Dänische Schuld - Frida Gronover - E-Book
SONDERANGEBOT

Dänische Schuld E-Book

Frida Gronover

0,0
8,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 8,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.

Mehr erfahren.
Beschreibung

In der dänischen Ferienidylle tun sich Abgründe auf … Die Bestatterin Gitte Madsen hat sich gut in ihrer neuen Heimat, dem idyllischen Ferienort Marielyst, eingelebt. Doch die Ruhe währt nicht lang: Als sie im Restaurant Schou's zu Abend isst, fällt ein anderer Gast tot vom Stuhl. Was zunächst wie eine fatale Pilzvergiftung aussieht, entpuppt sich schnell als heimtückischer Giftmord. Ehe sie sich's versieht, ermittelt Gitte in einem neuen Fall. Sie findet heraus, dass es im nahen Umfeld des Toten auffällig viele seltsame Unfälle gegeben hat. Reiner Zufall? Oder schwebt womöglich die ganze Familie von Lars Andresen in großer Gefahr?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2020

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Dänische Schuld

Die Autorin

FRIDA GRONOVER, geboren 1969, studierte Diplom-Pädagogik und Kunsttherapie an der Universität Münster. Seit 1993 arbeitet sie als Klinik-Therapeutin. Die Sommer ihrer Kindheit verbrachte sie auf Falster und ist der dänischen Insel seitdem besonders verbunden. Sie lebt zusammen mit ihrer Familie und ihren Tieren in Nordrhein-Westfalen.

Von Frida Gronover sind in unserem Hause bereits erschienen:Ein dänisches Verbrechen · Dänische SchuldDänische Gier · Dänische Brandung

Das Buch

Die Bestatterin Gitte Madsen hat sich gut in ihrer neuen Heimat, dem idyllischen Ferienort Marielyst, eingelebt. Doch die Ruhe währt nicht lang: Als sie im Restaurant Schou’s zu Abend isst, fällt ein anderer Gast tot vom Stuhl. Was zunächst wie eine fatale Pilzvergiftung aussieht, entpuppt sich schnell als heimtückischer Giftmord. Ehe sie sich’s versieht, ermittelt Gitte in einem neuen Fall. Sie findet heraus, dass es im nahen Umfeld des Toten auffällig viele seltsame Unfälle gegeben hat. Reiner Zufall? Oder schwebt womöglich die ganze Familie von Lars Andresen in großer Gefahr?

Frida Gronover

Dänische Schuld

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch 1. Auflage Juli 2020 © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020 Umschlaggestaltung: zero-media.net, München Titelabbildung: © Daniel Schoenen / getty images (Haus mit Steg am Meer); © PhotographerCW / getty images (Fahne); © Roberto Moiola / Sysaworld / getty images (Strand im Hintergrund); © FinePic®, München (Düne) Autorinnenfoto: © Privat E-Book-Konvertierung powered by pepyrusAlle Rechte vorbehalten. ISBN 978-3-8437-2220-9

Emojis werden bereitgestellt von openmoji.org unter der Lizenz CC BY-SA 4.0.

Auf einigen Lesegeräten erzeugt das Öffnen dieses E-Books in der aktuellen Formatversion EPUB3 einen Warnhinweis, der auf ein nicht unterstütztes Dateiformat hinweist und vor Darstellungs- und Systemfehlern warnt. Das Öffnen dieses E-Books stellt demgegenüber auf sämtlichen Lesegeräten keine Gefahr dar und ist unbedenklich. Bitte ignorieren Sie etwaige Warnhinweise und wenden sich bei Fragen vertrauensvoll an unseren Verlag! Wir wünschen viel Lesevergnügen.

Hinweis zu UrheberrechtenSämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

Danksagung

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

1

Widmung

Für Annelie, die sich wunderbar in Marielyst für die Urlaube von Familien mit besonderen Kindern einsetzt. Und für Alex, der so schöne Fotos von Marielyst und Umgebung macht.

1

Gitte stieg die Treppenstufen hinauf, die zum Sonnendeck der Fähre führten. Sie musste kurz warten, als ihr eine korpulente Frau entgegenkam, die den Platz am Geländer benötigte. Der Geruch von Zigarettenrauch stieg Gitte in die Nase. Die Frau schnaufte laut und heftig, da blieb offenbar keine Kraft für ein freundliches Gesicht. An Deck der Fähre strahlte die Septembersonne hingegen fröhlich von einem fast wolkenlosen Himmel, und Gitte sog die wunderbare salzige Meeresluft ein. Ein paar Möwen kreischten über dem Schiff, es war nicht mehr weit bis zur dänischen Küste.

Gitte freute sich auf ihr Zuhause in Marielyst auf der dänischen Insel Falster. Sie hatte für ein paar Tage Urlaub in der alten Heimat Münster gemacht und ein paar Freunde getroffen. Anlass war die Hochzeit einer ehemaligen Kollegin gewesen. Zum Glück hatte keiner ihrer Bekannten darauf gedrängt, dass Gitte ihre dänische Wahlheimat wieder aufgab und nach Münster zurückkehrte. Sie alle hatten deutlich gespürt, wie wohl Gitte sich in dem Wikingerland fühlte, in dem sie seit Juli dieses Jahres lebte. Kein Wunder, denn die Liebe zu Dänemark lag ihr gewissermaßen im Blut, schließlich war sie das Kind eines Dänen und einer Deutschen. Ihre blonden Haare und die braunen Augen hatte sie von ihrem Vater geerbt, ihre leichten Rundungen von der Mutter.

Gitte war von der Feier am Vorabend müde und gähnte in die Sonne. Sie blickte sich um, voll besetzt war die Fähre nicht. Es war ein Sonntagmittag, und die Urlaubszeit ging erst wieder mit den Herbstferien los. Gitte beugte sich über die Reling. Sie liebte es zu beobachten, wie der Bug der Fähre durch das Wasser brach, während der Seewind ihr um die Nase strich. Sie war überrascht, als sie nach vierzig Minuten bereits den dänischen Hafen Rødby vor sich sah.

Als sie zwei Stunden später in den Kreisverkehr von Marielyst einfuhr, bog sie zunächst zum Einkaufscenter ab. In Dänemark gab es keine vorgeschriebenen Ladenöffnungszeiten, und in einem Ferienort wie Marielyst konnte man sogar außerhalb der Saison sonntags bis einundzwanzig Uhr einkaufen. Heute ignorierte Gitte die leckeren Marzipanangebote und Lakritzspezialitäten sowie das süße dänische Gebäck. Mit zwei Tüten voller gesunder Sachen, die die Völlerei der vergangenen Tage kompensieren sollten, machte sie sich auf den Heimweg. Bis zu ihrem Häuschen im Anemonenvej war es nicht mehr weit.

