Dann gute Nacht, Marie! - Susanne Becker - E-Book

Dann gute Nacht, Marie! E-Book

Susanne Becker

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Beschreibung

Worauf du Gift nehmen kannst!

Wenn man mit fünfunddreißig immer noch auf den Traumprinzen wartet und beruflich nicht auf der Karriereleiter, sondern auf dem Abstellgleis gelandet ist, dann ist Selbstmord eine echte Alternative. Findet zumindest Marie und beginnt, ihr Ableben akribisch zu planen — wenigstens ihr Tod soll einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Da muss das Tagebuch zensiert, müssen peinliche Bücher und DVDs entsorgt werden, und ganz nebenbei ist auch noch die Frage zu klären: Wie bringt man sich am eindrucksvollsten um? Nur mit einem hat Marie nicht gerechnet: Je mehr man sich mit dem Leben beschäftigt — desto lebenswerter wird es …

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Seitenzahl: 410

Veröffentlichungsjahr: 2010

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Dann gute Nacht, Marie!

Roman

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Originalausgabe 11/2010

Copyright © 2010 by Diana Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Redaktion | Hanna Schwenzer

Herstellung | Helga Schörnig

Covermotiv | © James Walker/trevillion images

Covergestaltung | t. mutzenbach design

ISBN 978-3-641-05163-1V003

www.diana-verlag.de

Inhaltsverzeichnis
 
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
 
Danksagung
 
SUSANNE BECKER IM GESPRÄCH
AUTORENBIOGRAFIE
Für Nigel

1

DOKUMENT 1. Der Tag, an dem Marie beschloss, sich das Leben zu nehmen, war ein schöner, sonniger Herbsttag. Keiner dieser Tage, an denen man schon beim Aufstehen von einem grauen, wolkenverhangenen Himmel entmutigt wird. Auch keiner der Tage, an denen man bereits auf dem Weg ins Büro von einem kräftigen Regenschauer überrascht wird, der im Handumdrehen die Arbeit von mindestens einer Stunde sorgfältigster Morgentoilette zunichte macht.
An einem solchen Tag würde man dann, durchnässt und mit hängender Frisur, sicher schon im Treppenhaus dem gut aussehenden Kollegen aus dem Vertrieb begegnen, auf den man bereits seit einiger Zeit ein nicht ganz uninteressiertes Auge geworfen hat.
Nein, einer dieser Tage war es nicht. Schon deshalb nicht, weil es ein Samstag war. Ein Samstag mit blauem Himmel und kleinen, unbedeutenden weißen Wölkchen. Mit buntem Herbstlaub, das in der Sonne glänzte und den grauen Asphalt mit einem leise raschelnden, farbenfrohen Teppich bedeckte.
Es war ein Tag, der einem so gar keinen Grund gab, mit dem Leben nicht absolut zufrieden zu sein. Erwachte man am Morgen aber trotzdem mit diesem unbestimmt nagenden Gefühl im Bauch, dann musste das zwangsläufig an einem selbst liegen. Da konnte der Tag nun wirklich nichts dafür, fand Marie. SPEICHERN UNTER … MARIE.
Wenn man selbst an einem nahezu perfekten Samstag nicht glücklich durch Herbstwälder spazieren oder gemütlich in einem Straßencafé in der Sonne sitzen konnte, war das schon ein recht akzeptabler Grund, sich umzubringen, fand Marie. Schließlich konnte sie nicht ewig darauf warten, dass sich etwas wirklich Entscheidendes änderte, was ihrem Leben einen Sinn gab, für den es sich lohnte weiterzumachen. SPEICHERN. Dass sie zum Beispiel im Supermarkt am Süßigkeiten-Regal den Mann ihres Lebens traf, der ihr half, die heruntergefallenen Pralinen einzusammeln, und sie anschließend fragte, ob sie am Abend schon was vorhabe. So oder so ähnlich hatte sich Marie das erste Zusammentreffen mit ihrem Traummann immer vorgestellt. Es war ihr aber noch nie irgendetwas passiert, das auch nur ansatzweise so romantisch gewesen wäre.
