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Ein Mord unter Promis auf der malerischen Insel Falster: Gitte Madsen ermittelt in ihrem fünften Fall Gerade saß Bestatterin Gitte Madsen noch im vornehmsten Lokal, das an Dänemarks Südsee zu finden ist, genoss den Meerblick und schäkerte mit ihrem netten Tischnachbar. Doch Ebendieser wird kurze Zeit später tot aufgefunden. Die Steilküste wurde Mikkel Holms zum Verhängnis. Schon bald steckt Gitte nicht nur in Mordermittlungen, sondern wird auch noch in die Intrigen der hiesigen Musikszene verwickelt. Denn der Tote ist der Exmann der aufstrebenden Sängerin Lola Hus, und die wollte ihren Mikkel dringend zurückerobern. Gemeinsam mit Kommissar Ole Ansgaard macht sich Gitte auf die Suche nach dem Mörder und stößt auf Plagiatsvorwürfe, dubiose Produzenten und verbotene Liebschaften …
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Dänische Aussicht
Ein Mord unter Promis auf der malerischen Insel Falster: Gitte Madsen ermittelt in ihrem fünften Fall
Gerade saß Bestatterin Gitte Madsen noch im vornehmsten Lokal, das an Dänemarks Südsee zu finden ist, genoss den Meerblick und schäkerte mit ihrem netten Tischnachbar. Doch Ebendieser wird kurze Zeit später tot aufgefunden. Die Steilküste wurde Mikkel Holms zum Verhängnis. Schon bald steckt Gitte nicht nur in Mordermittlungen, sondern wird auch noch in die Intrigen der hiesigen Musikszene verwickelt. Denn der Tote ist der Exmann der aufstrebenden Sängerin Lola Hus, und die wollte ihren Mikkel dringend zurückerobern. Gemeinsam mit Kommissar Ole Ansgaard macht sich Gitte auf die Suche nach dem Mörder und stößt auf Plagiatsvorwürfe, dubiose Produzenten und verbotene Liebschaften …
Frida Gronover
Gitte Madsen ermittelt
Ullstein
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Originalausgabe bei UllsteinUllstein ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin März 2024 (1)© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2024
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Das Buch
Titelseite
Impressum
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Leseprobe: Dänische Brandung
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Cover
Titelseite
Inhalt
1
Was für eine Aussicht! Gitte stand auf einem Plateau mit Blick auf das Meer, das sich in der Abendsonne spiegelte. Ganz langsam war der Sommer in diesem Jahr zurückgekommen, doch nun fühlten sich auch die Abende endlich wärmer an. Sie genoss den Moment, aber die Augen hielt sie schön weit offen. Denn es ging hier steil nach unten, und nur ein schmaler Steinstrand trennte den Felsen vom Wasser. Eine derartige Steilküste hatte sie auf Falster noch nicht gesehen. Auf dem Weg hierher waren sie und ihre neue Freundin Birte durch einen dichten Wald gefahren, teilweise so dunkel und einsam, dass Gitte ihre Begleiterin mehr als einmal gefragt hatte, ob diese sich verfahren habe. Hier konnte es doch unmöglich ein Restaurant geben. Wer sollte das finden? Birte, die Gitte heute zum Essen einlud und damit eine Entschuldigung einlöste, hatte ihr unterwegs erklärt, dass es weit und breit kaum eine delikatere Küche gebe und kein schöneres Ambiente. Und deshalb war das Restaurant trotz der einsamen Lage weit über Falster hinaus bekannt. »Hier kannst du das Rauschen des Meeres und das Zischen der Buchen gleichzeitig genießen«, hatte Birte verkündet, als sie auf den Parkplatz gefahren waren. Nun standen sie an der Klippe, und Gitte machte einen langen Hals. »Ich kann mich kaum sattsehen an dieser schönen Aussicht«, schwärmte Gitte, die bemerkte, dass Birte unruhig wurde. »Satt sollst du ja auch von dem Essen hier werden, Gitte. Nun komm schon, die Plätze sind rar, und wenn wir nicht auftauchen, ist unser Tisch weg. Von der Terrasse aus kannst du ebenso gut auf das Meer blicken, versprochen.« Sie wandten sich um und gingen zum Restaurant. Erst jetzt fielen Gitte die luxuriösen Autos auf, die hier auf dem Parkplatz standen. Da sie wusste, wie horrende hoch die Steuern auf Autos in Dänemark waren, schluckte sie. Birte ließ sich den Abend und ihr schlechtes Gewissen offenbar etwas kosten. Sie kannte die Schwester von Nils nun seit knapp einem Jahr, während Nils, der Journalist, der in Marielyst für die aktuellen Nachrichten sorgte, schön länger ein guter Freund von Gitte war. Einige Verwicklungen während des letzten Mordfalls sowie unter anderem ein blaues Auge hatten dazu geführt, dass die beiden Frauen heute verabredet waren. Bei einer Aussprache hatte Birte schließlich reumütig versprochen, Gitte zum Essen einzuladen. Doch es war immer wieder etwas dazwischengekommen, und heute sollte die Einladung nun endlich eingelöst werden, passend zum sommerlichen Start des Jahres. Sie ließen sich auf der Terrasse an einem kleinen Tisch nieder. Gitte hatte sich extra eine warme Strickjacke eingepackt, denn die dänische Südsee hielt selten tropische Nächte bereit. Birte hatte nicht gelogen, die Aussicht hier auf der Terrasse des noblen Restaurants Pomle Nakke war noch besser als vom Parkplatz aus. Es war eine fast schon kitschige Postkartenidylle, die etwas eingetrübt wurde, als Gitte die Speisekarte anschaute, die ihr ein junger, sehr selbstbewusster Kellner reichte. Sie guckte sich verstohlen um, ob die meisten hier wegen der Preise nur bei Wasser und Brot saßen, doch an den Tischen wurde munter bestellt und gespeist. Wein und Bier, Vorspeise, Hauptspeise und noch ein Dessert, geschätzte Kosten alleine für das Essen hundertzehn Euro pro Person. »Birte, bei den Preisen hier darfst du mir glatt noch ein blaues Auge verpassen.« Sie grinste Birte verlegen an. Birte lachte, was der sonst oft spröden Dänin sehr gut stand. »Mal sehen, wann du mich wieder mal sehr wütend machst. Im Ernst Gitte, lass es dir schmecken, heute schauen wir nicht aufs Geld. Du weißt, dass meine Mutter mir und Nils einiges vererbt hat. Und da mein unseliger Mann nun auch nicht mehr unter uns weilt, hatte ich gar kein schlechtes Gewissen, seine blöde Uhrensammlung, die er von seinem Vater übernommen hatte, zu verhökern. Es hat sich gelohnt. Also hau rein. Ich habe gehört, dass das Tatar ganz vorzüglich sein soll. Und eine Flasche Wein schaffen wir auch zusammen, oder?« Gitte betrachtete Birte, die ihre blonden Haare seit dem Tod ihres Mannes immer häufiger offen trug.
»Also dann, Birte«, sagte Gitte wenig später gut gelaunt und stieß mit ihr an. »Auf einen schönen Abend und ganz lieben Dank für deine Einladung.« Bei einem überaus leckeren Tatargericht mit Zwiebel und Eigelb als Vorspeise und frischem Brot genossen sie den Sonnenuntergang. Birte musterte Gitte lächelnd und sagte: »Mein Bruder hat mir erzählt, dass du eine deutsche Mutter hast und erst vor wenigen Jahren nach Marielyst ausgewandert bist. Wurden dir die Deutschen zu deutsch?«
Gitte grinste. »Was immer du damit meinen magst. Ich bin aus verschiedenen Gründen hergezogen. Meine Mutter war gerade verstorben, mein dänischer Vater galt seit fast zwanzig Jahren als vermisst, und die Qualität meiner Partnerschaft reichte weder für unseren deutschen Alltag noch für einen Neustart in einem anderen Land. Ich hatte plötzlich große Lust auf meine dänischen Wurzeln, und ich wollte natürlich meinen Dad finden.«
»Nun, das ist dir ja sogar gelungen, wie ich weiß. Und nicht nur das. Nils sagt, du hättest schon vier Morde aufgeklärt. Aber warum in Gottes Namen arbeitest du als Bestatterin? Geh doch zur Polizei.« Birte griff nach ihrem Wasserglas. Mit dem Wein musste sie sich als Fahrerin zurückhalten.
