Die Ruhe vor dem Sturm - Lynn H. Blackburn - E-Book

Die Ruhe vor dem Sturm E-Book

Lynn H. Blackburn

5,0

Beschreibung

An einem lauen Sommerabend erklingen auf dem Lake Porter Hilfeschreie. Einsatzleiterin Anissa Bell kann mit Hilfe ihres Tauchteams zwei Teenager bergen. Den einen jedoch nur noch leblos – mit einer Schusswunde. Was ist geschehen? Der Einsatz trifft Anissa schwer – das Ereignis erinnert sie an einen tragischen Vorfall aus ihrer Vergangenheit. Trost findet sie nur bei dem ehemaligen Undercover-Ermittler Gabriel Chavez. Die beiden hatten bisher ein schwieriges Verhältnis, doch nun entdeckt Anissa Gabriels einfühlsame Art und in seiner Anwesenheit gerät ihr Herz immer öfter ins Stolpern – insbesondere, als ein Anschlag Gabriel trifft, der eigentlich Anissa galt. Hat ihre Vergangenheit sie etwa eingeholt?

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Lynn

Blackburn

Die Ruhe

vor dem Sturm

Deutsch von Heide Müller

Copyright © 2019 by Lynn H. Blackburn

Originally published in English under the title One Final Breath

by Revell, a divison of Baker Publishing Group,

Grand Rapids, Michigan, 49516, U.S.A.

All rights reserved.

Das Bibelzitat aus Psalm 19,15 ist der Übersetzung

Hoffnung für alle® entnommen,

Copyright © 1983, 1996, 2002, 2015 by Biblia Inc.®

Verwendet mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers Fontis.

© 2021 Brunnen Verlag GmbH, Gießen

Lektorat: Carolin Kotthaus

Umschlagfoto: stocksy

Umschlaggestaltung: Jonathan Maul

Satz: DTP Brunnen

ISBN Buch 978-3-7655-0741-0

ISBN E-Book 978-3-7655-7563-1

www.brunnen-verlag.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Dank

Meinen Eltern, Ken und Susan Huggins

Ihr habt in mir die Liebe zu Jesus und eine Begeisterung für Geschichten entfacht. Von euch habe ich gelernt, wie gut sich darin tiefe Wahrheiten verpacken lassen. Durch jedes Buch, das ich geschrieben habe, zieht sich ein Stück von euch durch – von euren Opfern, euren Kämpfen, euren Freuden, eurer überwältigenden Vergebungsbereitschaft und Zuwendung. Danke für eure unerschütterliche Liebe und Unterstützung – und dafür, dass ihr so manches Mal darüber hinweggesehen habt, wenn ich abends noch eine ganze Stunde gelesen habe, wenn „nur ein Kapitel“ vereinbart war.Ich liebe euch!

HERR, lass dir meine Worte und Gedanken gefallen!Du bist mein schützender Fels, mein starker Erlöser!Psalm 19,14

1

Konnte das Leben schöner sein? Auf dieser Seite des Erdballs zumindest nicht.

Eine leichte Brise spielte mit ihrem Haar, als die Mordermittlerin Anissa Bell genüsslich ein Erdnussbutter-M&M in den Mund schob und ihren Blick über den tiefblauen Lake Porter schweifen ließ, der als Kronjuwel von Carrington County galt. Auch wenn es schon auf Mitternacht zuging, lockte die Mannschaftsführerin des Tauchteams der Gedanke, in dieser lauen Julinacht vor dem Heimfahren noch kurz in den See zu springen.

Vielleicht würde sie Leigh und Ryan fragen, ob sie auf der Hollywoodschaukel unter ihrer Hochterrasse übernachten durfte. Im sanften Mondlicht, mit dem beruhigenden Plätschern der Wellen im Ohr, würde sie sicherlich bald schlafen wie ein Murmeltier.

Oder auch nicht.

Sie schüttelte den düsteren Gedanken ab. In dieser Nacht war Feiern angesagt!

Die meisten Ermittler im Büro des Sheriffs von Carrington County hatten jedes sechste Wochenende Bereitschaftsdienst. Aber wer zur Tauchereinheit gehörte, konnte jederzeit zu einer Unterwassersuche gerufen werden. Jetzt, wo im Herzen von North Carolina Hochsaison war, hatte das Tauchteam an sechs Wochenenden hintereinander antreten müssen, um alles Mögliche aus dem See zutage zu befördern – von vermuteten Drogen bis hin zu gestohlenen Waren. Heute aber war, oh Wunder, noch kein einziger Anruf eingegangen, nicht einmal für Officer Gabriel Chavez, den diensthabenden Ermittler der Mordkommission. So hatten sie einen ungestörten Samstag am Wasser verbringen können.

Das Haus, das Leigh von ihren Eltern geerbt hatte und in dem sie nun mit ihrem Mann Ryan Parker lebte, war wunderschön auf einer kleinen Anhöhe am Seeufer gelegen. Je nachdem, wo man stand, hatte man von hier aus einen freien Blick auf den See oder auf eine idyllische, zum Teil noch beinahe unberührte Bucht.

Ryan hatte kürzlich ganz vorne an der Anhöhe einen kleinen Freisitz mit Feuerstelle angelegt. Die Aussicht war fantastisch.

Anissa wandte sich Ryan zu. Er war ihr Stellvertreter im Tauchteam und wie sie Ermittler der Mordkommission. „Du wirst diesen Geniestreich mit dem Freisitz vielleicht noch bereuen. Wenn du bisher schon dachtest, du würdest uns nicht so leicht los, dann hast du ab jetzt gar keine Chance mehr.“

Die anderen, die um das Feuer saßen, grinsten zustimmend.

„Recht hat sie.“ Adam Campbell, ein weiteres Mitglied des Tauchteams, beugte sich in seinem Liegestuhl vor, hatte den Arm aber nach wie vor um seine Verlobte, Dr. Sabrina Fleming, gelegt. Sie war die Computerexpertin der Abteilung. „Und danke auch, dass du die Messlatte so hoch gesetzt hast. Leigh braucht nur mit dem Finger zu schnippen und einen Monat später genießen wir einen frisch gepflasterten Freisitz am See – sogar mit Feuerstelle. Wie soll ich da jemals mithalten können?“

„Als ob das ein Wettbewerb wäre!“ Sabrina lächelte Adam an. Die Professorin war schon viel lockerer geworden, seit sie mit den anderen befreundet war, aber öffentliche Liebesbekundungen waren nicht ihr Stil. Adam hingegen hatte damit keine Probleme. Er küsste sie auf die Schläfe und flüsterte ihr etwas ins Ohr, das ihr die Röte in die Wangen trieb.

Ryan drückte seiner jungen Ehefrau einen zärtlichen Kuss auf die Nasenspitze. Erst drei Monate war er mit der Krankenschwester Leigh verheiratet. „Ihr Wunsch ist mir eben Befehl – jederzeit.“

Von der anderen Seite der Feuerstelle war ein lautes Stöhnen zu vernehmen. Gabriel hielt sich die Ohren zu. „Aufhören. Bitte!“

Leigh zwinkerte Ryan kurz zu, bevor sie laut auflachte. „Sorry, Gabriel. Aber du tust so, als sei ich die Einzige, die das für eine gute Idee gehalten hat. Wohlgemerkt“, sie blickte in die Runde, „ihr wart alle damit einverstanden.“

„Natürlich.“ Gabriel stocherte in der nur noch leicht glühenden Kohle herum. „Zum Teil, weil es schwierig ist, dir zu widersprechen, aber vor allem natürlich, weil es ein fantastischer Vorschlag war.“ Er deutete mit dem Schürhaken auf die Pflastersteine, die in einem weiten Bogen am Ufer des Lake Porter entlang verlegt waren. „Wenn ich allerdings vorher gewusst hätte, wie schwer diese Dinger sind – und wie viele du davon verbauen wolltest –, hätte ich mein Hilfsangebot vielleicht doch zurückgezogen.“

Ryan hob seine Coladose in Gabriels Richtung. „Ohne dich hätte ich’s nicht geschafft. Du hast ganz entscheidend zum Erfolg dieser Unternehmung beigetragen.“

Gabriel schielte zu Ryan hinüber. „Ach ja? Sag mal, wieso schmierst du mir jetzt Honig ums Maul?“

„Kann ich nicht einfach nur Danke schön sagen? Ohne dass du mir gleich Hintergedanken unterstellst?“ Fast wäre Ryan damit durchgekommen, doch schließlich verriet ihn der Schalk in seinen Augen.

Gabriel wandte sich an Leigh. „Sag bloß, du hast schon wieder ein neues Projekt anvisiert.“

Leigh setzte eine unschuldige Miene auf. „Das war gar nicht meine Idee. Sabrina ist draufgekommen. Wir überlegen, ob wir nicht dort drüben einen Bereich überdachen sollten.“ Sie deutete zur linken Seite der gepflasterten Fläche hinüber.

„Und ein paar Schaukeln und Hängematten aufhängen. Dann könnten auch die Hellhäutigen unter uns bei Sonne raus an den See, ohne sich einen Sonnenbrand zu holen.“ Sabrina schenkte Gabriel ein süßes Lächeln.