Oder sollte sie sich vielleicht ewig abmühen, die Speckröllchen loszuwerden, die sie von der Idealfigur eines Werbemodels trennten und die sich bis jetzt jeder noch so wirksamen Diät hartnäckig widersetzt hatten? Wenn man bei jeder brandneuen Schlankheitskur, die von einer der vielen Frauenzeitschriften angepriesen wurde, feststellte, dass man sie schon erfolglos ausprobiert hatte, dann war das durchaus ein recht akzeptabler Grund, sich umzubringen, fand Marie.
Schließlich konnte sie nicht ewig darauf warten, dass sie eine hübsche, geräumige Wohnung in der Innenstadt fand, die auch noch bezahlbar war. Oder darauf hoffen, dass irgendjemand in der Firma ihre bisher verborgen gebliebenen Fähigkeiten entdecken und zum Anlass für ein lukratives Jobangebot nehmen würde, was der Anfang einer wunderbaren Karriere wäre. Schließlich konnte sie nicht ewig im Kino bei jedem Leinwand-Happy-End voller Selbstmitleid in Tränen ausbrechen und sich anschließend mehrere Tage als lebensunfähiges Mauerblümchen fühlen, bloß weil das Drehbuch des Films der Heldin nicht nur die schlankere Taille, sondern auch den scheinbar perfekten Mann schenkte. Und schließlich war es kein Dauerzustand, dass das einzige männliche Wesen, mit dem sie es in den letzten Jahren zu so etwas wie einer festen Beziehung gebracht hatte, ihr Kater Kasimir war. Der war zwar in seiner Treue und Anspruchslosigkeit als Partner kaum zu übertreffen, in einigen anderen Punkten ließen seine ehelichen Qualitäten allerdings – naturgemäß – zu wünschen übrig.
Also Schluss mit dem sehnsüchtigen Schielen nach dem hübschen Lebenspartner der Bürokollegin. Schluss mit den neidischen Augenwinkel-Blicken auf die appetitliche Figur der jungen Frau in der U-Bahn. Schluss mit dem reflexartigen Umdrehen nach dem gut aussehenden Familienvater im Schwimmbad. Also endgültig Schluss mit den ewigen Vergleichen, denen man doch sowieso nie standhalten konnte. Das setzte einen nur unter Druck und führte zu nichts, außer vielleicht zu schlechter Laune. Und das wiederum war schon ein recht akzeptabler Grund, sich umzubringen. SPEICHERN.
Oder sollte sie etwa jahrzehntelang auf eine Veränderung hoffen, um dann mit achtzig festzustellen, dass sie bereits mit zwanzig ihrem Leben hätte ein Ende setzen können, ohne etwas Nennenswertes versäumt zu haben? Das wäre ja wirklich immens viel verschwendete Zeit und vor allem Kraft. Außerdem war man sozusagen schon fast lebensmüde, wenn man für diese lebensverneinende Erkenntnis so lange ausharrte. Es war also geradezu lebensbejahend, sich schon jetzt das Leben zu nehmen, fand Marie.
Schließlich hatte sie ziemlich genau fünfunddreißig Jahre ernsthaft und ausdauernd versucht, ihrem Leben Sinn zu geben und etwas Außergewöhnliches daraus zu machen. War es da ihre Schuld, dass sich bis jetzt – zwei Wochen nach ihrem fünfunddreißigsten Geburtstag – immer noch nichts Entscheidendes ereignet hatte? Dass sie mit Mitte dreißig Single, kinderlos, beruflich unterfordert und gelangweilt war? Dreieinhalb Jahrzehnte ohne nennenswertes Ergebnis – welchem Projekt wurde heutzutage noch eine derart lange Entstehungszeit zugebilligt? In der freien Wirtschaft hätte sie vermutlich schon mit fünf die Segel streichen müssen. Nun gut, der Vergleich hinkte etwas, Karriere und Kinder hätte bis dahin nicht mal ein Hochbegabter schaffen können.
Spätestens mit Mitte dreißig hatte Marie sich früher immer in einem »fertigen« Leben gesehen. Gut aussehender, liebevoller Ehemann – ganz klar. Zwei bis drei Kinder, von denen das letzte ruhig noch unterwegs sein konnte – selbstredend. Ein ausfüllender Beruf mit Eigenverantwortung, in den sie nach jeder Schwangerschaft relativ problemlos zurückkehren konnte – keine Frage. Ein Haus mit Garten (der Mann, den sie sich erträumt hatte, konnte sich das schon leisten) verstand sich sowieso von selbst. Der obligatorische Hund – na gut, musste nicht unbedingt sein. Dafür vielleicht eine Haushälterin? Optional.