Im Grunde war es ein Ferienhaus, das neben anderen Mietobjekten lag. So wohnte Gitte zwischen lauter Urlaubern und lernte immer wieder nette Menschen kennen. Doch als sie den Golf mit dem Berliner Kennzeichen auf dem Nachbargrundstück entdeckte, stöhnte sie leise auf. Die aktuellen Urlauber waren also noch da. Es handelte sich um ein junges Pärchen, das sich leider ewig zankte, und zwar lautstark, drinnen wie draußen. Wenn einer von beiden doch nur seine wiederholten Drohungen wahr machen und endlich nach Hause fahren würde!

Umso mehr freute Gitte sich über die Karte aus Schweden, die sie in ihrem Briefkasten vorfand. Erik Nyström, ein Urlaubsnachbar aus dem Sommer, schrieb ihr, dass er bald für zehn Tage wieder nach Marielyst kommen würde. Eventuell mit seiner Frau! Das wäre eine kleine Sensation, denn seine Frau, eine Künstlerin, verreiste nur sehr ungern. Diese allgemein verbreitete Leidenschaft hielt sie für völlig überbewertet, da man zwar die Umgebung wechselte, beim Komfort aber auf eine Menge verzichten müsste. Eriks Frau war davon überzeugt, dass die meisten Abenteuer im Kopf stattfanden, und blieb lieber dort, wo sie sich gut fühlte: neben ihrer Kaffeemaschine, vor der Staffelei oder hinter ihren Büchern. Sie arbeitete als freischaffende Künstlerin und gestaltete häufig düstere Buchcover für einen Verlag. Auf eine schön gemalte sanfte Landschaft wartete Erik bislang vergebens. Laut ihrem Mann sah sie der deutschen Schauspielerin Hannelore Elsner verblüffend ähnlich. Ich bin wieder im Haus neben dir und passe dann auf dich auf, schrieb Erik. Gitte lächelte und dachte an die aufregenden Sommerwochen zurück, als sie vor ihrer Tür eine Leiche gefunden und in einem Mordfall ermittelt hatte.

Gitte parkte ihren alten Kombi auf der platt gefahrenen Wiese neben dem Haus und trug die Einkäufe hinein. Ihr Domizil war nicht sonderlich luxuriös, dafür aber praktisch eingerichtet, auch wenn sie einige Möbel, die ihr nicht gefielen, ausgetauscht hatte. Ihr Vermieter Tony murrte zwar bei jedem Möbelstück, das er in Gewahrsam nehmen musste, doch er war ein gutmütiger älterer Däne, der jede Form von Stress vermied und sich freute, wie wohl Gitte sich in seinem bescheidenen Häuschen fühlte. So stand im Wohnzimmer ein hübscher heller Sekretär, und auch der Esstisch war neu. Hier hatte Gitte sich für einen modernen Glastisch entschieden. Superpraktisch, stöhnte sie jedes Mal, wenn im Sonnenlicht lauter Fettflecken auf der Glasplatte glänzten. Als Nächstes wollte sie den alten Teppich austauschen, den schon zu viele Touristen gesehen hatten.

Nachdem Gitte auch ihren Koffer hereingeholt hatte, blickte sie sich um. Etwas fehlte. Hieronymus, ihre über dreißig Jahre alte Schildkröte. Sie hatte sie in die Obhut ihres Chefs gegeben und würde sie erst am Montag zurücknehmen.

Das Klingeln ihres Telefons schreckte sie aus ihren Gedanken.

»Hej, Gitte!« Es war Malthe, der Sohn von Sven Træborg, der das bekannte Restaurant Schou’s im Ort betrieb. »Ich habe dich eben auf dem Parkplatz vom Rema gesehen. Lass deine Einkäufe stehen, und geh heute Abend mit mir essen. Mein Vater lädt uns bestimmt ein. Du bist doch hungrig, oder? Nur sehr hungrige Leute gehen sonntags einkaufen.«

»Ich komme gerade aus Deutschland zurück, mein Kühlschrank war leer.« Sie überlegte schnell. Ein saftiges Steak im Schou’s oder Stjerneskud med Rejer, also Schollenfilet mit Krabben aus der Tiefkühltruhe. Die Entscheidung fiel leicht.

»Ich komme gerne mit, danke, Malthe.«

Kurz vor sechs stand Malthe vor ihrer Tür.

»Hattet ihr schlechtes Wetter in Münster?«, begrüßte er sie. »Du siehst recht blass aus.«

Sie grinste schief und zog den Bauch ein, als Malthe sie so genau betrachtete. »In Münster regnet es leider recht häufig, und nächtelanges Feiern ist auch kein gutes Rezept für einen frischen Teint.«

Die Dänen aßen früh zu Abend, um neun Uhr brauchte man kein Essen mehr zu bestellen, meist saß man ab halb zehn allein im Restaurant. So richtig hungrig war Gitte noch nicht, Malthes Magen knurrte hingegen laut. Sie gingen die wenigen Meter zu Fuß; er lief wie ein Wolf, der seine Beute witterte. Malthe hatte die dunklen Augen und die dunklen Haare seines Vaters. Er hatte seine Haare heute zu einem Zopf gebunden und trug eine Lederjacke, in der er wie ein Bandmusiker aussah, der er in seiner Freizeit auch war.

Auf dem kurzen Weg zum Restaurant erzählte Malthe ihr, was er in den letzten Wochen erlebt und gemacht hatte, und prahlte scherzhaft: »Du kennst ja meine Qualitäten als Gitarrist einer großartigen Band. Wir haben viel geprobt, und eventuell bekommen wir einen Gig in Kopenhagen. Das wäre schon toll. Und während du in Münster eine brave christliche Hochzeit gefeiert hast, war ich zu einer heidnischen Trauung eingeladen, in Odense. Einer unserer Musiker hat eine sehr brave Tochter aus einer frommen christlichen Familie geheiratet. Aber sie haben sich für die Zeremonie der Forn Siðr entschieden. Die evangelischen Eltern waren nicht gerade begeistert, doch sie haben sich tapfer geschlagen. Es gab ein großes Spektakel mit viel Tanz und Gesang und leider auch viel Alkohol. Ich konnte erst gestern Nachmittag wieder zurückfahren.«

Malthe gehörte einer uralten dänischen Religion an, der Forn Siðr, der sogenannten Alten Sitte. Sie war seit einigen Jahren als eigenständige Glaubensgemeinschaft vom Staat anerkannt. Von ihren Treffen und Ritualen erzählte Malthe gerne.

Gitte war beeindruckt. »Dann war deine Hochzeit sicher spannender. Meine Freundin hat sehr brav und katholisch in der Kirche geheiratet. Und morgen fliegt das Hochzeitspaar nach La Gomera. Die Glücklichen.«

»Willst du auch mal heiraten, Gitte?« Malthe blieb abrupt stehen und betrachtete sie.

