünf endlose Stunden später starrte Ivy die Kleidung an, die eine Krankenschwester ihr hinhielt. „Woher kommen die Sachen?“

Schwester Juliet ignorierte die Frage. „Sie können gehen. Brauchen Sie Hilfe mit dem Shirt?“

Ivy folgte dem Blick der Krankenschwester. Ihre rechte Hand pochte mit jedem Herzschlag. Der Ringfinger und der kleine Finger waren gebrochen. Der Arzt hatte gesagt, sie würden höchstwahrscheinlich gut heilen, ohne dass sie an Beweglichkeit verloren.

An ihrem rechten Daumen gab es zwei Brandwunden, verursacht von einer Zigarette. Eine an der Spitze, eine am Ballen. Im Daumen befanden sich viele Nerven. Das wusste sie besser als die meisten anderen Menschen. Aber sie hatte noch nie am eigenen Leib erfahren, wie es war, wenn jeder einzelne dieser Nerven gleichzeitig vor Schmerzen schrie.

Weder die Platzwunde an der Schläfe noch die an ihrer Lippe hatte genäht werden müssen, aber trotzdem tat Ivy das ganze Gesicht weh. Ihr Kopf hämmerte. Und dann war da noch die üble Verbrennung an ihrer rechten Schulter. Sie stammte nicht von einer Zigarette, sondern von einem sehr heißen Gegenstand, der eine unangenehme Ähnlichkeit mit einem Lockenstab aufwies, aber noch nie für etwas so Sanftes benutzt worden war. Werde ich jemals wieder meine Haare zu Locken drehen können?

Wenn sie ihr wehtun wollten, hätten diese Idioten, die sie gefoltert hatten, ihr die Haare abrasieren müssen. Angesichts dieser Möglichkeit hätte sie zumindest überlegt, ihnen zu geben, was sie wollten. Dass sie ihre Haare noch hatte, war ein schwacher Trost. Aber im Moment war er besser als nichts.

In der Notaufnahme herrschte ein auffälliger Mangel an Spiegeln. Wahrscheinlich, damit die Leute nicht in Ohnmacht fielen, wenn sie ihre Verletzungen sahen. Aber Ivy konnte sich vorstellen, wie sie aussah. Als sie ihr die Schulter verbrannt hatten, waren einige Haarsträhnen angesengt worden. Sie konnte es nicht sehen, aber der Gestank verbrannter Haare war nicht zu verkennen oder zu vermeiden. Jedes Mal, wenn sie sich bewegte, roch sie es.

Und auf jeden Fall hatte sie verschmierte Wimperntusche und Eyeliner auf den Wangen. Sie hatte sich bemüht, nicht zu weinen. Aber als der Riesenkerl ihr Hemd zerrissen hatte und sie entblößt und zitternd dasaß, von Schmerzen gequält wegen der gebrochenen Finger und des verbrannten Daumens und der Ohrfeigen, hatte sie mit dem Schlimmsten gerechnet.

Sie hatte keine Zeit gehabt, sich mental darauf einzustellen, dass sie wie ein Marshmallow geröstet werden würde. Super, die kann ich jetzt auch nicht mehr essen.

Juliet neigte den Kopf ein wenig zur Seite. „Ma’am. Soll ich Ihnen beim Anziehen helfen?“

„Nein, das schaffe ich schon. Aber woher haben Sie meine Sachen?“ Und es waren ganz eindeutig ihre eigenen Sachen. Schwarze Leggings und ein weiches T-Shirt. Socken. Sneakers. Ein dünner Pullover. Und … andere Dinge. Jemand hatte diese Sachen zu ihr ins Krankenhaus gebracht. War es Gil gewesen? So gerne sie auch gewusst hätte, wo Gil war und warum er ausgerechnet an diesem Tag wieder in ihr Leben getreten war, konnte sie nicht verhindern, dass ihr bei dem Gedanken, wie Gil Dixon in ihren Unterhosen und BHs wühlte, das Blut in die Wangen stieg.

Nicht wegen der Wäsche – obwohl das schlimm genug war –, sondern wegen des Bildes, gerahmt und an einem Ort aufgestellt, an dem sie es jeden Tag sehen konnte. Wenn er in ihrem Schlafzimmer gewesen war, dann konnte er es gar nicht übersehen haben.

„Keine Ahnung, Schätzchen. Die sind unten am Empfang abgegeben worden.“ Juliet wandte sich zum Gehen. „Ich sehe in ein paar Minuten noch mal nach Ihnen, und dann können Sie nach Hause.“

Ivy wartete, bis die Tür hinter der Schwester ins Schloss fiel, bevor sie mit den Kleidern in das winzige Bad ging. Sie würde nicht riskieren, sich im Zimmer selbst umzuziehen, wo jederzeit jemand hereinkommen konnte. Sie hatte heute schon genügend Haut gezeigt.

Sie zog an dem Band, das am Kragen des Krankenhaushemdes befestigt und von unzähligen Waschgängen schon ganz verdreht war, zog das Hemd aus und griff nach ihren Sachen. Sie würde schon einen Weg finden, sich anzuziehen, auch wenn sie zwei ihrer Finger und einen Daumen nicht benutzen konnte. Schließlich war sie Ingenieurin. Zum Glück waren diese Idioten nicht schlau genug gewesen, sich ihre Hände genauer anzusehen und die Schwielen zu beachten, denn sonst hätten sie festgestellt, dass Ivy Linkshänderin war.

Zehn Minuten später lehnte Ivy am Türrahmen, stolz und erschöpft. Sie hatte es geschafft. Aber jetzt musste sie sich einem neuen Dilemma stellen. Sie war in einem Rettungswagen hierhergebracht worden. Auf dem Krankenwagen hatte Gil bestanden, nachdem sie in der Küche kurz nach seiner Ankunft beinahe bewusstlos geworden war. Die Sanitäter sagten, es sei eine Mischung aus Schock und Schmerzen wegen der Verbrennungen, aber peinlich war es trotzdem. Nachdem sie in Ohnmacht gefallen war – leider konnte sie das nicht schönreden –, hatte Gil niemandem gestattet, ihr mehr als die nötigsten Fragen zu stellen.

„Was wollten die Männer?“ Zugang zu ihrem Computer bei der Arbeit.

„Warum?“ Keine Ahnung.

„Haben Sie die Männer vorher schon mal gesehen?“ Noch nie.

„Wie sind sie ins Haus gekommen?“ Wusste sie nicht. Sie war in der Küche gewesen und hatte gerade die Reste von dem Thai-Curry aus der Mikrowelle geholt, das sie am Abend zuvor mit ihrem Ex-Freund gegessen hatte (eine Information, die sie ausgelassen hatte). Sie hatte sich umgedreht und sie hatten dort gestanden.

„Sie haben sie nicht gehört?“ Nein. Sie hätten mit einem Panzer durch ihr Haus rollen können und Ivy hätte sie trotzdem nicht gehört. Sie hatte ihre Bluetooth-Kopfhörer in den Ohren gehabt. Die Tatsache, dass sie dazu gesungen hatte, erwähnte sie nicht und sie sah auch keinen Grund zu erklären, dass sie außerdem getanzt hatte und bei einer Drehbewegung in den Armen des Mannes gelandet war, der anschließend ihre Schulter gegrillt hatte.

