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Der Tod lauert am schönsten Strand Dänemarks - die ersten drei Bände der beliebten Krimireihe rund um Bestatterin Gitte Madsen Ein dänisches Verbrechen Als Bestatterin ist Gitte Madsen darauf vorbereitet, dem Tod ins Auge zu blicken. Doch eine Leiche auf der Terrasse ihres gemütlichen Ferienhauses bringt selbst die patente Halbdänin aus dem Konzept. Schon auf der Fähre von Puttgarden ist ihr ein junger Mann aufgefallen, der sich offenbar bedroht fühlte. Dass er noch am selben Abend tot vor Gittes Tür liegt, kann kein Zufall sein. Was hat es mit den Wikingerrunen auf sich, die dem Toten in die Haut geritzt wurden? Und welche Rolle spielt Gittes Vater, der zwanzig Jahre zuvor in Marielyst verschwunden ist? Zusammen mit Ole Ansgaard, dem einheimischen Kommissar, geht Gitte den Geheimnissen des idyllischen Urlaubsortes auf den Grund. Dänische Schuld Gitte Madsen hat sich gut in ihrer neuen Heimat, dem idyllischen Ferienort Marielyst, eingelebt. Doch die Ruhe währt nicht lang: Als sie im Restaurant Schou's zu Abend isst, fällt ein anderer Gast tot vom Stuhl. Was zunächst wie eine fatale Pilzvergiftung aussieht, entpuppt sich schnell als heimtückischer Giftmord. Ehe sie sich's versieht, ermittelt Gitte in einem neuen Fall. Sie findet heraus, dass es im nahen Umfeld des Toten auffällig viele seltsame Unfälle gegeben hat. Reiner Zufall? Oder schwebt womöglich die ganze Familie von Lars Andresen in großer Gefahr? Dänische Gier Nach einem Richtfest radelt die Bestatterin Gitte Madsen beschwipst nach Hause, mit den Gedanken immer noch bei dem Richtspruch, der leider ganz schön schiefgegangen ist. Ein schlechtes Omen, sagen die einen, doch Gitte hält nichts von Aberglauben – bis sie über eine Leiche stolpert und im Graben landet. Gitte erkennt den Toten sofort: Es ist der Polier August Borg. An seinem Hals sind Würgemale. Als ihr Bestattungsinstitut mit der Beerdigung beauftragt wird, fühlt sich Gitte berufen und stellt sehr zum Unmut von Kommissar Ole Ansgaard ihre eigenen Nachforschungen an. Je tiefer Gitte in der Vergangenheit gräbt, desto größer wird die Gefahr für sie ...
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Veröffentlichungsjahr: 2022
Gitte Madsen ermittelt - Die ersten drei Bände der beliebten Dänemark-Krimireihe
FRIDA GRONOVER, geboren 1969, verbrachte die Sommer ihrer Kindheit auf Falster und ist der dänischen Insel seitdem besonders verbunden. Wenn sie nicht in ihre Wahlheimat reist, lebt sie zusammen mit ihrer Familie und ihren Tieren in Nordrhein-Westfalen.
Frida Gronover
3 Dänemark-Krimis in einem E-Bundle
Ullstein
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Sonderausgabe im Ullstein TaschenbuchApril 2022© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2022Ein dänisches Verbrechen:
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2018 Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, München Titelabbildung: mauritius images / © Günter RossenbachDänische Schuld:
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020 Umschlaggestaltung: zero-media.net, München Titelabbildung: © Daniel Schoenen / getty images (Haus mit Steg am Meer); © PhotographerCW / getty images (Fahne); © Roberto Moiola / Sysaworld / getty images (Strand im Hintergrund); © FinePic®, München (Düne)
Dänische Gier:
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2021 Umschlaggestaltung: zero-media.net, München Titelabbildung: © Stuart Black / Alamy Stock Foto (Landschaft); © FinePic®, München (Himmel, Haus, Fahne)
Autorenfoto: © Studioline Hamm
ISBN 978-3-8437-2762-4
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Titelei
Die Autorin / Das Buch
Titelseite
Impressum
Ein dänisches Verbrechen
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Danksagung
Dänische Schuld
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Danksagung
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Danksagung
Anhang
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Ein dänisches Verbrechen
Eine Überfahrt mit der Autofähre von Puttgarden im Norden Deutschlands nach Rødby in Dänemark dauerte keine Stunde.
Bereits wenige Minuten nach dem Ablegen des großen Kahns sah Gitte eine Menge Passagiere dösend in den Sesseln und auf den Bänken sitzen, oft mit einem Becher Kaffee in der Hand. Sie grinste, als sie umherblickte. Viele der älteren Kinder sprangen herum, schauten durch die großen Fenster aufs Meer hinaus oder stürmten über die Sonnendecks. Die kleinen Kinder hingegen hingen im Arm der Eltern, viele weinerlich und völlig übermüdet. Es gab auf dieser Fähre zum Zeitvertreib sogar einarmige Banditen, aber insgesamt erinnerte der Wartebereich an eine Bahnhofshalle.
Die Ungeduldigen unter den Touristen strebten schon früh zum großen Shop und wussten offenbar genau, was sie an Spirituosen und Kosmetikwaren brauchten.
Gitte wollte erst kurz vor dem Anlegen in den Shop gehen und in sentimentaler Erinnerung an alte Zeiten mit ihrem Vater einige gefüllte Schildkröten kaufen. Es gab diese Schokodinger mit Lakritze oder Karamell. Als Kind hatte sie die Schokoschildkröten geliebt.
Derweil beobachtete sie relativ ungeniert die Leute in der Nachbarschaft ihres Sessels. Nach zwanzig Minuten wusste Gitte, dass die Familie ihr gegenüber bereits zum dritten Mal in Dänemark Urlaub machte und hoffte, diesmal endlich gutes Wetter zu haben. Sie erfuhr auch, dass der Mittlere der drei Geschwister eine Lese-Rechtschreib-Schwäche und deshalb neben der Badehose auch seine Deutschbücher dabeihatte. Grausam. Am liebsten hätte Gitte der Familie einige Tipps für einen entspannten Urlaub mitgegeben.
Es war Samstagmorgen, die Fähre war bis auf den letzten Autoplatz gefüllt und schipperte bei strahlendem Sonnenschein durch das blaue Wasser. Alle Urlaubsgäste an Bord waren entzückt, viele saßen draußen auf den Sonnendecks. Was für ein herrlicher Start in die schönste Zeit des Jahres.
Gitte selbst war das Wetter beinahe egal, sie würde noch genug Gelegenheit bekommen, jede Variante des Sommers in Dänemark zu erleben. Denn sie hatte eine anfangs nur vage Idee tatsächlich in Realität verwandelt und siedelte nach Dänemark über. Das klang ungewöhnlicher, als es für Gitte war. Mit einem dänischen Vater und einer deutschen Mutter war sie in beiden Ländern und beiden Sprachen heimisch. Die glatten blonden Haare hatte sie von ihrem Vater geerbt, obgleich längst nicht alle Dänen blond waren. Ihr Naturell hätte jeder, der sich da auskannte, als original westfälisch beschrieben, womit die sehr direkte, aber manchmal wortkarge oder auch sture Art der münsterländischen Landbevölkerung gemeint war.
Da fiel ihr jemand auf, der ebenso wenig Urlaubsstimmung ausstrahlte wie sie selbst. Der südländisch wirkende junge Mann stand aufrecht an die Wand gelehnt, eine Hand umschloss einen weißen Pfeiler, die andere umklammerte einen sehr großen Rucksack, der zwischen den Beinen des Jungen steckte, beides so angestrengt, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten. Das Gesicht mit den schwarzen Augen und dem feinen dünnen Schnurrbart war starr. Und wenn man genau hinsah, konnte man erkennen, dass der junge Mann leise vor sich hin redete.
Gitte Madsen erkannte Angst bei einem Menschen, wenn sie sie sah. Sie hatte lange als pädagogische Mitarbeiterin in der Opferhilfe gearbeitet. Außerdem fühlte sie sich selbst gerade nicht besonders mutig. Immer wieder musste sie zu dem jungen Mann hinüberblicken. Er sah so hilflos und einsam aus.
Sie vermutete eine panische Furcht, das Schiff könnte kentern. Er blieb trotz seines starren Gesichtsausdrucks fluchtbereit, behielt ständig den Ausgang im Auge und stand nahe an der Tür zu den Decks. Ungünstig nahe. Die Wahrscheinlichkeit, von einem anderen Passagier geschubst zu werden und hinzufallen, war deutlich größer als die zu ertrinken. Zumal der junge Mann sehr schmal gebaut war. Gitte überlegte, wie sie ihn zum Lächeln bringen könnte. Dann sähe er mit diesen runden Augen und dem schönen Mund bestimmt fantastisch aus.
Als neben ihr ein Platz frei wurde, machte sie dem fremdländischen Jungen ein Zeichen, dass er sich setzen könne. Er lächelte, ganz kurz, aber tatsächlich sehr schön. Doch er blieb stehen und starrte weiterhin durch die Fenster aufs Meer hinaus. Ruhiger würde er wohl erst werden, wenn das dänische Land in Sicht kam. Dann würde allerdings in ihr selbst Unruhe aufkommen.