»Aber Birte, das liegt doch auf der Hand. Einer harmlosen Bestatterin erzählen die Leute viel mehr. Ganz davon abgesehen landen die meisten Leichen sogar direkt bei mir auf dem Tisch. In meinem alten Beruf haben die Leute mich immer zugetextet. Nun sind meine Kunden still.« Nach einem Schmunzeln fuhr Gitte fort: »Das gefällt mir gut. Und die Begleitung der trauernden Angehörigen fällt mir auch leicht.« Sie überlegte und fügte hinzu. »Außerdem ist Paul ein sehr angenehmer Chef.«
Birte hob ihr Weinglas. »Und der gut aussehende Kommissar Ole Ansgaard sitzt nur wenige Meter entfernt auf der Polizeistation und rettet dich, wann immer das nötig ist. Ich verstehe dich.« Lachend prosteten sie sich zu und blickten dann begeistert auf den Hauptgang, der gerade serviert wurde. Sie hatten sich beide für das Lammfilet entschieden, das mit einer cremigen Sauce gereicht wurde. Dazu gab es wieder frisch gebackenes Brot.
»Ein Jahr ist beinahe rum, seitdem dein Mann verstorben ist, was wirst du nun tun?«, fragte Gitte, nachdem sie beim Cappuccino angelangt waren, und Birte verträumt auf die Ostsee blickte. Birte wandte sich ihr zu und lachte. »Flirten. Ist dir die Vierergruppe am Nachbartisch aufgefallen? Sie sitzen direkt am Rand der Terrasse, und es sieht sehr nach einem Geschäftsessen aus. Aber mindestens zwei von denen schauen immer wieder zu uns herüber, obgleich die beiden anderen sich um ihre Aufmerksamkeit bemühen.« Gitte folgte unauffällig ihrem Hinweis und entdeckte zwei ältere Herren, die angeregt auf die jüngeren einredeten, sich zunickten und offenbar einig waren, während ihre Begleiter, die Gitte auf Anfang vierzig schätzte, sich weniger eifrig beteiligten und tatsächlich immer wieder zu ihnen herüberschauten. Der Dunkelhaarige von den beiden prostete ihr und Birte nun offen zu und hob dafür sein Weinglas. Sein blonder Begleiter tat es ihm gleich und ließ dabei besonders Birte nicht aus den Augen. Die blonde Frau schien ihm zu gefallen. Birte hob ihr Glas und lächelte zurück. Doch dann wandte sie sich wieder an Gitte. »Wenn doch nur alles so einfach wäre. Ich werde unser Haus jetzt bald verkaufen. Ich habe mich dort nie besonders wohlgefühlt. Mal schauen, eventuell ziehe ich wieder nach Marielyst. Geld habe ich jetzt genug, und mein Dad wird auch nicht jünger. So bin ich in seiner Nähe. Ich habe einiges aufzuarbeiten, und ich fürchte, es kommen auch noch dunkle Zeiten auf mich zu. Aber ich habe dringend vor, das Leben zu genießen.« Ein zartes Lächeln glitt über Birtes Gesicht, das aber gar nicht Gitte galt. Der Blonde ging gerade eng an Birtes Stuhl vorbei, sodass ihre Strickjacke zu Boden glitt. Galant drehte er sich sofort um, bückte sich, hob die leichte Jacke auf und legte sie dann nicht um die Lehne, sondern über Birtes Schultern. »Entschuldigung.« Dann ging er in Richtung der Toiletten davon. »Woher wusste er wohl, dass mir langsam kalt wird?«, lachte Birte und schaute ihm nach. Als die Weinflasche bis auf einen kleinen Rest geleert war und Gitte bereits einen angenehmen Schwindel verspürte, kam der Kellner mit zwei kleinen Schokodesserts zum Tisch. Birte wollte gerade abwehren, da sagte der Mann: »Das ist eine besondere Empfehlung und kommt vom Tisch dort vorne. Lasst es euch schmecken.« Und schon stellte er die Leckerei ab und entfernte sich mit einem Grinsen. Der blonde Däne am Tisch nickte ihnen zu, und Birte formte ein lautloses Danke. Dann stand einer der älteren Herren des Tisches auf, um die Rechnung zu begleichen, und bis auf den Blonden machten sich alle zum Aufbruch bereit. Birtes Verehrer blieb noch sitzen und tat, als tippe er etwas in sein Handy. Das unterstellte ihm Gitte zumindest, eventuell hatte er ja wirklich eine Nachricht erhalten, auf die er reagierte. Dann zog er eine Karte aus einer feinen Ledermappe und legte sie mit einem dezenten Nicken zu Birte gewandt auf den Tisch. Zum Abschied tippte er sich mit dem Zeigefinger lässig grüßend an seine Stirn und verließ langsam die Terrasse.
»Der legt aber ein ganz schönes Tempo vor«, sagte Gitte belustigt, und meinte damit nicht seinen Gang. »Ich bin jetzt doch einigermaßen neugierig, was auf der Karte steht.«
»Nun, wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass man sich hier noch mal wiedersieht? Das ist kein Restaurant, in dem man sich regelmäßig auf ein Bier trifft. Wenn dieser smarte Blonde mich noch mal wiedersehen möchte, muss er schon etwas mehr liefern als eine Schokomousse, oder was meinst du, Gitte?«
»Ich meine, du solltest dir dringend die Karte holen.« Birte nickte verlegen, stand aber auf, trat ans Geländer der Terrasse und tat so, als mache sie ein Foto vom tiefdunklen Meer. Auf dem Rückweg nahm sie wie zufällig die Visitenkarte an sich. »Mikkel Holm, Programmierer für den Hausgebrauch«, las sie dann laut vor und grinste breit. »Was heißt das denn? Dass er meine Kaffeemaschine so programmiert, dass sie auf Zuruf den besten Espresso ausspuckt? Na, der kann mir mein neues Zuhause gerne optimieren«, lachte Birte und steckte die Karte in ihren Lederbeutel, der an der Stuhllehne hing. Dann verlangte sie die Rechnung, und Gitte dankte ihr herzlich. »Für das gute Essen und für den schönen Abend, Birte«, sagte sie nun selbst etwas verlegen. Der holprige Start ihrer Bekanntschaft vor einem Jahr hatte ein solches Treffen kaum erwarten lassen. Sie hatten sich zwar das eine oder andere Mal kurz gesehen, aber einen solch intensiven Austausch wie heute hatte es nicht gegeben. Ohne dass sie es bemerkt hatten, war es plötzlich finster geworden. Stockfinster. Die Lichter des Restaurants reichten nur ein paar Meter weit, und nachdem sie aufgebrochen waren, gerieten Birte und Gitte schnell in völlige Dunkelheit. Der Parkplatz, auf dem sie Birtes Auto abgestellt hatten, war ebenfalls unbeleuchtet. Angesichts der Steilküste eine eher ungewöhnliche Gastfreundschaft des Restaurants, dachte Gitte, die lange bei ihrer deutschen Mutter im westfälischen Münster gelebt hatte. In der Beamtenstadt stand die Sicherheit der Bürger an erster Stelle, und völlige Dunkelheit fand man nur, wenn man sich eine Bettdecke über den Kopf zog. Gitte schüttelte den Kopf und scherzte: »Sollen wir mal schauen, wie viele Autos bereits die Klippen runtergefahren sind? Ihr Dänen seid echt lässig. Hier kommt man doch nur mit einem guten Orientierungssinn oder einem Gebet heil vom Parkplatz herunter, oder?«
Birte lachte und holte ihr Handy raus. »Dafür muss man sein Auto aber erst wiederfinden. Warte mal, ich schalte meine Taschenlampe ein.« Ein grelles Licht wanderte erst über Gittes Füße, dann weiter über den Parkplatz. »Da vorn steht mein kleiner Smart. Schau nur, wir haben sogar sehr leichtsinnig direkt an den Klippen geparkt. Bei Tageslicht wirkte das so harmlos. Ich hoffe, ich verwechsle die Gänge nicht.« Birte lachte erneut und trat noch einen Schritt näher an die Klippe, während Gitte bereits die Beifahrertür öffnete und einsteigen wollte. Sie war hundemüde. Leider machte ihre Fahrerin so gar keine Anstalten einzusteigen, sondern beugte sich weiter vor und leuchtete mit der Taschenlampe wahllos hin und her.
