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Die malerische Insel Falster, alte Familiengeheimnisse und ein mysteriöser Todesfall Sonne, Smørrebrød und kilometerlange Sandstrände an der dänischen Südsee in Marielyst. Bestatterin Gitte Madsen will sich diesen Sommer endlich mal zurücklehnen und die Urlaubszeit in ihrem neuen Zuhause genießen, doch dann landet plötzlich die Mutter des Inseljournalisten auf ihrem Tisch. Beim Waschen der Leiche stößt Gitte auf einen ungewöhnlichen Bluterguss und schlägt Alarm. Kommissar Ole Ansgaard findet heraus, dass Ella an einer Insulininjektion gestorben ist. Der Kommissar hat auch bald einen Verdächtigen: Gittes Vater Mads, fast zwei Jahrzehnte lang verschollen, ist zurück in Marielyst und wurde als letzter Besucher bei Ella gesehen …
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Veröffentlichungsjahr: 2022
Dänische Brandung
FRIDA GRONOVER, geboren 1969, verbrachte die Sommer ihrer Kindheit auf Falster und ist der dänischen Insel seither besonders verbunden. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Nordrhein-Westfalen, schreibt sich aber mit ihren Gitte-Madsen-Krimis immer wieder an den Ort ihrer Träume zurück.Von Frida Gronover sind in unserem Hause bereits erschienen:Ein dänisches Verbrechen · Dänische Schuld · Dänische Gier
Frida Gronover
Gitte Madsen ermittelt
Ullstein
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Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage April 2022© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2022Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © Holmes Garden Photos / Alamy Stock Foto (Fahne); FinePic®, München (Himmel); mauritius images / Westend61 / Kerstin Bittner (Ufer, See, Schiffe)Autorenfoto: © Studioline HammE-Book-Konvertierung powered by pepyrus Alle Rechte vorbehalten. ISBN 978-3-8437-2669-6
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Die Autorin / Das Buch
Titelseite
Impressum
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Leseprobe: Willkommen in St. Peter-(M)Ording
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Cover
Titelseite
Inhalt
1
Für Anja E. – zum Glück hast du Marielyst eine zweite Chance gegeben.
Sonne, vierundzwanzig Grad Außentemperatur, und der Geruch von frischen Backwaren vom mobilen Bäckerwagen, der mitten im Ort stand. Ein perfekter Tag. Gitte lächelte jeden Touristen an, der ihr entgegenkam, und fühlte sich in ihrem bunten Sommerkleid für alles gerüstet. Für fast alles. Denn als Gitte das Bestattungsinstitut betrat, um ihren Arbeitstag zu beginnen, fiel die Begrüßung ihres Chefs merkwürdig aus.
»Gitte, du kannst heute nicht arbeiten!«
»Warum denn nicht?«
»Weil du dich in einem emotionalen Ausnahmezustand befindest!«
Gitte und Paul Larstsen starrten sich an. Der schlanke Bestatter mit dem glatt rasierten Gesicht hielt die Arme vor der Brust verschränkt und stand mitten im Büro seines Bestattungsinstituts, als wollte er Gitte sogar den Weg zur Kaffeemaschine versperren.
Gitte ließ demonstrativ die Tür hinter sich ins Schloss fallen und trat einen Schritt auf ihn zu. »Paul, ich bin okay. Außerdem muss ich keinen Vortrag halten, sondern eine tote Frau waschen. Und der wird mein emotionaler Zustand vollkommen egal sein.«
Stur reckte sie ihr Kinn nach vorne und strich sich die blonden Haare zurück, die der leichte Seewind ihr ins Gesicht geweht hatte. Es war Montag, ein sommerlich strahlender Morgen mit jeder Menge sonnenhungriger Touristen im beschaulichen Marielyst auf der dänischen Insel Falster. Gitte konnte den Sand unter ihren Füßen beinahe noch spüren, denn sie hatte schon vor der Arbeit einen kurzen Abstecher ans Meer gemacht. Das Bestattungsinstitut von Paul Larstsen befand sich mitten im Ort und damit nur wenige Hundert Meter vom Strand entfernt. Und an diesen Strand wollte ihr Chef sie offensichtlich wieder zurückschicken. Er hielt sie für arbeitsunfähig nach dem, was am Wochenende auf ihrer kleinen Party geschehen war. Sie hatte den Kauf ihres Ferienhauses gefeiert, doch plötzlich war ein zwar lang-ersehnter, aber völlig unerwarteter Gast aufgetaucht.
»Gitte, du hast vorgestern deinen Vater wiedergesehen, nach fast zwanzig Jahren! Lange Zeit hast du sogar geglaubt, er sei tot. Erzähl mir nicht, dass du diese Begegnung einfach so wegsteckst. Er ist noch immer in Marielyst. Verbring also lieber Zeit mit ihm als mit einer toten Frau.«
»Diese tote Frau ist die Mutter von Nils. Ich habe ihm versprochen, dass ich mich um sie kümmern werde.«
Paul trat einen Schritt auf sie zu und fasste sie sanft an den Schultern. »Morgen kümmerst du dich um Ella Jansen. Heute ist dein Vater dran. Ich bestehe darauf, Gitte.«
Sie gab auf und drehte sich um. An der Tür hielt sie noch einmal inne. »Hat Nils noch etwas gesagt? Wie geht es ihm?«
»Er war verständlicherweise geschockt. Seine Mutter war erst fünfundsechzig Jahre alt. Kein Alter für einen plötzlichen Tod. Aber Herzinfarkte bekommen auch schon Vierzigjährige.«
Gitte nickte und verließ das Institut. Sie schloss ihr altersschwaches Fahrrad auf und dachte an den sonst so munteren Journalisten Nils. Auf ihrer Party hatte Nils noch Anekdoten von seiner allein lebenden Mutter erzählt, und nun, einen Tag später, hatte er seine Mutter spätabends tot vor dem Fernseher gefunden. Der Hausarzt hatte einen Herzinfarkt als Todesursache diagnostiziert.
Nachdenklich schob sie ihr altes Fahrrad bis zur Straße, unschlüssig, ob sie zum Strand gehen sollte oder nach Hause. Eine Möwe beschwerte sich lauthals, weil sie sich beim Essen einer weggeworfenen Eiswaffel gestört fühlte.
»Gitte, was machst du denn hier? Paul hat dir doch für heute freigegeben. Wir haben es alle gehört.«
Kommissar Ole Ansgaard kam soeben auf dem Weg zum Präsidium die Straße entlang. In der Hand hielt er eine Brötchentüte. Prüfend blickte er ihr ins Gesicht und gab ihr einen Kuss auf die Wange.
Wow, diese Selbstverständlichkeit war sie noch gar nicht gewohnt. Schnell überspielte sie ihre Befangenheit.