Und was davon war bis heute eingetreten? Die magische Altersgrenze war überschritten, und Marie hatte weder Mann noch Kind noch Haus, noch Haushälterin. SPEICHERN. Was sie hatte, war ein Kater … wie die meisten alleinstehenden Frauen, wenn man einem Großteil der aktuellen Frauenliteratur glauben durfte. Zumindest musste sie sich das immer mal wieder von denen anhören, die solche Bücher lasen. Ihr Job als Entwicklerin bei einem Münchner Softwarehersteller war zwar grundsätzlich okay, doch unter dem neuen Chef, der darauf bestand, jeden Arbeitsgang abzusegnen, in keinster Weise mehr eigenverantwortlich. Hatte sie bis vor fünf Jahren noch eigenständig programmieren, analysieren und implementieren können, so fühlte sie sich seit Schmidts Firmeneintritt mehr als seine Handlangerin denn als eine fachkundige Softwareentwicklerin. Manchmal fragte sie sich, ob sie nicht vielleicht besser aus dem Fotografie-Praktikum nach dem Abitur einen Beruf gemacht hätte. Doch alles in allem hatte sie das Programmieren immer stärker fasziniert, auch wenn die Kamera ein schönes Hobby geblieben war.
So saß sie nun nach fünfunddreißig Jahren eher weniger interessantem Leben in ihrer langweiligen Zwei-Zimmer-Wohnung in München-Sendling, und ihr einziger Mitbewohner war der braun-weiß getigerte Kater, den sie vor drei Jahren in einem kurzen Anfall von Aktionismus aus dem Tierheim zu sich geholt hatte. Auch der Kontakt zu ihren Eltern war in den letzten Jahren deutlich abgekühlt, zu sehr beschlich Marie immer wieder das Gefühl, dass auch sie zunehmend enttäuscht waren vom Werdegang ihres einzigen Kindes. Wie man es drehte und wendete, die Lebensbilanz an diesem Samstag war mehr als dürftig, fand Marie. Wenn man es über dreieinhalb Jahrzehnte in keinem der erwähnten Punkte zu wenigstens ein bisschen Überdurchschnittlichkeit gebracht hatte, dann war das schon ein recht akzeptabler Grund, sich umzubringen. Und wenigstens dieses Ende durfte dann nicht mehr mittelmäßig, sondern musste in jedem Fall außergewöhnlich sein.
Denn was war das Wichtigste an einem anständigen Selbstmord? Für Marie eindeutig der Eindruck, den man damit bei seiner Umwelt hinterließ. Für manch anderen mochte es das Ende des eigenen unerträglichen Lebens sein, nicht jedoch für Marie. Schließlich ging ihr Leben weiter, in den Köpfen der anderen. Immer wieder begegnete man der Vorstellung, nach dem Tod eines Menschen lebe der Verblichene weiter in den Herzen derer, die ihn liebten. Eine äußerst fragwürdige Einstellung, fand Marie. Die Erinnerung an sie sollte nach ihrem sorgfältig inszenierten Ende nicht von wirren Emotionen, sondern von klaren Beurteilungen geprägt sein. Beurteilungen, die sie vor ihrem Ableben zu steuern gedachte. FORMATIEREN.
Schließlich musste keiner wissen, dass sie es in ihren fünfunddreißig Jahren zu nichts gebracht hatte. Wenn sie sich schon zu Lebzeiten nie etwas hatte anmerken lassen, sodass weder Eltern noch Freunde noch Kollegen ahnten, wie unzufrieden sie mit ihrer Gesamtsituation war, dann sollte es nach ihrem Tod erst recht keiner erfahren. Im Gegenteil: Es wäre wirklich zu dumm, wenn ausgerechnet nach erfolgreichem Abschluss des Projektes »Marie« noch dessen Schwachstellen ans Tageslicht kämen. Die Diskrepanz zwischen einem Selbstmord und dem scheinbar perfekten Leben, die dem einen oder anderen Hinterbliebenen merkwürdig vorkommen konnte, kalkulierte Marie mit ein. Sie würde ihr und ihrem Ende etwas Geheimnisvolles verleihen, das sie im Nachhinein nur aufwerten konnte. Lange würde man sich fragen, was hinter dem rätselhaften Suizid der Marie Hartmann wirklich gesteckt hatte. Darauf, dass nicht der Tod, sondern ihr Leben manipuliert war, würde vermutlich niemand kommen. Und das war auch gut so.