An diesem Punkt hatte Gil sich eingeschaltet. „Das reicht. Sie muss medizinisch versorgt werden.“ Er funkelte den Polizeibeamten an, der sie befragt hatte. Der Beamte funkelte zurück.

Gil zuckte nicht mit der Wimper. Sein Blick war kalt. Hart. Wütend. „Dr. Collins ist eine angesehene Einwohnerin der Stadt. Sie ist hier zu Hause. Sie hat hier ihre Firma. Sie wird nirgendwohin verschwinden. Und sie wird später für Fragen zur Verfügung stehen.“

Er hatte recht. Aber woher wusste er all das über sie? Und warum war er überhaupt hier? Bewaffnet? Mit einem Partner? Sie hatte sehr viele Fragen.

„Jetzt wird sie ins Krankenhaus gebracht.“ Gil sagte es mit einer Bestimmtheit, die keine Widerrede duldete.

Der Polizeibeamte gab nach, aber kurz darauf, als die Sanitäter sie auf ihrer Liege anschnallten, hörte Ivy, wie er ins Telefon sprach. „Keine Ahnung. Ich hatte noch nie einen Showdown mit einem Agenten vom Geheimdienst.“ Eine Pause. „Stimmt.“ Noch eine Pause. „Ja, sie ist umwerfend, aber –“ Eine längere Pause. „Okay, ich mache mich schlau.“

Gil betrat den Raum und der Polizist ging. Gil starrte ihm noch lange nach, bevor er sich an sie wandte. „Ivy.“ Als er ihren Namen sagte, konnte sie beinahe den Jungen vor sich sehen, den sie früher gekannt hatte. Obwohl aus diesem Jungen ein Mann mit tiefschwarzen Haaren geworden war, die im Augenblick ganz zerzaust aussahen, weil er immer wieder mit der Hand hindurchfuhr. Er beugte sich vor und seine himmelblauen Augen suchten ihre. Sie konnte den Blick einfach nicht abwenden. „Ich wünschte, ich könnte dich begleiten, aber ich muss hierbleiben. Im Krankenhaus haben wir für dich Personenschutz arrangiert. Ich komme, sobald ich kann.“ Er berührte mit einer Hand ihre Wange und schob eine Haarsträhne hinter ihr Ohr – eine Geste, die er in ihrem letzten gemeinsamen Sommer perfektioniert hatte. Dann hatten die Sanitäter Ivy mitgenommen.

Wahrscheinlich hätte sie jemanden anrufen sollen. Aber wen?

Sie hatte Angestellte. Kollegen. Geschäftspartner. Sie konnte zum Telefon greifen und sich mit allen möglichen Geschäftsleuten in Raleigh zum Essen oder zum Kaffee verabreden.

Aber sie hatte keine Freunde. Sie hatte Kollegen.

Und seit heute hatte sie Gil. Aber sie hatte keine Ahnung, was er war.

Wenn jemand sie an diesem Morgen gefragt hätte, was passieren würde, wenn sie Gil Dixon noch einmal über den Weg lief, hätte sie mehrere Szenarien parat gehabt. Eine Möglichkeit war gewesen, dass ihre Blicke sich begegnet wären und sie anschließend die Flucht ergriffen hätte. Sehr reif, diese Fassung. Und die wahrscheinlichste.

Sie hatte auch überlegt, dass sie vielleicht in Tränen ausbrechen und sofort auf ihn einreden und ihn um Verzeihung bitten würde. Oder dass sie vor ihm stände, stumm und zerknirscht, während er fünfzehn Jahre gerechten Zorn über sie ausgoss. Wenn er das gewollt hätte, dann hätte sie ihn gelassen. Sie hatte es verdient.

Egal, wie oft sie über die möglichen Alternativen nachgedacht hatte, hätte sie doch niemals zu hoffen gewagt, dass er sie so ansehen würde, wie er es an diesem Abend getan hatte.

Und niemals, nicht in tausend Jahren, hatte sie erwartet, dass er sie Buttercup nennen würde.

3

Gil ging im Wartezimmer der Notaufnahme auf und ab. Wie lange dauerte es denn, Finger zu schienen und Brandwunden zu verarzten? Ivy brauchte Ruhe. Wahrscheinlich war sie inzwischen völlig ausgehungert. Ihr Abendessen hatte auf der Küchenzeile gestanden. Kalt. Nicht angerührt.

Sie musste diese Sache nicht allein durchstehen. Vielleicht ist sie ja gar nicht allein.

Gil betrachtete die anderen Leute im Wartezimmer. Könnte jemand von ihnen Ivys wegen hier sein? Sie lebte schon seit mehreren Jahren in Raleigh, da hatte sie doch sicher Freunde. Ihr Ringfinger war angenehm schmucklos, deshalb war Gil einigermaßen sicher, dass sie nicht verlobt war. Oder verheiratet. Aber das bedeutete nicht, dass sie keinen Freund hatte.

In den fünfzehn Jahren, die sie getrennt gewesen waren, hatte er ihre berufliche Laufbahn im Blick behalten und er wusste ungefähr, wie ihr Leben so aussah. Aber er hatte keine Ahnung, wie die Flächen zwischen Ausbildung und Beruf ausgemalt worden waren. Es gab so vieles, was er von ihr nicht wusste, aber in den wenigen Minuten, die er in ihrer Nähe gewesen war, hatte er drei Dinge feststellen können.

Erstens: Sie war in ernsthaften Schwierigkeiten. Diese Männer ließen nicht mit sich spaßen, aber ausgehend von ihren Antworten wusste sie nicht, warum sie da waren oder was sie wollten.

Zweitens: Sie hatte gewusst, dass er in Raleigh war, und sie war froh, ihn zu sehen. Obwohl er sich darauf besser nicht zu viel einbilden sollte. Jeder wäre froh über das Erscheinen eines Geheimdienstagenten, wenn er gerade gefoltert wird. Aber Gil hatte erwartet, dass sie überraschter sein würde, als sie es war. Wenn er richtiglag, dann war er nicht der Einzige, der dafür sorgte, auf dem Laufenden zu sein.

Drittens: Sie war immer noch seine Ivy. Sie war erwachsen geworden, aber die Ivy, die er früher gekannt hatte, war immer noch da. Blonde Haare, die nur wenig dunkler waren als damals, als sie Kinder gewesen waren, fielen ihr jetzt in sanften Wellen auf die Schultern; dieselben blauen Augen, in die er unzählige Male geblickt hatte; dasselbe winzige Muttermal an ihrer Schläfe. Sie war um einiges größer als Emily, wahrscheinlich 1,70 Meter ohne Schuhe. Und sie passte immer noch perfekt in seine Arme.

Er würde nie vergessen, wie sie das erste Mal seine Hand gehalten hatte, oder die Stunden, die sie gemeinsam in der Dämmerung spazieren gegangen waren, sein Arm um ihre Schultern, ihrer um seine Taille gelegt, ihre Wange an ihn gelehnt. Sie waren jung, aber er liebte sie. Er wollte sein Leben mit ihr verbringen.