»Nils’ Mutter ist gestorben, und ich habe ihm versprochen, mich persönlich um die Leiche zu kümmern.«
Oles Blick wurde misstrauisch. »Kümmern als Bestatterin, oder fängst du wieder an zu ermitteln? Mir wurde jedenfalls kein Mordfall gemeldet, und ich als Kommissar sollte doch informiert werden, oder?« Er grinste jungenhaft und zeigte seine Grübchen.
»Natürlich kümmere ich mich als Bestatterin und Freundin darum. Die Frau ist an einem Herzinfarkt gestorben, und Nils tut mir wirklich leid. Aber Paul hat mich wieder nach Hause geschickt. Ich soll mich um meine eigene Familie kümmern.« Sie stöhnte und verdrehte die Augen.
Ole lachte, wurde aber schnell wieder ernst. »Gitte, wenn du jemanden zum Reden brauchst, bin ich da. Ich meine, das war schon eine ziemliche Überraschung, als dein Vater plötzlich mit deiner Tante auf deiner Party aufgetaucht ist. Du siehst ihm übrigens ähnlich, die gleichen schönen braunen Augen, und auch deine zierliche Gesichtsform, in der sich viele seiner charakteristischen Züge finden.«
»Ja.« Gitte nickte. »Das war ein bewegender Moment, ihn nach zwanzig Jahren plötzlich wiederzusehen. Ohne darüber nachzudenken, habe ich ihn einfach umarmt und war kurz wieder sein kleines Mädchen.«
»Er sah mächtig stolz aus, als er dich angesehen hat«, sagte Ole.
Es war an dem Abend nicht leicht gewesen, ihre Partygäste zu unterhalten, während ihr Vater anwesend war. Oles Hand auf ihrem Rücken hatte ihr dabei gutgetan, erinnerte sich Gitte. Heute Nachmittag traf sie ihren Vater erneut, dann würden sie ungestört miteinander reden können.
Jetzt aber funkelte Gitte Ole trotzig an. »Mir wird eine Ruhepause verordnet, damit ich erst richtig nervös werde. So ein Blödsinn! Ablenkung würde mir viel besser tun.«
Er lachte nur und nahm ihre Hand. »Ich bin für dich da, das weißt du, oder?«
Sie nickte stumm. Daran musste sie sich erst gewöhnen, dass ihre Beziehung eine neue, tiefere Ebene erreicht hatte. »Ich gehe gleich zum Strand, während ihr anderen am Schreibtisch schwitzt«, grinste sie und winkte ihm noch zu.
Leise murmelte sie seinen Namen. »Ole.« Der smarte Kommissar hatte es nicht leicht. Er steckte in einer Ehe fest, die keine mehr war. Seine Frau Anita hatte vor wenigen Jahren einen Autounfall gehabt, der sie zu einem Pflegefall gemacht hatte. Seitdem lebte sie in einem Heim und ließ ihre Stimmungsschwankungen gerne an Ole aus.
Dem Unfall vorausgegangen war ein Treffen mit einem Lover. Die meisten hätten Verständnis gehabt, wenn Ole sich von Anita getrennt hätte. Stattdessen besuchte er sie regelmäßig und hatte immer wieder ein schlechtes Gewissen, wenn er mit Gitte zusammen war. Ihr Verhältnis war fragil, so fragil wie die schönen Glasobjekte, die Oles Schwester Ann in ihrer berühmten Werkstatt herstellte.
Gitte bestieg das Rad und fuhr entschlossen die kurze Strecke zu ihrem Haus. Es war ein ehemaliges Ferienhäuschen, in das sie nach ihrer Übersiedlung von Münster nach Marielyst gezogen war, um sich nach dem Tod ihrer deutschen Mutter nun auf die dänischen Wurzeln ihres Vaters zu besinnen. Dass dieser Vater bis vor Kurzem fast zwanzig Jahre lang aus ihrem Leben verschwunden gewesen war, hatte natürlich auch eine Rolle gespielt. Unerbittlich hatte sie nachgeforscht, was damals passiert war, als Mads von einem Tag auf den anderen in Marielyst wie vom Erdboden verschluckt worden war. Sie hatte ihn nach langer Zeit gefunden. Aber die Umstände waren schwierig und hatten Gitte an ihre eigenen Grenzen gebracht. Nach zwei Jahren in Marielyst hatte sie selbst schließlich Wurzeln geschlagen, und seit Kurzem gehörte das Häuschen ihr. Zu Hause angekommen, zog sie sich unter dem Kleid einen bunten Bikini an und tauschte die Arbeitstasche gegen ein Badetuch ein.
Von ihrem Haus zum Strand waren es nur ein paar Hundert Meter. Sie ging über den Torv, den großen, mit Holzplanken belegten Platz, und kaufte sich ein Softeis. Nach und nach öffneten die Boutiquen, und die Besitzer schoben ihre Kleiderständer in die Sonne.
Gitte setzte sich mit ihrem Eis auf eine der Bänke und beobachtete, wie im Ortskern langsam das Leben erwachte. Die ersten Familien wanderten bereits zum Strand, und die Spätaufsteher versorgten sich mit Brötchen und leckeren Marzipanteilchen. Bis zum Wasser reichten die Holzplanken, auf denen Gitte schließlich gemächlich dahinspazierte. Dabei setzte sie ihre Füße auf die silberne Erhebung, die es auch blinden Menschen ermöglichte, einigermaßen durch den Ort geführt zu werden und zum Strand zu gelangen.
Am weißen Sandstrand setzte sie sich mit einem Handtuch an die Dünen und blickte aufs Meer hinaus. Ruhig lag die Ostsee vor ihr. Zahlreiche Sandbänke ließen das Wasser in unterschiedlichen Blautönen strahlen. Noch vor einem Jahr hatte sie gedacht, ihr Vater Mads läge mit einem Betonklotz an den Füßen irgendwo auf dem Meeresgrund. Ermordet von einem russischen Kunden, mit dem er zuletzt Geschäfte gemacht hatte.
So konnte man sich auch als Tochter irren, obgleich sie fast sechzehn Jahre lang mit ihm zusammengelebt hatte. Ihre Mutter Bärbel war letztes Jahr verstorben, sie hatte nicht mehr erfahren, dass ihr Mann Mads sich im Alkoholrausch nach einem gelungenen Geschäft für eine kurze Nacht mit der Schwester seines russischen Kunden eingelassen hatte. Ein fataler Fehltritt, der ihn schließlich dazu zwang, zu verschwinden. Gitte war gespannt darauf, beim Treffen mit ihrem Vater seine Sicht der Dinge zu erfahren.