Und das wäre auch kein Wunder. Mit vierunddreißig Jahren den Job zu kündigen und mit der Fähre nach Dänemark überzusiedeln riss einen auf jeden Fall aus dem Alltag. In ihrem Fall einem eigentlich recht geordneten Alltag. Wäre da nicht der Tod der Mutter gewesen. Der hatte ein ganz schönes Loch in ihr Leben gerissen, und sie musste feststellen, dass Münster nicht mehr ihre erste Wahl war. Die Trennung von ihrem Freund kam erschwerend hinzu, und Gitte beschloss, nach Dänemark zu ziehen, in das Land ihres Vaters. Das war ein großer Schritt, der viel mit ihren Gefühlen zu Dänemark zu tun hatte, denn ihr Vater war vor knapp zwanzig Jahren bei einem Auftrag dort spurlos verschwunden.
Immerhin hatte sie sich in Dänemark einen Job besorgt. In Marielyst, das sie von Urlauben her kannte, würde sie bei einem örtlichen Bestatter arbeiten. Dieser Beruf faszinierte sie, seit sie noch während der Schule ein Praktikum gemacht hatte. Nun hatte sie noch einen entsprechenden Lehrgang absolviert und war froh, dass der Bestatter in Marielyst sehr kurzfristig jemanden gesucht hatte, als Ersatz für einen verunglückten Mitarbeiter. Zusammen mit dem Geld, das sie von ihrer Mutter geerbt hatte, würde sie eine Zeit lang über die Runden kommen. Ein kleines Häuschen, so eine niedliche Ferienholzhütte, wartete ebenfalls auf sie.
Die Hütte sei sogar wintertauglich, hatte der Vermieter geprahlt. Darin hätten schon jede Menge deutsche Touristen Weihnachten gefeiert. Das hatte er eigens betont: deutsche Touristen. Die bräuchten es doch immer extra warm, trocken und sauber. Und auf die Beleuchtung legten sie auch großen Wert. Hell sollte der Raum sein, jede Ecke musste man erkennen können. Der Däne hingegen hatte seine Beleuchtung lieber »hyggelig«, gemütlich halt. Und dann hatte er gelacht, der Herr Asgersen.
Nun, dieses Jahr würde sie dort Weihnachten feiern.
Plötzlich schrie ein kleiner Junge los: »Mami, Feuer, Feuer, es brennt!« Gitte sah, wie der Junge mit dem Rucksack zwischen den Beinen heftig erschrak. Aufgeregt blickte er um sich, ohne dabei die Hand von der Eisenstange zu nehmen.
Zwei, drei andere Passagiere sprangen beunruhigt auf und drehten den Kopf suchend in sämtliche Richtungen, doch die meisten Leute sahen ruhig den beiden Stewards entgegen, die den Gang entlangeilten. Tatsächlich konnte man einen Brandmelder gedämpft tuten hören. Für einen ganz kleinen Moment durchfuhr auch Gitte ein Schreck, dann beruhigte sie sich wieder. Der Signalton kam von den Toilettenräumen, da explodierte so leicht nichts.
Hinter dem kleinen Jungen tauchte jetzt ein langhaariger Mann auf, zu dem sein teurer Blazer nicht recht passen wollte.
Er sagte zerknirscht: »Ich habe auf der Toilette geraucht, und die Rolle Klopapier hat sich entzündet. Ein Versehen. Entschuldigung.«
Gitte war sich nicht sicher, ob der ängstliche Passagier die auf Dänisch gesprochenen Worte verstanden hatte, und sie ging zu ihm, um ihm auf Englisch Entwarnung zu geben. Er nickte eifrig und sagte in einem leidlich verständlichen Gemisch aus Englisch und Deutsch, dass alles okay sei. Er wisse schon, dass er keine Angst haben müsse.
Einmal ins Reden gekommen, wurde der junge Mann gesprächig und wiederholte mehrmals, dass es doch so voll sei auf der Fähre.
»Volle Boote bringen Tod im Wasser. Das Meer holt sich Tribut.« Dazu nickte er mit dem Kopf, sodass einzelne schwarze Locken wippten.
Das klang sehr nach einer traumatischen Erfahrung, und kurz kam ihr der Gedanke, es könnte sich um einen Flüchtling handeln. Sie fragte ihn, woher er komme.
»Ich bin Grieche. Ich habe gearbeitet auf einem Fischerboot. Und dann kam kleines Boot mit Flüchtlingen. So viele Leute. Sie schreien und wollen Hilfe, aber beide Boote sind zu klein für so viele Menschen. Ich habe immer wieder Menschen aus dem Wasser gezogen.« Er ließ die Stange los und machte mit den Armen Bewegungen, als fischte er jemanden aus dem Wasser.
»Ich konnte nicht mehr, war so schwach, zu viele im Wasser, und alle rufen nach Hilfe. Und sie starren mich an. Da war so viel Angst. Vier Menschen sind ertrunken.« Er riss die Augen so weit auf, dass zu viel Weiß zu sehen war. Diese Augen machten Gitte ganz nervös.
»Das muss schrecklich gewesen sein. Aber auf dem Schiff sind nicht zu viele Menschen, die Fähre ist groß genug. Es gibt nur einen Blödmann an Bord«, sagte sie in beruhigendem Tonfall.
Jemand lachte bestätigend, als er ihre Worte hörte.
Wie furchtbar, mitansehen zu müssen, wie andere ertrinken, ohne helfen zu können. Kein Wunder, dass eine Überfahrt über das offene Meer, egal, wie groß das Schiff war, ihn daran erinnerte.
Und endlich befand sie sich auf dänischem Boden. Gitte ließ ihren alten Volvo über die Rampe rollen und fuhr zum Ausgang des Fährhafens. Links von ihr warteten schon neue Autoschlangen, um sich nach Deutschland zurückbringen zu lassen. In vielen Bundesländern waren die ersten drei Wochen der Sommerferien bereits um. Sie selbst hatte alles andere als Urlaub hinter sich. Eine Umsiedlung in ein anderes Land erforderte eine Menge Behördengänge, man musste viel organisieren und entscheiden. Immerhin hatte Gitte seit ihrem zehnten Lebensjahr in Münster gelebt. Damals war die Familie von Kopenhagen, wo sie ihre frühe Kindheit verbracht hatte, nach Deutschland gezogen.
Gitte hielt noch kurz am Straßenrand an und warf einen Blick in den Karton, in dem Hieronymus die lange Fahrt hinter sich gebracht – und hoffentlich sicher überstanden hatte. Beim ersten Geräusch erhob er sich aus seiner dösenden Haltung und fuhr den Kopf aus dem Panzer heraus, als wollte er fragen, wie weit sie schon seien. Hieronymus war eine mediterrane Landschildkröte, eine sogenannte Testudo Hermanni boettigeri, und mit vierunddreißig Jahren genauso alt wie Gitte. Er war ein Geschenk ihres Vaters zur Einschulung gewesen und bedeutete Gitte viel. Egal, von welchen Menschen sie in ihrem Leben noch verlassen werden würde, gemeinsam mit diesem Tier würde sie alt werden. Achtzig Jahre konnte auch eine Landschildkröte schaffen.
Eine Dreiviertelstunde später befuhr sie den Kreisverkehr am Eingang des beschaulichen Ortes Marielyst. Marielyst war ein Ferienort auf der dänischen Insel Falster und zählte damit zu Dänemarks sogenannter Südsee. Trotz des exotischen Begriffs durfte man allerdings keine tropischen Temperaturen erwarten. Auf Falster herrschte ein feuchtes und typisch dänisches Wetter vor, selbst in den Sommermonaten wurde es selten viel wärmer als zwanzig Grad. Aber gäbe es hier eine Garantie für gutes Wetter, dann würde Marielyst in kürzester Zeit vom Tourismus überrollt. Schon mehrfach war der feine, zwanzig Kilometer lange Sandstrand zum besten Strand Dänemarks prämiert worden.
Gitte musste grinsen, als sie daran dachte, dass jeder dauerhaft hier lebende Besucher die Einwohnerzahl von Marielyst deutlich erhöhte. Etwa siebenhundert Einheimische waren es. Hinzu kamen jedes Jahr bis zu fünfzigtausend Touristen. Deshalb – und weil die umliegenden Städte ebenfalls zum Kundenstamm zählten – lohnte sich ein Unternehmen wie das ihres künftigen Arbeitgebers überhaupt. Es gab im Ort einige kleine Boutiquen und Geschäfte, eine Touristeninformation und seit zwei Jahren eine völlig neu gestaltete Strandpromenade mit einem Aussichtsturm. Der große Platz um den Turm war komplett mit Holzdielen ausgelegt, Liegestühle standen bereit, und man konnte auf diesen Holzplatten auch bequem und behindertengerecht zum schönsten Sandstrand Dänemarks gelangen.
Gitte staunte nicht schlecht. Sie betrachtete die vielen sonnenhungrigen Leute, die sich auf dem großen Platz und dem neuen Aussichtsturm tummelten. Alle Liegen waren besetzt, und auf dem Weg zum Strand herrschte reger Verkehr. Eis essend oder mit Gummitieren und Luftmatratzen im Wasser planschend genossen die Urlauber das sonnige Wetter bei 23 Grad.
Wenige Minuten später bog Gitte in den Anemonenvej ein und erreichte über einen Schotterweg das Haus Nummer 14. Das knirschende Geräusch beim Befahren des Weges klang nach Urlaub und Unbeschwertheit, es erinnerte sie an vergangene Zeiten und ein Familienleben, das lange vorbei war.
Ihr Haus lag etwas zurückgesetzt und war von Nadelbäumen umgeben. Eine blaue Holzvertäfelung und weiße Fenster ließen es beinahe schwedisch aussehen. Der Garten war großzügig, wie bei den meisten dänischen Ferienhäusern, und das Gras kurz und gelblich. Auf einer Veranda stand ein einfacher Tisch mit vier weißen Stühlen aus Metall. Die würde sie putzen müssen. Aber mit seinem vorstehenden grauen Dach sah das Hüttchen fantastisch aus, fand Gitte.