Und dann hatte sie ihn aus ihrem Leben verbannt.

Er war nicht sicher, ob sie den Verrat, der sie den ganzen Sommer über in Schockstarre versetzt hatte, überlebt hätten, aber Ivy hatte ihnen gar keine Chance gegeben, es zu versuchen.

Wahrscheinlich wollte sie es jetzt nicht noch einmal versuchen. Zu viel Wasser war den Bach hinuntergeflossen und all dieser Unsinn. Ja, sie war ihm praktisch in die Arme gesunken, als er sie Buttercup genannt hatte, aber sie war verletzt gewesen und hatte unter Schock gestanden. Sie würde sich zusammenreißen und dann würde Dr. Collins sich von Buttercup verabschieden und wieder so tun, als gäbe es Gil gar nicht.

„Special Agent Dixon?“ Die Stimme riss Gil aus seinen Gedanken. Er drehte sich um und stellte fest, dass die Stimme einem Mann in OP-Kleidung gehörte, der ein Stück hinter einem Schreibtisch stand. Er war groß, blond, in den Dreißigern und entweder sehr mies gelaunt oder schlecht auf Gil zu sprechen.

Gil ging auf ihn zu. „Ja?“

Der Mann öffnete eine Tür neben dem Schreibtisch und bedeutete Gil, er solle hindurchgehen. „Ich bin Dr. Steele. Der Beamte, der zum Schutz von Dr. Collins abgestellt ist, hat mir gesagt, dass Sie warten. Wir entlassen Dr. Collins, aber sie sollte heute Nacht nicht allein sein.“

„Das wird sie auch nicht.“

Dr. Steele sah Gil grimmig an. „Ich will, dass Dr. Collins beschützt wird, aber ich glaube nicht, dass es in ihrem jetzigen Gemütszustand eine gute Idee ist, wenn sie die Nacht bei Fremden verbringt. Nicht nach dem, was sie durchgemacht hat. Sie ist eine starke Frau, aber niemand sollte sich einsam fühlen, nachdem er gefoltert wurde. Haben Sie mit ihren Freundinnen gesprochen? Eine Übernachtungsmöglichkeit für sie gefunden? Ich weiß ja nicht, wie die Vorschriften bei so was sind, aber –“

„Ich kenne Iv– Dr. Collins, seit wir Kinder waren.“ Bei diesen Worten erhellte sich Dr. Steeles Miene. „Heute Abend bin ich als ein Freund hier. Zum Glück bin ich ein Freund, der sie auch beschützen kann.“

„Bringen Sie Dr. Collins zu ihrem Haus zurück?“

„Nein.“

„Wo –“

„Ich weiß Ihre Fürsorge zu schätzen, Dr. Steele. Aber zum Personenschutz gehört auch, dass wir den Aufenthaltsort von Dr. Collins nicht bekannt machen, bis wir besser wissen, in welcher Gefahr sie sich befindet.“

„Das verstehe ich.“ Dr. Steele fügte nichts mehr hinzu. Sein Interesse an Ivy schien über das hinauszugehen, was man von einem Arzt der Notaufnahme erwarten würde. Er hatte ihre körperlichen Wunden zusammengeflickt, wollte sie aber offensichtlich nicht gehen lassen, bevor er sich vergewissert hatte, dass auch ihren emotionalen Bedürfnissen Rechnung getragen wurde.

„Meine Schwester, auch eine alte Freundin von Dr. Collins, ist schon unterwegs. Sie wird in ein paar Stunden hier sein. Ivy wird Unterstützung, Freundschaft und Sicherheit haben.“ Vielleicht sogar mehr davon, als ihr lieb war. Aber trotz Gils Bemühungen, es seiner Schwester auszureden, war Emily auf dem Weg hierher und wollte das ganze Wochenende bleiben.

„Gut.“ Dr. Steele gab Gil seine Visitenkarte und Gil nahm sie. Dann trat der Arzt noch einen Schritt näher. „Folter“, sagte er mit gesenkter Stimme, „kann unerwartete Dinge auslösen. Wenn es Probleme gibt, zögern Sie nicht anzurufen.“

Gil betrachtete die Karte und schob sie dann in seine Tasche. „Mach ich.“ Er meinte es ernst. Den ganzen Abend hatte er versucht, nicht an das zu denken, was Ivy erlitten hatte, bevor Zane und er bei ihr aufgetaucht waren. Aber er würde alles darüber in Erfahrung bringen, und zwar bald.

Dr. Steele zeigte auf einen Raum. „Sie ist da drin. Warten Sie kurz.“ Er klopfte an die Tür und trat ein. Gil lehnte sich an die Wand und hörte noch, wie der Arzt Ivy begrüßte, aber als die Tür geschlossen wurde, verstand er nicht mehr, was gesagt wurde. Drei Minuten später, die sich wie eine halbe Stunde anfühlten, kam Dr. Steele wieder heraus. „Sie erwartet Sie.“

„Danke.“ Gil ging um Dr. Steele herum und betrat das Zimmer. Anstatt die Tür hinter sich zu schließen, nahm er sich fünf Sekunden Zeit, sich mit dem Raum vertraut zu machen. Es war Gewohnheit. Und Training. Das sagte er sich jedenfalls. Und es stimmte auch.

Aber es stimmte auch, dass er Krankenhauszimmer hasste und nicht den Wunsch hatte, eine Sekunde länger als nötig in diesem hier zu verbringen. Außerdem kannte er Ivy zwar und sie kannte ihn, aber in vielerlei Hinsicht war sie Gil immer noch ein Rätsel. Eine geliebte Fremde, aber nichtsdestotrotz eine Fremde.

„Hi.“ Ivys leise Stimme ließ Gils Blick von seiner Umgebung zu ihr wandern. Sie trug die Kleidung, die er für sie hergebracht hatte. Ihre Haut, die schon unter normalen Umständen durchscheinend und hell war, wies eine Blässe auf, die in ihm eine Mischung aus Besorgnis und noch etwas auslöste … eine Art Beschützerinstinkt. Als wäre er persönlich für ihren Schutz verantwortlich.

„Hi.“ An dieser Stelle sollte er wahrscheinlich etwas sagen. Sollte er sie fragen, ob es ihr gut ging? Oder … was sonst?

Sie senkte den Kopf und der Anflug eines Lächelns huschte über ihr Gesicht. „Ich glaube, so lange haben wir noch nie geschwiegen, wenn wir zusammen waren.“

Der Witz ließ sein Gehirn und seine Zunge wieder miteinander koordinieren. „Stimmt nicht. In der Kirche konnten wir auch nicht reden.“

„Auch wieder wahr.“ Diesmal hielt ihr Lächeln einige Sekunden an, bevor es schwand.