»Ich finde, wir haben heute genug schöne Aussichten genossen, meinst du nicht auch?«, rief sie Birte zu. »Oder ist dir die wertvolle Visitenkarte hinuntergefallen?«, neckte Gitte. Doch Birte hob nur den Arm und machte ein Zeichen, still zu sein. Also verließ Gitte den kleinen Wagen erneut und dachte dabei, dass die Stille hier nun wirklich sehr still war, bis auf ein leichtes Plätschern, das vom Meer kam. Doch dann hörte sie ein Stöhnen. Das Ächzen eines Baumes klang anders. »Was ist das?«, fragte Birte leise. Gitte holte nun auch ihr Handy aus der Jackentasche. »Die Frage muss wohl eher lauten: Wer ist das? Das klingt menschlich.« Gitte leuchtete die Klippe ab, doch das Licht reichte kaum bis an den Strand hinunter. Erneut ertönte ein Stöhnen, als wäre jemand in großer Not. »Hallo? Ist da wer?«, fragte Gitte mit ruhiger Stimme. Das nächste Geräusch klang so, als rolle ein Stein einen Geröllhaufen hinunter. Ohne zu zögern, ging Gitte in die Knie bis an den Rand der Klippe und legte sich dann bäuchlings hin, das Handy mit der Taschenlampenfunktion in der rechten Hand. »Kannst du mich festhalten, Birte? Ich muss näher dran, um etwas sehen zu können.«
»Mensch, Gitte, fall bloß nicht runter! Nach meinem Angriff auf dich im letzten Jahr glaubt mir doch keiner, dass das dann ein Unfall war.« Birte stöhnte nervös, als sie sich ebenfalls auf die Knie begab und Gittes Füße festhielt. Gitte rutschte noch einen Meter nach vorne, bis sie mit dem Kopf über der Klippe hing. Keinen Zentimeter weit hätte sie der Schwester ihres Kumpels Nils früher getraut. Jetzt fürchtete Gitte eher um ihr Handy, das sie so weit als möglich nach unten hielt, um den Felsen und den Strand zu beleuchten. Da lag etwas Dunkles auf den Steinen, das in regelmäßigen Abständen von einer Welle zum Teil mit Wasser umspült wurde. War es ein Mensch? »Hallo? Ist da jemand?« Ein Aufschrei von Birte übertönte leider jedes andere Geräusch. Gitte spürte einen Ruck und musste sich schnell mit der freien Hand abstützen, denn Birte hatte einen Fuß losgelassen. Doch eine Hand reichte nicht aus, um der Schwerkraft Paroli zu bieten. In ihrer Not steckte Gitte das Handy in ihren Ausschnitt und nahm auch die zweite Hand zur Hilfe. Sie sah in ein schwarzes Nichts, spürte den drohenden Abgrund deutlich vor sich. Sie stemmte mit aller Wucht die Arme gegen die Felswand und stieß sich ab, um sich zurückzubewegen.
Da fasste Birte zum Glück wieder nach dem zweiten Fuß und zog kräftig. »Sorry, ich habe einen Krampf in meiner Hand bekommen. Das ist viel zu gefährlich, was wir hier treiben, Gitte. Ich hole eine vernünftige Lampe aus dem Restaurant.« Als Gitte wieder sicher neben ihr stand, lief sie auch schon los. Gitte verfolgte das Flackern ihres Handylichts. Sie selbst war nun allein am Rande der Klippe und riss die Augen auf, um irgendetwas zu sehen. Oder zu hören. »Hallo?«, rief sie noch mal. Plötzlich bemerkte sie aus der Nähe der angrenzenden Bäume seitlich vom Parkplatz ein Rascheln. Sie wandte sich dem Wald zu. Vielleicht hatten sie ja nur ein Tier aufgeschreckt. Sie lauschte in die nächtliche Stille hinein und vernahm nur ein paar Meter weit von der Klippe entfernt eindeutig erkennbar eine Stimme vom Strand. Leise, schwach. »Hilfe.« Gitte hielt inne und wandte sich schnell wieder der Steilküste zu. Dort unten lag tatsächlich ein Mensch. Sie mussten sofort einen Notruf absetzen. Nervös nestelte sie an ihrem Ausschnitt herum, um das Handy daraus zu befreien. Doch plötzlich erhielt sie einen heftigen Schlag gegen den Kopf, und ihr wurde schwarz vor Augen. Irgendwann hörte sie dann Stimmen, und ein grelles Flackern huschte über ihr Gesicht. Hin und her und unerbittlich. Jemand rief ihren Namen, aber sie wollte auf gar keinen Fall die Augen öffnen. Der Kopf schmerzte auch so schon heftig genug. Und die Knie brannten. »Gitte, sag doch etwas. Was ist denn bloß passiert?« Langsam kam die Erinnerung zurück, und sie schlug nun doch die Augen auf, denn ihr fiel der Hilferuf wieder ein. »Da unten hat jemand gerufen. Du musst Hilfe holen.« Gitte fasste sich an den Hinterkopf, spürte eine aufgeplatzte Beule und richtete sich ganz langsam auf. Und erschrak. Überall waren nun Scheinwerfer zu sehen, und mindestens vier Personen liefen hin und her. Sie sah ein dickes Seil, das jemand an einen Baum gebunden hatte. Ein kräftiger Mann mit weißer fleckiger Schürze gab Anweisungen, und ein junger schlanker Mann knotete sich das Seil um die Achseln. Auf der Stirn trug er eine Lampe, wie Gitte sie bei nächtlichen Joggern schon gesehen hatte. Verdutzt erkannte sie den Kellner, der ihnen eben noch vergnügt ein Dessert gebracht hatte. Nun war seine Miene hoch konzentriert, und im nächsten Moment schwang er seine Beine über den Abgrund. Mit Birtes Hilfe stand Gitte auf. »Da unten liegt Mikkel! Ich habe seine fesche helle Hose erkannt!« Birtes Stimme klang schrill. Gitte versuchte noch immer, sich zurechtzufinden, und fragte irritiert: »Was für ein Mikkel?« Aus der Ferne tönten Sirenen. Und dann fiel ihr alles wieder ein. Sie hastete zum Abgrund, wurde aber von dem Koch aufgehalten. »Oh nein, nicht dass wir hier noch mehr Abstürze erleben. Was ist denn heute bloß mit unseren Gästen los? Bist du okay?« Er wischte sich mit seiner Schürze Schweiß von der Stirn. Auf dem Parkplatz standen zwei große Flutlichter, und sein Gesicht sah kalkweiß aus. »Lebt der Mann noch?«, fragte Gitte ihn und rieb sich den Hinterkopf. Sie ahnte, dass sie selbst durch den Schlag ein paar Minuten bewusstlos gewesen war. Ein langsames Schulterzucken. »Ich weiß es nicht, er sieht übel zugerichtet aus. Du meine Güte, ich kenne den Mann wirklich gut, und eben hat er noch bei uns gespeist.« Er ging einen Schritt vor und schaute in den Abgrund, wo sein Mitarbeiter nun zu dem Verletzten hinunterkletterte. »Alles klar, Jan?« Ein knappes »Ja!« ertönte.