Aber wie nahm man sich effektiv und doch auch ziemlich eindrucksvoll das Leben? HILFE. Da war zunächst die Wahl des Ortes. Sie sollte wohlüberlegt und gut durchdacht werden. Werther tat es am eigenen Schreibtisch, das ist zwar intellektuell, aber ziemlich einfallslos und zudem völlig unspektakulär. Madame Bovary starb in ihrem Bett – naheliegend, aber wenig eindrucksvoll.
WWW.SELBSTMORD.DE? Vermutlich Fehlanzeige. WWW.SUIZID.DE? Höchstwahrscheinlich auch.
Die Telefonseelsorge, die schließlich Erfahrung mit diesen Fragen haben musste, würde wohl auch keine Auskunft geben.
Was also tun? Marie entschloss sich, über eine derart wichtige Angelegenheit nicht vorschnell und unvorbereitet zu entscheiden, sondern auf eine wie auch immer geartete Eingebung zu warten. Auf ein oder zwei Tage kam es jetzt schließlich auch nicht mehr an. Vielmehr war es von großer Bedeutung, dass die Aktion durch genaueste Planung und gründliche Recherche zu bestmöglicher Wirkung gebracht wurde. Wenn schon Ende, dann richtig. SPEICHERN.
Vorher konnte oder sollte man vielleicht noch die Wohnung in Ordnung bringen. Es war ja allgemein bekannt, dass nach einem selbst gewählten Tod die lieben Freunde und Verwandten nichts Besseres zu tun hatten, als auf der Suche nach Erklärungen, Entschuldigungen und Entlastungen in der Wohnung und damit der Intimsphäre des Verstorbenen zu graben. Und das konnte, war man nicht darauf vorbereitet (wie im Falle einer Kurzschlusshandlung), für den Verblichenen unangenehm bis peinlich werden. Kein Problem allerdings für den auf das posthume Stöbern Vorbereiteten. Ein Grund mehr für einen gut organisierten Selbstmord.
Zunächst einmal wollte sich Marie ihre gesamte Korrespondenz vornehmen. Die Telefonrechnungen würden komplett ins Altpapier wandern. Schließlich ging es niemanden etwas an, wann sie wie lange mit wem telefoniert hatte. Oder, wichtiger noch, wann wie lange mit wem nicht.
»Sieh dir das an«, würde es sonst heißen, »seit diesem Tag hat sie sich ganz zurückgezogen. Das musste ja eines Tages so enden!« Nein, sie wollte keine Erklärungen frei Haus liefern. So einfach sollten sie es nicht haben. LÖSCHEN.
Ihre Liebesbriefe waren ebenfalls nicht für fremde Augen bestimmt. Einige eigneten sich wiederum ganz gut, das Image, sozusagen posthum, wieder etwas aufzupolieren. War da nicht zum Beispiel ein recht passables Gedicht eines frühen Verehrers im Gymnasium? Falls es sich als einigermaßen intelligent herausstellte, konnte das auch positiv auf sie abstrahlen. Ebenso wie die wenigen ganz gut gelungenen Liebesbriefe aus der Beziehung zu ihrem Studienkollegen Ben, der es beruflich immerhin schon recht weit gebracht hatte. Seine Liebesschwüre sollten nach ihrem Ableben sogar gefunden werden. Das verlieh ihr einen Hauch seines Ruhmes, und ihm nahm es etwas von dieser Unantastbarkeit, an der er seit Beginn seiner Karriere arbeitete. AUSWÄHLEN.
Sämtliche sorgfältig verborgen gehaltenen Videokassetten und DVDs dagegen, die so manchen einsamen Abend geselliger hatten werden lassen und für einige Stunden den Schleier eines glücklich-sorgenfreien Lebens über die Wohnung geworfen hatten, mussten natürlich weg. Keiner durfte wissen, dass manche Tage nur mit Hilfe einer kitschigen Liebesschnulze aus den Fünfzigerjahren oder einer schlecht gemachten Komödie zu ertragen gewesen waren. »Sie hat sich aus der Realität in eine Traumwelt geflüchtet«, würden sie andernfalls sagen, »das musste ja eines Tages so enden!« RÜCKGÄNGIG.