»Ah, schlechte Stimmung in Deutschland, oder? Zu viele Flüchtlinge aufgenommen, kaum Platz, und das Geld wird knapp. Sind sicher alle neidisch, weil wir Dänen so streng sind. Ist es nicht so, Gitte Madsen?«
Ihr Vermieter stellte sich als hünenhafter, drahtiger Mann heraus, dem offenbar seine Wikingerherkunft zu Kopf gestiegen war. Er trug seine wenigen langen Haare zu einem Zopf geflochten, und an seinem Gürtel baumelte ein riesiges Messer, so als gälte es, gleich ein Wildschwein zu erlegen.
»Nein, es ist ganz anders, Herr Asgersen. Ich verlasse Deutschland sicher nicht wegen der Flüchtlingspolitik.« Demonstrativ ruckelte sie an einem sehr schwer zu öffnenden Fenster, um frische Luft in die Wohnung zu lassen.
»Ah.« Offenbar überrascht, dass eine Deutsche nicht sofort über die Flüchtlingspolitik sprechen wollte, wechselte der bärtige Mann das Thema.
»In Marielyst wird bereits über dich geredet. Nur Gutes natürlich. Bei einem solchen Job fangen die Leute ja eh an zu grinsen, aber du als Frau – abgedreht.«
Sie sollte netter zu ihm sein, er meinte es nur gut, und er war ihr Vermieter. Gitte zwang sich zu einem Lächeln und wandte sich ihm zu. Sie beide hatten am Telefon so oft hart miteinander verhandelt und dabei sogar gescherzt.
»Ja, ich freue mich darauf. In Deutschland war ich lange in der Opferhilfe der Polizei tätig, ich kann keine einzige Geschichte mehr hören. Aber das ist ja nun zum Glück ein ganz anderes Kümmern um … hm … Opfer.«
Er lachte schallend und haute ihr auf die Schultern. »Mädel, wenn du was brauchst oder es geht was kaputt, melde dich. Ich wohne nur drei Straßen weiter.«
Ja, in Marielyst befand sich immer alles nur drei Straßen – oder Schotterwege – weiter.
Zu ihrem neuen Arbeitgeber hatte sie es auch nur drei Straßen weit. Was für ein Luxus, wenn man zuvor dem Stadtverkehr von Münster ausgesetzt gewesen war. Aber ein Fahrrad brauchte man hier schon, im Schuppen stand sogar ein alter Drahtesel. Die beiden Hauptstraßen Bøtøvej und Bøtøringvej zogen sich ein paar Kilometer weit, sie verbanden die einzelnen Ortsteile von Marielyst. So war zum Beispiel der Campingplatz einige Kilometer vom Ortskern entfernt, und auch andere Ferienhäuser standen überall verteilt auf der kilometerlangen Landzunge.
Gitte spazierte durch ihr neues Domizil. Achtzig Quadratmeter dänisches Ferienhaus mit Holzboden, einer einfachen Einrichtung und alten Fenstern. Mit wachsender Begeisterung blickte sie von einem Fenster zum anderen. Es gab Nadelbäume zu sehen, eine große Wiese vorm Haus, und in der Ferne lockte das Meer. Die Wohnung war hell, besaß im Wohnbereich einen gusseisernen Ofen und strahlte eine unpersönliche Freundlichkeit aus. In den Regalen standen einige Romane, auf Deutsch oder Dänisch, was die Touristen eben so zurückgelassen hatten. Das Badezimmer war in Jadegrün gehalten, da duschte man doch wie in Neptuns Reich.
Ab und an ertönte der Schrei einer Möwe. Durch die Terrassentür trat Gitte hinaus in den Garten, stellte ein mitgebrachtes klappbares Gitter auf der Wiese auf und ließ Hieronymus erst einmal den leckeren Klee probieren und die für ihn so wichtige Sonne genießen. Sein Zubehör hatte viel Platz im Auto eingenommen.
Als ein Mann an ihrem Garten vorbeikam und neugierig guckte, lächelte sie ihm zu. Sie wollte sich hier unbedingt wohlfühlen.
Auspacken würde sie später; ihr ganzes Auto war vollgestopft mit Gepäck und den Erinnerungsstücken, die ihr wichtig waren. Jetzt musste sie erst das Meer sehen, die Ostsee. Das Wetter hielt noch, was es auf der Fähre versprochen hatte, aber das konnte sich morgen schon ändern.
Von ihrem Haus bis zum Strand waren es, wie sollte es anders sein, nur drei Straßen, knapp zehn Minuten Fußweg.
Die Deichlandschaft hier in Marielyst war fantastisch. Sie zeigte hohes, teilweise recht scharfkantiges Gras, bunte Heidegewächse und feinen Sand. Es roch nach Meer und nach Nadelbäumen. Immer wieder trat man auf kleine Tannenzapfen, und die feinen Nadeln vermischten sich mit dem Sandboden.
Auf dem Deich konnte man kilometerweit laufen und Rad fahren. In den Sandkuhlen daneben lagen heute vereinzelt Touristen und genossen das gute Wetter.
Sie hatte sich sehr bewusst für eine Rückkehr im Sommer entschieden, weil Marielyst dann viel lebendiger und bunter war. Es gab so viele treue Urlauber, die immer wieder kamen und die auch das dänische Wetter nicht schrecken konnte.
Allerdings war das Strandleben in Dänemark nicht mit dem in südlichen Ländern vergleichbar. Wenn man in einer Urlaubsbroschüre ein Foto von Marielyst mit einem Strand voller Menschen sah, war es entweder trickreich bearbeitet, oder es war eine Strandprämie ausgerufen worden. Mehr als zehn Menschen auf dreißig Meter Strand gab es dort selten.
Gitte ließ ihre Flipflops im Sand liegen und ging zum flachen Wasser, das sanft ins Tiefe verlief. Ihre Füße versanken im nassen Sand, sie hinterließen tiefe Spuren, die das Wasser sofort wieder glatt zog. Die Sonne brannte ihr auf den Nacken, und zusammen mit dem Geschrei der Möwen kam sie sich plötzlich vor wie im Urlaub. Gitte schloss die Augen und erinnerte sich an die Urlaube mit ihren Eltern, in denen ihr Vater mit ihr komplizierte Sandburgen gebaut hatte. Dann hatten sie aufgeregt beobachtet, wann das Wasser sich die Burg wohl eroberte. Sie hatten zusammen gelacht und die Tage am Strand genossen.
Tief atmete sie die Meeresluft ein und stellte sich vor, die lauten Stimmen im Hintergrund gehörten zu ihrer Familie. Doch schon nach ein paar Sekunden hörte sie das empörte Rufen einer Mutter: »Niko, du schlägst deine Schwester nicht mit der Schippe auf den Kopf!«
Der kleine Junge reagierte empört: »Womit soll ich sie sonst hauen? Sie ist blöd.«
Gitte grinste und beguckte sich die Streithähne. Und sie musste Niko recht geben. Seine Schwester war blöd, sie trat mit ihrem rechten Fuß in seiner Sandburg herum und machte sie kaputt.
Zwei Stunden später, als sie im Supermarkt ihre notwendigen Einkäufe erledigte, entdeckte sie den Jungen wieder. Er stöberte gerade in der Tiefkühltruhe mit dem Fisch.
Gitte genoss es, in Dänemark einzukaufen. Es gab so viel zu entdecken, was sie unbedingt probieren wollte.
Die Dänen liebten Marzipan und Lakritze. Sie schreckten nicht einmal davor zurück, diese Zutaten in die Grillfleischsoße zu mischen. Und natürlich gab es Kekse, Eis, Schokolade und vielen andere Süßigkeiten mit Marzipan oder Lakritzstückchen. Gitte mochte beide Geschmacksrichtungen gerne, aber sie kaufte Süßigkeiten nur in Maßen.
An der Fleischtheke packte sie zwei Scheiben Schweinebauch in den Korb. Den ersten Abend wollte sie mit einem der Nationalgerichte der Dänen beginnen: stegt flæsk med persillesauce, gebratener Schweinebauch mit Petersiliensauce. Dazu gab es Kartoffelpüree, das sie aus der Tiefkühltruhe mitnahm. In Deutschland konnte man Fertigpüree nur zum Einrühren in Milch oder heißes Wasser kaufen, in Dänemark fand man dieses Gericht auch gefroren und mit Speck angereichert.
Der Laden war noch immer gut besucht, auch jetzt um halb acht Uhr abends. Viele Familien waren an diesem Tag erst mit der Fähre angekommen und suchten nun ihre ersten Einkäufe zusammen, in urlaubsgerechter Kleidung, die oft mehr weiße Haut zeigte, als andere sehen wollten.
Gitte beobachtete den kleinen Niko, wie er eine durchsichtige Tüte mit tiefgekühlten Meeresfrüchten begutachtete und ein Gesicht zog, als würden die Tiere lebendig auf ihm herumkrabbeln. Er blickte sich verstohlen um, und sie traute ihren Augen nicht, als der Bengel die Tüte mit einem Finger durchbohrte, aufriss und eines der seltsamen Tiere herauspuhlte. Schön ekelig und hoch wirksam, denn er steckte es nun seiner nur wenig älteren Schwester in das T-Shirt. Das Gekreische war groß, und am Ende hatten die Eltern so viel Anstand, die angebrochene Tüte in ihren Wagen zu legen. Gitte war sich sicher, dass sie die Kinder noch häufiger zu Gesicht bekommen würde. In Marielyst lief man sich immer wieder über den Weg, und dieser Junge hatte ein besonderes Talent, Ärger anzuziehen. Sie grinste ihm zu.