Sie ließ ihr Handtuch liegen und marschierte zum Wasser, um ein paar Meter zu gehen. Als ein großer Wasserball neben ihr aufprallte und die kalten Tropfen ihren Bauch trafen, japste sie erschrocken auf. Sie drehte sich um und blickte in die Augen von Niko, einem neun Jahre alten und sehr aufgeweckten Jungen aus Köln, der mit seiner Familie in Marielyst Urlaub machte. Er hatte ihr die Freundschaft angeboten, und Gitte freute sich immer, wenn sie ihn traf. »Hej, Niko. Du machst mich ja ganz nass.«
»Oh, Pardon«, entschuldigte sich Niko mit einem weltmännischen Lächeln. Er fing seinen Ball ein und schob die Beine durch das seichte Wasser. »Gut, dass ich dich treffe, Gitte. Du bist doch eine Totengräberin, nicht?«
»Eine Totengräberin? Das sagt man heute nicht mehr. Ich bin Bestatterin.« Gitte war sich nicht sicher, woher Niko das wusste.
»Sag ich doch. Ich möchte einen Todesfall melden. Es handelt sich eventuell um Mord.« Er nickte wichtig.
Gitte erschrak ein wenig. Es wäre schließlich nicht das erste Mal, dass sie hier in dem netten Urlaubsörtchen in einen merkwürdigen Todesfall verwickelt wurde.
»Wer ist denn gestorben, Niko? Hoffentlich keiner aus deiner Familie.«
»Wir sollten uns lieber hinsetzen. Die Sache ist ernst.«
Sie setzten sich so in den feuchten Sand, dass die nächste Welle nur ihre Füße umspielen konnte.
»Es geht um Max.« Niko steckte den blauen Nivea-Wasserball zwischen seine gebräunten Beine.
Gitte hoffte, dass sie nun nicht etwa den Tod eines Freundes aus Köln aufklären sollte, und hörte aufmerksam zu.
»Max ist ein kleiner, dicker Spatz, der immer morgens unsere Brötchenkrümel bekommt. Doch heute lag er mit abgebissenem Kopf am Straßenrand. Ich habe eine rot getigerte Katze im Verdacht.«
»Meist sind die rot getigerten Katzen Kater.« Gitte konnte gerade noch ein Grinsen unterdrücken.
Niko reagierte nicht auf diesen Einwand. »Ich möchte Max gerne eine Wikingerbestattung schenken und brauche dafür Hilfe.« Blaue Augen mit langen Wimpern blickten sie ernst an.
»Du willst, dass ich mit dir einen kopflosen Spatzen verbrenne?«
Er nickte. »Ich kann dir zehn Kronen dafür bezahlen. Du weißt doch, wie das geht, oder?«
»Und was sagen deine Eltern dazu?«
Niko verdrehte bei dieser vernünftigen Frage genervt die Augen. »Wenn meine Eltern das mit mir machen würden, bräuchte ich dir nicht mein letztes Urlaubsgeld dafür anzubieten.«
Gitte überlegte nicht lange. Sie konnte diesem engagierten Jungen nichts abschlagen und stand auf. »Okay, wir machen es in meinem Garten und streuen seine Asche dann unter einen Baum. Du musst aber deine Eltern fragen, ob du mit zu mir kommen darfst.«
Ein Strahlen ging über Nikos Gesicht. »Wir können sofort loslegen, ich habe Max dabei. Er liegt in meinem Fahrradkorb.« Er zeigte in Richtung der Dünen und rannte gleich los zu seinen Eltern, die ein paar Meter weiter in einer knallgrünen Strandmuschel lagen.
Gitte wusste, dass Niko mit seinen Eltern im Strandpark wohnte. Sie hatte auch schon einmal Nikos Vater kennengelernt. Sie winkte ihnen zu und beobachtete, wie Niko sich schnell seine Hose und ein T-Shirt überzog. Offenbar hatte er die Erlaubnis bekommen.
Gitte grüßte die Eltern und versprach ihnen, Niko eine Stunde später zum Strand zurückzubringen. Dann trotteten die beiden los. Eine Wikingerbestattung mit einem Spatzen durchzuführen, war genau die Beschäftigung, die Gitte jetzt brauchte, um sich von dem bevorstehenden Gespräch abzulenken.
Damit Niko sich auch ernst genommen fühlte, nahm sie ihm die zehn Kronen ab und besiegelte damit das Geschäft.
Als Gitte nach der Zeremonie den stolzen Jungen zum Strand zurückbrachte, hatte sie eine wichtige Erkenntnis dazugewonnen. Kinder waren wunderbare kleine Erwachsene.
Es blieb ihr nun noch knapp eine Stunde, bis Mads bei ihr auftauchen würde. Wie ging man mit einem Vater um, der die Familie verlassen hatte und knapp zwanzig Jahre später nur deshalb auftauchte, weil ihm seine eigene Schwester die Hölle heißgemacht hatte?
Was hatte sie nicht alles für Schreckensszenarien entworfen, um sein Verschwinden zu erklären. In diesen hatte sie ihrem Vater stets eine Rolle als Opfer oder gar als Held zugedacht. Dabei war er einfach nur mit einer anderen Frau ausgewandert und hatte eine neue Familie gegründet! Sie musste ihm verzeihen, oder die ganze Suche nach ihm wäre sinnlos gewesen.
Das wurde ihr bewusst, als gegen siebzehn Uhr das Auto von Tante Stine vorfuhr und ihr Vater mit drei zartrosa Rosen in der Hand auf ihr Haus zuging. Er war nervös, fuhr sich mehrfach durchs Haar und zupfte die drei Blumen zurecht, die mit violetten Disteln zu einem wunderschönen Strauß gebunden waren. Dass sie Disteln mochte, hatte er also nicht vergessen.
Sie schluckte und öffnete ihm die Tür. Er sah aus wie der Vater aus ihrer Erinnerung und kam ihr dennoch fremd vor. Er war ein älterer Herr geworden. Natürlich war er das. Die graublonden Haare trug er modisch geschnitten, nur eine Idee zu lang, doch es stand ihm. Auch der kurze Bart war graublond und verdeckte nur zum Teil die tiefen Falten um seinen Mund, die allerdings durch zahlreiche Lachfalten um die braunen Augen abgemildert wurden. Er war ihr Paps, stellte Gitte fest, und war es irgendwie auch nicht. So lange hatte sie ihn nicht gesehen, und die Tatsache, dass er diese Zeit mit einer anderen Frau und einem Sohn verbracht hatte, machte ihn nicht gerade zum väterlichen Helden.
»Hej, Gitte. Ich freue mich sehr, dass du Zeit für mich hast.«
»Hej, Mads.« Sein Name war ihr herausgerutscht. Früher hatte sie immer »Paps« zu ihm gesagt. Sie sah, wie er zusammenzuckte. Gitte nahm die Blumen in Empfang, ließ sich Zeit, sie in eine Vase zu stecken, und bat ihn, sich auf die Terrasse zu setzen.