Gitte verdrehte die Augen. »Malthe, darüber mache ich mir Gedanken, wenn ich mich verliebt habe. Und dann bespreche ich das mit meinem Freund. Was stellst du denn für Fragen?«

Das Schou’s lag direkt an einer der großen Hauptstraßen von Marielyst, am Bøtøvej, von dem aus viele kleine Gassen zum Strand führten. Gitte war froh über ihre warme Jacke, denn jetzt am Abend wurde es empfindlich kühl. Der Herbst lag in der Luft. Die Feuchtigkeit roch abends anders als im Hochsommer, würzig und irgendwie erdig.

Sie überquerten eine kleine Straße und hatten das Schou’s erreicht. Von der vorderen Seite aus war nur die angrenzende Metzgerei zu betreten, die ebenfalls von Malthes Vater Sven betrieben wurde. In das Restaurant hingegen gelangte man durch eine Tür an der Rückseite des Hauses. Ein Flur, in dem man seine Jacke an der Garderobe lassen konnte, führte in den behaglichen Gastraum.

»Weiß Sven, dass wir kommen?«

»Nein, ich habe meinen Vater selbst seit einer Woche nicht mehr gesehen und hoffe, er freut sich.« Malthe grinste sie an und öffnete mit Schwung die Tür. Ein Schwall warmer, nach Essen duftender Luft strömte ihnen entgegen. Das Restaurant war gut besucht, nur zwei Tische waren noch frei.

Der Kellner, ein junger Mann, begrüßte Malthe mit einem Schlag auf die Schulter, dann rief er etwas in die Küche, und kurz darauf kam der kräftige Besitzer des Schou’s mit seinen wallenden, grau melierten Haaren, die ihm bis zur Schulter reichten.

Sven Træborg freute sich sichtlich über den Besuch, neckte seinen Sohn aber: »Hej, Malthe, du kommst doch nur zum Schnorren her, oder?«

»Ich finde, wir sollten feiern, dass Gitte wohlbehalten aus Deutschland zurückgekehrt ist und sich nicht doch für die alte Heimat entschieden hat. Bei ihrem Job hier wäre eine Flucht durchaus denkbar.« Malthe hielt ihr galant einen Stuhl hin.

Gitte lachte. »Was stimmt mit meinem Job nicht?«

»Zu viele Tote für eine so hübsche Frau.«

Gitte konterte rasch. »Alle anständig gestorben und im Umgang sehr friedlich.« Sie wandte sich an Sven. »Dein Freund Paul Larstsen ist ein angenehmer Chef und ein einfühlsamer Bestatter. Ich arbeite gern mit ihm zusammen.«

Sven nickte und gab ihnen beiden die Speisekarte. »Ich empfehle das Steak mit Pfifferlingen. Die Pilzsaison startet gerade.«

Am Nachbartisch saß ein Paar mittleren Alters, das ebendieses Gericht soeben vom Kellner an den Tisch gebracht bekam. Das Essen duftete köstlich. Gitte beobachtete, wie der Mann genüsslich die Nase zum Teller beugte. Bevor er zum Besteck griff, nahm er zunächst aber eine dicke Tablette und eine lange schmale aus einem Döschen ein.

Gitte wandte den Blick ab und widmete sich wieder der Karte, hatte sich jedoch eigentlich bereits für das Steak mit den Pilzen entschieden. Malthe bestellte sich den typisch dänischen Schweinebauch mit Petersiliensoße. Sven gab die Bestellung an die Küche weiter und setzte sich zu ihnen an den Tisch.

»Deine Mutter liegt krank im Bett. Sie hat sich eine Grippe eingefangen, die Arme. Gestern hatte sie sogar richtig Fieber. Vielleicht gehst du mal kurz zu ihr und sagst Guten Tag, Malthe. Sie freut sich bestimmt, dich zu sehen.«

Gitte hatte den Eindruck, dass Sven seinen Sohn aus dem Raum schicken wollte, um unter vier Augen mit ihr zu sprechen. Malthe trollte sich gutmütig, und Sven kam gleich zur Sache: »Es geht um deinen verschwundenen Vater. Auch wenn das alles schon Jahrzehnte her ist, habe ich da doch noch etwas ausgegraben.«

Gitte war vor einigen Monaten nicht nur wegen des schönen Strandes nach Dänemark ausgewandert, sondern auch, weil hier ihr Vater vor achtzehn Jahren zum letzten Mal gesehen worden war. Sven hatte Gittes Vater Mads kurz vor dessen Verschwinden in seinem Restaurant empfangen und bedient. Doch ihr Vater war an jenem Abend nicht alleine hier gewesen. Schon vor Wochen hatte Sven ihr von den zwielichtig aussehenden Russen erzählt, die ihren Vater begleitet hatten. Mads war im Immobiliengeschäft tätig und hielt sich damals wegen einiger Geschäfte in Marielyst auf. Das letzte Lebenszeichen, das Gittes Mutter erhalten hatte, war ein Telefonat, in dem er seine baldige Heimreise nach Deutschland angekündigt hatte. Gitte war zu der Zeit ein Teenager gewesen. Sie hatte niemals daran gezweifelt, dass ein Verbrechen für das Verschwinden des Vaters verantwortlich war. Ihre Mutter hatte schon mal den Verdacht geäußert, Mads hätte sich mit einer anderen Frau aus dem Staub gemacht und sein altes Leben ad acta gelegt. Sie hatten die Wahrheit bis heute nicht herausgefunden, und Gittes Mutter war inzwischen verstorben.

Sven beugte sich jetzt zu Gitte und sagte. »Gitte, ich habe dir doch vor einiger Zeit von den Russen erzählt, die damals mit deinem Vater hier bei mir gegessen haben, du erinnerst dich?«

»Natürlich, ich denke oft daran.«

»Nun, ich habe in meinen alten Notizen herumgestöbert. Ich führe nämlich seit meinem zwanzigsten Lebensjahr Tagebuch. Nichts Besonderes, immer nur ein paar wichtige Daten oder Erlebnisse, manchmal sogar Erkenntnisse.« Er grinste. »Jedenfalls habe ich nachgeschaut, ob ich das Verschwinden deines Vaters damals erwähnt hatte. Das war ja schon eine Nachricht wert, wenngleich der Vorfall kaum durch die Presse ging. Mads war ein erwachsener Mann, der von seiner Familie als vermisst gemeldet worden war. Das musste nicht zwangsläufig ein Verbrechen sein, du weißt, was ich meine.«

Gitte nickte und rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her. Nach so vielen Jahren endlich Informationen zu bekommen war aufregend. Sven kramte einen Zettel heraus und gab ihn ihr. Das hatte er schon einmal getan. Vor einigen Wochen hatte er ihr den Namen der alten Sekretärin ihres Vaters gegeben. Nun stand ein fremdländischer Name darauf: Wladimir Wolkow. Gitte blickte auf. »Wer ist das?«

»Der Mann, der damals den Tisch reserviert hat. Ich weiß nicht, warum, aber ich habe den Namen aufgeschrieben. Ich habe kein Gesicht mehr dazu, doch sympathisch war keiner von denen. Das habe ich dir bereits erzählt.« Er beugte sich noch ein Stück weiter vor und wurde eindringlich. »Gitte, ich halte es für keine gute Idee, wenn du alleine Nachforschungen anstellst. Wer weiß, was du für schlafende Hunde weckst. Zieh Ole hinzu.«

Ole. Ihn hatte Gitte schon seit ein paar Wochen nicht mehr gesehen. Und das störte sie mehr, als sie zugeben würde.