In der Nacht begann der Ärger dann für sie selbst. Das gute Wetter hielt bis zum späten Abend, dann zog ein unangenehmer Wind auf. Gitte konnte keinen Stern am Himmel sehen, als sie ihr Kissen vom Gartenstuhl hereinholte. Aber über Wolken und Regen wollte sie jetzt noch nicht nachdenken.
Für Hieronymus hatte sie inzwischen ein Terrarium mit Erde und Sand bestückt und ein paar Steine hineingelegt. Ein Wasserbecken war in den Sand eingebettet, und eine Wärmelampe mit UV-Strahlung verbreitete bei jedem Wetter die passende Umgebungstemperatur. Solange es noch warm war, würde sie die Schildkröte tagsüber immer draußen lassen. Diese Tiere brauchten Auslauf und Natur, aber wenig zu essen. Ein paar Grashalme und etwas Klee reichten vollkommen. Mit Leckerbissen in Form von Tomate, Gurke oder gar Obst war Gitte sehr zurückhaltend. Hieronymus liebte das, aber es kam in seiner natürlichen Umgebung eigentlich nicht vor.
»Hieronymus«, sagte sie zu ihm, bevor sie zu Bett ging, »weißt du, wir müssen uns dringend ein paar Freunde suchen, sonst werden die Winterabende sehr, sehr lang. Hier kann man nicht einfach so ausgehen wie in Münster. Diese Stadt macht Winterschlaf, auch wenn es tapfere Urlauber gibt, die die Weihnachtszeit in Marielyst verbringen. Nein, auf einen Partner kann ich erst einmal verzichten. Das wird doch alles überbewertet. Schau dich an, Hieronymus – no stress, keine Dame, der du hinterherlaufen musst, um dich ständig zu beweisen.«
Sie musste an ihre Mutter denken, die mit dem Alleinsein nicht gut fertiggeworden war. Als ihr Ehemann von einem Tag auf den anderen spurlos verschwand, war das für ihre Mutter die Hölle gewesen. Sie hatte eine Vermisstenanzeige aufgegeben, sich bei der Polizei gemeldet, hatte Suchmeldungen losgeschickt und das Schlimmste befürchtet. Schließlich musste sie ihrer sechzehnjährigen Tochter eine Erklärung liefern. Denn Gitte kam überhaupt nicht damit zurecht, als ihre Mutter lediglich hilflos erklärte: »Papa ist weg!«
Die Mutter hatte mit Gitte immer wieder über ihre Ängste und Befürchtungen gesprochen. »Hat er uns verlassen? Will er ohne Verpflichtungen irgendwo ein neues Leben beginnen?« Doch auch wenn ihr Vater in Dänemark, seiner Heimat, verschwunden war, das konnte sich Gitte nicht vorstellen.
Gitte hatte vor, in Marielyst nach Leuten zu suchen, die ihren Vater gekannt hatten. Sie wusste noch nicht, wo sie anfangen sollte, denn sie selbst kannte hier kaum jemanden. Ihr Vater hatte mit Gitte und ihrer Mutter zwar mehrmals in der Nähe Urlaub gemacht, aber zu seinen Geschäftspartnern oder anderen Bekannten hatte er sie beide nie mitgenommen.
Gitte verabschiedete sich von ihrer Schildkröte und ging zu Bett. Nichts war Schlaf weniger zuträglich als die Beschäftigung mit alten Problemen.
Mitten in der Nacht schreckte sie jäh auf und musste sich erst zurechtfinden. Sie befand sich nicht mehr in ihrer Altbauwohnung in Münster, wo der Lichtschalter rechts vom Bett ertastbar war, sondern in einem Holzhaus mit einer unpraktischen Stehlampe neben dem Bett. Ein Geräusch hatte sie geweckt, ein undefiniertes Poltern. Womöglich spielte der Wind mit ihren Gartenmöbeln.
Im schwarzen Nachthemd und barfuß marschierte sie durch das Haus, kontrollierte erst, ob vor der Haustür alles in Ordnung war, und lief dann zur Terrassentür. Sie schaltete das Licht im Wohnzimmer an.
Tatsächlich, da lag etwas Längliches vor der Tür auf den Holzdielen. Es sah nicht aus wie ein Stuhl – eine Robbe? Aber Robben verirrten sich nicht aufs Festland und landeten dann auf einer Veranda. Man sah sie überhaupt eher selten.
Gitte wurde es unheimlich zumute, und sie betätigte alle Schalter an der Wand. Als auch auf der Terrasse ein schwaches Licht aufglimmte, stieß sie einen erschrockenen Schrei aus.
Hinter der Glastür auf dem Boden lag ein Mann.
Seit es Krimis und »Aktenzeichen XY« im Fernsehen gab, öffnete natürlich niemand mehr sofort die Tür, um nachzusehen, ob Hilfe benötigt wurde. Daher holte sie ihr Handy und wählte den Notruf.
»Bei mir liegt eine leblose Person auf der Terrasse.« Sie nannte ihre Adresse und sagte dann: »Ich gehe jetzt nachsehen. Aber es wäre wohl gut, einen Krankenwagen zu schicken.«
Doch der Mann am anderen Ende der Leitung, der sie wie in Dänemark üblich duzte, reagierte entspannt. Sie solle doch erst einmal nachgucken. Eventuell sei es ja ein Verehrer, der nur gestürzt sei und sich gleich wieder aufrappeln würde.
»Ich kenne hier niemanden,« sagte Gitte bestimmt.
Mit dem Handy in der Hand traute sie sich, in den Wind hinauszutreten. Sie bückte sich zu dem Mann hinab und sah weit aufgerissene leere Augen, dunkel und samtig, und einen feinen kleinen Schnurrbart in dem jungen Gesicht. Tief bestürzt erkannte sie den jungen Mann vom Schiff.
Und sie sah ein Messer, ein sehr großes Messer. Es steckte in seiner Brust. Zitternd tastete sie nach dem Puls an seinem Hals, konnte aber nichts spüren. Auf einmal hätte sie sich beinahe übergeben. Da kam etwas hoch, das rauswollte. Sie schluckte ein paarmal dagegen an.
Der junge Mann war tot, aber seine Haut fühlte sich noch so warm und lebendig an. Wie viel Angst hatte er bei der Überfahrt mit der Fähre über das weite Meer gehabt, und nun war er an einem Messerstich gestorben. Das Ende einer Bowie-Klinge ragte aus dem Oberkörper. Gitte kannte diese Art von Messern mit den typisch geschwungenen Klingen, weil sie eine alte Messersammlung besaß.
Auf einmal kam ihr der unangenehme Gedanke, dass der Mörder sie vielleicht gerade beobachtete. Der war doch bestimmt noch in der Nähe! Der Körper des jungen Mannes war warm, es konnte nur Minuten her sein, dass sie gehört hatte, wie er auf ihrer Veranda aufschlug. In plötzlicher Panik rappelte sie sich auf, stürzte ins Haus und schlug die Tür hinter sich zu.
Dann besann sie sich, machte die Tür noch einmal einen Spalt auf und schrie in die Dunkelheit hinaus: »Du Schwein, du verdammter Irrer!« Der Wind ließ ihr die Haare vors Gesicht flattern. Erneut überkam sie ein unheimliches Gefühl, und schnell schloss sie wieder fest die Tür.
»Hallo, hallo, bist du noch da?« Sie hatte das Handy noch immer in der Hand, und am anderen Ende der Leitung wartete jemand.
Mit lauter Stimme, um sich zu beruhigen, sagte sie: »Den Krankenwagen kannst du streichen, ich habe einen toten jungen Mann vor mir liegen. Er ist ermordet worden.«
Da hatte dieser Junge so viel erlebt und seine Angst bei der Überfahrt ausgehalten, um nach Dänemark zu kommen, nur um dann in einem besinnlichen Urlaubsort brutal erstochen zu werden. Hatte die Angst, die er auf der Überfahrt gezeigt hatte, eventuell etwas mit seiner Ankunft hier zu tun gehabt? Hatte er vielleicht schon geahnt, dass er sich in tödliche Gefahr begab?
Sie hatte auf dem Schiff mit dem jungen Mann gesprochen, und nun lag er ausgerechnet auf ihrer Terrasse. Das konnte doch kein Zufall sein!
Natürlich würde sie in ihrem neuen Job noch viele Leichen zu sehen bekommen, aber sie hatte nicht geahnt, dass ihr bereits der erste Tote so nahegehen würde.
An Schlaf war nicht mehr zu denken, in Kürze würden sich hier jede Menge Beamte tummeln. Sie zog sich an und kochte eine große Kanne Kaffee.
Der erste Wagen, der vorfuhr, war der des Notarztes. Es handelte sich um einen dünnen, älteren Herrn im Trenchcoat, der sehr schnell das Ableben des jungen Mannes konstatierte.
»Alles Weitere muss der Gerichtsmediziner feststellen«, sagte er, während er einen Totenschein ausfüllte. Er wollte gerade wieder gehen und sie mit der Leiche allein lassen, als zum Glück zwei Polizisten in blauer Uniform eintrafen und den Tatort sicherten. Sie stellten Scheinwerfer im Garten auf, und Gitte kam der abstruse Gedanke, dass deutsche Touristen davon sicher begeistert wären, weil man im Garten nun jeden Käfer erkennen konnte.