Auch eine posthume Besichtigung des Bades war noch nicht im Entferntesten vertretbar. All die kleinen oder auch größeren Hilfsmittel, mit denen sich Frauen aller Altersgruppen Tag für Tag optisch dem angeblichen Ideal näherzubringen versuchen … Und mit fünfunddreißig gab es schon das eine oder andere Fältchen beziehungsweise Pfündchen, das man lieber losgeworden wäre. Nein, niemand sollte sie später nach ihren diversen allmorgendlichen Restaurierungsversuchen beurteilen. Cellulite-Lotion, Anti-Aging-Cremes, verschiedenste Schlankheitspillen, die enorme Gewichtsreduzierung innerhalb weniger Tage versprachen, mussten ohne Ausnahme entsorgt werden. Nicht, dass Marie dick gewesen wäre. Wenn man sich jedoch mit den Schauspielerinnen und Models maß, die eher einem Strich in der Landschaft als einer Rubensfigur glichen, kam man auch mit etwa sechzig Kilo Körpergewicht schlecht weg. Was im Badezimmerregal bleiben durfte, waren Seife, Parfum (sie sollten sehnsüchtig daran riechen und sagen: »Ja, das ist es. So hat sie immer gerochen. Es wird uns fehlen!«), diverse Schminkutensilien, das Übliche eben. Für einen gebührenden Abgang musste das Bad natürlich auch noch auf Hochglanz gebracht werden. Keiner sollte sie schließlich für unreinlich halten.
Für das gesamte Projekt jedenfalls galt: Nachdem alle Habseligkeiten sorgsam aussortiert sein würden, die ein schlechtes oder zumindest nicht perfektes Licht auf sie werfen konnten, würde der Einsatz von ein paar ausgefallenen und interessanten Details das Ergebnis zu einem durchdachten Ganzen abrunden, für das sie sich nach ihrem Tod nicht zu schämen brauchte. Durchschnittliches und Unterdurchschnittliches musste rausfliegen, Überdurchschnittliches betont oder hervorgehoben werden, falls sie überhaupt etwas Derartiges bei ihrer Lebenskosmetik finden würde. Und falls nicht, wären eben Neuanschaffungen nötig.
Und vielleicht konnte sie mit diesem letzten großen Projekt ganz nebenbei noch einigen verhassten Menschen eins auswischen. Ein letzter Seitenhieb gegen die intrigante Kollegin Renate, ein kleiner Triumph gegenüber Schmidt, eine abschließende Genugtuung im Bezug auf die wenigen Ex-Freunde. Alles noch möglich. Sie hatte die Fäden selbst in der Hand – ein Zustand, der Marie immer am angenehmsten gewesen war. Und die Eltern konnten vielleicht wenigstens im Nachhinein mit ihrer einzigen Tochter und deren Leben ein bisschen zufrieden sein. Wer sonst machte sich mit seinem Ende schon so viel Mühe? Das alles klang jedenfalls nach einem wirklich sinnvollen und Erfolg versprechenden Konzept. SPEICHERN.
Aber es war auch eine Menge Arbeit, ein derart durchgeplanter Selbstmord. Wenn man bedachte, dass sich Menschen täglich einfach vor einen Zug warfen oder sich ein Loch in den Kopf schossen, ohne vorher auch nur eine einzige Vorkehrung für ihr »Nachleben« zu treffen. Ziemlich mutig, fand Marie. Wo es doch so viel zu berücksichtigen gab. UNTERSTREICHEN.
Ihr Selbstmord sollte ein Gesamtkunstwerk werden, wie es die Welt vorher noch nicht gesehen hatte. Nicht ein Selbstmord um des eigenen Ablebens willen, sondern ein Selbstmord zum Zwecke einer entsprechenden Breitenwirkung, des sozusagen posthumen Ruhms für die Verblichene. Blieb nur noch zu hoffen, dass an den christlichen Versprechungen vom Leben nach dem Tod wenigstens ansatzweise etwas dran war, denn sonst würde sie kaum Zeuge des Erfolgs ihrer effektvollen Inszenierung werden können. Doch bis dahin hatte sie ohnehin noch einiges vor sich. Und die Konzentration auf die Planung ihres Ablebens bewahrte sie davor, darüber nachzudenken, welche Konsequenzen dieser Selbstmord für sie haben würde. ÜBERSCHREIBEN.