Malthe kam zurück und nahm sich ein Bier. Zu seinem Vater sagte er: »Himmel, Mutter hat es ganz schön erwischt. Sie hat eine Stimme wie Joe Cocker nach einem Konzert. Pflege sie mal bloß gut.«

»Ich bringe ihr jetzt eine Hühnerbrühe«, sagte Sven und ließ die beiden allein.

Während Gitte und Malthe sich unterhielten, begann der Herr am Nachbartisch plötzlich, laut nach Luft zu schnappen. Er griff sich an den Kragen und lockerte sein stark verschwitztes Hemd, während er immer wieder hustete. Die Gespräche an den Nachbartischen verstummten schlagartig. Alle Blicke waren auf den Mann gerichtet, der mittlerweile von einem starken Krampfanfall geschüttelt wurde und sich hilflos mit einer Hand an der Tischkante festhielt. Mit der anderen Hand griff er nach seinem Hals. Seine Frau sprang auf und fragte ihn panisch, was los sei. Dann schrie sie laut um Hilfe, denn ihr Mann war mitsamt seinem Teller zu Boden gegangen. Zappelnd und röchelnd lag er dort.

Malthe reagierte als Erster. Er sprang auf und kniete sich zu dem krampfenden Mann, der offensichtlich höchste Not litt. Seine Augen verschwanden unter den Lidern, aus seinem Mund quoll Speichel. Gitte kramte hektisch nach ihrem Handy und wählte den Notruf. Sah so ein epileptischer Anfall aus? Oder hatte der Mann etwa einen vergifteten Pilz gegessen? Zum Glück hatte sie ihr Gericht noch nicht erhalten. Aber die Frau …! Das Paar hatte das Gleiche gegessen, Steak mit Pfifferlingen. Die Begleiterin war in heller Aufregung, zeigte jedoch keinerlei Symptome.

Malthe versuchte, dem Mann Flüssigkeit einzuflößen, aber die Hilfe kam zu spät. Voller Entsetzen mussten alle Anwesenden mit ansehen, wie der Körper des Mannes sich aufbäumte und dann erschlaffte und sein Kopf zur Seite sackte. Er war tot.

Seine Frau warf sich laut weinend über ihn, drängte Malthe zur Seite und schüttelte gleichzeitig den leblosen Körper. »Mein Gott, die Pilze. Man hat ihn vergiftet.« Dann kniete sie sich neben ihren Mann und begann hektisch, aber kräftig mit einer Herzdruckmassage. Sie ließ sich von niemandem helfen. Erst als der Notarzt eintraf und sie sanft zur Seite schob, wich alle Energie aus ihrem Körper, und sie sackte auf einem Stuhl zusammen.

Der Aufruhr und das Entsetzen im Raum waren körperlich spürbar. Gitte sah aus den Augenwinkeln, dass ein anderer Gast seinen Teller panisch zur Seite schob. Eigentlich konnte sie sich nicht vorstellen, dass Sven so nachlässig war und giftige Pilze verarbeitet hatte. Die meisten Pilze im Restaurant kamen ohnehin aus Züchtungen und nicht aus dem Wald, hatte Malthe ihr bei der Essensbestellung erzählt.

»Ja, der arme Mann hat tatsächlich Gift zu sich genommen, allerdings nicht durch Pilze«, bestätigte kurz darauf der Notarzt, der sofort den Geruch von Bittermandeln am Mund des Toten wahrgenommen hatte.

Unvermittelt fand Gitte sich an einem Tatort wieder. Keiner der Anwesenden durfte das Restaurant verlassen, bis die Kriminalpolizei die Ermittlungen aufgenommen hatte. Nun würde sie Ole wiedersehen, auch wenn ihm dieses Zusammentreffen mit Sicherheit nicht gefallen würde. Ihr erstes Wiedersehen nach längerer Zeit, und wieder lag ein Toter zu ihren Füßen …

»Ole Ansgaard«, machte sich der Kommissar wenig später bekannt, als er mit einigen Beamten im Restaurant erschien. Groß, breitschultrig und so, wie man sich einen Dänen vorstellte: blonde Haare, blaue Augen und ein markantes Kinn mit einem Grübchen. Als er Gitte und Malthe nebeneinander sah, verschwand das souveräne Lächeln aus seinem Gesicht. »Gitte. Kellnerst du jetzt?«, fragte er und schien das auch noch ernst zu meinen.

»Nein, Malthe hat mich zum Essen eingeladen. Ich bin ganz zufällig hier.« Gitte hoffte, dass Ole keine falschen Schlüsse aus ihrer Verabredung mit Malthe zog. Er hatte seine Vorbehalte gegen den Musiker mit seinen zahlreichen Frauenbekanntschaften.

Mit einem abschätzenden Blick musterte Ole Ansgaard Malthe und sagte: »Zufällig? Sicher nicht. Und ich gehe mal davon aus, dass Sven euch einlädt, oder lässt er den eigenen Sohn zahlen?«

Malthe reagierte gelassen auf die Spitze. »Er lässt mich spülen. Gut, dass du da bist, Ole. Ein Toter in einem Restaurant ist keine gute Werbung. Es wäre wichtig, dass die Wahrheit über die Ursache schnell an die Öffentlichkeit gelangt, damit niemand denkt, es hätte an den Pilzen gelegen.«

Der Kommissar nickte. »Ich rufe Nils Jansen hinzu.«

Nils war der Journalist vor Ort. Er schrieb für die Zeitung Sydfalsternyt. In diesem beschaulichen Ort mit seinen gut 700 Einwohnern berichtete er vor allem über Konzerte, bauliche Veränderungen oder touristische Anekdoten, manchmal auch über kleinere Diebstähle oder Verkehrsdelikte, aber normalerweise nicht über Mord und Totschlag.

»Ihr werdet sicher den Auftrag für die Bestattung bekommen, denn der Verstorbene war kein Tourist, sondern lebte hier in Marielyst. Ich weiß, dass er Ferienobjekte verwaltete. Zuerst geht die Leiche aber in die Gerichtsmedizin. Du kennst das ja«, fuhr der Kommissar fort.

Er setzte sich an einen Tisch; den Kopf tief gebeugt, schrieb er sich Notizen in sein Heft. Gitte hatte schon des Öfteren bemerkt, dass Ole Anzeichen von Kurzsichtigkeit zeigte, aber sie sprach ihn nicht darauf an. Auch Männer konnten eitel sein. Als er fertig war, sah er auf.