Gitte wählte die Nummer von der Polizeistation in Nykøbing, denn in Marielyst war um diese Zeit niemand mehr. Während sie auf Antwort wartete, teilte sie dem Koch mit: »Der Mann ist nicht gestürzt, er wurde gestoßen. Sonst wäre ich wohl kaum niedergeschlagen worden. Ich werde die Polizei informieren.« Sie war wenig überrascht, als sich der Polizist Peter Jensen meldete. »Hej Peter, hier ist Gitte.« Weiter kam sie nicht. »Hej Gitte, der Chef kommt doch erst übermorgen zurück, weißt du das denn gar nicht?« Und ob sie das wusste. Sie vermisste Ole bereits schmerzlich. »Natürlich, Peter. Deshalb musst du sofort zum Pomle Nakke kommen, hier hat es einen Mordversuch gegeben. Und bring die Spurensicherung mit.« Sie erklärte ihm kurz den Sachverhalt und hörte dann das lange Stöhnen des Polizisten. Peter war für seine Gutmütigkeit bekannt, nicht für Scharfsinn oder Engagement. »Oh je, Gitte, das ist nicht so mein Ding, aber hier ist leider kein Kommissar erreichbar. Ich versuche, Hilfe zu bekommen, und beeile mich. So ein Mist, es ist doch schon so lange nichts mehr passiert. Bist du dir denn sicher, dass es kein Unfall war?«
»Komm einfach so schnell wie möglich und versuch auch, Ole zu erreichen. Er kann dir ja zumindest aus der Ferne helfen.«
Birte schüttelte derweil an ihrem Arm herum. »Gitte, der Kellner ist gleich unten bei Mikkel. Der hat doch sicher gar keine medizinischen Kenntnisse. Was soll der denn nun machen? Man darf doch Verletzte nach solch einem Sturz nicht einfach bewegen. Was, wenn die Wirbelsäule beschädigt ist?« Birte hatte natürlich recht, und endlich hörte man auch die Sirenen des Krankenwagens näher kommen. Gitte hoffte, dass Mikkel noch so weit bei Bewusstsein war, dass er sagen konnte, wer ihn gestoßen hatte. Dann brauchte Peter nur noch eine Fahndung rausgeben. Falls er gestoßen worden war. Birte blickte sie an. »Bist du okay? Der Krankenwagen sollte dich besser gleich mitnehmen.«
»Quatsch, ich bin okay.« Das stimmte zwar nicht. Die wachsende Beule am Hinterkopf war deutlich zu spüren, und ihr war etwas übel, doch Birte schien das alles noch mehr mitzunehmen. Gitte hoffte, dass Mikkel es schaffen würde. Sie ging nahe an den Abgrund heran und rief dem jungen Mann am Seil zu: »Bitte beweg den Mann möglichst nicht und frag ihn, wer ihn gestoßen hat. Wir brauchen so schnell wie möglich einen Namen, damit die Polizei ermitteln kann.« Jan machte noch zwei Sätze, dann war er unten angekommen. Das sah sehr gekonnt aus, fand Gitte. Sicher machte Jan solch eine Kletteraktion nicht zum ersten Mal. Der Koch hielt eines der Flutlichter hoch und beleuchtete das Areal unten an den Klippen. Nun erkannte auch Gitte die Kleidung des blonden Mannes, der noch vor Kurzem so lebhaft mit ihnen geflirtet hatte. Seine Beine lagen verrenkt auf den Steinen. »Er lebt noch«, rief Jan nach oben, »aber er ist nicht mehr bei Bewusstsein. Was soll ich tun? Ich kann klettern und kenne mich mit guten Weinen aus, aber ein Arzt bin ich nicht.« Das war zum Glück auch nicht notwendig, denn nun fuhr ein Krankenwagen auf den Parkplatz, und zwei Sanitäter übernahmen die Kontrolle. Als sie eine gefühlte Ewigkeit später den Mann geborgen hatten, mit einer Seilwinde und gut eingepackt auf einer Trage, und er an Birte und Gitte vorbei in den Krankenwagen geschoben wurde, brach Birte in Tränen aus. »Ich habe mit Männern kein Glück, sie sterben einfach weg.« Gitte nahm sie in den Arm. »Mikkel lebt doch noch, Birte, und er ist auch nur ein Mann, den du zufällig beim Essen getroffen hast. Eine Visitenkarte reicht nicht aus, um schon eine Beziehung zu haben. Ich bin mir übrigens sicher, dass der Täter noch in der Nähe war, sonst wäre ich wohl kaum niedergeschlagen worden.«
»Wer hat dich niedergeschlagen?« Gitte drehte sich abrupt um und blickte in das Gesicht einer hochgewachsenen blonden Frau mit einer großen Hornbrille. »Kommissarin Ella Sørensen, ich war in der Nähe und soll mich hier umsehen. Es gab angeblich einen Mordversuch? Oder einen Unfall? Kann ich das Opfer sprechen?« Offenbar wollte sie gleich mehrere Fragen beantwortet haben. Ungeduldig blickte sie umher und machte den Anschein, als höre sie kaum zu, während Gitte erklärte: »Mein Name ist Gitte, Gitte Madsen. Ich weiß nicht, wer mich niedergeschlagen hat. Es geschah, als ich ein Geräusch aus dem Waldstück da am Parkplatz gehört habe. Jemand hat einen gewissen Mikkel die Klippen hinuntergestoßen. Also ich bin mir zumindest ziemlich sicher, dass er gestoßen wurde, denn mich hat man ja auch niedergeschlagen. Das Opfer hat zuvor mit drei anderen Männern hier im Restaurant gespeist und saß an unserem Nachbartisch.« Ella Sørensen musterte Gitte nun plötzlich doch noch sehr intensiv. »Eventuell war es ein Schwächeanfall, und du bist einfach ohnmächtig geworden, hast dir den Kopf angeschlagen und dein Gehirn speichert die Dinge anders ab. Habe ich schon oft erlebt.« Dann nickte sie Gitte aber aufmunternd zu. »Gut, erzähl mal von Anfang an.« Also berichtete Gitte ihr, was sie und Birte mitbekommen hatten. Dazu gab sie auch eine Beschreibung der Männer, die Mikkel begleitet hatten. Gitte sah die vier Männer vor sich, wie sie zufrieden nacheinander Richtung Ausgang gegangen waren. Doch dann fiel ihr ein, dass Mikkel ein paar Minuten nach der kleinen Gruppe losgegangen war. Er hatte sich ja noch mit seinem Handy beschäftigt und die Visitenkarte für Birte dagelassen. Aber was war dann auf dem Parkplatz bloß schiefgelaufen? Gitte beendete ihren Bericht: »Ich bin mir sicher, dass sich da jemand bei den Bäumen versteckt hatte. Und diese Person hat mich ausgeknockt, vielleicht um Mikkel endgültig umzubringen. Doch dann kam meine Begleiterin Birte zum Glück mit dem Restaurantpersonal zurück.« Die Kommissarin nickte knapp und ging zum Rettungswagen. Gitte sah, wie sie ihren Ausweis zückte und Anstalten machte, den Innenraum zu betreten. Doch der Sanitäter schüttelte nur den Kopf und machte abwehrende Handbewegungen. Schließlich setzte sich der Rettungswagen in Bewegung und fuhr mit Blaulicht davon. Doch schon wenige Sekunden später war der Ton der Sirene nicht mehr zu hören. Verschluckt von den Bäumen oder unnötig geworden, fragte sich Gitte besorgt. Ella Sørensen sah auf ihr Handy und kam zu ihnen zurück. »Wir werden uns zunächst auf die Begleiter konzentrieren. Vielleicht war es doch ein Unfall, und keiner seiner Freunde hat es bemerkt, weil sie schon in ihren Autos saßen. Hat dieser Mikkel Alkohol getrunken?«
Birte nickte. »Ja, er hat uns mit einem Wein zugeprostet. Ich kann mir kaum vorstellen, dass der Täter, wenn es denn einen gibt, unter den Freunden zu finden ist. Denen muss doch klar sein, dass sie die besten Verdächtigen abgeben würden.«