Und dann erschien der Kommissar. Selbstsicher übernahm er die Verantwortung, seine offensichtliche Müdigkeit trug er wie eine Kriegsverletzung. Gitte schenkte er ein Lächeln, das jede Braut am Altar glücklich gemacht hätte. Er war sehr dänisch: groß, mit blonden Haaren und einer Frisur, die an die Achtzigerjahre erinnerte. Blaue Augen und eine saloppe Art rundeten das Bild ab.
»Du hast den Toten also gefunden?«, sprach er Gitte an.
»Das klingt ja, als hätte ich bei einer Schnitzeljagd gewonnen. Der Junge wurde mir quasi vor die Tür geworfen. Ich glaube, ich sollte ihn finden.«
»Aha. Kennst du ihn denn?«
Gitte erzählt ihm in kurzen Sätzen von der Begegnung auf der Fähre und schloss mit den Worten: »Ich kenne hier noch nicht viele Leute.«
Seinen eigenen Namen hatte der Kommissar noch gar nicht genannt, ihren aber schrieb er groß auf seinen Notizblock und machte sich darunter weitere Notizen, in ungewöhnlich großer Schrift. Vielleicht war er kurzsichtig, dachte sie, und wollte sein Gesicht nicht mit einer Brille verunstalten.
Unverhofft nahm er den Stift und hielt ihn sich wie der Kinderheld Wicki an die Nase. Offenbar war ihm etwas eingefallen. »Du bist das! Die Frau, die bei Larstsen arbeiten wird. Hab ich recht? Das ist schon subtil, dir einfach eine Leiche vor die Füße zu legen, als wäre das hier dein neuer Arbeitsplatz. Vielleicht sollte das eine Anspielung sein? Hat jemand etwas dagegen, dass du diesen Job machst?«
»Meine Tante in Deutschland. Aber die hätte jeden Job schlechtgeredet, den ich in Dänemark annehme. Wenn es nach ihr ginge, würde ich zu ihr nach Hamm ziehen und ihren kleinen Buchladen übernehmen.«
Er grinste jungenhaft und sagte: »Ich würde sehr gerne einen Buchladen übernehmen.«
»Nicht in Hamm, glaub mir.«
Er drehte sich abrupt um und wandte sich dem Toten zu.
Gitte blieb unschlüssig auf ihrer Terrasse stehen und sah zu, wie immer mehr Menschen in das kleine Häuschen und auf die Terrasse drängten.
Irgendwann traf die Spurensicherung ein, und ihr Garten war von Menschen und Utensilien übersät. Der Nachbar, ein Urlauber aus Schweden, erschien vor seinem Haus, im grünen Bademantel und barfuß, und genoss das kriminalistische Element in seinem beschaulichen Urlaub sichtlich. Er wurde natürlich befragt, ob er etwas gesehen oder gehört habe, und es tat ihm sehr leid, keine Angaben machen zu können. Er sei durch Gittes Rufen wach geworden, und nun habe ihn der ganze Rummel doch neugierig gemacht.
Gitte wäre eigentlich gerne wieder ins Bett gegangen, da kam der Kommissar plötzlich auf sie zu, streckte doch noch die Hand aus und sagte: »Kommissar Ole Ansgaard, ich habe mich ja noch gar nicht vorgestellt. Ich gehöre zum Ermittlungsdienst in Nykøbing, Abteilung personengefährdende Kriminalität.«
Sie schüttelte seine kräftige, warme Hand und erwiderte: »Ja, Personengefährdung lag hier eindeutig vor.«
»Der Tote hatte Papiere dabei, einen griechischen Pass und eine Adresse in Nykøbing. Was er hier in Marielyst wollte, weißt du nicht?«
»Nein, aber ich vermute, dass er jemanden besuchen wollte, so allein, wie er zu sein schien. Ich dachte erst, er wäre ein Flüchtling.«
Ganz leicht verzog der Kommissar das Gesicht, und sie hakte sofort nach. »Bist du auch für eure strenge Verfahrensweise in der Flüchtlingspolitik?«
Ole Ansgaard schüttelte den Kopf. »Nein, aber das ist ein schwieriges Thema, dafür würde die Nacht nicht reichen. Wir ziehen jetzt erst mal ab und bringen den Toten in die Rechtsmedizin. Du wirst ihn danach ja eventuell wiedersehen.«
Himmel, diese ständigen Anspielungen auf ihren neuen Job. Sollte das die Art der Dänen sein, »herzlich willkommen« zu sagen?
Er sah sich im Raum um. Sein Blick blieb an dem Terrarium, das am Boden stand, hängen, und er fragte verdutzt: »Warum hast du denn eine Schildkröte?«
»Weil ich dann nicht alleine alt werden muss. Sie ist im gleichen Alter wie ich und kann locker achtzig Jahre schaffen.«
Er guckte erst auf Hieronymus, dann zu ihr und meinte: »Das hört sich nach einem einsamen Lebensplan an.«
Gitte zuckte zusammen und erwiderte etwas scharf: »Den Lebensplan lass mal meine Sorge sein. Ich ziehe Qualität der Quantität vor.«
Eine einzelne Schildkröte als qualitativ hochwertige Gesellschaft zu verteidigen klang jetzt sehr nach schlechten Erfahrungen. Einen solchen Eindruck hatte Gitte eigentlich nicht hinterlassen wollen. Sie war froh, als der Kommissar aufbrach.
Ihr Nachbar, der Schwede, blickte, wie Gitte auch, den abfahrenden Wagen der Polizei hinterher und fragte dann liebenswürdig, ob sie Hilfe brauche. Er sprach kein Dänisch, aber Englisch. »Entschuldigung, kannten Sie den Toten? Dann spreche ich Ihnen hiermit mein Beileid aus.«
Der Mann mit den grauen Haaren und dem Lächeln eines Seehundes wirkte tief betroffen. In seinem vollen Gesicht saß ein beeindruckender Schnurrbart.
»Nein, ich kannte ihn nicht näher. Aber er ist mit der gleichen Fähre gekommen wie ich und ist offenbar Grieche, mehr weiß ich nicht von ihm. Ich bin auch nicht im Urlaub hier, sondern bleibe dauerhaft und arbeite ab Montag in Marielyst. Mein Name ist Gitte Madsen.«
»Oh, wie nett. Arbeiten, wo andere Urlaub machen. Mein Name ist Erik Nyström, und ich komme aus Malmö. Einen guten Start wünsche ich Ihnen. Ich bin noch drei Wochen hier, wenn Sie Hilfe brauchen …«
Beim Sprechen streckte er sich unbewusst und zog den Bauch ein. Gitte hoffte, dass es auch noch eine Frau Nyström gab, und zwar direkt in seiner Nähe, schlafend. Wahrscheinlich war der Mann aber nur nett und hatte keine Hintergedanken. Er war bestimmt zwanzig Jahre älter als sie.
Als Gitte endlich wieder in ihrem Bett lag, konnte sie lange nicht einschlafen. Immer wieder sah sie die dunklen Augen des jungen Mannes vor sich und wie er sich angstvoll an der Säule festgehalten hatte. Konnte es sein, dass sie ihn missverstanden hatte und seine Angst einen konkreten Grund gehabt hatte? Er war keinen Tag in Marielyst gewesen und hatte bestimmt kaum Zeit mit irgendwelchen Freunden oder Verwandten verbringen können. Wie grausam und traurig.
Willkommen war der fremde Grieche hier ganz offensichtlich nicht gewesen. Wer konnte nur einen solchen Hass auf jemanden haben, der gerade erst ein paar Stunden in der Stadt war? Noch lange grübelte Gitte, ob es wohl zwischen ihrem Gespräch mit dem Griechen auf der Fähre und dem Auffinden der Leiche auf ihrer Terrasse einen Zusammenhang gab.
Am nächsten Tag war es bedeckt und kühler. Aus Westen wehte ein unangenehm scharfer Wind, wie Gitte feststellen musste, als sie vor die Tür trat. Sie nutzte den Vormittag, um sich einzurichten, und wusste nach wenigen Stunden, dass sie den hässlichen kleinen Schreibtisch in die Garage verbannen und sich ein neues Möbelstück gönnen würde. Er störte ihr ästhetisches Empfinden und bot kaum genug Platz, um ihren Laptop nebst Maus entspannt zu bedienen. Wenn dann noch ein Becher Kaffee hinzukam, wurde es brenz-lig.
Überhaupt würden ein paar nette Kleinigkeiten dem Wohnzimmer mehr Charme verleihen. Es war ein Ferienhaus, und vieles war vom jahrelangen Gebrauch abgenutzt. Die Dänen verstanden durchaus etwas von Design und geschickter Einrichtung. Klare Linien, schöne Farben und Funktionalität zeichneten dänische Einrichtungen aus. Sie würde in einem der hiesigen Möbelhäuser bestimmt fündig werden.
Doch am Nachmittag stand erst ein anderer Besuch an. Sie musste zu ihrer Tante Stine nach Nykøbing, einer Schwester ihres Vaters. Zu ihr hatte Gitte immer schon einen guten Kontakt gehabt, auch weil dies der Tante stets wichtig gewesen war. Als Gitte noch klein war, hatte ihre Tante die Familie oft in Kopenhagen besucht. Später, als sie mit ihren Eltern nach Deutschland übergesiedelt war, war Tante Stine regelmäßig nach Münster gekommen und hatte die Nichte weiterhin verwöhnt.