»Gitte, mit deiner Aura stimmt irgendetwas nicht. Wie kann man denn zweimal in so kurzer Zeit an einem Tatort zugegen sein? Die meisten Menschen sehen irgendwann einmal die Leiche ihres Großvaters, der Rest findet im Fernsehen statt. Du machst die Beschäftigung mit Leichen nicht nur zu deinem Beruf, nein, du sammelst sie auch noch in deiner Freizeit.« Er stöhnte empört auf.

In diesem Moment kam Nils Jansen durch die Tür und blickte sich mit geschultem Auge um, bevor er seine Kamera zückte und ein paar Bilder von dem Restaurant machte. Die Leiche war mittlerweile in die Gerichtsmedizin gebracht worden. Davon hätte Nils kein Foto schießen dürfen.

Erstaunt blickte er schließlich Gitte an. »Hej, dürft ihr die Leiche schon mitnehmen? Du arbeitest doch noch beim Bestatter Larstsen, oder?«

»Ich bin rein zufällig hier. Ich wollte nur essen gehen.« Gitte schob ihre schulterlangen blonden Haare nach hinten. Eine Geste der Verlegenheit.

Nils entblößte grinsend seine gelben Raucherzähne. »Schon wieder zufällig in der Nähe einer Leiche? Wie machst du das bloß? Ich gäbe sonst was dafür, immer als Erster am Tatort zu sein.«

Nun stöhnte Gitte genervt auf. Mussten denn alle darauf herumreiten? Ja, sie hatte bei ihrer Ankunft in Marielyst vor wenigen Monaten einen Toten auf ihrer Terrasse gefunden. Die ganze Angelegenheit war traurig genug gewesen. Daran musste dieser auf jung getrimmte Schreiberling sie nicht auch noch erinnern. Sie betrachtete seine Hose, die mit den vielen Taschen aussah, als wolle er zu einem Pfadfinderlehrgang aufbrechen. Auch das Sweatshirt mit den baumelnden Bändern und der Kapuze hätte einem Zwanzigjährigen besser gestanden als einem vierzigjährigen Journalisten.

Nils wandte sich an Ole, um Informationen für seinen Artikel zu bekommen. Sicher würde er auch den Besitzer des Restaurants nach seiner Meinung befragen. Gitte schaute sich nach Malthe um, der seinem Vater beistand. Sven war tief betroffen. Zum einen hatte er den Toten gut gekannt, so wie jeden hier im Ort. Zum anderen war es eine furchtbare Tragödie, dass der Mann in seinem Restaurant gestorben war.

Es stand noch nicht fest, wie der Mann das Zyankali zu sich genommen hatte. Gitte fiel erst jetzt die Tablettendose wieder ein, und sie zupfte Ole ungeduldig am Ärmel, während der ein paar Sätze mit Nils austauschte. Er hob abwehrend den Arm und setzte sein Gespräch fort. Dann erst wandte er sich an Gitte, die ihm von den beiden Tabletten erzählte, die der Tote kurz vor dem Essen geschluckt hatte.

»Warum hast du das nicht gleich gesagt?«, blaffte Ole sie an und blickte sich suchend nach der Begleiterin um. Die Ehefrau des Toten hatte mittlerweile vom Notarzt ein Beruhigungsmittel erhalten und saß leise vor sich hin schluchzend auf einem Stuhl. Ihre rötlich braunen Haare, die sie locker zu einem Knoten zusammengefasst hatte, lösten sich aus der Frisur und rahmten das schmale Gesicht ein. Sie sah sehr zerbrechlich aus, und Ole bat Gitte: »Rede du bitte mit ihr. Du hast doch Erfahrung mit Opfern.«

Die hatte Gitte. Vor ihrem Umzug nach Marielyst hatte sie in Münster bei der Polizei in der Opferhilfe gearbeitet. In der neuen Heimat hatte sie diesen Job ganz bewusst an den Nagel gehängt. Zu lange schon hatte sie sich düstere Geschichten anhören müssen. Die Arbeit mit den Verstorbenen verlief deutlich stiller, und Gitte mochte es, dem Tod eine gewisse Würde zu verleihen.

Gitte setzte sich zu der trauernden Ehefrau und stellte sich vor. Dabei nannte sie nur ihren Namen, ohne zu erwähnen, dass sie beim hiesigen Bestatter arbeitete. Das hätte allzu sehr nach einem Geschäftsgespräch ausgesehen. Karla Andresen war etwa Mitte vierzig und besaß trotz einiger Falten um Augen und Mund ein niedliches Gesicht mit großen blauen Augen.

Gitte redete behutsam auf die Frau ein, sprach ihr ihr Beileid aus und hörte zu, als sie über den Verlauf des Tages berichtete, der so harmlos begonnen hatte. Ihr Mann sei, obgleich es Sonntag war, kurz in sein Büro gefahren. Manchmal kamen auch sonntags Urlauber an, und er musste die Schlüssel übergeben. Auf Gittes Frage nach den Tabletten guckte sie erschrocken und sagte: »Wie perfide. Das, was ihm helfen soll, wurde vielleicht zur tödlichen Dosis?«

»Wer hatte denn Zugang zu seinen Tabletten?« Gitte bemühte sich, beiläufig zu klingen, dennoch rief die Frau erschrocken: »Ich natürlich! Bin ich jetzt verdächtig? Ich bringe doch nicht meinen Mann um!« Ihr Gesicht bekam rote Flecken, und sie schnäuzte wiederholt in ein Taschentuch, das sie krampfhaft in der rechten Hand hielt.

Ole stand in der Nähe und hörte jedes Wort mit. Jetzt kam er Gitte zuvor und sagte: »Karla, es tut mir leid, wir müssen jede Spur verfolgen, und ich muss dich fragen, wer alles Zugang zu den Tabletten deines Mannes hatte. Das heißt nicht, dass du verdächtig bist.«

»Das klingt jetzt komisch, aber praktisch jeder hatte Zugang zu der Dose, weil er darin auch seine Tabletten gegen seine Laktoseintoleranz aufbewahrte, und die brauchte er ständig. Außerdem nahm er noch Pillen gegen Migräne ein. Also lag seine Dose auch überall herum: im Büro, zu Hause, bei Gästen. Am Samstag hatte er sie sogar im Büro vergessen. Das Antibiotikum hat er gestern Abend dann einfach ausgelassen, weil er keine Lust mehr hatte, noch mal ins Büro zu fahren. Da hätte sich praktisch jeder dran zu schaffen machen können.«

Sie biss in ihre Faust, als würde ihr erst jetzt bewusst werden, dass ihr Mann nie wieder in sein Büro fahren würde.