»Sicher.« Die Kommissarin nickte und rückte ihre Brille zurecht. »Aber dennoch müssen wir es ihnen beweisen können. Habt ihr mitbekommen, worüber die vier sich unterhalten haben? War es ein Geschäftsessen? Habt ihr Spannungen bemerkt?« Gitte und Birte blickten sich an. Birte hatte öfter zu dem Tisch hinübergeschaut, und sie sagte: »Eigentlich haben die beiden älteren Herren die meiste Zeit geredet, und die beiden jüngeren schienen eher desinteressiert. Die haben dann begonnen, mit uns zu flirten.« Ella hob eine Augenbraue in die Höhe. »Und ihr habt diese Flirterei erwidert?« Neben ihnen hielt plötzlich ein Polizeiwagen. Die Tür öffnete sich, und es verging ein weiterer Augenblick. Dann zeigte sich erst ein Bein, gefolgt von einem zweiten. Endlich erschien langsam der Rest von Peter Jensen, der zunächst umständlich seinen Bauch am Lenkrad vorbeizwängen musste. »Hej Ella, schön, dass du dich kümmerst. Hej Gitte, Ole ist auf dem Rückweg.« Er presste kurz die Lippen aufeinander und fügte hinzu: »Du solltest ihn mal fragen, wie man nach zwei Wochen Urlaub so schlecht gelaunt sein kann. Da reißt man sich den Hintern auf, um die Arbeit alleine zu schaffen, und dann muss man sich nachts nur Unhöflichkeiten anhören.« Auf der anderen Seite des Wagens stieg ein Mann von der Spurensicherung aus. Er trug bereits den typischen weißen Knisteranzug und hatte einen Koffer dabei. Der Blick, mit dem er Peter Jensen bedachte, sprach Bände. »Ich mach mich an die Arbeit. Kann mir jemand sagen, wo der Tatort ist? Und wer ist das Opfer überhaupt? Mann, Frau?«
»Er hat uns eine Schokomousse ausgegeben«, sagte Birte etwas unpassend. »Daher kann ich euch den vollständigen Namen des Opfers geben. Hier.« Sie gab Ella die Visitenkarte von Mikkel. Gitte sah, dass ihre Hand leicht zitterte. Die Kommissarin las laut vor: »Mikkel Holm. Programmierer für den Hausgebrauch. Was immer das heißen mag. Okay, dann machen wir uns jetzt an die Arbeit, und ihr solltet nach Hause fahren, nachdem ihr mir bitte eure Kontaktdaten dagelassen habt.« Sie schrieb alles auf und ging dann zu einem der Kellner, um sich wahrscheinlich weitere Namen der Gäste geben zu lassen. Gitte war schlagartig nüchtern geworden. Birte fuhr sie zurück nach Marielyst. Gitte dankte ihr herzlich und umarmte sie kurz. »Bist du okay? Du kannst auch bei mir schlafen, wenn du nicht allein sein möchtest.«
»Nein«, sagte Birte. »Das fange ich gar nicht erst an. Ich werde mich all den Dämonen stellen. Hej, Gitte.« Birte hatte den Motor bereits gestartet, als Gitte noch etwas einfiel. »Birte, hast du dir gemerkt, was auf der Visitenkarte stand? Du hast sie ja einfach weggegeben.« Birte grinste und holte statt einer Antwort ihr Handy hervor und zeigte es Gitte, nachdem sie kurz darauf herumgetippt hatte. Birte hatte die Visitenkarte abfotografiert. Zum Glück. Sollte Mikkel überleben, würde Gitte die Infos nicht brauchen, denn er könnte aussagen, was ihm passiert war. Aber Mikkel war nicht mehr bei Bewusstsein gewesen. Nicht einmal die Kommissarin hatten sie zu ihm gelassen. Ein Sturz aus einer solchen Höhe führte sicherlich auch zu schweren inneren Verletzungen. Gitte selbst nahm eine Kopfschmerztablette und wusste, dass das sehr unvernünftig war. Ihr Kopf sollte besser auch geröntgt werden. Betrübt, dass der unbeschwerte Abend ein solches Ende genommen hatte, ging sie zu Bett.
Am nächsten Morgen wurde sie von heftigem Klopfen an ihrer Tür geweckt. Es war Sonntagmorgen, früher Sonntagmorgen, gerade mal acht Uhr. Aber immerhin strahlte eine schöne Bilderbuchsonne vom Himmel, und es roch wunderbar nach Kiefernnadeln und Seeluft. Das Meer befand sich nur knapp fünfhundert Meter von ihrem Häuschen entfernt. Gitte zog sich einen Bademantel über und musste sich erst orientieren, an welche Tür so vehement geklopft wurde. Terrasse oder Haustür? Und dann musste sie doch grinsen. Das Klopfen kam zwar von der Haustür, aber ein kräftiger Rottweiler presste seine feuchte Nase gleichzeitig an die Glastür der Terrasse. Ihre Nachbarn, zwei Holländer im Urlaub, brauchten offenbar ganz dringend ihre Hilfe. Gitte kannte Nick und Luuk und natürlich Brutus gut genug, um erst Brutus hereinzulassen und dann die Haustür zu öffnen. Alles andere hätte der Rottweiler ihr übel genommen. Luuk stand wie ein begossener Pudel da, und das passte keineswegs zu seinem Äußeren. Ein Borstenschnitt, mehrere Piercings an den Augenbrauen und der Unterlippe, Tattoos und Muskeln, um die ihn jeder Türsteher beneiden würde.
»Luuk, hej, was ist los? Bist du aus dem Bett gefallen?«
»Du musst uns helfen, Nick ist verhaftet worden.« Zur Bestätigung knurrte Brutus leise und leckte dabei aufgeregt Gittes Hand. Auch wenn es Zeiten gegeben hatte, in denen Gitte sich sicher gewesen war, einen ganzen Arm an das Höllentier zu verlieren, ließ sie das jetzt gelassen über sich ergehen und tätschelte dem Hund den großen Kopf. »Komm rein, Luuk. Ich brauche erst einen Kaffee.« Sie schmiss die Kaffeemaschine an und setzte sich dann an den Esstisch, wo Luuk bereits ganz und gar unentspannt auf einem Stuhl saß. »Meinst du, dein Freund bei der Polizei kann Nick da wieder raushauen?«
»Kommt drauf an, was er angestellt hat. Was ist denn passiert?«
»Er hat einen Polizeibeamten geschubst, und der ist leider auf seinem dicken Hintern gelandet. Das hat ihn dann sehr wütend gemacht.« Luuks Miene drückte eine Mischung aus Anklage und schlechtem Gewissen aus.
»Widerstand gegen die Staatsgewalt«, fasste Gitte altklug zusammen. »Da haben die Dänen wenig Humor. Zumal dieses Verhalten in letzter Zeit deutlich zugenommen hat. Was habt ihr euch dabei gedacht?«
»Es war ein Missverständnis, Gitte. Wir glaubten, der Typ wollte uns verarschen. Der sah ja auch eher aus wie die Karikatur eines Beamten. Dicklich, langsam, die Uniform so eng, dass ich schon beim Hinschauen kaum zu atmen wagte. Wir saßen mit Brutus unten auf einem der Spielgeräte kurz vorm Strand und haben ein Eis gegessen. Da hat uns dieser Beamte angemacht, wir würden den Kindern Angst einjagen. Ein Wort gab das andere, dann wollte er unsere Ausweise sehen. Die nehmen wir aber auf einen Strandspaziergang gar nicht mit. Ich konnte ja nicht ahnen, dass ich einem dänischen Polizisten so viel Angst einjage, dass der dann auf dicke Hose machen muss.« Gitte blickte belustigt an Luuk herunter, der mit seinem Äußeren eigentlich ständig auf dicke Hose machte. Und sich Brutus auf einem Kinderspielplatz vorzustellen, gelang Gitte auch nur, wenn auf dem Spielplatz keine Kinder spielten.
»Und wieso musste Nick den Mann schubsen?«, fragte sie.
»Weil der ihm frech sein Eis aus der Hand geschlagen hat. Ehrlich, Gitte, wir saßen da ganz friedlich und haben gedacht, das ist ein Spinner, der Streit anfangen wollte.« Sie stöhnte innerlich auf, weil sie ahnte, wer der Polizist gewesen war, der mit ihren Nachbarn aneinandergeraten war.
»Hieß der Mann Peter Jensen?« Dass Peter Jensen Situationen leider oft falsch verstand oder falsch einschätzte, wusste Gitte. Gestern Nacht hatte er nichts von einer Verhaftung erwähnt. Aber sein Chef Ole drohte Peter des Öfteren mit einem Einsatz auf Grönland, wenn der wieder übers Ziel hinausgeschossen war. Meist kamen Ole und Peter jedoch miteinander aus. Allerdings fiel ihr nun die angeblich schlechte Laune von Ole ein, die Peter zu spüren bekommen hatte. Der Polizist war vielleicht manchmal begriffsstutzig, aber eher liebenswürdig und nicht streitlustig. Nick ein Eis aus der Hand zu schlagen, passte wenig zum Phlegma des Mannes, den Gitte kannte.