„Und es wäre bei Gewitter praktisch“, kam Anissa ihren Freundinnen zur Hilfe.

Gabriel lehnte sich in seinem Stuhl zurück und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Ihr Frauen bringt mich noch ins Grab.“

Seine Bemerkung wurde mit allgemeinem Gelächter quittiert. Wenn sie nicht aufpassten, würde gleich noch ein Nachbar wegen Verstoßes gegen das Lärmschutzgesetz die Polizei rufen. Für einen Reporter wäre so etwas ein gefundenes Fressen.

Für eine gewisse Reporterin ganz besonders.

Paisley Wilson war bei Anissas letzten drei Fällen jedes Mal am Tatort aufgekreuzt. Sie sagte nie ein Wort, stellte nie eine Frage, blieb immer hinter der Absperrung. Aber sie war hartnäckig. Ganz zweifellos!

Die Frage war nicht, ob sie finden würde, wonach sie suchte, sondern wann.

„Lächeln, Bell.“ Gabriels leise Bemerkung drängte Anissas negative Gedanken zurück. Vermutlich hatte niemand anders sie überhaupt gehört – die beiden Paare waren unter sich murmelnd ins Gespräch vertieft. Dennoch zwang Anissa sich nun zu einem Lächeln.

„Falscher geht’s nicht!“ Gabriel schüttelte in gespielter Empörung den Kopf.

So abgedroschen, wie sein Spruch war – Gabriel entlockte ihr mit seinem übertriebenen Getue tatsächlich ein echtes Lächeln. Er nahm es wortlos zur Kenntnis, lächelte zurück – und sah sie wissend an –, bevor er Leigh weiter aufzog.

Gabriel Chavez. Jahrelang war er Anissa ein Dorn im Auge gewesen, in letzter Zeit aber bekam sie ihn nicht mehr aus dem Kopf. Seitdem er ihr vor ein paar Monaten über eine schwierige Zeit hinweggeholfen hatte, konnte sie ihn nicht mehr abschütteln. Damals hatte sie einen Mann töten müssen, um Sabrina das Leben zu retten. Anissa hatte nicht viele enge Freunde, und der Gedanke, dass Gabriel im Umkreis von zehntausend Kilometern vielleicht der Einzige war, der verstand, wie sie tickte, behagte ihr nicht.

Ihre gemeinsame Geschichte war … komplex. Sie hatte versucht, ihn auf Abstand zu halten, aber er tauchte immer wieder auf. Manchmal an Samstagen, wenn sie joggen ging. Oder an Dienstagabenden, wenn sie länger im Büro blieb, um Schreibarbeiten zu erledigen. Und auch wenn er normalerweise in der Gruppe gerne im Mittelpunkt stand – immer mit einem lockeren Spruch auf den Lippen –, so war er doch eher schweigsam, wenn er mit ihr zusammen war. In diesen Momenten war er einfach nur – da. Bei ihr. Präsent, ohne Fragen zu stellen. Verfügbar.

Man hätte fast meinen können, er würde nur zufällig immer am selben Abend länger arbeiten oder denselben Weg laufen.

Aber sie glaubte nicht an Zufälle.

Der Wind hatte aufgefrischt und eine Böe blies eine fast leere Chipstüte aufs Pflaster. Gabriel bückte sich danach, als ein Blitz den Himmel erhellte, gefolgt von einem langen Donnergrollen. „Wir machen wohl besser Schluss für heute.“ Adam stand auf und nahm Sabrina an der Hand. „Wir gehen morgen in den frühen Gottesdienst, damit wir nicht zu spät zu meiner Großmutter zum Mittagessen kommen. Die letzten beiden Male haben wir es verpasst.“

„Oooh“, bemerkte Leigh in gespielter Anteilnahme. „Gleich zweimal hintereinander! Ist euch das schon jemals passiert? Sieh zu, dass sie dich nicht enterbt.“

Der Familie Campbell gehörte halb Carrington und ihre regelmäßigen sonntäglichen Mittagessen waren berühmt-berüchtigt. Wer Campbell hieß und sich in der Stadt aufhielt, musste sich sehen lassen. Die einzigen Ausnahmen waren ansteckende Krankheiten – ärztlich bestätigt – oder berechtigte berufliche Erfordernisse.

„Nee.“ Adam lachte. „Ich bin auf der sicheren Seite. Großmutter verehrt Sabrina.“ Adams Großmutter liebte auch ihn, das war allgemein bekannt. Sie hatte nur eine eigene Art, es zu zeigen.

Vielleicht würde Gabriel gleich mit den anderen aufbrechen. Dann könnte Anissa Leigh fragen, ob sie bleiben dürfte, ohne dass er es mitbekäme.

„Bestimmt könntest du auch Anissa dazu überreden, dich zu einer Pflichtübung am See einzuteilen, wenn du dich davor drücken willst“, schlug Ryan Adam vor.

„Versuch’s gar nicht erst, Campbell.“ Anissa schnappte sich noch ein paar M&Ms. „Dein Großvater hat mich letzte Woche im Pancake Hut unverblümt gefragt, ob ich dich absichtlich vom Mittagessen abhalten würde. War wohl nicht so ernst gemeint. Aber von mir bekommst du trotzdem keine Unterstützung.“

„Diese Familienessen sind gar nicht so übel.“ Sabrina griff nach einer Schüssel mit Salsa auf dem kleinen Tisch. „Tante Margaret hatte das letzte Mal sogar ein Lächeln für mich übrig. Und Adams Eltern sind in der Stadt und kommen auch.“

Ryan klopfte Adam auf die Schulter. „Schaut morgen einfach vorbei, wenn ihr fertig seid. Dann nehmen wir Sabrina mit zur Tauchplattform und lassen sie üben.“

Sabrina und Adam hatten vor, ihre Flitterwochen in den Tropen zu verbringen, und Sabrina wollte lieber mit ihm tauchen gehen, als alleine am Strand zu liegen, solange er unter Wasser war. Allerdings machte ihr diese Vorstellung auch Angst, wie sie alle wussten. Deshalb waren sie für die ersten Versuche mit ihr in ein Schwimmbecken gegangen, wo sie alles sehen und den Boden berühren konnte. Es hatte einige Monate gedauert, bis sie sich getraut hatte, im See zu tauchen. Aber beim letzten Mal hatte sie sogar beinahe ein wenig Gefallen daran gefunden.

Sabrinas Vorsicht verblüffte Anissa. Sie selbst war quasi unter Wasser aufgewachsen. Vor der Küste der mikronesischen Insel Yap hatte sie von klein auf ohne Ausrüstung getaucht und fühlte sich unter Wasser mehr zu Hause als an Land.

„Und was ist mit mir? Ihr habt mich für morgen noch gar nicht eingeladen.“ Gabriel stieß einen übertriebenen Seufzer aus.

Ryan schnaubte. „Eingeladen oder nicht – du hast doch auch einen Schlüssel. Ich wundere mich sowieso darüber, wenn das Boot mal hier ist, statt dass es weg ist.“

Gabriel tat so, als würde er über Ryans Bemerkung nachdenken und zuckte dann mit den Schultern. „Da ist was dran.“

Während er sich versicherte, dass in der Feuerstelle keine Kohlen mehr glühten, trugen die anderen Chips, Kühlbox, Kekse und Tassen ins Haus.

Anissa blieb noch zurück. Sosehr sie diesen verrückten Haufen liebte, der ihr zu einer Art Familie geworden war – manchmal brauchte sie auch einige Momente für sich.

Ein weiterer Blitz erhellte den Nachthimmel. Das Gewitter zog schnell auf. Dann durchschnitt ein anderes Geräusch die Luft – das so gar nicht in die Natur zu passen schien.

Anissa ging in Deckung. War das –?

Sie wandte sich zu den anderen um. Gabriel war an ihrer Seite, geduckt, Pistole in der Hand.

Ryan hatte Leigh zu Boden gezogen, Adam Sabrina.

Anissa hatte sich nicht getäuscht …

Es fielen Schüsse!

„Vielleicht ein Besoffener … aus lauter Dummheit“, meinte Adam, aber er klang nicht überzeugt.

„Sollten wir etwas unternehmen?“ Sabrinas Stimme zitterte.

Anissa zog ihr Handy aus der Gesäßtasche ihrer Shorts. „Ich melde es. Fordere eine Streife an.“

Ein Schrei hallte vom Wasser herüber. Dann noch einer.

Dann ein einziges angsterfülltes Wort.

„Hilfe!“

Gabriel rannte zielstrebig zum Heck des Boots, das am Anlegesteg vertäut war. Sie waren ein eingespieltes Team. Anissa band es vorne am Bug los, während er am Heck zugange war. Mit einem Satz war Ryan im Boot und startete den Motor. Adam sprang hinterher.

Der Motor stotterte einen Moment, bevor er startete. Gabriel suchte Anissas Blick, als sie das Boot vom Steg schoben und selbst an Bord kletterten. Ryan steuerte es langsam rückwärts vom Steg weg. Unterdessen rief Adam Leigh und Sabrina Anweisungen zu. „Geht rein, ihr beiden. Bri, ruf mich an und bleib am Handy. Leigh, halt deine Notfallausrüstung bereit, für den Fall, dass wir dich brauchen.“ Die beiden Frauen liefen ins Haus. Ryan gab Gas.