„Ivy.“ Es lag ihm auf der Zunge zu sagen, dass er sie vermisst hatte, aber er hielt sich zurück. Er durfte sie nicht nervös machen. Irgendwann würden sie über das sprechen, was sie auseinandergetrieben hatte, aber nicht heute Abend. „Was brauchst du jetzt? Etwas zu essen? Kaffee? Ich kann dich nicht nach Hause bringen, weil dein Haus ein Tatort ist. Und ehrlich gesagt, sind die Leute von der Polizei sehr nett, aber wenn ich nicht bald mit dir erscheine, werden sie kommen und dich suchen.“

„Ich bin völlig baff, dass sie noch nicht hier sind. Scheint mir nicht der normale Ablauf zu sein.“ Ivy machte einen konzentrierten Gesichtsausdruck, dabei verzogen sich ihre Lippen auf charakteristische Weise zu einer Seite, was in Gil eine Flut von Erinnerungen auslöste.

„Ich habe versprochen, dass bei dir keine Fluchtgefahr besteht und dass ich dich aufs Revier bringen werde, sobald ich kann.“

Ivy riss die Augen auf. „Sie haben gewartet, weil du sie darum gebeten hast?“

„Sie haben im Moment genug zu tun. Aber ich muss dich hinbringen. Und ich bleibe, bis du fertig bist. Dann entscheidest du. Hast du irgendwelche Freunde angerufen? Gibt es jemanden, zu dem ich dich bringen soll?“

Ivy zog eine Grimasse. „Nein. Ein Hotel wäre prima. Ich habe … ich bin … es gibt niemanden. Ich kann nicht riskieren …“

„Du willst keinen deiner Freunde in Gefahr bringen?“

„Das auch.“

„Und was noch?“ Die Frage war aufdringlich und es würde Gil nicht wundern, wenn sie eine Antwort verweigerte.

„Die meisten meiner Freunde“ – bei dem Wort Freunde malte sie Anführungszeichen in die Luft – „sind eher Bekannte oder Geschäftspartner oder Angestellte. Ich arbeite. Ich esse. Ich schlafe. Sonntags gehe ich in die Kirche. Und dann alles von vorne.“ Sie befingerte den Saum ihres Pullovers. „Ich komme mit und spreche mit der Polizei, aber du brauchst nicht dabei zu bleiben. Es ist spät und es ist Freitagabend. Bestimmt hast du Pläne, die ich eh schon ruiniert habe. Du hast schon so viel getan. Ich nehme mir ein Taxi und fahre zu einem Hotel, wenn ich fertig bin.“

Gil widerstand dem Drang, die Augen zu verdrehen. Jap. Immer noch seine Ivy. Immer noch stur wie ein Esel.

„Wenn du denkst, ich würde dich allein auf dem Revier zurücklassen, bist du nicht halb so schlau, wie alle denken, Dr. Collins. Und wenn du dort fertig bist, nehme ich dich mit zu mir nach Hause.

*

Er wollte sie zu sich nach Hause mitnehmen? Hatte er den Verstand verloren?

Aber Gil war noch nicht fertig. „Ich habe Emily angerufen. Wenn wir so weit sind, wird sie bei mir zu Hause sein.“

Ivy schloss die Augen und holte tief Luft. Bilder aus ihrer verworrenen Vergangenheit trafen auf ihren jetzigen Stand und das Ergebnis war trübe und verwirrend.

Bis zu ihrem sechzehnten Lebensjahr war Gil ihr Lieblingsmensch gewesen. Ihre andere Hälfte. Ihn hatte sie am meisten vermisst. Seine Schwester Emily war so mädchenhaft gewesen. Barbiepuppen, Nagellack und Klamotten. Und Jungs. Schon in der Grundschule war Emily Dixon verrückt nach Jungs gewesen. Ivy hatte Barbiepuppen und Nagellack gehasst und sie hatte angezogen, was immer ihre Mom finden konnte. Und es gab nur einen Jungen, für den Ivy sich interessierte, und das war Gil.

Aber das bedeutete nicht, dass sie Emily nicht vermisst hatte. Gil und Emily hatten sich als Kinder sehr nahegestanden und weil Ivy viel Zeit mit Gil verbracht hatte, war sie auch viel mit Emily zusammen gewesen. Wenn Ivy bei den Dixons übernachtete, was häufig der Fall war, weil ihre Mutter oft in der Nachtschicht arbeitete, hatte sie in Emilys Zimmer geschlafen. Emily hatte ihr immer das obere Bett gegeben, weil sie wusste, dass Ivy lieber dort schlief. Und wenn sie das Licht ausgemacht hatten, hatte Emily geredet, bis Ivy eingeschlafen war. Und obwohl sie abgesehen von Gil beinahe keine Gemeinsamkeiten hatten, war auch zwischen ihnen eine enge Freundschaft gewachsen.

Ivy spürte eine wohlige Wärme in der Magengegend bei dem Gedanken, dass Gil und Emily auch als Erwachsene noch eine enge Beziehung hatten. So eng, dass er Emily an diesem Abend angerufen hatte und dass sie alles stehen und liegen ließ, um herzukommen.

Gils Angebot klang mehr wie ein Befehl und nicht wie eine Bitte, aber sie konnte nicht bei ihm wohnen. Aber nicht, weil sie ihm nicht traute. Denn trotz der Tatsache, dass sie den Mann, der jetzt vor ihr stand, nicht kannte, kannte sie ihn doch. Und es lag auch nicht daran, dass sie nicht bei ihm bleiben, ihn reden hören und alles über sein Leben erfahren wollte. Sie hatte ihn so viele Jahre lang schmerzlich vermisst und auch wenn der Schmerz mit der Zeit nachgelassen hatte, war er nie ganz verschwunden.

Aber in seinem Haus wohnen? Nein. Sie wusste, auch Jahre später, dass Gil ein Ehrenmann sein würde. Er würde ihr sein Bett überlassen. Und obwohl sie die Fragen in seinen Augen brennen sah, würde er ihr nicht zu nahe kommen. Aber sie konnte seine Gastfreundschaft nicht annehmen. Nicht nach dem, was geschehen war und wie sie reagiert hatte und was sie getan hatte. Zu viel war zwischen ihnen vorgefallen. Sie war viel zu lange ein Feigling gewesen. Gil und Emily hatten eine Entschuldigung verdient und auch eine Erklärung, insoweit sie etwas erklären konnte, was sie selbst noch immer nicht ganz verstand. Aber sie hatte nicht die Kraft, sich den beiden zu stellen. Nicht heute Abend.

Gil machte einen Schritt auf sie zu. „Ich bin sonst nicht so aufdringlich. Aber … es geht um dich.“ Seine Stimme brach beim letzten Wort. „Ich werde nicht so tun, als hätte ich nicht tausend Fragen. Aber jetzt ist ganz bestimmt nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Du musst heute vor allem schlafen. Du musst dich sicher fühlen. Und wenn du in ein Hotel willst, werde ich die Nacht auf dem Flur verbringen.“

Was? Nein. „Das kann ich nicht zulassen.“

„Du kannst mich nicht daran hindern.“

Sie starrten einander an. „Warum tust du das?“

„Das habe ich doch gesagt. Weil du es bist.“

„Das ist keine Antwort.“

Gil fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Hast du mich vermisst?“ Die Worte klangen so, als hätte jemand sie ihm entrungen, nicht so, als würde er sie aus freien Stücken aussprechen.