»Kann sein, ich weiß es nicht. Das war doch nur ein Reflex von Nick.«
»Und was hat Brutus gemacht?«
»Der hat das Eis aufgeschleckt und war abgelenkt. Für Eis verleugnet er sogar seine Rottweilerseele.« Gitte lachte und stand auf, um den Kaffee zu holen. »Ich rede mit Ole, das wird schon wieder. Ich weiß aber nicht, wann er zurückkommt. Er ist selbst im Urlaub.«
»Ohne dich? Red keinen Scheiß. Ihr seid doch noch ein Paar, oder?« Gitte nickte, für weitere Erklärungen hatte sie gerade keine Lust. Oles Frau Anita war im Frühjahr überraschend mit ihrem Bruder nach Aalborg gezogen und hatte dann auch die Scheidung eingereicht. Das war für alle ein unerwarteter Schritt gewesen. Anita lebte in einem Pflegeheim, nachdem sie einen schweren Autounfall gehabt hatte. Fatalerweise war dieser passiert, als sie Ole betrogen hatte. Sie saß seitdem im Rollstuhl und konnte nicht mehr alleine leben. Sie zog den Hut vor dem Bruder, dass er sich nun um seine Schwester kümmern wollte. So wurde es zu einem Neuanfang für beide. Ole hatte sich trotz allem immer um seine Frau gekümmert, hatte sie regelmäßig besucht und ihre Launen ausgehalten. Darunter hatte die Beziehung zu Gitte öfter gelitten, als beiden lieb war. Ole hatte sich vor zwei Wochen eine Auszeit genommen. Er wollte in Schweden die Dinge mit Abstand betrachten und sich auch gedanklich von Anita lösen. Gitte würde das nicht zugeben, aber sie machte sich leise Sorgen, dass er sich auch eine Auszeit von ihr nehmen wollte. Was, wenn er so allein in Schweden auf merkwürdige Gedanken kam? Oder ihm eine hübsche Schwedin beim Angeln half? Sie schickte Luuk und Brutus auf einen Spaziergang, und mit einem Kribbeln im Bauch rief sie Ole gegen neun Uhr auf dem Handy an. Er ging sofort an den Apparat. »Hej Schatz, du bist schon wach? Ich bin die ganze Nacht durchgefahren und war um vier Uhr zu Hause. Und nur meine anerzogene dänische Höflichkeit hat mich davon abgehalten, bei dir einzubrechen und dein Bett zu erobern.« Er lachte. »Im Ernst, ich habe dich vermisst.« Gitte musste schlucken. Ein großer Stein plumpste von ihrer Seele. Sie hörte seine tiefe Stimme und den liebevollen Unterton darin. »Ich dich auch.« Mehr brachte sie nicht raus. Ole erwiderte in gespielter Empörung: »Ja, das glaube ich dir gerne, aber musstest du dir deshalb gleich einen neuen Mordfall besorgen? Ich habe leider keine guten Neuigkeiten. Ella Sørensen hat mir den Fall mit geradezu boshaftem Vergnügen heute Morgen in aller Früh schon übergeben. Ich zitiere: Bitte sehr, deine Aufgabe. Er riecht nach jeder Menge Verdächtiger, Familiendramen und Skandalen. Nichts für mich, ich habe in ein paar Tagen Urlaub! So ihre netten Worte. Leider ist Mikkel nämlich verstorben. Gitte, du bist nun Zeugin in einem Mordfall. Und Birte ebenfalls.«
»Mikkel hat es also nicht geschafft?«
»Nein, wahrscheinlich hätte er es auch dann nicht geschafft, wenn man ihn sofort gefunden hätte. Er hatte einen großen Riss in der Leber und zwei gebrochene Rippen, die die Lunge perforiert haben. Bis man ihn geborgen hatte, war es leider zu spät. Er ist übrigens noch im Rettungswagen verstorben. Es tut mir leid.«
»Was ist mit seinen Begleitern?«, fragte sie.
Ole räusperte sich. »Der Kontakt gestaltet sich schwieriger als gedacht. Zwei der Männer sind zusammen weggefahren und wollen nichts gesehen haben. Ella hat sie gestern Nacht noch kurz kontaktiert, aber sie haben sofort mit ihren Anwälten gedroht, und ich kann sie erst heute Mittag in deren Beisein zur Sache befragen. Ella hat nur so viel herausgefunden, dass es ein Geschäftsessen war.«
»Mikkel und der andere etwas jüngere Mann sahen nicht so aus, als seien sie sonderlich interessiert gewesen an dem Geschäft«, überlegte Gitte laut.
»Ich habe keine Ahnung, worum es ging. Den dritten Mann konnten wir noch nicht erreichen. Bei der Gelegenheit möchte ich zu gerne wissen, warum sich die Visitenkarte des Toten in eurem Besitz befand.« Im Hintergrund war plötzlich Tumult zu vernehmen. Gitte hörte eine laute Frauenstimme, ihr Tonfall war schrill, doch was sie sagte, verstand Gitte nicht. »Ich muss auflegen. Hier ist eine Angehörige von Mikkel.«
»Warte noch, Ole. Kannst du mir sagen, ob er verheiratet war?«
»Er war geschieden.« Dann legte Ole auf, ohne dass sie ihm noch mitteilen konnte, wie Birte an die Visitenkarte des charmanten Programmierers herangekommen war. Und um Luuks Angelegenheit hatte sie sich auch noch nicht gekümmert. Aber wenn Ole in Nykøbing war, befand sich Peter Jensen vielleicht auf der kleinen Polizeistation hier vor Ort. Eventuell konnte sie ihn um den Finger wickeln und die Verhaftung von Nick rückgängig machen. Ein Blick aus dem Fenster lockte zum Strand, und so nahm sie auch noch Badesachen mit. Gitte lief den kurzen Weg zum Torv und zur kleinen Polizeiwache zu Fuß. Torv nannte man hier den holzvertäfelten Bereich kurz vorm Strand, an dem sich Restaurants, Eisdielen und ein paar Geschäfte befanden. Auf den Holzdielen konnte man bis zum Wasser laufen oder im Rollstuhl gefahren werden. Und seit einiger Zeit gab es eine Seebrücke, auf der Rollstuhlfahrer sogar durchs Wasser fahren konnten.
Gitte hatte ein luftiges Sommerkleid an, das bei jedem Schritt ihre Beine umspielte, und eine bunte Tasche um die Schultern gehängt. Viele Touristen begegneten ihr unterwegs, Kinder waren aber noch wenige in Marielyst, die Ferien begannen erst später im Jahr. Gitte hatte Glück. Peter Jensen saß gemütlich an einem Schreibtisch, auf dem außer einem veralteten Computer, einer Lade mit Papieren und einer angefangenen Tafel Schokolade nicht viel herumlag, sodass seine Füße bequem mit auf die Schreibtischplatte passten. Als Gitte die Tür öffnete, schob er seine Beine aber in erstaunlicher Geschwindigkeit unter den Tisch. »Gitte Madsen, das hätte ich mir denken können, dass du die Finger nicht von dem aktuellen Mordfall lassen kannst.« Er strahlte sie gutmütig an, aber ihr fiel ein nervöses Flackern um die Augenlider auf. »Hej Peter. Ja, das war ein ganz blöder Zufall, dass ich zu der Zeit in Pomle Nakke essen war, als …«
»Du verdienst mit den Toten anscheinend gutes Geld, was? In dem Restaurant zahlst du nicht nur für das Essen, du erwirbst gleich Anteile an dem Gebäude, könnte man meinen.«
»Ja, zum Glück wurde ich eingeladen. Ole ist zurück und hat den Fall nun von dieser Kommissarin übernommen. Das ist doch gut.«
»Nein.« Überrascht von dieser Antwort setzte sich Gitte erst einmal hin und nahm ihre Sonnenbrille ab. »Was meinst du damit? Hast du keine Lust, einen Mordfall aufzuklären? Lässt Ole dich zu viel arbeiten?« Sie hatte es als Scherz gemeint, doch Peter verschränkte die Arme vor dem beeindruckenden Bauch und schob die Unterlippe vor. »Ich denke, ich werde mich versetzen lassen. Ole und ich, das klappt einfach nicht mehr.«
»Aber Peter, das klappt doch schon seit Jahren wunderbar!«, rief Gitte erstaunt aus. »Was ist denn passiert?«
»Ja, weil ich immer alles runtergeschluckt habe. Jede Zurechtweisung, jede Beleidigung, und hast du mal beobachtet, wie Ole die Augen verdreht, wenn ich etwas sage, was er für unnötig hält?«
Klar hatte Gitte das beobachtet. Aber Tatsache war, dass jeder mal genervt die Augen über Peters Phlegma verdrehte.