Tante Stine war die Witwe eines reichen Reeders und bewohnte ein großes, herrschaftliches Haus. Sie verwaltete ihr Vermögen und das ihrer beiden Töchter mit strenger Hand und in wallende Gewänder gehüllt. Ihr Erbteil nannte die Tante auch gerne und treffend »Schmerzensgeld«, denn ihr Mann war in den letzten Jahren seines Lebens ein munterer Stinkstiefel gewesen. Munter, weil er oft Feste feierte und sich auf dubiose Jagdveranstaltungen einladen ließ, wobei er meist Unmengen an Alkohol konsumierte. Einmal hatte er bei einer Wolfsjagd in Rumänien sogar stockbetrunken ein Kind in einem Dorf angeschossen. Eine Sache, die er, wie vieles andere, mit Geld bereinigte.
Solche Geschichten bekam Gitte von ihrer Tante zusammen mit bondepige med slör aufgetischt. Das bedeutete wörtlich »Bauernmädchen im Schleier«, eine Mischung aus Schwarzbrot, Apfel- und Himbeermus. Angeblich hatte Gitte das Gericht als Kind geliebt, nun musste sie bei jedem Besuch eine Schale der kalorienreichen cremigen Masse verdrücken.
Ihrer Tante wäre es lieber gewesen, wenn Gitte sich in Nykøbing einen anständigen Job gesucht hätte und zu ihr in das große Haus gezogen wäre. Aber Gitte wollte direkt am Meer wohnen und vor allem unabhängig sein. So gerne sie Tante Stine auch mochte, anstrengend war sie für drei.
Von Marielyst aus waren es etwa fünfzehn Kilometer in die viel größere Stadt Nykøbing. Gitte fuhr aus Marielyst heraus und freute sich über die Schafe, die sie entlang der Strecke auf den Wiesen entdeckte. Hin und wieder sah sie Stände, wo die Dänen Obst, Gemüse oder auch Altwaren zum Kauf anboten. Bald hatte Gitte die Stadtgrenze erreicht. Tante Stine wohnte ein paar Straßen außerhalb der Innenstadt.
Als Gitte geparkt hatte, betrachtete sie sich mit einem prüfenden Blick in den Rückspiegel, immerhin hatte die Tante sie eine ganze Zeit lang nicht gesehen. Dann stieg sie aus und ging voller Vorfreude zur schmucken Haustür, die Tante Stine im gleichen Moment mit einem begeisterten Ausruf öffnete. Ein blaues Gewand fiel ihr locker über den mächtigen Brustkorb, dicke Goldketten lagen eng am Hals an. Gitte wurde ins Haus gezogen, bekam rechts und links einen dicken Kuss auf die Wangen, und dann hielt die muntere Tante sie ein Stück von sich weg.
»Du hast zugenommen, mein Kind, steht dir aber irgendwie. Signe, Gitte ist da!«
Signe war die fleißige gute Seele des großen Hauses. Sie versorgte den Haushalt und den Garten, und das an sechs Tagen die Woche. Der søndag war für ihre beiden erwachsenen Kinder reserviert, die dann immer zum Essen kamen.
Gitte wollte sich gerade höflich die Schuhe ausziehen, als Signe um die Ecke geeilt kam. Sie wischte sich die Hände an einem Tuch ab, das ihr über die fülligen Schultern hing, und wiederholte die Begrüßungszeremonie der Tante. Erneut gab es zwei dicke Küsse. Signe war eine kleine agile Frau Ende fünfzig mit einem Kopf voller krauser grau-schwarzer Locken. In der Vorgeschichte ihrer Familie hatte wohl irgendwann ein Afrikaner seine Gene hinterlassen, aber das war nur an den Haaren erkennbar. Ihre Haut war, wie bei fast allen Dänen im Sommer, leicht gebräunt, aber nicht auffallend dunkel. Sie strahlte und sagte in fröhlichem Befehlston: »Ab mit euch ins Wohnzimmer, ich habe schon gedeckt. Macht es euch hyggelig.«
Der mittelgroße Raum war sehr geschmackvoll eingerichtet. Auf einem grazilen Holztisch mit Intarsien war der Kaffeetisch vorbereitet, die dazugehörigen dunkelblau gepolsterten Stühle waren leicht geschwungen. Außerdem gab es noch einen passenden Vitrinenschrank und einen alten Sekretär mit einem Ledersessel davor. Hier erledigte Tante Stine ihre Korrespondenz und kümmerte sich um Geschäftsangelegenheiten. Auf der Schreibplatte sah es dementsprechend chaotisch aus, denn putzen oder aufräumen durfte dort niemand. Überall im Wohnzimmer waren Vasen und Souvenirs verteilt, was den Raum etwas übervoll wirken ließ.
Gitte hatte kaum begonnen, von ihren jüngsten Erlebnissen zu berichten, da wurde sie schon unterbrochen.
»Man hat dir eine Leiche vor die Gartentür geworfen? Höre ich recht? Warum hast du mich nicht schon in der Nacht angerufen? So etwas will ich doch auch sehen.«
Mit solchen Geschichten konnte man das Tantchen nicht erschrecken. Wenn man ihr hingegen erzählen würde, man habe sich einen Hund angeschafft, wäre es mit der Contenance sofort vorbei. Dann würde sich Stine Poulsen ganz furchtbar aufregen, weil Hunde angeblich schlimme Krankheiten übertrugen. Gittes Schildkröte Hieronymus hielt sie für eine merkwürdige Marotte, gegen die sie aber nichts einzuwenden hatte, da das Tier ein Geschenk ihres Bruders, Gittes verschollenen Vaters, gewesen war.
Doch nun kam der Tante ein sorgenvoller Gedanke.
»Gitte, wenn man dir zwei Tage vor Jobantritt eine Leiche vor die Tür wirft, dann kennt dich der Mörder doch! Himmel, du solltest wirklich lieber bei mir einziehen, Kind. Du kannst die Strecke von hier doch gut mit dem Auto fahren, ja, sogar mit dem Fahrrad. Zwölf Kilometer, keine große Sache.«
Gitte schüttelte entschieden den Kopf. »Mein Vermieter sagt, im Ort wird schon seit Tagen davon geredet, dass eine Frau aus Deutschland die neue Mitarbeiterin im Bestattungsinstitut Larstsen wird. Seit dem plötzlichen Tod meines Vorgängers kennt jeder das Unternehmen. Diese makabere Anspielung könnten sich viele erlaubt haben, ohne mich persönlich zu kennen. Und mein Wohnhaus zu ermitteln wäre auch nicht schwer gewesen. Eine andere Version scheint mir realistischer: Der junge Mann taumelt schwer verletzt in meinen Garten, auf der Suche nach Hilfe, und bricht dann sterbend vor der Tür zusammen. Alles reiner Zufall.«
Die Tante hörte aufmerksam zu. »Was für eine plötzliche Todesursache hat denn deinen Vorgänger aus dem Amt katapultiert? Ich habe irgendetwas in der Zeitung gelesen, weiß es aber nicht mehr genau.«
Gitte machte ein betroffenes Gesicht.
»Er ist aus dem Heißluftballon gestürzt, während einer Bestattungszeremonie! Es war ein ziemlich unglücklicher Unfall. Und auch verdammt unnötig. Passiert ist es bei dem Versuch, die Zeremonie mit der Kamera aufzunehmen, er hat sich wohl einfach zu weit nach hinten gelehnt. Gelandet ist er dann auf einer Bullenweide, wo er vom tierischen Anführer auch noch einige derbe Tritte kassiert hat. Da war er aber schon tot.«
»Das wird auch immer verrückter mit diesen Bestattungen. Der arme Mann. So etwas wirst du bitte nicht machen. Man braucht doch bei einer Beerdigung kein Erlebniskino.«
Tante Stine stellte ihre Kaffeetasse ungewohnt energisch auf dem hübschen Holztisch ab und blickte sie an.
»So, Gitte. Und jetzt sagst du mir mal, warum du plötzlich wieder Dänin werden möchtest.«
»Nach Mutters Tod bekam ich Sehnsucht nach der anderen Hälfte meiner Wurzeln.«
»Und ein einfacher Urlaubsbesuch hätte es da nicht getan? Soweit ich weiß, hast du deshalb einen guten und sehr sicheren Job gekündigt.«
Gitte schob ihr leeres Glas zur Seite, in dem sich die unvermeidliche bondepige med slör befunden hatte. Ihr eigenes Glas hatte Tante Stine kaum angerührt. Dabei liebte die füllige Frau solche Zwischenmahlzeiten sehr.
Gitte musste improvisieren, sie war sich nicht sicher, ob sie gleich beim ersten Treffen mit ihrer Tante das Gespräch auf ihren Vater Mads bringen sollte. »Ach, da kamen mehrere Gründe zusammen. Ich habe es in meinem alten Job nicht mehr ausgehalten. Da war ich umgeben von halbstarken Polizisten auf der einen Seite und Opfern von Kriminalfällen auf der anderen. Und Letztere wurden von uns in ihrem Gefühl, ein Opfer zu sein, noch unterstützt. Der Sinn meiner Arbeit war mir abhandengekommen, die Stadt ging mir auf die Nerven, ich war einfach gelangweilt. Und ich dachte, du freust dich.«
»Und mit Mads hat das alles nichts zu tun?« Der Ton klang harmlos, aber Gitte ahnte, dass ihre Tante wenig begeistert wäre, wenn ihre Nichte die alte Geschichte wieder aufrollte und den Vater auf eigene Faust suchte.
»Nein«, log sie, doch die Tante ließ nicht locker.