Angesichts seiner tiefen Verletzlichkeit kam die Wahrheit heraus, bevor sie es verhindern konnte. „Jeden Tag.“

Etwas, das wie eine Mischung aus Kummer und Erleichterung aussah, lag in seinem Blick. „Ich habe dich auch vermisst. Jetzt bist du hier. Darum mache ich das.“

Er hatte sie vermisst? Er müsste sie eigentlich hassen. Aber bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, hatte Gil offenbar beschlossen, dass diese Unterhaltung zu Ende war, denn er wechselte das Thema. „Darüber können wir später reden. Im Moment sag mir bitte, was du brauchst. Etwas zu essen?“

Die Antwort lieferte Ivys knurrender Magen. „Was zu essen wäre gut.“ Wenn sie etwas gegessen hatte, würde ihr Gehirn hoffentlich nicht mehr jedes Mal aussetzen, wenn Gil sie ansah, sodass sie sich ein Argument überlegen konnte, gegen das er nichts einwenden konnte. Sie ließ den Blick durchs Zimmer schweifen, um sich zu vergewissern, dass sie nichts zurückgelassen hatte.

Gil lehnte sich an die Wand. „Zuerst etwas zu essen. Dann die Polizei. Danach Emily.“

Während Gils Ansage sich setzte, spannte sich Ivys ganzer Körper an. Sie versuchte, ihre Reaktion zu verbergen, indem sie sich dem kleinen Tisch zuwandte, auf dem die Schwester die Unterlagen abgelegt hatte.

Während sie mit Gil geredet hatte, hatte sie vergessen, dass ihre Schulter brannte, ihre Finger pochten und der Schmerz in ihrem Daumen etwa siebzigmal in der Minute hämmerte.

Einige kostbare Augenblicke lang hatte sie das Schreckgespenst der Gefahr, die wie ein Damoklesschwert über ihr hing, verdrängt. Und sie wusste immer noch nicht, warum Gil – oder besser gesagt der Geheimdienst – ihr einen Besuch abgestattet hatte. Nicht, dass sie sich darüber beschweren würde. Sie gab sich Mühe, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, aber sie hatte noch nie so viel Angst gehabt wie heute.

Und sie wusste immer noch nicht, warum es jemandem so wichtig war, Zugang zu ihrem Computer zu bekommen, dass er sie dafür persönlich angriff. Sie sollte Gil fragen, warum er derjenige gewesen war, der plötzlich bei ihr in der Tür gestanden hatte, aber je nachdem, wie die Antwort ausfiel, könnte es sein, dass sie die Fassung verlor, und das durfte sie nicht. Nicht jetzt.

Sie bemühte sich, unbesorgt zu klingen. „Okay.“ Ein Wort. Mehr sagte sie nicht und sie dachte, es wäre ihr gelungen, ihre Angst nicht zu zeigen. Doch kaum war das Wort über ihre Lippen gekommen, kamen Gils Schritte näher und er drückte ihren linken Ellenbogen. Ivy drehte sich nicht zu ihm um. Sie brauchte noch einen Moment, um sich zusammenzureißen.

„Buttercup?“

„Mir geht es gut.“

„Tut es nicht.“ Es klang ausgesprochen überzeugt. „Aber es wird dir wieder gut gehen.“

„Woher weißt du das?“ Puh. Es passte Ivy gar nicht, dass ihre Stimme so verzweifelt klang.

„Es gibt keine andere Möglichkeit. Ich habe dich gefunden. Ich werde herausfinden, was hier vor sich geht. Ich werde dich beschützen.“

Jetzt drehte sie sich um. Gil war immer sehr selbstbewusst gewesen und hatte nie Angst gehabt, zu sagen, was er dachte oder fühlte. Das hatte sich offensichtlich nicht geändert. Seine blauen Augen brannten mit einer Leidenschaft, die seine Wut über das, was ihr widerfahren war, deutlich machte, aber auch seine Zuversicht, dass er das Rätsel lösen konnte.

„Okay.“

Er trat zurück, die Augenbrauen hochgezogen. „Wie, das war’s? Kein Widerspruch? Keine detaillierten Erklärungen, was an meiner Aussage falsch oder unlogisch ist?“

Vielleicht hatte er recht. Vielleicht auch nicht. Aber heute würde sie es akzeptieren. „Diskutieren können wir morgen. Es wird nicht lange dauern, deine Beteuerungen zu zerlegen und zu zeigen, wie lächerlich deine Vorstellung ist, du könntest einfach hereinrauschen und alle meine Probleme lösen.“

Gil griff nach ihrer unverletzten Hand. Er legte sie in seine Armbeuge und flüsterte: „Ich kann es kaum erwarten.“

Er führte sie aus dem Krankenhaus und zu seinem Wagen, einer Ford-Limousine mit Regierungskennzeichen, die auf dem Parkplatz für Einsatzkräfte stand.

„Nicht, was ich erwartet hätte.“ Sie zeigte auf das Fahrzeug. Gil öffnete die Beifahrertür für sie, dann stützte er ihren rechten Ellenbogen mit einer Hand, während er die andere auf ihren Rücken legte und ihr half, auf dem Sitz Platz zu nehmen, ohne auch nur einmal an ihre verletzte Hand oder Schulter zu stoßen.

Er reagierte nicht auf ihre Bemerkung über sein Auto und Ivy war enttäuscht bei dem Gedanken, dass er den Witz möglicherweise nicht verstanden hatte. Er schloss die Tür und lief auf die Fahrerseite. Nachdem er sich angeschnallt hatte, warf er Ivy ein schelmisches Grinsen zu. „Sorry, dass ich nicht den Porsche fahre, den ich dir versprochen habe.“

Er erinnerte sich also doch. Konnte es sein, dass er sich an dieselben Dinge erinnerte wie sie? Ivy versuchte ihre Freude hinter einem theatralischen Seufzer zu verstecken. „Das heißt dann wohl, dass ich auch keine Ranch mit Pferden, Ziegen und Hubschrauberlandeplatz erwarten sollte.“

Gil lachte, aber es klang unerwartet sarkastisch. „Ein klares Nein. Ich wohne in einem sanierungsbedürftigen Haus in einem Stadtteil, der versucht, etwas aus sich zu machen. Und ich habe auch keinen Pool und keine Bowlingbahn.“

„Jetzt bin ich wirklich enttäuscht.“ Sie stieß einen weiteren übertriebenen Seufzer aus.

„Ich auch. Aber die gute Nachricht ist, dass ich tolle Nachbarn habe, die mich zu mögen scheinen, obwohl jemand Anfang des Jahres in meinem Vorgarten auf mich geschossen hat und ich so ihre gute Kriminalitätsstatistik ruiniert habe.“

Ivy erschauerte bei seinen Worten unwillkürlich. Er war in seinem eigenen Garten angeschossen worden. Sie hatte die Berichterstattung in den Nachrichten gesehen und dann das Internet nach näheren Informationen durchsucht. Anschließend hatte sie wochenlang nicht gut geschlafen. Sie hätte sich damals bei ihm melden sollen. Aber das jahrelange Aus-dem-Weg-Gehen hatte eine Mauer zwischen ihnen errichtet, von der Ivy nicht glaubte, sie überwinden zu können. Jedenfalls hatte sie zu viel Angst gehabt, um es zu versuchen.