„Gibt es hier einen Scheinwerfer?“, schrie Anissa über den Motor hinweg. Ryan deutet auf eine wasserfeste Box hinter dem Fahrersitz.

Anissa riss den Deckel hoch und reichte Gabriel die Leuchte. Sie stellte sich zu ihm an den Bug. Er wusste, dass sie im Wasser nach Lebenszeichen suchte.

Adam stand am Heck, Anissas Handy gegen ein Ohr gepresst, die andere Hand gegen das andere, und sprach mit der Leitstelle. Sie hatte es ihm wohl gegeben, als sie zum Boot gelaufen waren. „Officers Campbell, Bell, Chavez und Parker bei Notrufeinsatz Lake Porter. Schüsse gefallen. Eine Person, vermutlich weiblich, ruft um Hilfe. Wir sind auf der Nordseite des Sees am Porter Trail, aber wir fahren zur Südseite hinüber.“

Ryan nahm das Gas zurück und das Boot schaukelte auf dem Wasser.

Sie horchten.

Wasser plätscherte gegen die Seiten des Boots. Insekten summten, Donner grollte. Aber keine menschliche Stimme war in der Dunkelheit zu hören. Waren sie zu spät gekommen?

„Ich habe mir diese Stimme nicht eingebildet“, flüsterte Anissa.

Ein Aufspritzen.

Vielleicht eine Schildkröte oder ein Fisch, aber –

„Hilfe!“

Die Stimme war jetzt viel schwächer, aber auch viel näher.

„Sprechen Sie weiter!“, rief Anissa über das Wasser. „Wir sind vom Büro des Sheriffs. Wir können Ihnen helfen.“

„Bitte!“ Dieses Mal lag ein deutliches Gurgeln in der Stimme. „Ich glaube, ich kann ihn nicht mehr lange halten.“ Ein Mädchen. Vielleicht ein Teenager. Und sie war nicht allein. Wie war sie hier heraus auf den See gekommen?

Ryan steuerte das Boot vorsichtig in die Richtung, aus der sie die Stimme vernommen hatten. Aber Wasser übertrug Stimmen nicht zwangsläufig in gerader Linie. Ein dicker Regentropfen fiel auf Gabriels Arm. Dann noch einer. Auch das noch – der Sturm war da! „Siehst du was, Chavez?“, fragte Ryan.

Das Mädchen rief erneut. „Ich sehe das Licht! Beeilen Sie sich! Ich will nicht ertrinken!“

Sie waren nun nahe an die Stimme herangekommen und mussten vorsichtig sein, die beiden nicht zu überfahren. „Halt durch! Paddle mit den Beinen. Aber versuch nicht, zu uns zu schwimmen. Einfach paddeln.“ Anissa lehnte sich über die Reling und feuerte das Mädchen zum Durchhalten an, während Gabriel den Scheinwerfer über die Wasseroberfläche bewegte und –

Wieder durchschnitt ein Geräusch die Nacht.

Gabriel packte Anissa am Arm und zog sie mit sich, bis sie beide auf dem Boden knieten, die Arme auf den Sitzen abgestützt. Er sah sich um. Adam kauerte hinten im Boot, Ryan kniete hinter dem Steuerrad.

Schoss da jemand auf sie oder auf das Mädchen?

Oder nutzte jemand den Donner für Schießübungen? Um Mitternacht? Unwahrscheinlich.

„Ich glaube, die Schüsse kommen von der anderen Seite der Bucht. Wir sind hier eine leichte Beute.“ Ryan deutete zu der Uferseite hinüber, die Leighs Haus gegenüberlag. „Bleibt in Deckung. Er könnte nachladen.“

Anissa spähte über die Reling. Gabriel unterstützte sie mit dem Scheinwerfer. So unauffällig wie möglich suchten beide das Wasser ab.

„Dort!“ Gabriel hielt den Lichtstrahl auf die Stelle gerichtet, an der er für den Bruchteil einer Sekunde ein weißes Gesicht gesehen hatte. „Sie ist untergegangen. Ich denke, sie versucht gerade, jemand anders über Wasser zu halten.“

Ryan drehte das Boot in Richtung des Lichtstrahls. Anissa schlüpfte aus ihren Schuhen und zog Hose und Top aus, die sie über ihrem Badeanzug trug. Adam sandte weiter Informationen an die Leitstelle. Der Regen war stärker geworden und prasselte nun vom Himmel. Wenn sie sie nicht bald fanden …

Gabriel betete. „Ayúdanos por favor. Ayúdanos.“

„Amen“, flüsterte Anissa.

Er hatte gar nicht gemerkt, dass er die Worte laut ausgesprochen hatte. Oder zumindest hörbar.

Auf der anderen Uferseite fuhr ein Blitz in einen Baum und erleuchtete für einige kritische Sekunden den Nachthimmel. Anissa packte Gabriel am Arm und deutete aufs Wasser. Ein Kopf. Dann noch einer – sie waren ganz nah.

Anissa sprang.

Eigentlich hätte sie einen Rettungsring mitnehmen müssen, aber Gabriel verstand, warum sie darauf verzichtet hatte. Anissa konnte unglaublich gut schwimmen und würde das Mädchen ohne den Ring viel schneller erreichen. Und sie hatten keine Zeit zu verlieren.

Gabriel sah, wie der Kopf des Mädchens unter der Wasseroberfläche verschwand. „Geradeaus weiter, Anissa. Gleich bist du dort.“

Ryan steuerte das Boot noch näher heran.

„Ich kann ihn nicht mehr halten!“

Die Panik in der Stimme des Mädchens zerriss Gabriel schier das Herz. Was sollte er ihr sagen? Dass sie den Jungen loslassen sollte? Und wenn er noch am Leben wäre und sie ihn retten könnten? Aber sie durfte beim Versuch, ihn oben zu halten, nicht selbst ertrinken.

Adam war mit dem Rettungsring nach vorne gekommen.

„Tauschen wir.“ Gabriel nahm den Ring und reichte Adam den Scheinwerfer. Dann sprang er Anissa hinterher.

Sie mussten diese Teenager aus dem Wasser bekommen. Und dann schleunigst zusammen vom See verschwinden!

„Ich hab dich.“ Anissa griff nach dem Mädchen.

„Nicht mich! Jeremy! Nehmen Sie ihn. Ich kann schwimmen.“

Anissa widersprach nicht. „Okay. Ich hab ihn.“

Gabriel schwamm mit dem Ring an ihre Seite. „Gib ihn ihr“, sagte Anissa. „Ich kann den Jungen alleine ziehen.“ Gabriel unterdrückte sein Verlangen, bei Anissa zu bleiben. Der Junge lag schlaff in ihren Armen, aber sie kam allein zurecht.

Wieder ein Krachen – diesmal kein Donner. Sie mussten raus aus dem Wasser. Sofort!

Ryan steuerte das Boot im Leerlauf an ihre Seite und Adam ließ die Leiter herunter. „Weiter. Hierher.“ Gabriel blieb bei dem Mädchen, das auf die Leiter zuschwamm – sie war wohl höchstens sechzehn. Den Rettungsring brauchte sie tatsächlich nicht, sie konnte schwimmen – ziemlich gut sogar. Jetzt griff sie nach der Leiter, hielt aber kurz inne, bevor sie aus dem Wasser stieg. „Hat sie ihn?“, fragte sie mit klappernden Zähnen.

„Ja“, entgegnete Gabriel, ohne überhaupt nur zu schauen. „Sie bringt ihn ins Boot. Komm schnell rein, dann kann ich ihr bei deinem Freund helfen. Wie heißt du?“

„Brooke.“ Schlotternd am ganzen Körper schleppte sie sich die Leiter hoch. Gabriel blieb hinter ihr. So wie sie zitterte, konnte sie jeden Moment den Halt verlieren und zurück ins Wasser fallen. „Brooke Ashcroft.“

Ashcroft? Sie war doch nicht am Ende verwandt mit …? Gabriel verwarf den Gedanken sofort wieder. Es spielte keine Rolle.

Adam griff nach Brookes Hand und half ihr ins Boot, Ryan legte ihr ein Handtuch um die Schultern. Der Regen würde es zwar bald durchweichen, aber vielleicht konnte es sie trotzdem ein wenig wärmen.

Niemand fragte, warum ihr Badeanzug voller Blut war.

Gabriel hörte, wie Adam Brooke vorne im Boot auf den Boden setzte. Anissa hatte jetzt mit dem Jungen die Leiter erreicht, schien aber nicht außer Atem zu sein. Vermutlich war sie es auch gar nicht. Manchmal dachte er, dass sie wohl ein paar Fischgene in sich tragen musste. Zweifelsohne steckte sie sie in puncto Ausdauer alle in die Tasche.

Adam und Ryan kamen ihnen zur Hilfe und zu viert hievten sie den jungen Mann hinten ins Boot. Als er an Bord war, kletterten Anissa und Gabriel die Leiter hoch. Adam und Ryan legten den Jungen zwischen die Sitze auf den Boden. Gabriel kniete sich über Jeremy. Kein Puls. Keine Atmung. Er wischte dem Jungen den Mund ab und öffnete seinen Kiefer, damit das Wasser aus seiner Kehle ablaufen konnte.