»Dein Mann nahm also drei unterschiedliche Medikamente ein, richtig?« Ole zückte sein Notizbuch und hielt es sich sehr nah vor die Nase, als er schrieb. »Wofür hat er das Antibiotikum genommen?«

»Er hatte eine Harnwegsinfektion.«

»Kannst du mir bitte alle Medikamente aushändigen, die du noch von deinem Mann besitzt? Und es ist wichtig, eine Liste aller Angestellten und Personen zu bekommen, die Zutritt zu den Büroräumen haben. Ich komme morgen bei dir vorbei und sehe mir dann auch sein Büro an und spreche mit den Mitarbeitern. Wir werden den Fall schon aufklären.«

»Ich weiß nicht. Morgen schon? Ich muss mich um so viel kümmern, ich weiß doch gar nicht, wo ich anfangen soll. Oh Gott!«

Mit aufgerissenen Augen saß sie vor Gitte und Ole, der Körper starr vor Schock. Gitte dachte schon, bei ihr würde nun auch eine tödlich giftige Wirkung einsetzen. Doch dann hauchte Karla leise: »Wie soll ich das nur unserem Sohn erklären?«

Es dauerte dann noch eine Weile, bis Malthe Gitte nach Hause brachte. Die unbeschwerte Stimmung, die sie beide ins Schou’s begleitet hatte, war nun stiller Betroffenheit gewichen.

Als Gitte am Montag mit ihrem alten, laut scheppernden Fahrrad die wenigen Straßen bis zum Institut des Bestatters fuhr, überlegte sie, wie sie ihrem Chef von den Ereignissen berichten sollte, denn bestimmt hatte auch Paul Larstsen den Toten gekannt. Aus der Tageszeitung konnte ihr Chef noch nichts von dem gestrigen Todesfall erfahren haben, aber vielleicht hatte er die aktuellen Neuigkeiten im Internet gelesen. Da gab es keinen Redaktionsschluss.

Ole hatte Gitte gestern Abend noch zurechtgewiesen, als sie gleich von Mord sprach. So sicher sei das nicht. Todesfälle mit Zyankali seien in den meisten Fällen auf Selbstmord oder Unfälle zurückzuführen.

Unsinn, fand Gitte. Wer zelebrierte denn seinen eigenen Tod in einem Restaurant? Selbstmörder hatten meist nur noch wenig Humor und sicher auch keinen Appetit. Es sei denn, der Tote hatte dem Besitzer Sven Træborg schaden wollen. Aber auch das tat man doch eigentlich nicht vor der eigenen Gattin. Nein, jemand hatte eine der Medikamentenkapseln ausgetauscht oder mit Zyankali versetzt. Das war ein klassischer Mord, wie ihn die zweifelhaften Helden bei Agatha Christie nicht besser hätten ausführen können. Da war Gitte sich sicher.

Sie hatte den Ortskern erreicht und fuhr an der Holzplattform vorbei, die das Zentrum markierte. Hier standen ein Aussichtsturm und im Sommer viele Liegen, die man wie Tortenstücke nebeneinanderstellen konnte und auf denen sich die Touristen sonnten. Bis zum Strand hinunter war der Weg mit Holzbohlen ausgelegt, sodass selbst Rollstuhlfahrer fast bis ans Wasser gelangen konnten. Mehrfach schon war der Strand hier als schönster von ganz Dänemark ausgezeichnet worden, und auch jetzt im September waren in dem Ort noch zahlreiche Touristen. Die meisten waren Wiederholungstäter. Wer einmal in Marielyst Urlaub machte, das übersetzt die Lust der Marie hieß, kehrte nur zu gerne zurück.

Auch wenn die Sonne tagsüber noch alles gab, war die Luft inzwischen deutlich kühler. Ein Spaziergänger führte gerade seinen Golden Retriever zum Strand hinunter. Gitte sah, dass er eine Tüte in der Hand hielt, um den Haufen zu entsorgen. Artig. In Dänemark war man im Umgang mit Hunden recht streng. Im Grunde genommen mussten sie stets an der Leine geführt werden, und sie durften niemals ein Restaurant oder Café betreten.

Schwungvoll betrat Gitte schließlich das Bestattungsinstitut. Paul Larstsen saß an seinem wuchtigen Schreibtisch und rieb sich nervös die Hände. Er trug eine feine Leinenhose und ein dunkles Hemd. Auf seinem Haupt konnte man die penibel gerade Linie erkennen, die der Kamm gezogen hatte, und das Gesicht war blank rasiert. Vor sich hatte er einen Becher Kaffee stehen und einen Teller mit Lakritzkonfekt, das er ihr großzügig anbot. Kein Aquavit, wie sie mit einem schnellen Blick erleichtert feststellte. Er wusste es also noch nicht. Denn ihr Chef nutzte jede Gelegenheit, um einen Aquavit zu trinken. Ein Mord im Ort wurde mit zwei Schnäpsen begossen. Doch schnell wurde ihr klar, dass sie sich geirrt hatte.

»Gitte, jedes Mal, wenn du aus Deutschland zurückkehrst, bringst du einen Mord mit. Mein armer Freund Sven. Den hat das ganze Schauspiel gestern Abend erheblich mitgenommen. Er hat sogar unseren Saunaabend heute abgesagt.«

Klar, dachte Gitte. Sven und Paul waren schon seit mehreren Jahrzehnten gute Freunde. Bestimmt hatte ihr Chef von ihm die traurige Neuigkeit gehört.

»Ich kannte den Toten, Lars Andresen«, erzählte Larstsen weiter. »Ich habe vor zwei oder drei Jahren seine Tochter beerdigt. Das war eine schrecklich traurige Sache. Die Kleine ist mit sieben Jahren gestorben. Und nun wurde er ermordet. Die arme Ehefrau. Das ist ein bisschen viel mieses Karma.«

»Allerdings«, nickte Gitte. »Ich habe beobachtet, wie dieser Lars kurz vor dem Essen Tabletten eingenommen hat. Kannst du dir vorstellen, dass er Selbstmord begangen hat? In einem Restaurant?«

Ihr Chef nippte an seinem Kaffee und bot ihr mit einer Handbewegung selbst einen an. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass er eine solche Tat vor seiner Frau begangen hätte. Aber wer weiß schon, wie sich ein Mensch wirklich innerlich fühlt und wie sehr der Tod seines Kindes auch nach Jahren noch an ihm nagte. Doch ich denke, Lars Andresen wäre leiser gestorben, für sich allein.«

»Man wird auf die Witwe aufpassen müssen. Nach zwei Todesfällen in der Familie könnte sie den Lebensmut verlieren.«

»Damit kennst du dich besser aus, Gitte. Aber wir sind Bestatter und als solche keineswegs für die Gemütszustände unserer Auftraggeber zuständig. Nicht, dass du da wieder etwas verwechselst. Denn eins weiß ich sicher: Den Auftrag für das Begräbnis bekommen wir. Apropos Auftrag, hast du Ole getroffen? Er übernimmt doch den Fall, oder?« Larstsen schmunzelte neugierig. »Er war sicher begeistert, dich neben einem Toten wiederzusehen, oder?«