Heute Abend standen sie wohl oder übel vor dieser Mauer. Was in einem Tag, einer Woche oder einem Monat sein würde, wusste Ivy nicht. Aber was auch immer dann zwischen ihnen sein würde, es würde anders sein als gestern.

Gil fuhr zum Drive-in-Schalter eines Schnellrestaurants und sie verschlangen ihre Pommes, die herrlich heiß und salzig waren, Burger und Milchshakes. Schoko für ihn. Vanille für sie.

Und in diesen zehn Minuten war sie wieder ein kleines Mädchen. Ein kleines Mädchen, dessen Zukunft völlig klar war. Dann stellte Gil den Motor aus und Ivy blickte auf.

Das Polizeirevier.

Gil räusperte sich. „Wenn wir reingehen, ist es deine Entscheidung, ob du mich dabeihaben willst. Wenn nicht, verstehe ich das.“ Ohne ihre Antwort abzuwarten, nahm er die Papiertüte mit den Abfällen und stieg aus. Er warf die Verpackungen in einen Mülleimer in der Nähe und öffnete dann die Beifahrertür. Anschließend legte er eine Hand um ihren rechten Unterarm. Er half ihr aus dem Wagen und achtete wieder sorgfältig darauf, dass sie mit Schulter oder Hand nirgends anstieß. Dann wartete er, bis Ivy einen sicheren Stand gefunden hatte, bevor er sie losließ. Aber nachdem er ihre Tür geschlossen hatte, berührte er sie erst wieder, als sie die Tür zur Wache erreicht hatten. Die Hand auf ihrem Rücken, lenkte er sie in Richtung Empfangstresen.

Bevor er etwas sagen konnte, lenkte eine donnernde Stimme Ivys Aufmerksamkeit – und wahrscheinlich die aller anderen im Raum – auf eine Tür links von ihnen. „Dixon. Welcher Teil von ‚so bald wie möglich‘ war Ihnen nicht klar?“

Gil murmelte etwas, das so klang wie: „Ich hasse diesen Typen.“ „Schön, Sie zu sehen, Morris. Sie können sich gerne bei Dr. Steele beschweren – Steele mit drei e – zuständig für die Notaufnahme. Ich bin sicher, er wird Ihnen gerne erzählen, womit er seinen Abend zugebracht hat.“

„Sie brauchen sich gar nicht rauszureden, Dixon.“

„Sie sind es doch, der Dr. Collins heute Abend noch befragen wollte. Sie hat einen schrecklichen Tag hinter sich und Dr. Steele hat deutlich gemacht, dass sie sich ausruhen muss. Und ich bin nicht in der Stimmung, um mich mit Ihnen zu streiten.“

„Mensch, seit Sie angeschossen wurden, sind Sie aber echt empfindlich.“

Ivy bemerkte, dass Gil neben ihr vor Wut kochte, aber er reagierte nicht auf die Provokation. Morris’ Blick wanderte zu Ivy. „Dr. Collins, wenn Sie mir folgen wollen, erledigen wir die Sache so schnell wie möglich.“ Er zeigte auf die Tür.

Aber Ivy konnte ihre Füße nicht bewegen. Er war Polizist. Er wollte mit ihr über ihren Fall reden. Aber er wollte, dass sie ihm durch diese Tür folgte, hinter den Tresen und in ein Labyrinth aus Gängen und Büros – allein mit ihm?

Noch vor wenigen Stunden wäre sie, ohne zu zögern, mit ihm gegangen. Aber jetzt nicht mehr. Mit einem Fremden würde sie nirgendwo hingehen. Nicht allein. Ohne eine bewusste Entscheidung getroffen zu haben, packte sie Gil am Arm. Sein Unterarm zuckte unter ihrem Griff und er sah sie mit einer hochgezogenen Augenbraue an.

Er musste ihre Panik erkannt haben, denn in seinen Augen sah sie, dass er verstand. Er zog sie ein wenig näher zu sich und ging dann mit ihr auf die Tür zu. „Gehen Sie vor, Morris. Die Dame ist erschöpft.“

4

Detective Morris war ein hervorragender Ermittler. Wäre er es nicht, hätte Gil ihn nicht ertragen können. Selbst so konnte er ihn nur in kleinen Dosen verkraften. Der Befragungsraum, in den er Ivy geführt hatte, war angenehmer als die üblichen Verhörräume, aber nicht viel.

Ivy setzte sich auf einen Stuhl auf der linken Seite eines abgewetzten rechteckigen Tisches. Morris nahm ihr gegenüber Platz. „Dr. Collins, können Sie mir bitte Ihren Tag schildern?“ Morris lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, scheinbar ganz entspannt. Beinahe gelangweilt. Was führte er im Schilde?

Gil blieb stehen und lehnte sich an die Wand gegenüber der Tür. Er hätte sich neben Ivy setzen können, aber er wollte ihr Gesicht sehen, wenn sie sprach. Irgendwo zwischen dem Augenblick, in dem sie seinen Arm umklammert hatte, und dem Moment, in dem Morris den Mund aufgemacht hatte, musste Ivy sich von dem erholt haben, was ihr Angst eingejagt hatte. Er sah es an ihren Schultern und daran, wie sie den Detective musterte.

Gil kannte die erwachsene Ivy nicht, aber etwas sagte ihm, dass Detective Morris gleich den Kopf abgerissen bekam.

„Da müssen Sie sich schon etwas genauer ausdrücken, Detective Morris.“ Ivy gab ihm keine Gelegenheit zu antworten. „Wo soll ich anfangen? Mein Tag hat um 4.30 Uhr begonnen. Es wird eine ganze Weile dauern, wenn ich Ihnen jedes Detail berichten soll. Wollen Sie das?“

Gil verzog angesichts ihrer Antwort keine Miene, aber Morris hatte nicht so viel Selbstbeherrschung. Er verdrehte die Augen und murmelte etwas wie „Akademiker“, bevor er die Unterarme auf den Tisch legte. „Geben Sie mir doch einfach eine Kurzfassung und gehen Sie erst an dem Punkt ins Detail, an dem alles aus dem Ruder gelaufen ist.“ In jedem Wort schwang Verachtung mit.

Ivy reagierte nicht auf seine Überheblichkeit. Sie setzte sich noch aufrechter hin und gab ihm klare, genaue Informationen. „Ich bin um 4.30 Uhr aufgewacht. Habe Yoga gemacht. Anschließend gefrühstückt. Dann habe ich etwas gelesen. Etwas Zeit mit Bibellesen und Beten verbracht. Danach habe ich mich für den Tag fertig gemacht und war um 7.30 Uhr im Büro. Ich habe Praktikumsbewerbungen für nächstes Jahr durchgesehen. Außerdem habe ich einen Aufsatz überarbeitet, den ich für eine Zeitschrift verfasst habe. Ansonsten verlief der Tag ganz normal.“

„Wie sieht denn ein normaler Tag bei Hedera aus, Dr. Collins?“

Bei dieser Frage horchte Gil auf. Er wusste grob, was Ivy machte, kannte aber keine Einzelheiten.