»Noch mal Glückwunsch zu deinem Häuschen, Gitte«, sagte er, als sie sich mit einem Glas Saft in den Händen gegenübersaßen und auf den Garten blickten. »Ich freue mich wirklich, dass du deinen dänischen Wurzeln gefolgt bist, und es tut mir sehr leid, dass deine Mutter gestorben ist.«
»Sie war auch deine Ehefrau.«
Er nickte traurig. »Ich habe mir so oft die Frage gestellt, ob ich an irgendeinem Punkt in meinem Leben etwas hätte anders machen sollen.«
Gitte dachte an die Umstände, die sie und ihren Vater getrennt hatten. »Wenn du dich nicht mit diesem russischen Oligarchen Wladimir Wolkow eingelassen hättest, hätte dessen Schwester dich nicht verführen können, meinst du das?«, fragte sie ganz direkt. Mads Blick ging in die Ferne über Gittes Grundstück hinweg und zu den drei Kiefern, an die es angrenzte. Er nickte.
»Dann wäre Galina nicht schwanger geworden, und Wladimir hätte kein Druckmittel gehabt, um mich zu zwingen, mit seiner Schwester nach Russland zu gehen«, spann er Gittes Faden weiter. »Ich habe seine Drohungen gegen euch sehr ernst genommen, also ging ich mit.«
Mads suchte ihre Aufmerksamkeit und fuhr fort: »Aber wenn ich das alles durchspiele, zögere ich dennoch. Denn aus diesem Seitensprung ist mein Sohn entstanden, den ich sehr liebe, ebenso wie dich. Ihn würde es nicht geben, wenn ich vernünftiger gehandelt hätte. Der Preis waren die verlorenen Jahre mit dir und mit deiner Mutter, die ich ebenfalls ehrlich geliebt habe. Im Leben gibt es solche Zwickmühlen.« Er lächelte sie schräg an.
Immerhin waren es ehrliche Worte. Sollte sie ihm vorwerfen, sein zweites Kind zu lieben? Was wäre er für ein Vater, wenn er es nicht tun würde? Sie mussten neu anfangen, oder es würde zu einem erneuten Bruch kommen, den sie nicht wollte.
»Den Seitensprung werfe ich dir vor, alles, was danach kam, nicht. Wie konntest du mit einer anderen Frau schlafen, während Mama zu Hause mit deiner knapp sechzehnjährigen Tochter saß und dir vertraut hat?«
Dazu schwieg Mads. Die Stille breitete sich unangenehm aus. Es schien unsinnig, sich nun mit gegenseitigen Vorwürfen zu belasten, und Gitte insistierte nicht weiter. Sie unterhielten sich schließlich über die Dinge, die sie verpasst hatten. Über Gittes Zeit in Münster und ihre Umsiedlung nach Marielyst. Mads erzählte ihr von seinem Beruf und von Gittes Halbbruder.
»Bjarne ist ein netter Kerl, Gitte. Und er brennt darauf, dich kennenzulernen. Er macht gerade sein Abitur und liebt Indierock. Er hat sogar eine eigene Band gegründet.«
»Bjarne? Das ist ein nordischer Name.«
»Ja, in diesem Fall habe ich mich durchgesetzt. Er ist Halbdäne, so wie du, Gitte. Weißt du, was er gesagt hat, als er erfuhr, dass du bei einem Bestatter arbeitest?«
Gitte schüttelte den Kopf.
»Was für eine coole Schwester. Sie lässt mich bestimmt mal einen Toten sehen.«
Gitte grinste. »Hast du ein Foto von ihm?«
Statt einer Antwort zog Mads ein Bild aus seiner Brieftasche. Es zeigte einen Jungen von etwa achtzehn Jahren mit einer strubbeligen Frisur, wie man sie von Rod Stewart kannte, und einem gewinnenden Lächeln. Die blonden Haare hatte er von seinem Vater, die schöne Adlernase und die grünen Augen sicher von seiner Mutter.
»Sieht jedenfalls sympathisch aus«, sagte sie.
»Apropos Bestatterin. Ich bin völlig erschüttert, dass Ella Jansen so plötzlich verstorben ist. Wir sind zusammen zur Schule gegangen. Kümmert ihr euch um ihr Begräbnis?« Mads steckte die Brieftasche wieder ein.
»Du kanntest die Mutter von Nils? Ja, die Leiche liegt bei uns. Ich werde sie morgen vorbereiten.«
Ihr Vater nickte traurig. »Jedes Mal, wenn ich in Marielyst zu tun hatte, hat sie mich zum Abendessen eingeladen. Dass sie ausgerechnet jetzt stirbt, wo ich nach so langer Zeit wieder hier bin, ist tragisch. Ich habe gehört, sie sei kerngesund gewesen.«
»Angeblich war es plötzlicher Herztod. Kommt in dem Alter durchaus vor.«
Gitte grinste schief, und ihr Vater erwiderte: »Danke für die Blumen, ich weiß auch, wie alt ich bin. Aber sie war einfach keine Frau, die ein plötzlicher Herztod dahinrafft. Die Ella, die ich gekannt habe, hatte Nerven wie Drahtseile und konnte arbeiten wie ein Feldochse. Ich hätte gewettet, dass sie über neunzig wird oder wenigstens durch einen spektakulären Unfall zu Tode kommt. So kann man sich täuschen. Das Leben kann wirklich unglaublich banal enden.«
Gitte stimmte ihm zu. Das Sterben brachte Entsetzen und Trauer mit sich, aber im Grunde genommen war es trivial, weil es mit einer ebenso großen Selbstverständlichkeit zum Leben gehörte wie die Geburt.
Gitte hatte Ella Jansen nie getroffen, auch wenn sie mit Nils eine gewisse Freundschaft verband. Doch sie erinnerte sich an die Worte ihres Vaters, als am nächsten Morgen ihre Leiche vor ihr auf dem Stahltisch lag. Sie war groß und kräftig gebaut, dabei aber nicht dick. Die Hände waren überraschend feingliedrig, ihre Haut gebräunt. Ella Jansen sah rüstig und gesund aus, abgesehen davon, dass sie tot war.
Gitte griff zum Wasserschlauch und begann vorsichtig, die nackte Leiche abzuwaschen. Sie wusch der Frau auch die kurzen grau melierten Haare. Als sie das Shampoo ausspülte, fiel ihr ein kleiner dunkelblauer Fleck im Nacken auf. Sie nahm eine Lupe zur Hand und entdeckte einen Stich. Merkwürdig. Bei einem Insektenstich ging Gitte eher von typischen Rötungen oder Schwellungen aus. Das hier erinnerte eher an eine Blutentnahme oder eine Impfung. Gitte nagte nachdenklich an ihrer Unterlippe und griff schließlich zum Telefon. Zwanzig Minuten später war die Hölle los.
»Verdammt noch eins, welcher Hausarzt hat denn diesen Totenschein ausgestellt? Die Leiche muss sofort in die Gerichtsmedizin.«
Ole Ansgaard stand in Larstsens Büro und hatte die Hände in die Hüften gestemmt. Seine blonden Haare fielen ihm lässig in die Stirn, und er schüttelte den Kopf nach hinten.