Adam zog die Leiter aus dem Wasser und Ryan warf den Motor an.

Gabriel blies Jeremy zweimal in den Mund.

Keine Reaktion.

Dann begann er mit einer Herzdruckmassage.

Eins … zwei … drei … vier …

„Soll ich an Leighs Steg anlegen?“, rief Ryan.

Adam schüttelte den Kopf. „Nein. An der Rampe, wo der Porter Trail endet. Der Rettungswagen muss jeden Moment da sein.“

Anissa legte ihre Arme um Brooke. Das arme Ding zitterte so stark, dass es aussah, als hielte Anissa eine heftig vibrierende Waschmaschine fest.

Adam kam Gabriel zu Hilfe.

„Er hat auf Jeremy geschossen“, schrie Brooke so laut, dass ihre Stimme das Dröhnen des Motors übertönte. „Warum schießt jemand auf Jeremy?“

Die Kugel war oben links in Jeremys Brustkorb eingedrungen. Aber im Moment konnte Gabriel nicht darüber nachdenken.

„Brooke“, rief Anissa gegen den Sturm und das Motorengeräusch an. „Hattet ihr was getrunken? Oder Drogen genommen? Irgendwas in der Richtung? Wir müssen das wissen, damit wir Jeremy helfen können.“

„Nein! Nichts! So was machen wir nicht. Wir sind nur um die Wette geschwommen. Wollten sehen, wer es am schnellsten auf die andere Seite schafft.“

Siebenundzwanzig … achtundzwanzig … neunundzwanzig … dreißig.

Wieder spendete Adam dem Jungen zwei Atemzüge.

Gabriel setzte die Druckmassage fort, dann beatmete Adam wieder.

Das Boot bremste ab. Rufe und Lichter drangen in Gabriels Bewusstsein, aber er ließ sich nicht ablenken. Wenn die Chance, diesen Jungen zu retten, auch noch so gering war – versuchen würde er es auf jeden Fall!

Er schaute ihm nicht ins Gesicht, sondern konzentrierte sich nur auf das, was er tun konnte. Mit ausgestreckten Armen. In gleichmäßigem Rhythmus.

Neun … zehn … elf … zwölf …

Das Boot stieß gegen den Anlegesteg.

Sanitäter sprangen an Bord und Anissa erklärte ihnen die Situation.

Gabriel machte weiter.

Zweiundzwanzig … dreiundzwanzig … vierundzwanzig …

2

Niedergeschlagen traten sie in die Notaufnahme des Carrington Memorial Hospital ein. Anissa nickte als Letzte ihres Teams Bill, dem Sicherheitsbediensteten, im Vorbeigehen zu.

Er nickte mit betrübtem Blick zurück und streckte die Hand nach ihr aus. „Alles okay, Ma’am?“

Anissa zuckte nur mit den Schultern.

Nein, nichts war okay. Sie hatte heute Nacht einen toten Jungen aus dem See gezogen und zugesehen, wie Gabriel versucht hatte, ihm wieder Leben einzuhauchen – auch wenn er gewusst haben musste, dass bei Jeremy jede Hilfe zu spät kam.

Die für den See zuständige Polizeistreife war am Bootssteg des Porter Trail zu ihnen gestoßen. Als dann die Sanitäter mit Brooke und Jeremy weggefahren waren, hatten die Mitglieder des Tauchteams die Polizisten mit zurück an den Tatort genommen. Aber natürlich hatten sie nichts ausrichten können bei dem Gewitter mitten in der Nacht.

Oder irgendwann sonst.

Niemand konnte Jeremy zurückholen. Momentan hing er noch an der Herz-Lungen-Maschine, aber es war nur eine Frage der Zeit, dass er für tot erklärt wurde. Die Familie wartete gerade auf die Ankunft seiner Schwester aus Georgia. Sie sollte Gelegenheit bekommen, von ihrem Bruder Abschied zu nehmen, bevor die Ärzte die Maschinen abschalteten.

Das Mädchen – Brooke – hätte nach einer Untersuchung in der Notaufnahme eigentlich heimgehen dürfen, hatte sich aber kategorisch geweigert, das Krankenhaus zu verlassen. Als die Littlefields eintrafen, hatten sie ihr erlaubt, sich von Jeremy zu verabschieden. Jetzt wartete Brooke in dem Zimmer, das der Familie für diesen schwierigen Augenblick zur Verfügung gestellt worden war.

Das arme Mädchen würde viel Unterstützung brauchen, mit dem Tod ihres Freundes fertigzuwerden. Bestimmt fühlte sich Brooke für den Vorfall verantwortlich und machte sich schlimme Vorwürfe wegen eines dummen Fehlers, dessen Konsequenzen bis an ihr Lebensende auf ihr lasten würden. Jeden Tag würde sie sich wünschen, an seiner Stelle gestorben zu sein.

Anissa spekulierte hier nicht, sie wusste es. Denn sie hatte es selbst erlebt!

Sie holte ein paarmal kurz Luft und blinzelte die Tränen weg, die ihr in die Augen traten. Nur nicht zusammenbrechen. Nicht jetzt.

Sie war Kriminalbeamtin, sie musste professionell auftreten!

Aber das würde ihr im Büro des Sheriffs wesentlich leichter fallen als hier.

„Geht’s, Bell?“

Anissa hörte Ryans besorgte Bemerkung. Ihm machte die Krankenhausatmosphäre nichts aus. Seit seiner Hochzeit mit Leigh, die in der Notaufnahme arbeitete, war das Krankenhaus praktisch sein zweites Zuhause geworden.

Er ging hinter Gabriel und Adam her, verlangsamte aber nun seinen Schritt. Ohne in Anissas Richtung zu schauen, sprach er leise und beiläufig mit ihr. Sicher, damit keiner mitbekam, dass sie hinter den anderen zurückblieb. Es war allgemein bekannt, dass Anissa Krankenhäuser verabscheute, aber die Art, wie Ryan sie gefragt hatte, ließ noch mehr vermuten. „Hat Leigh es dir erzählt?“

„Ernsthaft? Leigh würde niemals was ausplaudern, was du ihr im Vertrauen gesagt hast. Außerdem meint sie, solche Dinge gingen mich sowieso nichts an. Aber sie hat mir eben geschrieben: Ich soll dafür sorgen, dass du nicht umkippst.“

Großartig! Sie würde Leigh erwürgen.

Ryan blickte sie an und zwinkerte.

Anissa begriff und boxte ihm gegen die Schulter. „Nimmst du mich etwa auf den Arm? Ausgerechnet jetzt?“

„Ich versuch nur, etwas die Spannung rauszunehmen.“

„Mach nur so weiter, Parker. Dann lass ich dich mit Stu tauchen gehen.“ Kelly Stuart gehörte erst seit Kurzem dem Tauchteam an. Sie war … eifrig.

Ryan schüttelte sich. „Sorry, Boss.“ Sein Schmunzeln schwand. „Du schaffst das schon!“

Er legte wieder einen Schritt zu, holte Adam ein und ließ sie allein zurück.

Anissa betrachtete die Fliesen und nahm nichts von dem wahr, was um sie herum passierte. Sie gingen durch unzählige Flure, manchmal allein, dann mussten sie wieder Grüppchen von Krankenschwestern und Ärzten Platz machen.

Anissa wusste, dass Ryan ihre Ängstlichkeit einer tiefsitzenden Abneigung gegen Krankenhäuser zuschrieb. Kein Wunder – war sie doch in einer Kultur aufgewachsen, in der die Leute nicht in der Hoffnung auf Heilung, sondern lediglich zum Sterben ins Krankenhaus gingen. Und schließlich fiel es keinem ihrer Kollegen leicht, nach Brooke Ashcroft zu sehen und mit der Familie von Jeremy Littlefield zu sprechen.

Niemand begegnete gerne trauernden Eltern. Die Littlefields waren verreist gewesen und hatten erst vor ein paar Stunden das Krankenhaus erreicht. Jeremys Vater, George Littlefield, hatte als Achtzehnjähriger mit dem Sheriff in einer Mannschaft Basketball gespielt. Deshalb hatte der Sheriff das Tauchteam gebeten, den Littlefields zur Verfügung zu stehen.

Anissa verstand das. Dies war nicht ihre erste Erfahrung mit verzweifelten Eltern.

Doch anders als heute war damals sie die überlebende Freundin gewesen.

Das Bild ihrer schon vier Tage toten Freundin drängte sich ihr in den Sinn. Unwillkürlich fing sie an, von den Schultern bis zu den Knien zu zittern.

Da spürte sie eine starke Hand auf ihrem Ellbogen.

Anissa brauchte nicht aufzusehen. Sie wusste, dass es Gabriel war. Wann war er von der Spitze der Gruppe nach hinten gekommen? Warum ausgerechnet in dem Moment, in dem ihr Körper verriet, in welchem Zustand sie war? Und warum hatte sie wieder dieses seltsame Gefühl in der Magengrube, das immer dann über sie kam, wenn er in ihre Nähe kam?