„Heute habe ich vier Stunden damit zugebracht, mit einem unserer Forschungsteams zu arbeiten. Wir sind gerade dabei, den Prototyp einer Prothese fertigzustellen, die, wenn sie funktioniert, Menschen mit Amputationen die Fähigkeit gibt, die Handprothese mit ihren Gedanken zu steuern. An dieser Prothese arbeiten wir schon, seit es Hedera gibt. Es ist eine spannende Phase für uns.“

Gil registrierte mit Interesse, dass Ivy kurz vor der Vermarktung eines Produkts stand, das seit Jahren in der Entwicklung war. Wenn es funktionierte, was würde das dann finanziell für das Unternehmen bedeuten? Und was, wenn es nicht funktionierte? Konnte es sein, dass jemand versuchte, sich das Produkt unter den Nagel zu reißen? Oder war es möglich, dass die Prothese nicht leistete, was sie angeblich können sollte, und jemand in ihrer Firma das vertuschte? Ivy war klug, aber selbst kluge Menschen konnten sich von Menschen täuschen lassen, denen sie vertrauten.

Morris’ einzige Reaktion auf Ivys Antwort war ein tiefes Grunzen. Er machte eine entsprechende Handbewegung und Ivy fuhr fort: „Eineinviertel Stunden habe ich mit einem unserer Wissenschaftler verbracht, der versucht, die Berührungsempfindlichkeit einer unserer Prothesen zu verbessern. Den Rest des Nachmittags war ich in meinem Büro und habe einen Kostenbericht erstellt, weil meine Assistentin mich tyrannisiert und die Aufstellung eigentlich schon gestern haben wollte.“

Gil lachte leise. Morris nicht. Ivy warf Gil einen dankbaren Blick zu, aber dann spitzte sie die Lippen und Gil wappnete sich für das, was jetzt gleich kommen würde. Der normale Teil des Tages war an dieser Stelle zu Ende gewesen.

„Dann ging der Strom aus. Wir haben die Stadtwerke angerufen und dort sagte man uns, ein Auto sei gegen einen Mast gefahren und habe den Transformator beschädigt. In der Umgebung des Unfalls waren die Stromleitungen ausgefallen, sodass Chaos herrschte. Es hieß, es würde Stunden dauern, bis die Stromversorgung wiederhergestellt werden könne.“

Jetzt sah Ivy den Detective nicht mehr an. Soweit Gil das beurteilen konnte, sah sie überhaupt nichts mehr an. Sie blinzelte mehrmals und ihr Kinn war gesenkt und nach links geschoben. Sie sagte nichts, aber es bestand kein Zweifel daran, dass in ihrem Kopf eine Menge vor sich ging. Gil hätte es nicht gewundert, wenn Ivys Haare zu qualmen angefangen hätten.

„Dr. Collins?“ Morris sagte es, als würde er ein störrisches dreijähriges Kind tadeln. Merkte er denn nicht, dass Ivy über etwas nachdachte?

Ivy reagierte nicht.

„Dr. Collins?“ Diesmal klang Morris so, als müsste er mit einem rebellischen Teenager kommunizieren.

Ivy hob eine Hand und sagte: „Still! Ich denke nach.“

Gil hätte am liebsten applaudiert. Zane und Luke würden begeistert sein.

Morris wurde rot. „Dr. Collins.“ Jetzt klang er beleidigt und diesmal zerstörte er erfolgreich Ivys Konzentration.

Zugleich zerstörte er aber auch ihre Fassade der Höflichkeit. Sie sah Morris mit eisigem Blick an und ihre Stimme war noch kälter als ihr Blick. „Detective Morris, wenn Sie mich nicht ständig unterbrechen würden, könnte ich die Dinge im Kopf sortieren und Ihnen nützliche Informationen geben.“

Gil wusste nicht, ob Morris wütend, verlegen oder verwirrt war, aber jedenfalls reagierte er nicht sofort. Offenbar hatte Ivy auch keine Antwort erwartet, denn sie starrte wieder vor sich hin, drehte den Kopf hin und her, ihre Miene konzentriert und ernst.

Nach einer halben Minute lehnte Ivy sich auf ihrem Stuhl zurück und wandte sich an Gil. „Du hast es nicht gesagt und ich habe auch nicht gefragt, aber ich muss es wissen. Warum warst du in meinem Haus?“

Die Frage enthielt keine Feindseligkeit, aber Gil hatte den Eindruck, dass seine Antwort wichtig war für das, was sie in Gedanken durchspielte. „Hedera hat letzte Woche eine Bargeldeinzahlung von zweitausend Dollar und etwas Kleingeld vorgenommen. Zweihundert Dollar davon waren Falschgeld.“

„Hm.“

Hm? Die meisten Menschen reagierten anders auf die Mitteilung, dass sie mit Falschgeld gehandelt hatten. Normal war Überraschung oder eine Verteidigungshaltung. Oder auch freche Lügen, wenn sie von dem Falschgeld wussten. Gil spürte einen Anflug von Zweifel in sich aufsteigen. Ivy hatte Erfahrung mit der Art Personen, die sich mit Betrug ihren Lebensunterhalt verdienten. Vielleicht wusste sie mehr, als sie zugab, aber Gil würde erst einmal abwarten, worauf sie mit ihrer Frage hinauswollte. Im Gegensatz zu Morris, der auf seinem Stuhl herumrutschte und unzusammenhängenden Unsinn faselte.

Gil fing den Blick des Ermittlers auf und runzelte die Stirn. „Geben Sie ihr einen Moment Zeit, Mann. Sie ist ein Genie. Keine schlechte Idee, die klügste Person im Raum herausfinden zu lassen, was los ist.“

Morris verdrehte die Augen und schnaubte verächtlich. Was sollte diese Angewohnheit bei dem Mann? Er war mindestens Mitte 40, nicht 15.