»Gitte, wie viele Leichen willst du mir noch vor die Füße werfen?«, fragte er in gespielter Verzweiflung und gab ihr einen Kuss auf die Nasenspitze, als sie ihm einen Kaffee mit viel Milch und noch mehr Zucker reichte.
Ihr Chef Paul saß vor seinem Schreibtisch und schüttelte den Kopf. »So etwas habe ich noch nie erlebt. Ein harmloser Todesfall, der sich plötzlich als Mord entpuppt.«
»Noch ist das nicht bestätigt«, mahnte Ole und setzte sich mit seinen langen Beinen auf einen Besucherstuhl. »Es könnte auch ein einfacher Insektenstich sein. Wir werden sehen.«
Sein Blick fiel auf die Straße, wo gerade ein Mann in auffallend bunten Klamotten auf das Bestattungsinstitut zueilte. Nils entsprach stilistisch nicht immer den Erwartungen an einen Mann in den Vierzigern. Er trug eine knallenge grüne Jeanshose und ein buntes T-Shirt mit einem Pokemon darauf, ein Jeansrucksack mit Aufnähern hing über der Schulter. Er betrat das Institut und grüßte mit einer fahrigen Handbewegung.
»Hej, Gitte. Hej, Paul. Ich bringe die Sachen, die meine Mutter tragen soll. Ich habe mich noch mal umentschieden. Das grüne Kleid mochte sie gar nicht, und meist lief sie ja auch in Hosen herum. Oh, hej, Ole. Es tut mir leid, ich weiß gar nicht, wo mir der Kopf steht.«
Nach diesen hektisch hervorgebrachten Worten kullerten ihm auch schon große Tränen die Wangen herunter und verfingen sich in seinem Dreitagebart. Er zog ein zerfetztes Taschentuch aus der Jeanshose, das schon bessere Tage gesehen hatte. Gitte reichte ihm schnell ein frisches.
»Setz dich, Nils, atme erst mal durch.« Gitte überlegte, dass sie besser Ole als Kommissar das Wort überlassen sollte. Der trank seinen Kaffee und musterte den Journalisten mit einer Mischung aus Mitleid und Sorge. Behutsam fragte er: »Nils, kannst du mir sagen, warum der Hausarzt so bereitwillig einen Totenschein ausgestellt hat? Hatte deine Mutter Herzprobleme?«
»Nein. Oder doch. Also sie hatte neuerdings einen zu hohen Blutdruck und regte sich schnell auf. Da reichte schon eine Begegnung mit dem Nachbarn aus. Sie wurde dann ganz rot im Gesicht und musste sich setzen.«
»Wegen ihres Nachbarn? Was treibt der denn?«
Nils schien die Antwort unangenehm zu sein. Er blies die Wangen auf und verdrehte die Augen. »Mutters Nachbar hat eine neue Freundin und benimmt sich seitdem merkwürdig, wenn ich Ma richtig verstanden habe. Laute Musik, albernes Gekicher im Garten und der Geruch von Cannabiskeksen. Nichts Wildes, wenn du mich fragst.«
Ole nickte verständnisvoll. »Ich muss dir leider sagen, dass ich die Leiche deiner Mutter in die Gerichtsmedizin bringen lasse, Nils. Paul wird das gleich übernehmen. Es gibt ein paar Hinweise, denen ich nachgehen muss.«
Nils’ Augen wurden groß, doch er starrte nicht Ole, sondern Gitte an. »Willst du jetzt auch aus meiner Mutter ein Mordopfer machen?«
Er sagte es nicht vorwurfsvoll, es klang eher ungläubig. Dass Mütter starben, kam ja nicht so selten vor, aber die wenigsten wurden ermordet.
Nils hatte Gitte bei den bisherigen Mordfällen stets unterstützt, sie hatten gegenseitig schon des Öfteren ihre Informationen ausgetauscht. Als Journalist hatte er auch davon profitiert, an erster Stelle zu stehen, wenn es neue Erkenntnisse gab. Aber er würde kaum eine heiße Story schreiben wollen, wenn es darin um den möglichen Mord an seiner eigenen Mutter ging. Er wusste, wenn der Kommissar eine gerichtsmedizinische Untersuchung anforderte, musste er schon eindeutige Hinweise dafür haben, dass mit der Todesursache etwas nicht stimmte. Plötzlich griff er Halt suchend ins Leere und fasste sich dann an die Stirn. »Wer sollte denn meine Mutter umbringen wollen?« Diese Frage wiederholte er mehrere Male.
»Zunächst einmal gilt es, die Todesursache herauszufinden«, entgegnete Gitte und brachte ihm einen Aquavit aus dem Eisfach.
Während alle Beteiligten auf das Ergebnis der gerichtsmedizinischen Untersuchung warteten, musste Gitte an ihren Vater Mads denken, der sie unabsichtlich auf diese Spur gebracht hatte. Hätte er nicht die robuste Gesundheit seiner alten Freundin erwähnt, wäre sie selbst nicht so schnell misstrauisch geworden, als sie den Bluterguss entdeckt hatte. Was war das nur für eine Bekanntschaft zwischen Ella Jansen und ihrem Vater? Die beiden hatten sich knapp zwanzig Jahre lang nicht gesehen. Wieso erzählte Mads ihr, dass ihn ein natürlicher Herztod der Dame wunderte? So eine lange Zeit konnte aus einem gesunden, sportlichen Menschen durchaus ein körperliches Wrack machen. Gitte hatte nicht nur die blonden Haare von ihrem Vater geerbt, sondern auch eine gewisse Hartnäckigkeit. Nur dieser war es überhaupt zu verdanken, dass sie ihren verschwundenen Vater gefunden hatte. Und natürlich ihrer Tante Stine, Mads’ verwitweter Schwester.
Am nächsten Tag rief Gitte bei ihr an, um ihr als Erster die ungeheuerliche Neuigkeit mitzuteilen.
»Tantchen, es gibt einen weiteren Mord in Marielyst. Ella Jansen ist durch eine Insulininjektion in den Nacken getötet worden. Ole hat mir eben die Ergebnisse der Obduktion mitgeteilt. Jetzt ist es amtlich!«
Am anderen Ende der Leitung war bis auf ein Schnaufen nichts zu hören, dann sprach Tante Stine ungewohnt leise, ja, beinahe kleinlaut ins Telefon. »Hej, Gitte. Ich weiß es schon. Dein Vater wurde gerade abgeholt.«
Gitte stutzte. Die Antwort passte nicht zu ihrer Aussage.