2

DOKUMENT2. Marie begann ihre Zensur mit der Wahl der entsprechend bequemen Kleidung, die es ihr ermöglichen würde, den gesamten Samstag auf Knien vor Schränken und Schubladen zu verbringen. Die graue Jogginghose mit den bereits ausgebeulten Knien würde das in jedem Fall verkraften, und auch ihr fast komplett durchgescheuerter Hosenboden würde den Erfolg des Projekts »Lebensende« in keinem Fall beeinträchtigen. Dazu ein leichtes baumwollenes Sweatshirt in Schwarz; ein zu farbenfrohes Outfit schien Marie dem Ernst der Lage kaum angemessen. Hinzu kamen dicke Wollsocken, die sie gerne so weit wie möglich über die Hosenbeine der Jogginghose zog, um die Beine zu wärmen, aber vor allem, um die hübschen Wollsocken besonders zur Geltung zu bringen. Außerdem erinnerte sie diese Variante, Socken zu tragen, entfernt an die Woll-Stulpen diverser Ballettschülerinnen beim Training. Wahrscheinlich bereute sie es eben doch ab und zu, die Ballettstunden schon nach vier Jahren mit acht aufgegeben zu haben. Und da sie meistens allein in ihrer Wohnung war, konnte auch niemand ihren seltsamen Aufzug mit Kritik oder Spott belegen.
Zunächst verschaffte sich Marie einen akribisch genauen Überblick über die zu zensierenden Lebensbereiche, indem sie eine ausführliche To-do-Liste erstellte. Mit Block und Kugelschreiber im Anschlag machte sie es sich auf dem Sofa im Wohnzimmer bequem und versuchte, ihre noch recht diffusen Gedanken zu ordnen. SORTIEREN. Die Reihenfolge der Aufgaben war jetzt noch nicht so wichtig – was wann zu erledigen war, wollte sie später entscheiden. Liebesbriefe, Tagebücher und Fotos kamen als Erstes auf die Liste. Es folgten Bücher und die Video- und DVD-Sammlung – da war genügend dabei, was nicht jeder unbedingt sehen musste. Auch in ihrem Laptop würde sie wohl gewaltig ausmisten müssen, bevor er in fremde Hände geraten konnte. Als Nächstes schrieb sie »Klamotten« und »Unterwäsche«, danach »Badezimmer/Kosmetik« auf den Block. Als sie die erste Bestandsaufnahme schon für beendet erklären wollte, fielen ihr noch die Musik-CDs und der Terminkalender ein. Auch sie wurden notiert.
Im Anschluss daran zog Marie einen dicken Strich unter die nun schon recht ansehnliche Liste und überlegte, was es außer der Zensur ihrer persönlichen Dinge sonst noch zu bedenken galt. Die Todesart war natürlich ein ganz wichtiger Punkt bei einem Selbstmord, ebenso wie der Todesort und -zeitpunkt. Sie sah sich in ihrem Wohnzimmer um. Falls diese Wohnung am Ende den Zuschlag als perfektes Ambiente bekommen sollte, musste sich hier wohl auch noch einiges tun. Die meisten der Möbel besaß sie schon seit ihrer Studienzeit, und in den letzten sechs Jahren – so lange wohnte sie hier – hatte sie so gut wie nichts mehr verändert. Marie machte ein dickes Ausrufezeichen hinter das Stichwort »Todesort« und vermerkte so ihre eventuellen Umgestaltungspläne. Und selbst wenn sie sich gegen die Wohnung als Platz für das perfekte Sterben entscheiden sollte, so war es wenig sinnvoll, deren Inhalte, aber nicht die Räume selbst aufzumotzen. Schließlich war der Satz »Zeige mir deine Wohnung, und ich sage dir, wer du bist« nicht von der Hand zu weisen. Also fügte sie kurzerhand den Stichpunkt »Wohnung« noch zur Liste der zu zensierenden Bereiche hinzu. BEENDEN.
Als Verpflegung für ihr Stöber-Vorhaben bereitete Marie sich anschließend eine große Tasse Rooibostee zu. Als der Wasserkocher verheißungsvoll brodelte, zog sie den Stecker aus der Steckdose, übergoss den Teebeutel mit dampfendem Wasser und gab nach einigen Minuten noch etwas Milch dazu. Der süße Duft zog verführerisch durch die Wohnung, als wolle er die Bewohnerin zum Weiterleben animieren. Keine Chance bei Marie. Sie öffnete eine Packung Hafer-Schoko-Kekse und machte sich an die Arbeit. SUCHEN …