Ivy schüttelte den Kopf und konzentrierte sich erneut – aber nicht auf Morris, sondern auf Gil. „Du solltest jemanden auf den Unfall ansetzen, der unseren Stromausfall verursacht hat. Ich glaube nicht, dass es wirklich ein Unfall war. Ich weiß nicht, wozu es gut sein soll, aber aus irgendeinem Grund wollten diese Leute, wer auch immer sie sind, dass ich das Büro verlasse und nach Hause gehe.“

Gil dachte einen Moment lang über ihre Theorie nach. „Du meinst also, jemand hat absichtlich den Mast umgefahren, um eure Stromversorgung zu unterbrechen? Woher sollte diese Person wissen, dass du nicht warten würdest, bis der Strom wieder geht?“

„Das wäre ein Risiko gewesen, aber nur ein kleines. Es war schon spät am Freitagnachmittag und am Wochenende sollte sowieso niemand dort sein. Wir lassen das Gebäude und die Büros streichen. Die Firma fängt morgen früh an. Ich habe dafür gesorgt, dass alle ihre Daten bis Mittag gesichert haben. Um vier Uhr wollten wir alle Systeme runterfahren. Die Malerarbeiten sollten bis Sonntagnachmittag erledigt sein und man hat uns versichert, dass wir am Montagmorgen wieder dort arbeiten könnten.“

„Ich weiß nicht, wie Sie darauf kommen, dass jemand absichtlich die Stromversorgung unterbrochen hat“, sagte Morris, der versuchte, bei der Befragung wieder die Führung zu übernehmen. „Klingt einfach nach Pech. Nicht nach einer kriminellen Absicht.“

„Ich würde Ihnen vielleicht recht geben, wenn ich nicht eine Stunde lang von Leuten gefoltert worden wäre, die behaupten, sie wollten nichts als den Zugang zu meinem Computer in der Firma.“ Ivy hatte jetzt jede vorgetäuschte Höflichkeit aufgegeben. Sie sah Morris an, als wäre er schwachsinnig. „Zu einem Computer, der eine Stunde vorher abrupt ausgeschaltet wurde, ohne dass ich sensible finanzielle und personalbezogene Dateien schließen konnte, die auf meinem Desktop geöffnet waren.“

„Aber was sollten diese Leute damit wollen?“, fragte Morris.

„Ich dachte, dafür wären Sie da, Detective Morris. Ich bin gespannt zu hören, was Sie herausfinden.“

Ivy war kurz davor überzukochen. Als Kind war sie lieb und unbeschwert gewesen, aber das hieß nicht, dass sie passiv war. Ganz und gar nicht. Gil war nie in ihre Schusslinie geraten, aber es gab ein paar Mädchen, die sie ständig aufgezogen hatten. Normalerweise wegen ihrer Klamotten. Manchmal auch wegen ihrer Pausenbrote. Irgendwann hatte sie genug gehabt und war ausgerastet.

Gil konnte sich nicht mehr an Einzelheiten erinnern. Was er noch wusste, war, dass Ivy in Tränen der Reue ausgebrochen war, als alles vorbei war und sie bei ihm zu Hause auftauchte. Diese Mädchen hatten verdient, was Ivy zu ihnen gesagt hatte, und mehr als das, aber sie hatte trotzdem ein schlechtes Gewissen deswegen.

„Dr. Collins, was glauben Sie eigentlich, wer hier im Moment das Sagen hat?“, goss Morris noch Öl ins Feuer. Der Dummkopf.

Gil sprang ein, bevor Ivy ihn zur Schnecke machen konnte. „Morris. Dr. Collins hat recht und das wissen Sie auch. Außerdem hat sie einen furchtbaren Tag hinter sich und sie ist nicht die Täterin. Wie wäre es, wenn Sie mal die Luft anhalten und sie weiterberichten lassen, damit wir alle nach Hause gehen können, hm?“

Morris warf Ivy einen bösen Blick zu, sagte aber nichts mehr.

„Wann warst du heute Nachmittag zu Hause, Ivy?“ Gil stellte die Frage in der Hoffnung, dass Ivy mit ihm redete, statt mit Morris, und dass es ihr helfen würde, ihre Fassung zu bewahren, während Morris sich beruhigte.

„Als uns klar wurde, dass es eine Weile dauern würde, habe ich zu den anderen gesagt, dass sie nach Hause gehen sollen. Wir sind um kurz vor drei raus. Ich hatte vor, heute Abend noch mal ins Büro zu fahren und alle Computer und Server zu überprüfen und, wenn nötig, noch ein Back-up zu machen. Wir haben eine hohe Internetsicherheit in unserem Computernetzwerk und Back-ups sind mir sehr wichtig. Es wäre kein Weltuntergang gewesen, wenn heute Abend kein Backup läuft, aber ich wusste, dass ich mich dann besser fühlen würde.“

„Wenn Sie sagen, Sie haben eine hohe Internetsicherheit, wie hoch ist hoch?“ Die Frage kam von Morris, aber es war schwer zu sagen, ob er gehässig sein wollte oder es wirklich wissen wollte.

„Es ist kein Geheimnis, dass mir die digitale Sicherheit immens wichtig ist. Ich habe schon Leute gefeuert, weil sie sich nicht an unsere Sicherheitsvorgaben gehalten haben. Was wir tun, ist nicht streng geheim, aber wir haben Technologien entwickelt, die selbst beim Verteidigungsministerium auf Interesse gestoßen sind. Es ist äußerst wichtig, dass unser Netzwerk gesichert ist.“

„Ich wünschte, alle Unternehmen würden diesen Sicherheitsaspekt ernst nehmen.“ Gil wollte ihr keinen Honig um den Mund schmieren. Es war sein voller Ernst. Mit Cyberattacken war nicht zu spaßen und gerade kleinere Unternehmen wie Hedera waren oft Opfer solcher Angriffe. „Ich will ja keine Mutmaßungen anstellen, aber da die Männer, die dich angegriffen haben, an deinen Computer wollten, vermute ich, dass sie schon mal versucht haben, dich zu hacken, und gescheitert sind.“

„Das könnte sein. Mir ist klar, dass es im Moment keine Beweise gibt, aber in meinen Augen ist es logisch, dass hinter dem Stromausfall und dem Überfall bei mir zu Hause dieselben Leute stecken. Es ist reine Spekulation, aber meiner Meinung nach haben sie sich erhofft, dass ich Informationen rausrücke, mit denen sie dann in unser Büro eindringen und auf unser System zugreifen könnten.“

Wenn er ihr diese Unterhaltung irgendwie hätte ersparen können, dann hätte Gil es getan. Aber das konnte er nicht. „Kannst du uns erzählen, was geschehen ist, als du zu Hause warst?“

5

Ivy straffte die Schultern und hielt den Blick auf einen Punkt an der Wand gerichtet. „Ich bin gegen drei Uhr nach Hause gekommen, habe mich umgezogen und dann die Reste von gestern aufgewärmt. Ich hatte die Schüssel noch in der Hand und als ich mich umgedreht habe, waren sie da.“

Sie wollte diese Erinnerung verdrängen. Sie wollte das alles nicht noch einmal durchleben. Jetzt nicht. Niemals.

„Ivy?“ Nach der schroffen Art von Detective Morris war Gils sanfte Stimme ungemein tröstlich. „Hast du irgendeine Ahnung, wie sie ins Haus gelangt sind?“

„Nein. Ich habe eine Alarmanlage, die ich auch für gut hielt.“

„Sind Sie sicher, dass Sie die Anlage eingeschaltet hatten? Es kommt häufiger vor, dass Leute das vergessen.“ Morris, wieder mit einer Äußerung, die einfühlsam sein könnte, wenn jemand anders sie machte, aber bei ihm? Es machte sie nervös.

„Ja. Ich bin sicher.“

Morris machte keinen Hehl daraus, dass er nicht überzeugt war.

„Mein System zeichnet die Zeiten auf. Es dürfte nicht allzu schwierig sein, herauszufinden, wann ich es eingeschaltet habe und wann es geknackt wurde.“

Morris machte sich eine Notiz.