Während sie nach Antworten suchte, war sie doch dankbar für die Geste und die nächsten Atemzüge fielen ihr etwas leichter.

Dieselbe Hand hatte ihr am selben Ort letzten Winter über die ersten Tage nach der Schießerei hinweggeholfen. Aber es war nun schon eine ganze Weile her, dass diese Hand sie das letzte Mal berührt hatte, außer beruflich bedingt beim Tauchen.

Am Valentinstag. Das war das letzte Mal gewesen. Sie hatten beide lange gearbeitet, während andere in Erwartung romantischer Stunden mit ihren Partnern früher Feierabend gemacht hatten. Als sie weit nach neun zu ihren Autos gegangen waren, hatte er ihren Arm gedrückt, genau wie jetzt, mit den Worten: „Vielleicht gehen wir ja nächstes Jahr auch früher.“

Beide hatten über diese absurde Vorstellung gelacht.

Anissa verschwendete keinen Gedanken an die Frage, warum sie sich überhaupt daran erinnerte. Es spielte keine Rolle, ob er sie berührte.

Oder nicht berührte.

„Kannst du mir einen Gefallen tun?“ Gabriels Frage lenkte ihren Blick auf sein Gesicht. Seine Augen waren starr nach vorne gerichtet, seine Lippen zu einer Linie zusammengepresst.

Diese Miene war höchst untypisch für ihn. „Was ist denn los?“

„Nichts. Aber es kann sein, dass ich mich aus dem Fall zurückziehen muss, und dann muss ich wissen, ob du ihn übernehmen würdest.“

„Warum willst du denn diesen Fall nicht?“

Für einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke. „Ich habe nicht gesagt, dass ich ihn nicht will. Nur … vielleicht habe ich gar keine Wahl. Ich will ihn dir aber auch nicht aufdrängen, wenn du ihn nicht möchtest.“

Anissa konnte sich keinen Reim darauf machen, aber Gabriels angespannte Stimme und seine aufeinandergepressten Zähne gaben ihr zu denken. Gabriel machte gewöhnlich über alles Witze, doch über die Jahre hatte sie gelernt aufzuhorchen, wenn er mal etwas ernst zu meinen schien.

Und seine Worte von gerade waren ganz eindeutig kein Witz.

Wollte sie diesen Fall?

Ganz ehrlich? Nein.

Würde sie ihn trotzdem übernehmen? Ja.

Aber nur, wenn es nicht anders ging.

„Ich wäre eh als Nächstes dran. Also ja, ich würde ihn übernehmen. Aber trotzdem glaube ich, dass du der beste Mann dafür bist.“ Über die Gründe für diese Überzeugung wollte sie im Moment nicht mehr sagen.

Gabriel zog eine Augenbraue hoch. „Das wird sich noch zeigen.“

Sie traten in den privaten Warteraum ein. Ein hochgewachsener Mann, grau an den Schläfen, in Trainingshose und T-Shirt, erhob sich, um sie zu begrüßen. „George Littlefield.“ Er reichte ihnen beiden die Hand. Als Anissa sie nahm, konnte er die Tränen, die er versucht hatte wegzublinzeln, nicht mehr zurückhalten. „Danke“ – er holte gequält Luft –, „dass Sie meinen Jungen nicht auf den Grund haben sinken lassen.“

Heftiges Schluchzen schüttelte seinen Körper und Anissa tat das einzig Mögliche: Sie legte ihren Arm um ihn. Wie ein Ertrinkender klammerte er sich an ihr fest.

Anissa wusste nicht, wie lange sie so dagestanden hatten. Irgendwann trat Mr Littlefield einen Schritt zurück. „Danke“, sagte er noch einmal. „Wenn Sie einen Moment warten würden – meine Frau möchte auch noch mit Ihnen sprechen“, entschuldigte er sich und deutete zur Tür. Er sah so verloren aus. So gebrochen. „Sie kann sich nicht von Jeremy trennen.“

Er rieb sich mit der Hand übers Gesicht und verließ den Raum.

Als sich die Tür hinter ihm schloss, sah Anissa sich um. Ein viel älteres Ehepaar, vermutlich die Großeltern, sprach ganz leise mit einem jüngeren Mann. Vielleicht war er ihr Pastor. Ansonsten war nur noch Brooke Ashcroft im Raum. Sie starrte ins Leere, zusammengekauert auf einem Stuhl.

Früher als Anissa erwartet hatte, ging die Tür auf und sie machte sich auf den unausweichlichen Gefühlsausbruch von Jeremys Mutter gefasst. Aber es war gar nicht sie, die hereinkam.

Es war Paisley Wilson, besser bekannt als „Hier spricht Paisley Wilson live von Sky9“.

Was machte sie hier? Eine neugierige Reporterin war wohl das Letzte, was die Familien jetzt brauchten.

Paisley schaute sich gar nicht um, sondern ging zielstrebig zu Brooke hinüber und setzte sich an ihre Seite. „War das schnell genug?“ Ihre Worte waren sanft und voller Mitgefühl und Brooke lehnte sich vertrauensvoll an ihre Schulter. Sie mussten sich schon sehr lange gut kennen.

Paisley legte ihre Arme um sie und küsste sie aufs Haar. Erst jetzt sah sie sich im Raum um. Als sie Anissas Blick begegnete, überschattete ein unangenehm überraschter Ausdruck ihr Gesicht.

Dann riss sie plötzlich die Augen weit auf und wurde kreidebleich. Sie schluckte mehrmals schwer.

Anissa wandte sich um. Was hatte in einer normalerweise so unerschütterlichen Reporterin eine solche Reaktion ausgelöst?

Paisley Wilsons Augen waren starr auf Gabriel gerichtet.

Paisley Ashcroft Wilson.

Die Ähnlichkeit zwischen ihr und ihrer jüngeren Schwester stach nicht unbedingt sofort ins Auge, war aber jetzt, wo sie nebeneinandersaßen, unverkennbar.

Gabriel weigerte sich, als Erster den Augenkontakt abzubrechen.

Er hatte nichts Unrechtes getan. Aber er hatte für ihre Fehler bezahlt.

Ihretwegen wäre er beinahe umgebracht worden.

Ihre Gier nach einer großen Story hatte für einen jungen Mann, der mit dem Bandenleben brechen wollte, tödlich geendet. Und sie hatte Gabriel so gründlich auffliegen lassen, dass er nie mehr als verdeckter Ermittler arbeiten konnte – zumindest nicht in Carrington.

Und Paisley wusste das. Es stand zwischen ihnen im Raum. Es lag in ihrem stoßweisen Atem, in ihrem Gesicht, aus dem für einen Moment jede Farbe gewichen war, sodass Gabriel für den Bruchteil einer Sekunde Bedenken gehabt hatte, sie könnte in Ohnmacht fallen. Aber nun glühte ihr Gesicht, als wollte sie gleich Lava spucken.

Sie blinzelte ein paarmal, dann senkte sie den Blick auf die braunen Teppichfliesen.

Er aber starrte unverwandt auf ihren Kopf und forderte sie geradezu heraus, wieder aufzusehen, bis Anissas Gesicht in seinem Sichtfeld auftauchte. Ihre Wangen waren noch feucht von den Tränen, die sie mit Mr Littlefield vergossen hatte. Ihre braunen Augen signalisierten ihm tiefes Verständnis.

Sie bewegte leicht den Kopf. Ein kurzes Nicken von ihr – mehr brauchte er nicht, um zu wissen, dass sie den Fall für ihn übernehmen würde, wenn es darauf ankam.

Nicht, dass er die Absicht hätte, ihn zu übergeben.

Aber er traute dieser widerwärtigen Reporterin alles zu. Es würde ihn nicht wundern, wenn Paisley ihn bei den Littlefields schlecht machte, noch bevor ihr Sohn offiziell für tot erklärt worden war; wenn sie das Denken der Eltern vergiftete oder Zweifel bei ihnen weckte, ob er den Mörder ihres Sohnes finden könnte.

Und wenn sie mit der Familie fertig wäre, würde sie es wahrscheinlich groß in den Lokalnachrichten herausbringen. Lückenlos mit einem unscharfen Foto von Gabriel – vermutlich aus seiner Zeit als verdeckter Ermittler –, das geeignet wäre, seinen Ruf gänzlich zu ruinieren.

Paisley Wilson war den Gesetzeshütern in Carrington nicht wohlgesonnen.

Und das beruhte auf Gegenseitigkeit.

Wieder ging die Tür auf. Das musste Mrs Littlefield sein. Ihr Gesicht war von Schmerz gezeichnet und in jeder Hand hielt sie ein Taschentuch. Sie kam direkt auf Anissa zu und drückte sie an sich. „Danke.“ Tränen hatte sie keine mehr. Vermutlich hatte sie sie schon alle vergossen.

Ihr Blick schweifte zu Gabriel, dann zu Adam und Ryan. „Danke Ihnen allen.“ Mit einem trockenen Schluchzen drehte sie sich um und ging wieder zur Tür.

Ryan atmete hörbar aus – sichtlich um Beherrschung bemüht. Adam presste seine Lippen aufeinander, seine Nasenflügel zitterten vor Wut. Anissa wandte sich um. Diesmal lag etwas anderes in ihren Augen – Panik!