Die doch etwas dürftige Sammlung an Liebesbriefen fand sich nach intensiver Suche schließlich in einer fast schon antiken Schuhschachtel unter dem Bett. Die nicht unerhebliche Staubschicht darauf verursachte schon bei der kleinsten Bewegung Hustenreiz. Der Inhalt einiger darin enthaltener Poetik-Ergüsse verflossener Verehrer leider auch, wie Marie bedauernd feststellen musste. Wie gut, dass sie rechtzeitig die Spreu vom Weizen trennte. Sie schrieb »Staubwischen« auf die To-do-Liste und wandte sich den Briefen zu.
Gerade zog sie einen weiteren Umschlag aus dem mit einer roten Schleife zusammengebundenen Päckchen. Wie kitschig, unbeholfen gestammelte Liebesschwüre eines Fünfzehnjährigen mit einer auch noch roten Samtschleife zusammenzuhalten! Die Schleife wanderte also direkt in den Mülleimer, der zur schnelleren Entsorgung mitten im Schlafzimmer platziert worden war. Da klingelte es an der Wohnungstür … unverhofft … am Samstagnachmittag. Unter anderen Umständen hätte sich Marie gefreut, denn wer auch immer es war, er wäre eine willkommene Abwechslung im eintönigen Wochenendeinerlei gewesen. Unter den gegebenen Umständen allerdings empfand sie es zum ersten Mal als Störung. ÖFFNEN …
»Guten Tag, Frau Hartmann, entschuldigen Sie bitte die Störung.« Natürlich. Der schleimige Herr Ratzek aus dem vierten Stock. War ja klar. Wer sollte auch sonst bei ihr klingeln als diese Nervensäge? SCHLIESSEN … Marie gab dem ersten Impuls, den unliebsamen Besucher abzuwimmeln, nicht nach. Schließlich sollten die Nachbarn nach ihrem Tod möglichst positiv von ihr sprechen, und Herrn Ratzek hatte sie sowieso schon viel zu oft angezickt.
»Nein, nein, Sie stören überhaupt nicht.«
»Ich vertrete in dieser Woche den Hausmeister und müsste Sie in dieser Funktion kurz in Anspruch nehmen. Sie haben vermutlich bemerkt, dass in den letzten Tagen in unserem Haus einige Elektro-Installationsarbeiten durchgeführt wurden …«
Es war Herrn Ratzeks Markenzeichen, erst nach ausführlichen einleitenden Worten inhaltlich zum Punkt zu kommen, was Maries Sympathie ihm gegenüber nicht gerade steigerte. Aber wenn man ohnehin in den Vorbereitungen für das eigene Ableben steckte, konnte man durchaus noch ein paar Minuten mehr als sonst für soziale Kontakte opfern, fand Marie. Zumal ihr diese Kontaktpflege posthum zugutekommen konnte. SPEICHERN.
»… und deshalb müsste ich kurz an Ihren Sicherungskasten.«
Auch Herrn Ratzeks Vortrag nahm irgendwann ein Ende, doch Marie hatte überhaupt nicht zugehört. Nur einige Bruchstücke der langen Rede dieses Wichtigtuers waren bis zu ihrem Gehirn vorgedrungen: irgendetwas von »Überstrom« und »tödlicher Spannung« infolge der kürzlich vorgenommenen Installationsarbeiten. Für sie in keinster Weise relevant, fand Marie. Herr Ratzek sah das offensichtlich ganz anders. Er eilte an ihr vorbei zu ihrem Sicherungskasten und redete dabei unaufhörlich.
»Ich drehe Ihnen lieber gleich selbst die entsprechende Sicherung heraus, damit Sie sich in keinem Fall in Gefahr bringen. Mit elektrischen Spannungen ist nicht zu spaßen. Dieser Überstrom in Ihrer Küche kann sich bei der kleinsten Inbetriebnahme eines Küchengerätes bereits in einem tödlichen Stromschlag entladen. Und wenn Sie dann nicht rechtzeitig gefunden werden, dann ›Gute Nacht, Marie‹!« Er lachte meckernd über sein einfallsloses Wortspiel und drehte die Küchensicherung heraus.
Spätestens jetzt war sich Marie sicher, dass es genug war mit nachbarlicher Fürsorge und auch mit der Pflege potenzieller posthumer Sympathie. BEENDEN.
Als Herr Ratzek endlich gegangen war, nicht ohne seiner Sorge um Maries Wohl nochmals Ausdruck zu verleihen, indem er die herausgedrehte Sicherung, wie er sagte, »in Verwahrung nahm«, konnte sie sich wieder ihren Aufräumarbeiten widmen. Der Tee war inzwischen kalt. Also schloss sie ihren Wasserkocher im Schlafzimmer an und bereitete einen weiteren Rotbusch-Cocktail. Dabei ergoss sich ein Teil auf den kleinen weißen Flokati, den sie kurzerhand gleich in den bereitstehenden Mülleimer entsorgte. Reinigung lohnte sich schließlich nicht mehr.