»Ich dachte, weil er doch zuletzt in Marielyst gesehen worden ist. Das war einen Tag, bevor er verschwand.«
»Was wäre eigentlich so schlimm daran, wenn ich ein wenig nachforschen würde? Als es passiert ist, war ich noch zu jung, und ich finde, Mutter hat zu früh aufgegeben.«
Tante Stine schwieg einen Moment und seufzte. »Kind, ich kann dich gut verstehen. Ich muss mir ebenfalls den Vorwurf gefallen lassen, dass wir damals zu schnell die Flinte ins Korn geworfen haben. Aber wenn es sich wirklich um ein Verbrechen gehandelt hat, ist es eben auch nicht ganz ungefährlich, auf eigene Faust zu ermitteln. Weißt du, inzwischen ist so viel Zeit vergangen, ich will einfach nicht, dass du noch einmal leidest.«
»Man leidet wohl ein Leben lang unter dem Verlust eines Elternteils. Es ist etwas, mit dem man leben lernen muss.«
Der Montagmorgen kam schneller, als Gitte lieb war. Sie holte das alte Fahrrad aus dem Schuppen, um die wenigen Straßen zum Ortskern zu radeln. Das Rad gab einige merkwürdige Geräusche von sich, aber sie kam voran, trotz der Schotterwege. Solche Wege fand sie zwar eher unpraktisch, aber zugleich viel gemütlicher als gepflasterte Straßen, und die Autos waren gezwungen, langsamer zu fahren.
Das Wetter war nicht übermäßig schön, kurze Sonnenabschnitte wechselten sich mit großen Wolken ab, und es war nicht wärmer als zwanzig Grad. Ein Mallorca-Urlauber wäre seufzend im Hotel geblieben, Schlechtwetterprogramm. Der hiesige Tourist überlegte kurz, dennoch zum Strand zu gehen, entschied sich dann für eine Fahrradtour, packte aber auf jeden Fall die Badehose ein.
Das Bestattungsunternehmen, in dem Gitte heute ihren ersten Arbeitstag hatte, befand sich am Druevej. Ihr neuer Chef Larstsen hatte sich seit einiger Zeit auch auf Wünsche ausländischer Kunden eingestellt. Seine Asche ins Meer oder über die Küsten Dänemarks streuen zu lassen war für ihn ein lukrativer Geschäftszweig geworden.
Das Bestattungsunternehmen war ein Ableger einer größeren Firma in Kopenhagen. Gitte hatte den Job bekommen, weil sie gleich mehrere Qualifikationen mitbrachte. Sie war jahrelang in der Opferhilfe der deutschen Polizeibehörde tätig gewesen und konnte mit trauernden Angehörigen umgehen. Sie konnte Deutsch und Dänisch und kannte auch die rechtlichen Bestimmungen beider Länder. Außerdem hatte sie neben ihrem Lehrgang zur Bestatterin auch eine Qualifizierung als Thanatopraktikerin absolviert und dabei die optische Wiederherstellung von Leichen gelernt. Es gab Fälle, in denen die herkömmlichen Maßnahmen eines Bestatters nicht mehr ausreichten, beispielsweise bei stark verwesten Leichen oder nach schweren Unfällen.
»Schräg« hatten ihre Freunde ihren Berufswechsel gefunden. Für Gitte hingegen war er eine Konsequenz aus ihrer bisherigen Arbeit gewesen. Toten musste man nicht mehr zuhören, sie trösten, Mut zusprechen und motivieren, es war bereits alles vollbracht.
Sie erinnerte sich an das letzte Telefonat mit ihrem neuen Chef, dem sie bisher noch nicht persönlich begegnet war. Himmel, hatte der am Telefon gleich losgetobt, als sie ihre Ankunft um zwei Wochen verschieben musste.
»Das war aber ganz anders abgesprochen. Wie unzuverlässig. Ich werde in Kopenhagen erwartet. Das geht so einfach nicht.«
»Das muss gehen. Es gibt noch einige Termine wegen der Erbschaftsangelegenheiten meiner Mutter. Der Notar nimmt nun einmal keine Rücksicht auf einen Bestatter in Marielyst. Es tut mir leid.«
Ihr neuer Chef hatte dann noch einiges vor sich hin gebrummt, wo denn die berühmte deutsche Zuverlässigkeit hin sei und Ähnliches. Von dem dänischen bare rolig, was so viel hieß wie »ganz ruhig« oder »keine Sorge«, einer weitverbreiteten und sehr sinnvollen Lebenseinstellung der Wikingernachfahren, hatte Larstsen anscheinend nicht viel mitbekommen.
Daher war Gitte überrascht, als sie der hagere Mann jetzt mit einem überaus herzlichen Lächeln willkommen hieß und ihr eine Tasse dampfenden Kaffees hinstellte.
Larstsen trug eine Leinenhose und ein kariertes Hemd, seine Haare waren exakt gescheitelt und sein Gesicht so glatt rasiert wie das eines Teenagers. Er erinnerte Gitte spontan an einen deutschen Beamten.
»Schön, dass du da bist. Aber du weißt schon, dass wir erst mit den Angehörigen sprechen, bevor sie uns die Leichen überlassen? Nicht umgekehrt. Was war denn da in deiner ersten Nacht los?«
Der Dorfklatsch funktionierte offensichtlich tadellos.
Gitte erzählte ihm alles und schloss mit den Worten: »Der arme Junge, er tut mir so leid.«
»Ja«, erwiderte Larstsen, »sein Onkel hat mich bereits kontaktiert. Der Junge wollte zu seinen Verwandten, sie arbeiten in einem Hotel in Nykøbing und wohnen auch dort. Seine ältere Schwester hatte gedacht, nach all dem, was er erlebt hat, täte es ihm gut, eine Zeit lang bei den Verwandten im Ausland zu verbringen. Zunächst war er einige Zeit in Deutschland und hat im Restaurant eines anderen Onkels mitgeholfen, nun wollte er weiter nach Dänemark. Seine Familie war erstaunt, dass er in Marielyst geblieben und nicht gleich zu ihnen nach Nykøbing gefahren ist. Aber eines ist echt der Hammer: Was hat ein Grieche mit Wikingerrunen zu tun? Kannst du mir das sagen?«
Larstsen rieb sich das Gesicht noch glatter und grinste genüsslich. So sah man aus, wenn man einen richtig guten Wein im Glas hatte.
»Wieso Wikingerrunen?«
»Ach so, du weißt es noch gar nicht. Dann ist der Kommissar nicht noch einmal zu dir gekommen?«
»Nein, dabei muss ich noch meine Aussage unterschreiben.«
Der Bestatter, der doch in seinem Job genug mit Leichen zu tun hatte, ergötzte sich sichtlich an seiner Geschichte.
»Dem Jungen wurden Runen auf dem Rücken eingeritzt. Ist dir das nicht aufgefallen? Du hast ihn doch gefunden.«
Gitte starrte ihren neuen Chef an und schwieg. Es war düster gewesen, trotz der Terrassenbeleuchtung. Und der junge Mann hatte ein Hemd getragen, das wusste sie genau. Ihr kam ein Gedanke.
»Hat man ihm die Runen vor oder nach dem Tod zugefügt?«
Larstsen wusste es nicht. So etwas war schließlich Insiderwissen der Polizei.
»Lass uns erst einmal mit einem kleinen Aquavit auf deinen Dienstantritt trinken.« Händereibend durchquerte er den kleinen Verkaufsraum, Gitte folgte ihm. Genau zwei Särge gab es zu sehen, ein Standardmodell und einen luxuriöseren weißen Sarg. Auf einem Pult lag allerdings ein Katalog, der die verschiedensten Modelle zeigte. Der Katalog für die Urnen befand sich auf einem weiteren Pult. Für die Angehörigen war es schon wichtig, dass das Gefäß ansprechend war, dachte Gitte, als sie die aufwendig gearbeiteten und oft bunten Behälter sah.
Eine halbe Minute später hatte sie ein gut gefülltes Glas Norkap-Aquavit in der Hand. Die Dänen tranken gerne und viel und zu allen möglichen Gelegenheiten. Gitte hatte schon öfter den bösen Gedanken gehabt, dass es wohl an dem vielen Alkohol im Blut lag, wenn die Dänen als glücklichstes Volk Europas galten. Doch dann erinnerte sie sich an viele Dinge, die hier im Vergleich mit Deutschland besser waren. Und immerhin hielt das dänische Volk den Titel, das glücklichste zu sein, schon seit einigen Jahren.
Dass sich hier alle gleich mit »du« anredeten, fand sie freundlich und unkompliziert, aber sich sofort mit dem Chef zu duzen und dabei Aquavit zu trinken ging ihr eigentlich einen Schritt zu weit. Morgens mochte sie das Zeug noch weniger als am Abend.
»Die meisten stehen ja auf Aalborg, aber ich finde, der Norkap-Aquavit ist vollmundiger und weicher im Geschmack. Trink mal. Na, was hab ich dir gesagt? Wir haben momentan übrigens zwei Anfragen wegen einer Ballonbestattung.«
Er sah ihr erschrockenes Gesicht und fügte schnell hinzu. »Das läuft so wie abgesprochen, die führe ich durch. Aber …«, er hob seinen rechten Zeigefinger, »dir entgeht da etwas. Es ist wundervoll und sehr erhaben, oben in den Lüften und dem Himmel so nah die Asche eines Verstorbenen zu verstreuen.«
»Ja, weißt du, ich bin schon am Boden recht ungeschickt. Ich möchte meinem Vorgänger nicht nachfolgen.« Gitte war sich da ganz sicher.