»Mein Personal Coach«, meinte Peter gewichtig, »ist davon überzeugt, dass ich mich mehr behaupten müsse. Niemand darf andere ständig abwerten. Ich bin vielleicht nicht so smart und fix wie unser Kommissar, aber ich bin auch etwas wert.« Gitte nickte und ahnte nun, woher der Wind wehte. Peter wurde von irgendeinem selbst ernannten Spezialisten offenbar aufgehetzt und zahlte für die Probleme, die er sich nun schuf, mit Sicherheit ein Heidengeld. »Aber Peter, wie kommst du denn darauf, dass Ole dich nicht wertschätzt? Er ist halt nicht der Chef, der ständig lobt, aber er hat dich doch auch schon zu meinem Fahrer und Beschützer gemacht. Weißt du noch, als wir zusammen nach Nykøbing gefahren sind letzten Sommer? Mitten in einem Mordfall? Glaubst du wirklich, er hätte seine Freundin irgendeinem X-Beliebigen mitgegeben?«
Sie sah, dass es in dem Beamten arbeitete und er den Köder schluckte. »Ja, stimmt, aber er sollte mich wirklich besser behandeln, Gitte. Ich lass mich in meinem Alter nicht mehr rumschubsen. Vielleicht gehe ich nach Kopenhagen und mache dort Karriere.« Gitte biss sich innerlich auf die Lippe, um dieser Information mit voller Ernsthaftigkeit zu begegnen. »Peter, weshalb ich hier bin, du hast gestern Abend meinen Nachbarn verhaftet, Nick, einen Holländer.«
»Der Mann hat mich tätlich angegriffen. Er ist ein gefährlicher Rowdy. Der Haftbefehl ist rechtens.«
»Natürlich ist er das«, beeilte sich Gitte. »Aber es war ganz sicher ein Missverständnis. Ihr habt euch beide auf dem falschen Fuß erwischt. Sollen wir einen Deal machen? Ich helfe dir bei deiner Beziehung zu Ole, und du lässt einen alten Freund von mir laufen.«
»Wenn du solch einen Strolch einen alten Freund nennst, sollte Ole besser auf dich aufpassen«, knurrte Peter. Aber sie sah ihm an, dass er nachdachte.
»Du weißt, dass ich Ole in den Mordfällen manchmal voraus bin, was Informationen angeht. Einer Bestatterin erzählen die Menschen einfach mehr. Ich könnte mein Wissen erst mit dir teilen, und du stehst gut da.« In Peters Gesicht lösten sich erste dunkle Wolken auf.
»Ich denke darüber nach«, merkte Peter wichtig an und hob dabei noch eine Hand.
»Komm schon, Peter. Der arme Kerl hat die ganze Nacht in einer Zelle in Nykøbing verbracht. Ruf an und sag den Kollegen, dass du keine Anzeige erstattest. Und ich kann dir schon jetzt eine Information zu dem toten Mikkel geben. Bitte!« Sie lächelte ihn an. Peter verzog keine Miene, griff aber zum Telefon und sprach mit einem Kollegen. Am Ende war sie erleichtert zu hören, wie Peter sagte: »Also lass den Flegel laufen, ich denke, er hat seine Lektion gelernt. Ich werde die Anzeige fallen lassen, wenn er kein weiteres Theater macht.« Dann legte er tatsächlich wieder die Füße auf den Tisch. »Und jetzt du, Gitte.«
»Dieser Mikkel hat ganz offen mit Birte geflirtet, und er hat es offenbar ernst gemeint, denn er hat ihr seine Visitenkarte dagelassen.«
»Eigentlich heißt es flirten, wenn man es nicht ernst meint«, gab Peter altklug von sich. »Aber seine Adresse haben wir auch ohne die Karte herausgefunden.«
»Nein, habt ihr nicht. Birte hat der Kommissarin noch an dem Abend die Visitenkarte gegeben, aber ihr nicht erzählt, warum wir sie überhaupt besaßen.«
»Und wieso ist die Info dann wichtig?«
»Alles ist wichtig, was unmittelbar vor dem gewaltsamen Tod eines Menschen stattgefunden hat. Jedenfalls war es sicher kein Selbstmord, wenn er kurz zuvor noch fröhlich seine Karte an hübsche Blondinen verteilt hat. Was wisst ihr über die Familie?«
»Einer seiner Begleiter war sein Schwager und Freund, aber er ist noch nicht aufgetaucht. Weißt du etwas über den?«
Das ist ja interessant, dachte Gitte. Der andere jüngere Mann, der mit ihnen beiden geflirtet hatte, war also Mikkels Schwager gewesen. Unwillkürlich musste sie an den Schlag auf den Kopf denken. War das der Mann gewesen? Erst machte er ihr schöne Augen, spendierte einen Nachtisch und dann … rums, gab es einen Schlag auf den Hinterkopf? Ihre Menschenkenntnis wehrte sich gegen diese Theorie. Ihre Kopfschmerzen kehrten leider langsam zurück.
»Nein«, sagte sie nur knapp auf Peters Frage hin. »Vielleicht ist er ebenfalls gestoßen worden, und das Meer hat sich bereits die Leiche geholt.« Das hatte Gitte nur so dahergesagt, aber Peter Jensen setzte sich abrupt aufrecht hin und langte nach einem Stift. »Mensch, Gitte, das ist durchaus möglich. Seine Frau hat ihn eben als vermisst gemeldet. Sie sitzt bei Ole auf der Wache in Nykøbing.« Nun stand Gitte mit einem überraschten Gesicht vor Peters Schreibtisch. Sie verabschiedete sich schnell und rannte beinahe zu Nils, der ein kleines Büro in der Nähe besaß und für die Zeitung Folketidende schrieb. »Hej Gitte. Wenn du dich bei mir über meine Schwester beschweren willst, dann bin ich nicht die richtige Adresse. Es war dein eigener Wille, mit ihr essen zu gehen.« Nils saß vor einem Bildschirm, weit vorgebeugt mit einer dünnen Lesebrille auf der Nase. Neben ihm stand eine gigantische Tasse mit Tee darin. Sie war überrascht, dass Nils über den Todesfall noch gar nicht unterrichtet war. »Gib mir auch eine Tasse Tee, aber kleiner, und ich mach dich zu einem gut informierten Journalisten.« Sie grinste so breit, dass er die Brille abnahm und sich ihr zuwandte. »Was hast du nun wieder entdeckt?«
»Dass man sich mit Birte nicht nur gut prügeln kann, sie ist zudem auch eine würdige Begleiterin bei einem aktuellen Mordfall.« Und während Nils in seinem sehr kleinen Büro Teewasser aufsetzte, erzählte Gitte ihm alles, was sie wusste.