Gitte schnaubte erbost. »Er dachte, ich kellnere bei Sven!«

»Sag mir Bescheid, wenn du mit deinem Gehalt nicht auskommst. Mein Arzt hat mir übrigens eine Zeit lang den Aquavit verboten. So ein Spielverderber. Ich werde in der nächsten Zeit öfter schlechte Laune haben.«

»Super, dann kann ich Hieronymus in deinen Kühlschrank legen. Er muss doch bald in die Winterruhe. Und so oft wird dein Kühlschrank ja dann nicht mehr geöffnet.«

Dieser Kühlschrank stand in dem Raum, in dem die Leichen hergerichtet wurden. In ihm befanden sich einige Salben und die Aquavitflasche ihres Chefs. Wenn der nicht mehr wiederholt die Tür des Kühlschranks öffnete, würde Hieronymus seine Ruhe haben. Ein Kühlschrank war nun einmal der optimale Aufbewahrungsort für die Tiere, wenn sie Winterschlaf hielten. Alle paar Tage sollte man allerdings die Tür öffnen, der frischen Luft wegen. Sie könnte das Licht abkleben oder die Kiste verdunkeln, dann müsste es gehen.

»Und du meinst nicht, dass es deinem Tier Unglück bringt, wenn es ausgerechnet bei einem Bestatter im Kühlschrank liegt?«

Gitte zuckte grinsend mit den Schultern und fragte: »Bist du krank? Warum hat dein Arzt dir den Alkohol untersagt?«

»Ich habe eine Gastritis, bekommt man angeblich oft im Herbst.« Larstsen goss sich eine zweite Tasse Kaffee ein.

»Und Kaffee darfst du trinken? Das geht?«

»Nun, es geht jedenfalls nicht ohne Kaffee. Ich habe heute Morgen schon diesen furchtbaren englischen Frühstücksbrei zu mir genommen, Porridge. Der soll sehr gut für die Magenschleimhaut sein, ist aber schlecht für die Psyche. Dieser Brei ist doch nur was für Säuglinge oder alte Leute.« Larstsen verzog so sehr das Gesicht, dass Gitte lachen musste.

Nur noch wenige Wochen, und ihr Chef würde tatsächlich einen Säugling im Arm halten. Seine Tochter Lea erwartete ihr erstes Kind. Sein Sohn Axel hatte sich von seiner Frau getrennt und war am letzten Wochenende von Kopenhagen nach Nykøbing gezogen. Ihr Chef freute sich riesig, seinen Sohn nun so nahe zu haben, denn der Ort lag nur knapp zwölf Kilometer von Marielyst entfernt.

»Wie gefällt es Axel in seiner neuen Wohnung?«, fragte sie ihn nun.

»Als Axel mir vor einigen Wochen von der Trennung erzählt hat, habe ich gedacht, er freut sich, seine zänkische Ehefrau loszuwerden.«

»Aber Chef, niemand freut sich über eine gescheiterte Beziehung.«

»Ja, stimmt wohl. Nun scheint er ihr regelrecht hinterherzuweinen. Er nennt mir immer wieder neue Gründe, warum er sie anrufen muss.« Seine Miene wurde noch finsterer. »Stell dir nur mal vor, die vertragen sich wieder, und Axel hat doch nun diese schöne große Wohnung. In Nykøbing ist es ja viel günstiger als in Kopenhagen.«

»Ja, und?« Gitte ahnte, was ihm Sorgen bereitete.

»Stell dir vor, Svenja, so heißt meine Schwiegertochter, zieht zu ihm. Hier in meine Nähe. Du glaubst doch nicht, dass sie ihren Mann mit mir angeln gehen lässt. Ein Sport, in dem man einen böse verzinkten Haken ins Wasser wirft, um einem Fisch damit brutal die Kehle aufzustechen, sei kein Sport, sondern Mord.« Gitte gab ihr im Stillen recht, aber sie hütete sich, darüber nun eine Diskussion anzufangen.

»So schlimm wird sie schon nicht sein, Chef. Genieße es doch erst einmal, dass dein Sohn jetzt in der Nähe wohnt. Wo wir schon von Familie sprechen … Kannst du dir vorstellen, warum Lars Andresen umgebracht wurde? Hatte er viel Geld? Ging er fremd? Hatte er unangenehme Verwandte oder kriminelle Mitarbeiter? Ich gehe davon aus, dass nur jemand aus dem Umfeld seine Tabletten manipulieren konnte.« Gitte hielt inne und fragte mit einem zarten Lächeln: »Kann ich das Gespräch mit den Angehörigen übernehmen? Du sagst doch selbst, dass man behutsam mit der Witwe umgehen muss.«

»Behutsam? Du? Gitte, du willst einen Mord aufklären, das Beerdigen des Leichnams ist dir dabei lediglich ein Mittel zum Zweck. Wie soll aus dir nur eine zurückhaltende und taktvolle Bestatterin werden?« Doch er lachte und gab ihr damit die Erlaubnis. »Aber nur, wenn die Kunden nicht ausdrücklich mich als Ansprechpartner verlangen. Die Angehörigen kennen mich persönlich«, fügte er noch hinzu.

Gitte war überrascht, als am frühen Nachmittag ein junger Mann von vielleicht zwanzig Jahren das Beerdigungsinstitut betrat. Wobei er es eigentlich nicht betrat, sondern befuhr, denn er saß im Rollstuhl. Die Ähnlichkeit mit seiner Mutter war so frappierend, dass Gitte gleich wusste, wen sie vor sich hatte. Die Haare waren kastanienbraun wie die seiner Mutter, sein Gesicht war ähnlich schmal, nur das Kinn war markanter.

»Ich bin Björn Andresen«, stellte er sich vor. »Mein Vater wurde gestern Abend im Restaurant Schou’s ermordet. Wir hätten gerne, dass ihr die Beerdigung ausrichtet.« Allein an seinen geröteten Augen und den Schatten darunter sah man, wie sehr ihn der Tod seines Vaters mitgenommen hatte. Sein Ton klang selbstbewusst.

Gitte war so überrascht, dass sie sich kurz sammeln musste. Sie hatte mit der zarten, sichtlich überforderten Ehefrau gerechnet, die sie am Vorabend kennengelernt hatte. Stattdessen saß nun dieser junge Mann mit dem muskulösen Oberkörper vor ihr, zu dem die schmalen Beine nicht so recht passen wollten. Hinter dem verschlossenen Gesichtsausdruck konnten sich auch Wut oder Trauer verbergen. Seine Lippen pressten sich eine Spur zu fest aufeinander.

»Meine aufrichtige Anteilnahme, Björn. Ich war ebenfalls im Restaurant essen, als es geschah. Lass uns nach nebenan gehen, dann können wir alles Weitere besprechen. Wie geht es deiner Mutter Karla?«

Während Gitte den jungen Mann ins Nebenzimmer lotste, musste sie an die Worte von Larstsen denken. Er hatte ihr erzählt, dass er die kleine Tochter der Familie vor ein paar Jahren beerdigt hatte. Der ältere Bruder saß im Rollstuhl. Wie viele Tragödien hatte diese Familie noch durchstehen müssen?