Paul Larstsen erzählte weiter. »Knut, mein ehemaliger Mitarbeiter, der hat sich aber auch zu ungeschickt angestellt. Nachdem er bereits zig Ballonbestattungen mitgemacht hatte, kam der Narr auf die Idee, ein Foto von der Zeremonie zu machen. Er steigt also auf eine große Kiste und lehnt sich nach hinten. Eine Hand an der Kamera, mit der anderen hält er sich am Strick fest. Plötzlich macht der Ballon einen Schwenk und sackt ein Stück weit ab. Da droht ihm die Kamera aus der Hand zu fallen, und statt sie einfach fallen zu lassen, lässt er das Seil los und verliert das Gleichgewicht, leider in die falsche Richtung. So ähnlich haben es mir die anderen Passagiere berichtet. Es ging ja alles sehr schnell.«
Larstsen blickte auf einen Fotorahmen mit schwarzem Band, und erst jetzt sah Gitte, dass er im Verkaufsraum ein Bild seines toten Kollegen aufgestellt hatte. Er hatte ihn wohl sehr gemocht.
»Knut war beliebt und einfühlsam. Er konnte gut mit Kunden und hat mir stets den Rücken freigehalten. Das Ganze war wirklich ein richtiger Mist.«
Er blickte Gitte flüchtig an und meinte: »Du bist beinahe zu hübsch für den Job einer Bestatterin. Hager, blass und spitze Nase, das würde besser passen.«
Larstsen lächelte über seinen zweifelhaften Scherz, aber seine Augen blickten traurig, als er nun weitererzählte: »Ich hatte damit gerechnet, dass vielen nach so einem Vorfall eine Ballonfahrt zu gefährlich wäre, aber weit gefehlt. Gerade wegen dieses Ereignisses sind einige erst auf die Idee zu einer Ballonbestattung gekommen.«
Er tippte auf sein Buch mit den Terminen. »Einer wollte ganz genau wissen, wie es passiert ist, und ob er dann mit seinem Onkel, vielmehr der Asche seines Onkels, in demselben Ballon fahren würde und ob er Bilder von dem Unfall sehen könnte. Manche Leute sind schon ein morbides Pack!«
Während sie so im Raum mit den Särgen standen, dachte Gitte daran, dass nun tatsächlich der Tod Einzug in ihr Leben gehalten hatte. Der schreckliche Mord an dem jungen Griechen ging ihr nicht aus dem Kopf, und dann war da noch dieser schräge Todesfall im Heißluftballon. Und der Tod ihrer Mutter lag auch erst drei Monate zurück.
Dann zeigte Larstsen ihr den danebenliegenden Arbeitsraum und einen noch kleineren Raum dahinter, in dem ein Kreuz hing. Das war der Raum, in dem die Toten aufgebahrt wurden, damit die Angehörigen in Ruhe Abschied nehmen konnten. In der Mitte stand ein Gestell, und neben einem mit einem Schaffell belegten Stuhl, der sehr bequem aussah, entdeckte Gitte eine Box mit Papiertaschentüchern.
Im Arbeitsraum gab es einen großen Schrank, in dem sich, wie Larstsen ihr zeigte, alles befand, was man brauchte, damit ein Leichnam für die Angehörigen in einen würdevollen Zustand gebracht werden konnte. Wenn nötig, eben durch eine thanatopraktische Behandlung. Bei dem Lehrgang war Gitte beeindruckt gewesen, was in dieser Hinsicht möglich war. Mitunter wurde eine Leiche ja erst Tage später in ihrer Wohnung gefunden, da war dann einiges an Aufwand nötig, um sie vorzeigbar zu machen.
Morgen sollte sie ihre erste Leiche bearbeiten, erzählte ihr Larstsen, eine alte Dame aus Sakskøbing. Die Leiche des jungen Griechen war natürlich noch nicht freigegeben, aber auch dafür würde das Bestattungsunternehmen Larstsen den Auftrag bekommen.
Bei dem Namen Sakskøbing klingelte etwas in Gitte, eine Erinnerung stieg auf, das flüchtige Bild einer reizvollen Stadt. Sakskøbing war etwa dreißig Kilometer von Marielyst entfernt und lohnte einen Besuch. Es besaß einen pittoresken Hafen und lag inmitten idyllischer Natur mit einer großen Vogelwelt. Das besondere Flair entstand nicht zuletzt durch die Designer-Hausboote, die im Hafen vor Anker lagen. Wenn man durch den Ort schlenderte, fühlte man sich in die Handelszeit früherer Jahrhunderte zurückversetzt.
Als Gitte um vier Uhr, von den vielen Eindrücken und Informationen ermattet, zu Hause ankam, machte ihr der schwedische Nachbar lebhafte Handzeichen. Erst als sich der Kommissar auf ihrer Terrasse bemerkbar machte, begriff sie, was er ihr sagen wollte.
»Entschuldige den Überfall«, begrüßte sie der Polizist, »aber ich brauche noch eine Unterschrift von dir. Und ein paar Fragen habe ich auch.«
Er blickte zu dem großen Schweden hinüber, der entspannt dastand, Gitte herzlich begrüßte und sich ansonsten auf das kommende Gespräch zu freuen schien.
»Können wir reingehen?«, fragte Kommissar Ansgaard.
Gitte bemerkte das gute Aussehen des Kommissars und dachte an das Chaos, in dem sie ihre Wohnung am Morgen hinterlassen hatte. Nach kurzem Zögern sagte sie: »Es ist sehr unordentlich, aber bitte.«
»Dann gehe besser du vor, damit ich sehe, wo ich hintreten darf.« Er grinste, und sie war ein wenig beleidigt. So schlimm war es nun auch wieder nicht.
Als Erstes legte er Gitte ihre gestrige Zeugenaussage vor die Nase und bat um eine Unterschrift.
Während sie ihren Namen unter das Papier setzte, fragte sie forsch: »Haben deine Fragen etwas mit den Runen zu tun?«
»Ja, das stimmt. Der Fall hat ziemlich unschöne Züge. Die Runen wurden dem armen Kerl vor seinem Tod beigebracht, nicht besonders tief, aber sicher schmerzhaft.«
Gitte fragte betroffen: »Wie lange vorher?«
»Ein paar Stunden, einen Tag. Wenn du daran zurückdenkst, wie er bei eurer Begegnung aussah, was für einen Eindruck hattest du von ihm? Wirkte er auf der Fähre so, als hätte er Schmerzen?«
Ole Ansgaard nahm einen Bücherkarton von einem Stuhl, stellte ihn vorsichtig auf den Boden und setzte sich, wobei er die langen Beine lässig übereinanderschlug.
Angesichts von so viel Lässigkeit fragte sie ihn zunächst, ob er einen Kaffee haben wolle. Sein strahlendes Gesicht sprach Bände. Bevor sie in der kleinen Küche verschwand, beantwortete sie seine Frage: »Man sah dem Jungen an, dass es ihm nicht gut ging, aber ich hielt es für Angst oder Seekrankheit. Doch seelischer Schmerz kann im Gesicht genauso aussehen wie körperlicher. Also wäre es schon möglich, dass jemand zu dem Zeitpunkt schon seinen Rücken als Geschichtsbuch missbraucht hatte.«
»Als Geschichtsbuch? Was für ein Vergleich. In der Gerichtsmedizin rätseln sie noch, was die Runen bedeuten.«
Als die Kaffeemaschine lief und sie mit zwei großen Tassen, Milch und Zucker ins Wohnzimmer zurückkam, fragte sie neugierig: »Wie wurde das denn gemacht? Ich meine, wie sind die Runen auf seine Haut gekommen?«
Er blickte sie erstaunt an. »Du willst es aber schon genau wissen, oder? Die meisten Leute möchten sich eine solche Verletzung lieber nicht anschaulich erklären lassen.«
»Ich schon, und spare dir bitte Bemerkungen zu meinem aktuellen Job.«
»Es ist mit einem Werkzeug gemacht worden, das dem von Tätowierern ähnelt. Wahrscheinlich war es auch nicht viel schlimmer als die Tätowierungen, die sich Häftlinge gegenseitig beibringen. Nur dass diese die Prozedur freiwillig über sich ergehen lassen.« Er verzog das Gesicht.
Gitte holte die Kaffeekanne aus der Küche und schenkte Ole Ansgaard und sich selbst eine große Tasse ein. Im Vergleich zu den Deutschen tranken die Dänen doppelt so viel Kaffee. Gitte teilte diese Leidenschaft mit ihren dänischen Landsleuten, sie war unter ihren Freunden in Münster als ausgesprochene Kaffeetante bekannt.
Sie sah zu, wie Ansgaard zwei gehäufte Löffel Zucker in den Kaffee gab und die Tasse fast bis zur Oberkante mit Milch auffüllte. Gitte trank ihren Kaffee schwarz, was allerdings nichts mit Genuss, sondern mit Selbstdisziplin zu tun hatte.
Versonnen hielt sie den Blick auf seine kräftige Hand gerichtet, mit der er jetzt sehr gründlich den Zucker einrührte, und überlegte laut: »Vielleicht hat sich der junge Grieche ja auch freiwillig einer Zeremonie unterzogen. Wäre doch möglich, dass er sich Schutzrunen einritzen lassen wollte oder sogar einer obskuren Gruppe von Wikingerfans angehörte? Allerdings, falls es zum Schutz war, hat das wirklich rein gar nichts gebracht, eher im Gegenteil. Aber realistisch betrachtet wirken solche heidnischen Bräuche ohnehin nie.«
Ole Ansgaard runzelte die Stirn. »Nun, so streng würde ich das nicht sehen. Bestimmte Rituale gibt es in jeder Religion, und es ist der Glaube daran, der einem hilft. Wenn ich mich beschützt fühle, wirke ich sicherer, was mich wiederum weniger leicht zum Opfer macht. Weißt du, was ich meine?«