»Wer hat Mads abgeholt? Ich dachte, er bleibt noch zwei Wochen.«
»Die Polizei. Zwei Beamte klingelten vor fünf Minuten an meiner Haustür und fragten nach Mads Madsen. Als dein Vater dann zur Tür kam, sagte ein dicklicher Beamter, sie würden in einem Mordfall ermitteln und müssten ihn bitten, mit zur Polizeistation zu kommen. Nachbarn der Toten haben deinen Vater angeblich bei Ella Jansen gesehen, kurz bevor sie starb. Auf dem Phantombild hat Ole eindeutig deinen Vater erkannt. Der Beamte meinte auch, Mads solle sich besser ein paar Sachen einpacken.«
»Das war bestimmt Peter Jensen. Der Polizist bringt ständig alles durcheinander. Hat er gesagt, wer das angeordnet hat?«
»Na Ole, habe ich das nicht erwähnt? Gitte, was machen wir denn jetzt? Mads bringt doch keine alte Schulfreundin um.«
Gitte schluckte und nahm das Mobiltelefon in die andere Hand, um ihre schweißnasse Linke an der Hose abzuwischen. Wieso ließ Ole ihren Vater abholen wie einen Schwerverbrecher und hielt es nicht einmal für nötig, ihr Bescheid zu geben? Ob ihr Vater Mads mit seinen Beziehungen zur russischen Mafia und den ganzen Geheimnissen in seinem Leben zu einem Mord fähig war, konnte Gitte nicht mehr so leicht einschätzen. Wenn er wirklich vor ihrem Tod bei Ella Jansen gewesen war, dann hatte er sie bei ihrem Treffen vor wenigen Tagen eiskalt angelogen. Und warum war er überhaupt bei ihr gewesen? Er war doch angeblich nur deshalb aus Kiew nach Marielyst gereist, um seine Tochter wiederzusehen.
»Gitte? Sag doch mal was.«
»Er soll bloß keine Aussage ohne Anwalt machen.«
»Gitte, du musst mit Ole reden. Er muss Mads wieder laufen lassen. Bitte, tu etwas.«
Die Besorgnis ihrer Tante machte Gitte stutzig. Wenn sie Mads für unschuldig hielt, warum war sie dann so bange? Gut, er war vorläufig mitgenommen worden, samt einer Tasche mit Schlafsachen, aber das schob Gitte auf den Übereifer von Peter Jensen, der Informationen und Aufträge gerne missverstand. Nur Oles Gutmütigkeit war es zu verdanken, dass Peter noch nicht nach Grönland versetzt worden war.
»Mach dir keine Sorgen, Tantchen. Ich rufe Ole an. Sicher kommt Mads in ein paar Stunden zurück, und ihr lacht über die Angelegenheit.«
»Sicher nicht. Er war ja tatsächlich bei dieser Ella«, stieß Stine hervor. »Direkt am Sonntag nach deiner Party.«
»Warum ist er denn zu ihr gefahren?«
»Ich weiß es nicht, Kind.«
Gitte seufzte und verabschiedete sich mit einem mulmigen Gefühl. Dann tätigte sie den nächsten Anruf.
Da Gitte Ole nicht auf seinem Handy erreichte, überlegte sie, nach Nykøbing zur Polizeistation zu fahren. Oder hier vor Ort die Wache aufzusuchen, um den Polizisten Peter Jensen auszuquetschen. Der Polizist hatte Mads zwar gerade erst abgeholt, aber vielleicht hatte sie Glück, und er war danach direkt zu seiner Einsatzstelle hier im Ort gefahren. Gitte schlüpfte in ihre Sandalen und schwang sich schnell auf ihren Drahtesel. Es war halb fünf am Nachmittag. Wer wusste, wie lange der Mann noch vor Ort war.
Sie fuhr den Anemonenvej entlang, an der Touristeninformation vorbei und gelangte in wenigen Minuten zur Wache.
Sie hatte Glück. Peter Jensen saß an seinem Schreibtisch, die Füße auf den Papierkorb hochgelegt, und aß eine Banane. Der Duft erfüllte den kleinen Raum.
»Hej, Gitte«, grüßte er fröhlich. »Dieses Mal war der Chef schneller, nicht wahr?«
»Hej, Peter. Wieso? Ist er hier?«
»Nein, weil doch dieses Mal der Boss entdeckt hat, dass die Frau ermordet worden ist. Sonst stolperst du ja immer über die Leichen. Und einen Verdächtigen hat er auch schon.«
Triumphierend strich sich der Beamte über seinen beträchtlichen Bauch. Jeden Moment drohte ein Knopf seines Diensthemdes abzuspringen.
Gitte setzte sich auf einen Stuhl ihm gegenüber und lächelte ihn an. Sie berichtigte nichts, sondern fragte harmlos: »Wieso glaubt ihr, dass Mads Madsen der Täter ist?«
»Aha, du kennst den Mann also. Er ist als Letzter bei dem Opfer gesehen worden. Eine Nachbarin hat eine recht gute Beschreibung abgegeben, und unsere Phantombilder werden immer besser. Der Mann sei ihr gleich suspekt vorgekommen, weil er sich immer wieder umgeschaut hat und sehr nervös wirkte.«
Der Kontakt zwischen Ella und Mads wurde Gitte immer unheimlicher. Das alles sah nicht gut für ihren Vater aus. War die Mutter des Journalisten etwa eine Vertraute ihres Vaters gewesen? Hatte Ella die ganzen Jahre über gewusst, wo ihr Vater abgeblieben war?
Gitte wurde wütend. Erneut umgab sich ihr Vater mit Geheimnissen. Aber wenn er Ella wirklich umgebracht haben sollte, hätte er Gitte wohl kaum erzählt, dass er nicht an einen natürlichen Tod seiner Schulfreundin glauben konnte.
Gitte blickte den gutmütigen Beamten, der seine Füße mittlerweile auf den Boden gestellt hatte, forschend an. Der Name Madsen kam in Dänemark häufig vor, dennoch sollte Peter Jensen die Verwandtschaft zwischen Gitte und dem Verhafteten schlussfolgern können. »Der Mann, den du verhaftet hast, ist mein Vater.«
Jetzt guckte Peter Jensen betroffen. »Oh, hast du ihn also wiedergefunden?«
»Ja, und jetzt nehmt ihr ihn mir wieder weg. Nur weil er am Tatort war, ist er doch nicht automatisch Ellas Mörder. Ella hatte Stress mit ihrem Nachbarn. Ermittelt ihr auch in diese Richtung?«
»Jeder hat mal Stress mit seinem Nachbarn. Gitte, du sprichst besser mit Ole. Der Mörder muss auf jeden Fall Zugang zu Insulin gehabt haben. Das ist schließlich nicht frei verkäuflich.«
In diesem Moment kam die junge blonde Kollegin herein, die Ole immer umschwirrte und mit ihren weißen Zähnen anstrahlte. So eine hübsche Frau würde Gitte sich gerne weiter weg von Ole wünschen. Ihr Lächeln wirkte auf Gitte wie eine Bedrohung.