Sie rannte an Gabriel vorbei zur gleichen Tür hinaus, durch die sie gekommen waren. Ryan und Adam schienen ihr Verhalten genauso wenig einordnen zu können wie er. Schon die ganze Zeit, seit sie Brooke und Jeremy aus dem See gezogen hatten, verhielt sich Anissa seltsam. Natürlich hatte das Geschehen sie alle sehr mitgenommen, aber bei Anissa war es anders.

Als habe es mit ihr persönlich zu tun.

Fetzen aus vergangenen Gesprächen kamen ihm in den Sinn. Bemerkungen über dumme Fehler. Scheinbar belanglose Worte, die nun eine ganz neue Bedeutung bekamen.

Anissa hatte Geheimnisse. Irgendetwas aus ihrer Vergangenheit verfolgte sie. Gabriel wusste zwar nicht, was es war, aber er hatte das Gefühl, er würde es sehr bald herausfinden.

„Ich schau mal nach ihr.“ Er gab Adam oder Ryan gar keine Gelegenheit, etwas dazu zu sagen. Durch die gleiche Tür wie Anissa verließ er den Raum. Draußen auf dem Flur blickte er nach links und rechts, aber sie war nirgends zu sehen. Wo war sie nur hingegangen? Von der Decke hängende Schilder wiesen in verschiedene Abteilungen des Krankenhauses.

Der Wegweiser zu den Aufzügen zeigte nach links. Der zur Kapelle nach rechts.

Er entschied sich für rechts.

Der Übergang vom neueren Trakt des Carrington Hospital hinüber in den beinahe fünfzigjährigen Altbau war deutlich an seinen Fliesen und Wänden zu erkennen, die anfangs noch blitzten und blinkten und dann deutlich abgenutzt aussahen. Gabriel beeilte sich nicht. Er versuchte nicht, Anissa einzuholen. Doch was tat er dann hier? Machte er sich Sorgen um sie? Warum? Sie konnte schließlich selbst auf sich aufpassen.

Aber … er wollte nicht, dass sie diese Sache – was immer es auch war – alleine tragen musste.

Nachdem er fünf Minuten lang kreuz und quer den Wegweisern gefolgt war, fiel sein Blick auf eine Buntglasscheibe neben einer verzierten Holztür.

Er öffnete sie leise und spähte hinein.

Anissa kniete vor einem Kreuz, so vornübergebeugt, dass ihr Kopf beinahe den Boden berührte. Ihre Schultern zitterten. Ihr Haar war ihr vors Gesicht gefallen, aber Gabriel war sich sicher, dass ihre Tränen die Holzdielen unter ihr benetzten.

Er wich einen Schritt zurück.

Sollte er hineingehen? Wäre es ihr nicht unangenehm zu wissen, dass er sie in diesem Zustand gesehen hatte?

Anissa hielt mit ihrem Glauben nicht hinter dem Berg. Sie war in einer Missionarsfamilie aufgewachsen und ihr Glaube war schon immer ein sichtbarer Teil ihrer Persönlichkeit gewesen. Aber es war eine Sache, frei darüber zu sprechen, dass Jesus Leben veränderte, und eine ganz andere Sache, bei einem verzweifelten Gebet unter Tränen gesehen zu werden!

Er wartete vor der Kapelle. Herr, soll ich hineingehen? Oder soll ich hier auf sie warten? Oder etwa weggehen und so tun, als hätte ich sie nicht gesehen?

Sein Verhältnis zu Anissa stand auf wackligen Füßen. Gabriel schweifte in Gedanken sieben Jahre zurück zu dem Tag, an dem er sie bei einem Tauchgang kennengelernt hatte. Zu der Zeit war er so oft als verdeckter Ermittler tätig gewesen, dass er fast nie dazu gekommen war, an Tauchübungen oder gar am Bereitschaftsdienst teilzunehmen. Aber er hatte trotzdem die ein, zwei Male im Jahr genossen, die er es geschafft hatte, einen Tauchgang unterzubringen, und der damalige Mannschaftsführer des Tauchteams war damit auch einverstanden gewesen.

An dem besagten Tag hatte Gabriel es kaum erwarten können, bei der letzten Übung vor Feierabend dabei zu sein. Ein neues Gesicht war als seine Tauchpartnerin eingeteilt gewesen – Anissa. Ihre Geschicklichkeit beeindruckte ihn schwer.

Sie hingegen war von seinen Tauchkünsten gar nicht beeindruckt.

Es kümmerte sie nicht, wie gut er selbst sein Können einschätzte. Ihre Meinung stand fest: Wer es nicht schaffte, regelmäßig beim Training zu erscheinen, hatte im Tauchteam nichts verloren. Immer wieder stritten sie sich in den folgenden Jahren über diesen Punkt. Wie ernst es ihr damit tatsächlich war, erkannte er aber erst, als der damalige Mannschaftsführer in den Ruhestand ging und Anissa seinen Posten übernahm.

Ihre erste Amtshandlung war, Gabriel aus dem Team zu werfen. Er sagte daraufhin einige wenig schmeichelhafte Dinge über sie, teils hinter ihrem Rücken, manchmal ihr aber auch unverblümt ins Gesicht. Ihre Gründe mochten durchaus stichhaltig gewesen sein, wenn er ihre Prinzipien auch etwas hart fand. Was Gabriel daran aber eigentlich wurmte: Sie hatte ihm damit seinen einzigen Ausgleich zum normalen Arbeitsleben genommen, an dem er in dieser Zeit noch festgehalten hatte – einer Zeit, in der ihn das Undercover-Leben immer tiefer in den Sumpf dunkler Machenschaften zog.

Er und Anissa redeten damals über lange Zeit nicht mehr miteinander – mit Ausnahme der Nacht, als sie mit ihm zusammen undercover ging –, bis niemand anderes als Paisley Wilson ihn auffliegen ließ. Der Captain versetzte Gabriel daraufhin in die Mordkommission und schlug Anissa vor, Gabriel wieder ins Tauchteam aufzunehmen.

Damit stieß er bei ihr allerdings auf wenig Verständnis.

Gabriel verdankte es Ryans ausgleichendem Wesen, dass er seinen Streit mit Anissa im Laufe der Zeit beilegen konnte, aber die ersten Wochen und Monate waren, nun ja … herausfordernd gewesen.

Im unausgesprochenen gegenseitigen Einvernehmen sprachen sie nie mehr von jener Nacht. Von jenem Kuss. Es war, als habe es ihn nicht gegeben.

Und die Seite von Anissa, die in der besagten Nacht mit ihm gelacht, geflirtet und ihn angelächelt hatte, als sei er der einzige Mann auf der Welt? Es gab sie nicht mehr. Kaum zurück im richtigen Leben, war Anissa für seinen Charme wieder völlig unempfänglich. Seine gutmütigen Sticheleien, mit denen er sogar schon Bandenmitglieder entwaffnet hatte, prallten an ihr ab wie an einem unsichtbaren Panzer.

Aber dann fanden Ryan und er diese Leiche im See vor Leighs Haustür.

Und Leigh kam beinahe um.

Damals hatte Gabriel zum ersten Mal das Gefühl, dass Anissa und er nun tatsächlich Teamkollegen waren. Sie warf ihm von da an keine wütenden Blicke mehr zu. Manchmal konnte er ihr mit seinen Witzen sogar ein Lächeln entlocken.

Als sich dann letzten Herbst sein Freund Brady St. John an ihn wandte, um das Tauchteam um einen Gefallen zu bitten, stellte Anissa Gabriel nur zwei Fragen: „Ist er ein Freund von dir? Traust du ihm?“

Auf sein zweimaliges Ja hätte Gabriel eigentlich eine schlagfertige Antwort erwartet, wie: „Warum soll ich ihm dann trauen?“ Aber nein, sie fragte ihn einfach: „Was brauchst du denn?“

In der folgenden Nacht retteten sie ein Menschenleben und als sie vorüber war, hatte sich in ihrem Verhältnis etwas verändert. Anissa hatte ihm vertraut. Dieser eine Einsatz hatte ihrer jahrelangen Feindschaft und Enttäuschung etwas entgegengesetzt.

Ein paar Wochen später musste sie ein Leben auslöschen, um Sabrina zu retten.

Anissa hatte noch nie zuvor einen Menschen getötet.

Gabriel schon.

Plötzlich war er der Einzige in ihrem kleinen Kreis, der das, was sie durchmachte, selbst schon erlebt hatte: das Hochschrecken aus dem Schlaf mitten in der Nacht, verfolgt von quälenden Gedanken. Das Zerrissensein von Selbstvorwürfen über einer Tat, zu der es doch keine Alternative gegeben hatte. Die Schuldgefühle. Die Selbstzweifel.

Jetzt, nach sieben Monaten, schätzte er ihre Freundschaft immerhin als eng genug ein, um ihr auf dem langen Weg zur Kapelle zu folgen. Aber stand er ihr auch so nah, zu ihr hineinzugehen?

3

Anissa hatte keine Tränen mehr. Keine Worte.