»Ole, dieser Mistkerl, entschuldige, Gitte. Aber er hätte die Zeitung doch längst informieren müssen.«
»Er ist erst spät in der Nacht aus Schweden zurückgekommen und hat den Fall heute Morgen übertragen bekommen. Er steckt mitten in der Zeugenbefragung und hatte noch gar keine Gelegenheit. Weder zu schlafen noch dich zu unterrichten. Und es ist auch noch nicht ganz sicher, ob es Mord oder Selbstmord oder aber ein Unfall war. Aber ich tippe auf Mord und die Polizei allen Anzeichen nach auch. Kannst du Birte bitte erzählen, dass Mikkel die Nacht nicht überlebt hat und fragen, wie es ihr nach den Ereignissen geht? Ich denke, es ist ihr lieber, wenn diese Info von ihrem Bruder kommt.« Nils nickte, er hatte sein Handy bereits gezückt. Natürlich hatte Gitte ihm auch von den harmlosen Flirtversuchen erzählt. Als Nils mit dem Telefon am Ohr nach draußen ging, ahnte sie, dass Birte den Abend noch nicht ganz verarbeitet hatte. Doch weit gefehlt. Nils kam mit einem grinsenden Gesicht zurück und steckte sein Handy in die Gesäßtasche seiner viel zu engen Jeanshose. »Meine Schwester ist ehrlich erschüttert, dass dieser Mikkel es nicht geschafft hat. Aber ich bin doch erstaunt. Sie hat die halbe Nacht im Internet Informationen zu dem Mann gesammelt, und wenn nur die Hälfte von dem stimmt, was sie herausgefunden hat, dann tippe ich ebenfalls auf Mord. Es hat beinahe den Anschein, dass Birte sich von der Flirterei mehr erhofft hat.« Gitte wurde hellhörig. »Was hat sie denn herausgefunden?«
»Mikkel war mit einer bekannten dänischen Sängerin verheiratet und hat bei der Scheidung ziemlich schmutzige Wäsche gewaschen. Gleich mehrere Leute aus der Musikbranche haben ihm liebend gerne die Pest an den Leib gewünscht. Seine Ex-Frau ist bekannt unter dem Namen Lola Hus, und sie kann nicht nur singen, sondern sie ist auch eine gute Texterin und Komponistin. Sie schreibt alle ihre Songs selbst.« Nils‘ Miene drückte Bewunderung aus.
Gitte hatte noch nie von ihr gehört. So bewandert war sie in der dänischen Musikbranche nicht. »Wie lange liegt die Scheidung zurück?«
»Nun, vor zwei Jahren hat er noch gerne auf diversen Partys mit seiner berühmten Frau angegeben. Der letzte Streit vor Gericht liegt zehn Monate zurück. Seitdem ist es aber ruhiger geworden. Der Typ hätte Lola Hus unter Umständen noch eine Menge Geld gekostet.«
»Und was ist mit dem Schwager? Stammt der aus Mikkels Familie, oder ist er der Bruder der Sängerin?« Nils zog die Schultern hoch. »Das weiß ich nicht. Aber ich habe nun einen Artikel zu schreiben. Mange tak, meine Liebe.« Und sie erhielt heute tatsächlich einen Schmatzer auf die Wange. Tief in Gedanken wanderte Gitte schließlich zum Strand. Wenn man sich etwas abseits vom Zentrum einen Platz suchte, hatte man mehr Ruhe und Raum für sich. Auf der neuen Seebrücke tummelten sich gerade viele Leute und schauten auf die ruhige Ostsee oder sprangen von dort lachend ins kühlende Nass. Ein paar junge Leute hatten sich sogar einen Kasten Bier ins Meerwasser gestellt. Gitte breitete ihr Handtuch gut hundert Meter weiter entfernt aus, zog das Sommerkleid über den Kopf und lief zum Wasser. Die Ostsee war wirklich noch recht kühl, und es kostete viel Überwindung, sich einfach ins Wasser zu stürzen. Doch nach einigen Schwimmzügen akklimatisierte sich der Körper, und Gitte genoss die Ruhe und die Schwerelosigkeit im Wasser. Ihrem Kopf ging es etwas besser, nur beim schnellen Aufstehen wurde ihr noch schwindelig. Nach zwei Stunden am Strand entschied sie aber, dass sie genug Sonne abbekommen hatte, und sie schlenderte nach Hause. Ihre neue Gartenhütte, die ihr Vater Mads und Tante Stine letztes Jahr gebaut hatten, stand bereits im Schatten der Kiefern, die sich am Rande ihres Gartens befanden und stets für einen schönen Duft sorgten. Immer, wenn sie die Hütte betrat, um ihr Fahrrad zu holen oder den ebenfalls neuen Rasenmäher zu benutzen, dachte sie liebevoll an Mads. Vorletztes Jahr hatte sie ihn noch für tot gehalten, da er fast zwanzig Jahre als verschollen galt. Dann hatte sie herausgefunden, dass er die Familie in Deutschland verlassen hatte und mit einer russischen Frau und dem gemeinsamen Sohn in Kiew lebte. Gitte hatte ihn schließlich aufgespürt und erfahren, dass er in einem schwachen Moment die Schwester eines russischen Kunden verführt hat oder sich hat verführen lassen und sie schwanger wurde. Diese Umstände zwangen ihn dazu, seine Familie zu verlassen, um für die neue zu sorgen. Man legte sich besser nicht mit einem russischen Oligarchen an. Diese Lektion hatte Mads vor zwei Jahrzehnten schmerzlich lernen müssen. Sie seufzte unwillkürlich, als sie ihre Haustür öffnete. Leider war Mads nach einem längeren Aufenthalt in Marielyst im letzten Sommer noch immer in Kiew. Sie sollte ihn dringend anrufen und zu einem Familienurlaub überreden, dachte sie, denn ihren Halbbruder hatte sie noch immer nicht kennengelernt. Hundegebell riss sie aus den Gedanken an ihren Dad. Luuk klopfte an ihre Terrassentür und stand bereits halb im Wohnzimmer. Von seinem Ferienhaus aus konnte er Gittes Grundstück kaum einsehen.
Gitte wunderte sich. »Hast du eine Überwachungskamera in meinem Garten installiert?«
»Natürlich. Ich sitze hier auf heißen Kohlen und habe schon mit zwei Anwälten in den Niederlanden telefoniert. Das war wenig erfreulich. Oh je, die Dänen verstehen aber gar keinen Spaß«, äffte er jemanden nach, der ihm offenbar nicht helfen wollte oder konnte. Und er zitierte den nächsten Anwalt: »Besser dein Freund ist geständig und vor allem reuevoll, dann kommt er mit einem Bußgeld und einem Landesverweis davon.« Luuk riss die Augen auf. »Gitte, Marielyst ist unser Lieblingsort!« Gitte streichelte das weiche Fell von Brutus, der dabei kräftig mit dem Hintern wackelte. »Das kann es auch bleiben. Du kannst Nick abholen, der Beamte sieht von einer Anzeige ab.«
»Oh Mann. Danke, Gitte. Dein Typ scheint dich wirklich zu lieben. Dabei bist du viel zu gut für ihn.« Sichtlich erleichtert ließ Luuk sich in den nächsten Sessel fallen und streckte seine braun gebrannten kräftigen Beine weit von sich.
»Ich hoffe, dass Ole mich liebt, aber mit ihm habe ich gar nicht gesprochen, sondern mit Peter. Das ist der Beamte, der sich von euch provoziert fühlte. Ich muss ihm nun beim aktuellen Mordfall zuarbeiten. Das war der Deal. An Ole vorbei.«
»Du hast deine Seele für Nicks Freiheit verkauft? Das wird er dir nie vergessen.«
»Wohl eher meine Scharfsinnigkeit. In Peters Welt ergibt zwei plus zwei oft grandiose fünf. Oh, das wird sicher Nick sein. Geh mal dran.«
In Luuks Tasche vibrierte es, und Luuk schaltete sofort den Lautsprecher ein. Nicks Stimme klang müde, aber auch freudig überrascht: »Alter, beweg deinen Hintern nach Nykøbing. Ich brauche eine Dusche, ein Frühstück und ein Bett, und bring mir die Reihenfolge bloß nicht durcheinander.« Und dann bekam Gitte heute den zweiten Schmatzer auf die Wange und blickte lachend dem Holländer mit seinem Rottweiler hinterher. Zwei Hinterteile, die sich beinahe synchron Richtung Nachbargrundstück entfernten. Sie selbst setzte sich an ihren Laptop und googelte sich durch die Musikbranche in Dänemark, speziell suchte sie nach der Rolle, die Lola Hus darin spielte. Die Schlagzeilen, die nun folgen würden, weil ihr Ex-Mann unter mysteriösen Umständen verstorben war, würden dem Star sicher guttun. Denn, wie hatte ihr Nils mal erklärt? »Es ist nicht wichtig, ob du positive oder negative Schlagzeilen produzierst, Hauptsache, du stehst in der Presse.«