»Hej, Ole ist in Nykøbing. Kann ich dir helfen?«
Gitte schüttelte den Kopf. »Nein danke. Er meldet sich sicher heute Abend noch bei mir. Hejhej.« Sie verließ die Wache, keineswegs sicher, dass der Kommissar wirklich noch von sich hören lassen würde.
Ole hatte bestimmt ein schlechtes Gewissen, weil er Mads zur Vernehmung geladen hatte. Gut möglich, dass er nach der Arbeit in die Sauna ging und sich unerreichbar machte. Oder er besuchte seinen Boxverein, auf den er sich so viel einbildete, und schlug seine Fäuste in einen anderen sportversessenen Mann. Eventuell keine schlechte Idee, denn Ole war oft recht unentspannt. Das dänische Motto bare rolig, was so viel hieß wie bleib ruhig, ignorierte er.
Um sieben Uhr am Abend rief er schließlich an. »Mads ist wieder bei deiner Tante.«
»Na, Gott sei Dank! Ich habe mir schon gedacht, dass Peter Jensen mal wieder übers Ziel hinausgeschossen ist.«
Die nächsten Worte verblüfften Gitte. »Nein. Ich habe Mads zwar nicht in Untersuchungshaft genommen, die Indizien reichen nicht aus, und es fehlt auch sein Motiv. Aber er ist zurzeit der Hauptverdächtige. Ich habe sicherheitshalber seinen Pass einbehalten, auch wenn ich nicht davon ausgehe, dass er einfach nach Kiew zurückfliegt. Es tut mir leid, Gitte.«
Vor neunzehn Jahren hätte Gitte einen Aufstand angezettelt, den Kommissar wahrscheinlich auch beschimpft, wenn er ihren heiß geliebten Vater beschuldigt hätte. Aber Mads war für sie in den letzten Jahren ein fremder Mann geworden. Doch mehr als ein wenig freundliches »Danke schön« brachte sie nicht heraus.
»Soll ich noch kommen?«, fragte Ole vorsichtig, aber Gitte verneinte.
»Ich fahre jetzt zu Tante Stine. Ich muss mit meinem Vater reden. Was ist mit dem Nachbarn von Ella, über den sie sich geärgert hat?«
»Das ist keine Spur, der befindet sich mit seiner neuen Partnerin im Urlaub in Schweden.«
Aufgewühlt und mit leerem Magen fuhr Gitte die zwölf Kilometer nach Nykøbing. Tante Stine war wenig überrascht, als sie ihre Nichte an ihren großen Busen drückte.
»Hej, Gitte. Komm rein, wir essen gerade Currysuppe. Ich hole dir einen Teller.«
Mads saß mit dunklen Ringen unter den Augen und einem entschuldigenden Lächeln am Tisch. Er begrüßte sie unbeholfen mit einer flüchtigen Umarmung. Gitte setzte sich und bekam kaum mit, wie Tante Stine ihr einen dampfenden Teller Suppe vorsetzte. Auf dem Tisch stand ein Korb mit warmem Baguette und Kräuterbutter.
»Wieso hast du mir nicht erzählt, dass du Ella vor ihrem Tod besucht hast?«, fragte sie Mads. Sie konnte den vorwurfsvollen Ton in ihrer Stimme nicht unterdrücken.
»Ich habe Ella nicht mehr vor ihrem Tod gesehen. Jedenfalls nicht so, wie du es meinst.« Mads legte den Löffel zur Seite. »Als ich bei ihr war, hat sie auf mein Klopfen nicht reagiert. Hier in Marielyst schließt ja selten jemand ab, wie ich feststellen durfte. Ich bin also durch die Gartentür ins Haus, und da habe ich sie gefunden. Sie saß auf ihrer Couch, die Zeitung auf ihren Knien. Sie war schon tot.« Er schwieg und blickte Gitte an.
»Wieso zum Teufel hast du nicht den Notarzt gerufen?«, fragte Gitte fassungslos. Tante Stine legte ihrer Nichte kurz eine Hand auf die Schulter, dann setzte sie sich schwerfällig auf ihren Platz gegenüber von Mads.
»Gitte, ich wollte da nicht reingezogen werden. Ich wusste nicht, ob sie eines natürlichen Todes gestorben war. Und ich wollte auch nicht, dass jemand von meinem Besuch erfuhr. Meine Vita macht mich automatisch zum Verdächtigen, meinst du nicht auch?«
»Weil du für einen russischen Verbrecher gearbeitet hast und mit seiner Schwester zusammenlebst?« Gittes Tonfall wurde immer bissiger, und ihr Atem ging schneller.
»Ich arbeite immer noch für Wladimir Wolkow, ich leite seine Supermarktkette.«
Gitte schluckte. »Jedenfalls hast du es wunderbar hinbekommen, nun tatsächlich als Verdächtiger dazustehen. Und das macht mir etwas aus, Paps!« Wütend löffelte sie die heiße Currysuppe in sich hinein und stopfte sich den Mund zusätzlich mit Baguettestücken voll.
Mads lächelte sie trotz ihrer Wut an, denn seit seiner Ankunft hatte seine Tochter ihn noch nicht so genannt.
»Schatz, ich habe Ella nicht umgebracht, sie war eine alte Freundin, und sie hat mir bei einer Sache geholfen. Punkt!«
Gitte war sich sicher, dass er ihr heute Abend nicht erzählen würde, warum er die alte Schulfreundin überhaupt aufgesucht hatte. Daher fragte sie ihn gar nicht erst. Eventuell würde sie Tante Stine dazu ausquetschen. Mads hatte sich bereits einen Anwalt genommen, der ihm riet, nur das Notwendigste zu sagen, was seine Beziehung zu Ella anging. Mehr erfuhr Gitte nicht, und gegen einundzwanzig Uhr verabschiedete sie sich von ihrer Tante und ihrem Vater.
Die neue Wohngemeinschaft der beiden kam ihr befremdlich vor, und sie wunderte sich, dass Mads sich kein Hotelzimmer genommen hatte. Was für eine Ironie, da hatte ihr Vater es nach zwanzig Jahren wieder nach Marielyst geschafft, und jetzt kam er wegen eines Mordfalls nicht mehr weg. Was wohl seine Familie in Kiew dazu sagte?
Zu Hause saßen Gittes schwedischer Lieblingsnachbar Erik und seine Frau Kate noch in dicke Decken gehüllt auf ihrer Veranda. Leider würden sie am Wochenende abfahren, ihr Urlaub neigte sich dem Ende zu. Sie waren ihr in den vergangenen zwei Jahren ans Herz gewachsen. Kate hatte sich bei der Aufklärung des letzten Mordfalls begeistert in jedes Abenteuer gestürzt, und Gitte musste noch immer schmunzeln, wenn sie daran dachte, wie Kate und sie sich hinter einem Stapel Baumaterial versteckt hatten, während der gesuchte Mörder sich just auf dieser Baustelle mit einem Komplizen getroffen hatte. Das wäre beinahe schiefgelaufen. Gerettet hatte sie die Kaltblütigkeit Eriks. Von dem aktuellen Fall wussten die beiden noch gar nichts.