Die Stirn in die Hände gestützt, ließ sie sich von ihrem himmlischen Vater trösten.

Die Tür hinter ihr öffnete sich und ein Flüstern durchbrach die Stille in dem kleinen Raum. Zögernde Schritte näherten sich.

Sie schämte sich nicht, so angetroffen zu werden: kniend vor dem Kreuz. Gebrochen.

Aber sie wappnete sich für die unausweichlichen Fragen. Wer immer den Mut besessen hatte, ihr in diesem Moment beizustehen, würde nicht die Frage scheuen, was mit ihr los sei.

Aber derjenige sagte nichts, sondern kniete sich nur neben sie.

Gabriel.

Ohne aufzusehen, wusste sie, dass er es war. Er verströmte einen männlichen Duft. Sauber. Nach frischer Luft. Sie wusste bis heute nicht, ob er von seiner Seife, seinem Shampoo oder seinem Waschmittel herrührte. Vielleicht war es auch eine Mischung aus allen dreien, die ihm seine unverwechselbare Note gab.

Er war ihr so nah, dass seine Schulter ihre streifte, sagte aber kein Wort. Als sie ihn von der Seite ansah, waren seine Augen geschlossen, sein Kopf gebeugt.

Betete er für sie?

Dieser Gedanke löste Gefühle in ihr aus, denen sie gar nicht nachgehen wollte. Nicht jetzt. Und auch sonst eigentlich nicht.

Anissa setzte sich auf die Fersen. „Es geht schon wieder, Gabriel“, sagte sie in heiserem Flüsterton. Sie räusperte sich. „Wirklich.“

Er öffnete die Augen und neigte den Kopf in ihre Richtung. „Das glaub ich dir nicht, Bell.“

Warum musste ausgerechnet Gabriel sie durchschauen können? Wobei man wirklich keinen Doktortitel in Psychologie brauchte, um ihre Überreaktion einem tiefersitzenden Problem zuzuschreiben.

Sie blickte zum Kreuz auf. Ein Symbol für das, was Jesus getan hatte. Ein sichtbares Zeichen dafür, dass niemand sie verdammen durfte. Denn sie glaubte, dass er ihr durch sein Opfer ihre Schuld vergeben hatte.

Auch wenn sie sich selbst für das, was sie getan hatte, verdammte – Gott tat es nicht.

Aber wie war es mit Gabriel?

„Du brauchst es mir nicht zu erzählen, Anissa. Aber ich hör dir zu, wenn du reden willst.“

Sein Telefon klingelte. Mit einem Stöhnen zog er es aus der Tasche.

„Später?“ Anissa konnte nicht so tun, als bedauerte sie es, in diesem Moment nicht die blutigen Einzelheiten ausgraben zu müssen. Aber sie wusste, dass er irgendwann sowieso die Wahrheit herausfinden würde. Wie sie ihn kannte, würde er der Sache nachgehen. Die Presse war damals schonungslos mit ihr ins Gericht gegangen. Wenn er schon meinte, allen Grund zu haben, die Presse zu hassen …

Gabriel stand auf und streckte ihr beide Hände entgegen. Sie nahm sie und ließ sich auf die Füße helfen. Ihre Beine waren ganz steif, sodass sie das Gleichgewicht verlor. Als sie auf ihn zustolperte, legte er seine Arme um sie und stützte sie. Für einen kurzen Moment lehnte sie sich an seine Brust, bevor sie beide gleichzeitig einen Schritt zurücktraten.

Er zeigte mit seinem Handy zwischen ihnen hin und her. „Ryan sagt, wir werden im Familienraum gebraucht.“ Er reichte ihr ein Taschentuch aus einer kleinen Schachtel, die hinter ihnen auf der Kirchenbank stand. „Bist du so weit?“

Er wartete, bis sie sich zum Gehen umwandte, kam ihr dann aber zuvor, um ihr die Tür aufzuhalten. Der Geruch von Desinfektionsmittel in der Luft und die allgegenwärtigen Pieptöne der Maschinen im Krankenhaus griffen ihre Sinne an, als sie wieder hinaus auf den Flur traten. Sie hoffte nur, dass sie sich im Familienraum nicht mehr lange aufzuhalten brauchten, was auch immer sie dort erwartete. Sie musste einfach weg von diesem Ort.

„Ich weiß, dass du Paisley Wilson erkannt hast.“ Gabriel sprach den Namen aus, als müsste er Gift nehmen.

„Ja. Du wusstest gestern Nacht, als sie ihren Namen gesagt hat, dass Brooke ihre kleine Schwester ist, oder?“

„Ja.“

Anissa konnte gar nicht glauben, dass sie Gabriel Chavez je für einen selbstsüchtigen, verwöhnten Typen gehalten hatte, der auf Biegen und Brechen seinen Willen durchzusetzen versuchte. Brooke konnte zwar nichts dafür, dass ihre Schwester dem Büro des Sheriffs und Gabriel ganz persönlich ein Dorn im Auge war. Aber Gabriel war auch so nicht nur nett, sondern richtig mitfühlend zu ihr gewesen. Er hatte sie so behandelt, wie er es sich für seine eigene Schwester wünschen würde, obwohl er genau wusste, dass Paisley ihn vorführen würde, wenn alles vorbei war. Er hatte um Jeremys Leben gekämpft, auch wenn er gewusst haben musste, wie aussichtslos es war, und sich denken konnte, dass Paisley Wilson Mittel und Wege finden würde, ihm den Tod des Jungen anzukreiden.

„Du bist ein gütiger Mensch, Gabriel.“

Er blieb stehen. Anissa wandte sich ihm zu und sah ihm in die Augen. Gabriel starrte sie entgeistert an.

„Wirklich. Und wenn diese dumme Kuh von Reporterin meint, sie könnte dein Leben wieder auf den Kopf stellen, dann kann sie sich auf was gefasst machen. Wir werden das nicht hinnehmen. Diesmal bist du nicht allein, Gabriel. Ich stehe hinter dir. Und Ryan und Adam genauso. Es ist nicht so wie damals, als niemand dich verteidigen konnte, ohne selber aufzufliegen.“

Er hielt ihrem Blick noch einen Moment stand, dann flüsterte er: „Danke.“

„Keine Ursache. Jetzt schauen wir erst mal, was los ist.“

Ein angedeutetes Lächeln huschte über sein Gesicht, als sie weitergingen in Richtung Familienraum. Er stupste sie am Ellbogen an. Diesmal grinste er. „Das möchte ich sehen, wenn du dir Paisley Wilson vorknöpfst. Ich wette, da könnten wir Eintrittskarten verkaufen.“

„Hör auf damit!“ Sie schob ihn weg, musste aber bei der bloßen Vorstellung selbst lachen.

Die Leichtigkeit des Augenblicks verflog, als sie vor dem Familienraum standen. „Bereit?“, fragte sie.

„Nach dir.“ Gabriel hielt ihr die Tür auf.

Ryan und Adam lehnten an der Wand neben der Tür. Paisley saß alleine auf einem Stuhl. Brooke war nicht mehr da.

„Was ist los?“, fragte Gabriel Ryan.

Ryan nickte in Paisleys Richtung. „Ms Wilson wollte mit dir sprechen, ohne dass Brooke dabei ist.“

„Wo ist Brooke denn?“

Anissa hatte die Frage an Ryan gerichtet, aber Paisley gab selbst die Antwort. „Bei Jeremys Familie. Sie stehen sich sehr nahe. Schon seit dem Kindergarten war Jeremy ihr bester Freund.“

Paisley stand auf. „Officer Chavez –“

Adam trat einen Schritt vor. „Gabriel, willst du uns dabeihaben?“

„Mir macht es nichts aus“, sagte er. „Ich bin mir keiner Schuld bewusst.“ Gut, wenn er von Anfang an Klartext mit ihr redete.

„Mir ist es auch lieber, wenn Sie bleiben. Alle. Ich …“ Paisley ging in dem kleinen Raum umher. „Sehen Sie, ich weiß, wie sehr Sie mich verabscheuen. Ich weiß, dass ich Sie habe auffliegen lassen, Officer Chavez. Und ich weiß …“ Sie zitterte beim Luftholen. „Sie glauben, dass meine aggressive Berichterstattung diesem Jungen damals das Leben gekostet hat.“

„Das glaube ich nicht nur, es war so.“ Gabriel sagte es nicht barsch. Aber sein ruhiger, sachlicher Ton war fast noch schwerer zu ertragen.

Er versetzte Anissa einen schmerzhaften Stich. Wie auch immer es um ihre Freundschaft mit Gabriel bestellt war – sie würde zerbrechen wegen dem, was sie getan hatte.