»Meiner Mutter geht es sehr schlecht. Sie ist heute noch nicht aus dem Bett aufgestanden. Hast du etwas gesehen? Hat mein Vater sehr leiden müssen?«

Gitte war ehrlich. »Ja, gelitten hat er wohl eine kurze Zeit lang. Dein Vater bekam große Atemnot, aber es ging recht schnell. Selbst wenn ein Arzt anwesend gewesen wäre, er hätte keine Chance gehabt.« Gitte zögerte einen Augenblick, dann fuhr sie fort: »Ich habe gesehen, wie er seine Medikamente vor dem Essen eingenommen hat.«

Björn lachte hart auf. »Manche glauben, die Pilze seien giftig gewesen. Mord ist denen anscheinend zu brutal. Aber das Leben ist brutal. Meistens.« Er rollte auf seinen Rädern vor und zurück.

»Du bist eigentlich zu jung, um so verbittert zu sein.« Gitte bot ihm mit einer Handbewegung zur Kaffeemaschine einen Kaffee an, und er nickte.

»Ich bin nicht verbittert. Du brauchst auch kein Mitleid mit mir zu haben. Als Krüppel, entschuldige, als Behinderter genieße ich viele Vorteile.«

Die Maschine ratterte und spuckte den ersten Kaffee aus, den Gitte ihm auf den Tisch stellte.

Er nahm ihn dankbar entgegen. »Die Pilze waren in Ordnung. Außerdem sind die Symptome bei einer Pilzvergiftung ganz anders, und man stirbt auch nicht so schnell daran. Ich hoffe, dass die Besitzer vom Schou’s nicht auch noch darunter leiden müssen.«

Gitte goss sich ebenfalls einen Kaffee ein, ihre vierte Tasse heute, und setzte sich zu Björn.

»Ich kenne Malthe, den Sohn des Besitzers«, erzählte Björn. »Er ist in Ordnung. Er hängt dieser schrägen alten Wikingerreligion an, Forn Siðr.«

Gitte nickte. »Die Alte Sitte, ja, er hat mir auch davon erzählt.«

Björn ließ wieder unruhig seinen Rollstuhl ein winziges Stückchen hin- und herfahren. »Er hat mich mal eingeladen zu so einem Treffen. Aber mal ehrlich, einen guten Wikinger gebe ich kaum ab. Das musst du nicht falsch verstehen, ich bin ein sportlicher, kräftiger Typ und kann eine Menge, aber ein echter Wikinger hätte sich in meinem Fall sofort für Walhalla entschieden. Na ja, die Zeiten haben sich geändert. Jetzt integriert man uns ja recht gut. Aber genug von mir … Lass uns die Beerdigung planen. Wenn es in der Gerichtsmedizin nicht zu lange dauert, soll mein Vater noch mal aufgebahrt werden. Meine Mutter möchte sich verabschieden, meine Großmutter ebenfalls. Aber dafür sollte mein Vater etwas zurechtgemacht werden. Das könnt ihr doch, oder?«

Gitte hatte noch in Deutschland einige Fortbildungen zur Bestatterin absolviert, als ihr neuer Berufswunsch gereift war. Selbst thanatopraktische Behandlungsmethoden für besondere Ansprüche, wie sie beispielsweise nach Unfällen oder starker Verwesung nötig waren, hatte Gitte erlernt.

In Dänemark gab es genaue Bezeichnungen für die Großmutter väterlicherseits oder mütterlicherseits, und so wusste Gitte, dass Björn von der Mutter seines Vaters sprach. »Ja«, sagte sie, »das können wir. Er wird aussehen, als schlafe er.«

Björn musterte sie mit grauen Augen, leichter Spott lag auf seinem Gesicht. »Und das machst du? Du wirst meinen Vater waschen und schminken und was da sonst so dazugehört?«

»Ja, das mache ich oder Paul Larstsen.«

»Hm.« Björn griff nach hinten, wo ein Beutel am Rollstuhl befestigt war, und reichte ihn Gitte. »Das sind die Sachen, die er anziehen soll. Es ist so eine Art Indiana- Jones-Outfit. Mein Vater liebte die Filme. Er wollte selbst immer mal eine Expedition machen. Eventuell bekommt er im Jenseits Gelegenheit dazu.« Ein wehmütiger Zug legte sich auf sein Gesicht. Vielleicht war es eine Leidenschaft gewesen, die Vater und Sohn miteinander geteilt hatten.

Gitte guckte in den Beutel und sah ein Fahrtenmesser darin. Sie räusperte sich. Auch wenn das Friedhofswesen in Dänemark liberaler war als in Deutschland, ein Messer gehörte nicht in einen Sarg. Sie würde das später mit Larstsen klären.

»Ich mochte die Filme auch sehr.«

»Wusstest du, dass Harrison Ford im realen Leben auch so ein Draufgänger ist? Er besitzt einen Pilotenschein und fliegt mit seiner Maschine oft ziemlich wilde Manöver.« In seinen Augen blitzte Bewunderung auf.

In Sachen Blumenschmuck und Trauerkarten war der junge Mann dann überfordert. Das merkte Gitte schnell. Sie versprach ihm, alles passend zu arrangieren. Seine Mutter schien zurzeit keine große Hilfe zu sein. »Kommt ihr klar, du und deine Mutter?«, fragte Gitte ihn am Ende ihres Gesprächs vorsichtig.

»Ja, meine Großmutter schmeißt gerade den Haushalt. Sie ist fit und tapfer, aber sie wollte nicht mitkommen. Sie meinte, sie würde ganz sicher nicht die Beerdigung ihres eigenen Sohnes besprechen. Das sei die falsche Reihenfolge. Nun, meine Mutter hat das auch schon mal machen müssen. Sie hat meine kleine Schwester beerdigt. Der Tod meines Vaters war einfach zu viel, es geht ihr sehr schlecht. Ich muss nun auch zu ihr zurück.«

Gitte schaute ihm nach, wie er die Straße entlangrollte. Sie hätte zu gern noch seine Geschichte erfahren. Kaum ein Kind kam querschnittsgelähmt auf die Welt.

Als Gitte kurz vor Feierabend auf ihr Handy blickte, fiel es ihr siedend heiß ein. Tante Stine. Die Schwester ihres Vaters hatte zweimal versucht, sie zu erreichen. Gitte hätte sich gleich bei ihr melden sollen, als sie aus Münster zurückgekommen war. Sie würde Tante Stine zurückrufen, sobald sie zu Hause war.

Mit einem Arm noch in der Jacke, wählte Gitte wenig später die Nummer ihrer Tante, die in Nykøbing wohnte.