»Hej, ihr zwei. Habt ihr noch ein Glas Wein für mich?«
Gitte zog ihre warme Strickjacke an und folgte den begeisterten Handbewegungen von Kate, die auf ihrer Bank Platz für Gitte machte.
»Wir haben wieder einen Mordfall«, verkündete Gitte wenig später, als handelte es sich um einen neuen Auftrag für die ganze Nachbarschaft. Bei einem Glas Weißwein erzählte sie, was sie bislang wusste.
Zunächst hatte Kate ganz aufgeregt darauf reagiert, dass Gitte beim Herrichten der Leiche wie eine Pathologin die Einstichstelle gefunden hatte. Doch als sie erfuhr, dass Gittes Vater Mads in die Sache verwickelt war, streichelte sie verständnisvoll ihren Arm. Dann fasste sie zusammen: »Gitte, noch nie war es so wichtig, dass du dich der Sache annimmst. Du musst deinem Vater helfen.«
Eriks dichter Schnurrbart zitterte, als er sich einmischte. »Es ist zu blöd, dass wir am Samstag nach Hause fahren. Aber ich muss mich am Montag mal wieder bei der Arbeit sehen lassen.«
Gitte blickte zu Kate, die neben ihr saß und den Blick ihrer dunkel geschminkten Augen nachdenklich nach oben richtete. Dann verkündete die Schwedin: »Du fährst zurück, Erik. Ich bleibe noch und stehe Gitte bei. Ich bin freischaffende Künstlerin und kann überall arbeiten. Oder eben auch mal nicht. Ich frage gleich nach, ob das Haus die nächsten Tage noch frei ist.«
Erik richtete sich empört auf und warnte: »Kate, das wird Ole kaum zulassen. Ohne mich wird er dich garantiert des Landes verweisen. Dein Aktionismus, Gitte, und die Faszination meiner Frau für alles Mysteriöse und Gefährliche gehen eine unselige Verbindung ein.«
Kate tippte bereits unberührt eine Mail in ihr Handy und meinte dann in resolutem Ton: »Wir können dich doch jetzt nicht alleine lassen. Du hast gerade erst einen anstrengenden Mordfall hinter dir, dann die Sache mit deinem Vater. Du brauchst auch mal Zeit für dich! Ich werde dir den Rücken frei halten.«
Gitte freute sich mehr, als sie zugeben wollte. Sie blieb noch bis um halb elf bei ihren Freunden sitzen und kuschelte sich dann in ihr Bett. Nachts wurde sie von einem heftigen Gewitter geweckt. Es donnerte alle paar Minuten, und ein heftiger Wind zerrte an den Vorhängen und brachte die Bäume draußen zum Schwanken.
Sie wollte gerade ihr Fenster schließen, um sich bei dem prasselnden Regen wieder unter die Bettdecke zu kuscheln, als ein lautes Knacken zu hören war. Dann gab es einen Rums, gefolgt von einem erneuten Donnern.
Gitte stand regungslos in ihrem Schlafzimmer. War der Blitz gerade in ihr Haus eingeschlagen? Aufgeregt wanderte sie durch den Flur und blickte durch die Fenster. Vom Badezimmer aus sah sie schließlich, was passiert war. Eine Kiefer war auf ihren alten Schuppen gestürzt und lag nun schräg über dem Dach. Eine Wand war eingebrochen, der Rest stand im Regen. Da das Wertvollste in dem maroden Schuppen ihr uraltes Fahrrad war, legte sie sich wieder ins Bett und lauschte dem Sturm.
Am nächsten Morgen schien die Sonne wieder zwischen den Wolken hervor. Gitte musste heute zu Fuß zum Institut gehen, sie hatte ihr altes Fahrrad nicht aus den Trümmern des Schuppens bergen können. Es war fest eingeklemmt, und Staub, Regen und Kiefernnadeln hatten es mit einem bizarren Mantel bedeckt. Sie würde Ole um Hilfe bitten müssen. Heute wollte Nils mit seiner Familie Abschied von Ella Jansen nehmen, die im Institut noch ein letztes Mal aufgebahrt wurde. Gitte hatte sie hergerichtet, nachdem Paul gestern noch die Leiche aus der Gerichtsmedizin abgeholt hatte.
Im Institut saß ihr Chef Paul bei einem Gläschen Aquavit und einem Käsebrötchen vor dem Computer. Sein glattes Gesicht strahlte. »Tilda will mit mir im September eine Woche wegfahren. Nach Schweden in eine einsame Waldhütte ohne Internetanschluss, aber mit Kamin und Bärenfell.«
Paul hatte sich vorletztes Jahr in eine Kundin verliebt, die Witwe eines Verstorbenen.
Bei Pauls Worten machte Gitte erst ein freudiges, dann ein langes Gesicht. »Oje, dann bin ich sieben Tage und Nächte allein zuständig? Ich werde vorher Vitaminpräparate verteilen, damit sich das Sterben während deiner Abwesenheit in Grenzen hält.«
»Quatsch. Ich werde einen Kollegen aus Nykøbing um Unterstützung bitten und die Telefonate umleiten lassen. Du musst dich nur um das Nötigste kümmern, während ich auf einem Bärenfell vor einem schwedischen Feuer liege.« Verzückt nippte er an seinem Gläschen.
Sich Paul Larstsen in romantischer Laune auf einem Bärenfell vorzustellen, mochte Tilda besser gelingen als Gitte, die nun auf den strengen Mittelscheitel und die akkurate Kleidung ihres Chefs blickte. Sie wechselte das Thema. »Weißt du, wer gleich von der Familie Jansen kommt? Und wie viele wir insgesamt erwarten? Ich bin schon gespannt auf die Trauergäste.«
»Klar bist du das. Du suchst wieder einen Mörder. Der dürfte dich übrigens eh schon verfluchen, denn ohne deine feine Spürnase bei dem Zurechtmachen des Leichnams wäre nie bekannt geworden, dass es sich um einen Mord handelt.«
Paul trank seinen Aquavit aus und blickte dann traurig auf den Boden des Glases. Mit einem Seufzer stellte er es auf dem Schreibtisch ab.
Gitte lief ein Schauer über den Rücken. So hatte sie die Lage noch gar nicht betrachtet. Aber natürlich musste der Täter sehr wütend auf sie sein. Sie hatte ihm gehörig die Tour vermasselt.
Dennoch nickte sie tapfer. »Okay, dann wollen wir mal sehen, wer mich auf der Beerdigung böse anschaut.«