Paisley senkte den Blick. „Ich versuche erst gar nicht, Sie vom Gegenteil zu überzeugen.“ Als sie aufsah, hatte sie Tränen in den Augen. „Ich möchte nur wissen, wer für den Fall zuständig ist.“

„Ich hatte Bereitschaftsdienst. Wenn keine Gründe dagegensprechen, die mir im Moment nicht bewusst sind, dann bin ich dafür zuständig. Anissa wird sich einschalten, wenn Unterwasserermittlungen erforderlich sind.“ Gabriel nickte Ryan zu. „Wenn nötig, arbeiten wir alle zusammen. Ryan wird sich sicherlich auch in irgendeiner Weise beteiligen. Je nachdem, was wir herausfinden, könnte auch Adam hinzugezogen werden. Wir sind keine Einzelkämpfer im Büro des Sheriffs. Unser Ziel ist es, Jeremys Mörder zu finden und vor Gericht zu stellen.“

Paisley lächelte. Nicht unbedingt freundlich, aber auch nicht feindselig. „Ich habe den Littlefields gesagt, dass Sie der beste Mann dafür sind.“ Sie nickte erst Ryan, dann Anissa zu. „Nichts gegen Sie. Aber Officer Chavez hat einen solchen Hass auf mich, dass er der Sache gründlich nachgehen wird. Er wird weder meine Familie noch die Littlefields schonen. Und das ist mir recht.“

Anissa war sich nicht so sicher, ob sie Paisley glauben sollte. Das würde sich zeigen.

Brooke stürmte herein, lief in Paisleys Arme und schluchzte beinahe hysterisch. „Er wäre noch am Leben, wenn ich ihn nicht zum Wettschwimmen angestachelt hätte.“ Sie sackte in Paisleys Armen zusammen. „Es ist alles meine Schuld!“

Anissa konnte sich nicht zurückhalten. Sie legte ihren Arm um Brooke und notgedrungen auch um Paisley. „Es ist nicht deine Schuld, Brooke. Du hast es nicht getan. Du hast nicht geschossen.“

Anissa war es in diesem Moment egal, dass Paisley Wilson sich möglicherweise öffentlich über Anissas Vergangenheit auslassen würde. Dieses Kind hatte Trost nötig und Anissa würde nicht wegen ihrer Schwester auf Distanz gehen.

Ein anderer Arm legte sich um Brooke. „Sie hat recht, Brooke.“ Gabriel sprach beruhigend, in einem beinahe singenden Tonfall. „Ich weiß, das fühlt sich jetzt nicht so an, aber du hast das wirklich nicht getan. Du bist nicht verantwortlich für seinen Tod. Lade dir nicht selbst diese Last auf, querida.“

„Wir sind mehr mit dem Tod konfrontiert als die meisten anderen Leute, Brooke.“ Ryan stellte sich mit in den Kreis. „Du kannst uns glauben. Wir wissen, bei wem die Schuld liegt – auf alle Fälle nicht bei dir.“

„Mein kleiner Bruder ist bei einem Autounfall umgekommen, als ich siebzehn war“, flüsterte Adam. „Er hatte darauf bestanden, mit mir Sitze zu tauschen, weil auf der anderen Seite mehr Beinfreiheit war, die er nicht brauchte. Wenn ich dort gesessen hätte, wo er saß, wäre ich in dieser Nacht umgekommen. Oder vielleicht hätte ich das Trauma von dem Unfall auch überstanden. Wie auch immer – er hätte überlebt. Ich habe lange gebraucht, um zu verstehen, dass es damals nicht meine Schuld war, Brooke, aber ich konnte wirklich nichts dafür. Genauso wenig wie du jetzt.“

Brookes Schluchzen ebbte langsam ab und sie zitterte nur noch.

„Danke“, flüsterte Paisley. Es klang, als meinte sie es tatsächlich so.

Einer nach dem anderen trat einen Schritt zurück. „Wir bleiben in Kontakt“, sagte Gabriel. „Melden Sie sich, wenn Sie irgendetwas brauchen.“

Es war ein Standardsatz nach einem Mordfall. Aber noch nie war es ihm so schwergefallen, diese Worte auszusprechen, wie gegenüber Paisley Wilson.

Ryan hielt Anissa die Tür auf, dann Adam und schließlich Gabriel. Sie verließen den Raum und gingen den langen Flur hinunter in Richtung Ausgang.

Niemand sagte ein Wort, bis sie draußen waren. Es regnete in Strömen. Zusammengekauert standen sie unter dem Vordach des Krankenhauses.

„Wie lange soll es eigentlich noch so stürmen?“ Ryan blickte in den wolkenverhangenen Himmel, bevor er sich Anissa zuwandte.

Sie konnte sich denken, was ihm durch den Kopf ging. „Ich weiß.“ Ein langer Donner grollte und drei Blitze schlugen in die Erde ein. „Die Wahrscheinlichkeit, am Ufer Spuren zu finden, sinkt mit jedem Tropfen.“

Ein Montagmorgen war schon schlimm genug, wenn er nicht mit einer Autopsie begann. Und es war dabei noch nicht einmal etwas herausgekommen, was Gabriel nicht ohnehin schon wusste. Dr. Oliver hatte routinemäßig Proben zur Untersuchung auf Toxine ins Labor geschickt, aber Brooke Ashcroft hatte vehement abgestritten, dass sie und Jeremy Alkohol getrunken oder Drogen konsumiert hatten. Gabriel war geneigt, ihr zu glauben.

Jeremy Littlefield war ein gesunder Siebzehnjähriger gewesen.

Die Todesursache?

Eine Kugel direkt ins Herz.

Und sechsunddreißig Stunden nach Jeremys letztem Atemzug hatte Gabriel immer noch keinen Anhaltspunkt, wer den Jungen getötet hatte.

Besorgte Nachbarn in der Bucht, an der Leigh und Ryan lebten, hatten bereitwillig Überwachungsvideos zur Verfügung gestellt und sie praktisch angefleht, am Ufer und auf den Anlegestegen nach Spuren von unbefugten Eindringlingen suchen zu lassen. Aber der wahrscheinlichste Standort des Schützen war ein heruntergekommener Steg auf einem fast unbebauten Grundstück auf der anderen Seite der Bucht.

Einer der Anwohner hatte sich zur Tatzeit in einem Pavillon in Ufernähe aufgehalten und der Leitstelle eine Schießerei gemeldet, noch bevor sie Jeremy und Brooke aus dem Wasser gezogen hatten. Er hatte auch behauptet, jemanden auf dem alten Bootssteg gesehen zu haben. Der Schütze habe die Waffe in den See geworfen.

Gabriel hatte keine Probleme, Durchsuchungsbefehle für das Grundstück zu bekommen. Aber durch den Regen, der sie am Samstagabend vom See vertrieben hatte, war das Ufer am Sonntagmorgen, als die Spurensicherung eingetroffen war, nur noch eine einzige Schlammwüste gewesen. Die Kollegen taten, was sie konnten – Gabriel schuldete ihnen ein paar Donuts oder etwas in der Richtung –, aber ihre Suche hatte bisher absolut nichts ergeben.

Keine einzige Fußspur. Nicht einmal irgendwelchen Abfall. Auf dem Grundstück stand mehrere Hundert Meter vom Ufer entfernt eine alte Hütte, die zwar bewohnt zu sein schien, aber offenbar nicht dauerhaft. Ein paar Eier und Essensreste im Kühlschrank. Kalter Kaffee in der Kanne.

Die Spurensicherung hatte Fingerabdrücke und DNA-Proben genommen. Das Labor würde alles so schnell wie möglich untersuchen. Was Fingerabdrücke anging, würden sie vielleicht schon heute erste Ergebnisse bekommen. Die DNA-Analyse würde hingegen Wochen oder gar Monate in Anspruch nehmen.

Als Gabriel im Büro des Sheriffs eintraf, klingelte sein Telefon.

Anissa.

Vielleicht hatte sie etwas gefunden. Das Tauchteam hatte sich an diesem Morgen um neun Uhr getroffen, um im See nach Spuren zu suchen.

„Hast du was Neues für mich, Bell?“

„Leider nicht.“ Anissa klang, als müsse sie sich zwingen, die Worte auszusprechen.

„Was ist los?“

„Hm … wie geht’s dir heute?“

Das war aber seltsam. „Wenn du’s genau wissen willst: miserabel. Ich komme gerade von der Autopsie. Aber ansonsten geht’s mir einigermaßen.“

„Es tut mir so leid, Gabriel.“

Sie holte tief Luft. Dann noch einmal. Was hatten sie vereinbart? „Spuck’s schon aus, Bell.“

„Ich brauche deine Hilfe.“

Anissa bat um Hilfe? Ihn? „Jederzeit.“

„Du könntest deine Meinung ändern, wenn du hörst, was ich brauche.“

„Kaum, Nis. Also, was ist los?“

„Ich weiß es nicht.“ In ihrer Verzweiflung betonte Anissa jedes Wort. „Sie sind alle krank.“

„Wer ist krank?“

„Ryan, Adam, Sabrina und noch zehn andere aus dem Büro.“

Es wurde immer merkwürdiger. Ryan, Adam und Sabrina hatte doch am Samstag noch nichts gefehlt. „Was meinst du mit krank?“

„Na ja, um es vorsichtig auszudrücken: Sie kommen alle nicht vom Klo runter.“

Das gefiel Gabriel überhaupt nicht. „Oh, Sch…“

„Das kannst du laut sagen! Es muss irgendein fieser Magen-Darm-Infekt sein. Jedenfalls können sie nicht tauchen. Und ich kann keine Suche im See machen, es sei denn … ich meine, das ist keine Übung. Wir können uns keine Fehler erlauben.“