Zurück zu den Liebesbriefen. »Ich finde Dich ziemlich nett«, schrieb Thomas in der fünften Klasse. Marie erinnerte sich gut an das Gefühl, als er wenige Wochen später Carola wohl noch etwas netter fand. Sowohl sprachlich als auch inhaltlich völlig unbrauchbar, entschied Marie und entsorgte das Schriftstück, ohne es bis zum bitteren Ende gelesen zu haben. VERWERFEN. Und ohne zu wissen, was aus Thomas, der nach der siebten Klasse die Schule gewechselt hatte, geworden war, war es sowieso viel zu risikoreich, seine unbeholfenen Zeilen in der Sammlung zu behalten. Am Ende wohnte er noch bei Mutti und war schon von daher in keinster Weise geeignet, ein gutes Licht auf Marie zu werfen.
Der Nächste auf Amors Literaturliste war Günther, mit dem sie zwei Jahre in der Jugendgruppe der Kirchengemeinde gewesen war. Das »Miteinander-Gehen« dauerte ganze drei Monate und beinhaltete immerhin die ersten Zungenküsse und vorsichtige Berührungen unterhalb der bis dahin unangetasteten Kleiderschicht. Nach einigen Wochen jedoch wurde der sechzehnjährigen Marie klar, dass auch das nicht alles sein konnte. Als Günther aber selbst nach drei Monaten keinerlei Anstalten machte, sich weiter vorzuwagen, machte sie Schluss.
In dieser Zeit hatte er sich zum Verfassen eines einzigen Liebesbriefs durchringen können, den Marie nun in Augenschein nahm: »Ich muss die ganze Zeit an Dich denken und kann nachts nicht schlafen vor Sehnsucht.« Nicht schlecht, aber auch nicht gerade neu. »Du bist das schönste Mädchen der ganzen Schule.« Aha, vielleicht doch nicht so ungeeignet. »Gestern Abend mit Dir war sehr schön.« Okay … Aber was war das? Ganz unten, etwas oberhalb der ungemein schwungvollen Unterschrift (sah aus wie stundenlang geübt), entdeckte Marie den Satz, der den Brief unmittelbar von der Bestsellerliste auf die Abschussliste verbannte: »Merci, dass es Dich gibt!« Oh nein! Derartige Plattheiten mochten vor neunzehn Jahren noch weniger abgegriffen gewesen sein – heute war so etwas definitiv untragbar. So musste auch Günthers Machwerk den Weg in den Müll antreten. WOLLEN SIE DAS DOKUMENT WIRKLICH IN DEN PAPIERKORB VERSCHIEBEN? JA. ENTER.
Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen. So langsam wurde es Zeit, dass die repräsentativen Werke das »Töpfchen« füllten, sonst würde sie als ewig unbeachtetes Mauerblümchen in die Geschichte eingehen. Das Gedicht von Jörg war ja ganz gelungen: »Du bist mein Stern in dunkler Nacht / Was hast Du nur mit mir gemacht?/ Ich kann nicht schlafen, kann nicht essen / und kann Dich einfach nicht vergessen!/Mein Herz schlägt wild, wenn ich Dich seh / Du bist schlank wie ein junges Reh / Dein Auge glänzt wie Morgentau /Oh, bleib für immer meine Frau!« Für einen Sechzehnjährigen war das doch eine recht gute Leistung und somit als Anfang von Maries Liebesarchiv bestens geeignet.
Die Tatsache, dass sie mit Jörg nicht gerade lange zusammen gewesen war, verschwieg Marie sogar vor sich selbst. Einige Zeit nachdem sie sich von ihm getrennt hatte, waren ihr damals seine Qualitäten schmerzlich bewusst geworden, als sich die zwei Jahre ältere Jasmin in ihn verliebte, mit der er heute verheiratet war. Seitdem verdrängte sie konsequent den Umstand, dass sie nur Schluss gemacht hatte, weil er in der Fußballmannschaft der Schule auf die Ersatzbank musste. LÖSCHEN. Als er auf der Abiturfeier zwei Jahre später eine ebenso intelligente wie witzige Rede hielt, stellte sie sich vor, wie sie ihn als seine Freundin auf der Bühne hätte beglückwünschen können. Egal, das Gedicht jedenfalls war für sie geschrieben worden.
Einen weiteren Beitrag zum Archiv lieferte Ben, mit dem sie Informatik studiert hatte. Als sie das Studium begann, war er schon im Hauptstudium und im ersten Semester ihr Tutor. Er sah wirklich blendend aus und war der Schwarm aller Studentinnen. Doch nur Marie bat er schon nach der dritten Stunde, die Arbeitsblätter für die nächste Sitzung zu kopieren, nach der fünften um Hilfe bei der Erstellung seiner Homepage, und noch vor Beendigung dieses Projektes waren sie zusammen. Marie war glücklich. UNTERSTREICHEN.
Die Tatsache, dass Ben bei den Kommilitonen äußerst beliebt war, verschaffte ihr schnell Zugang zu allen wichtigen Studentenveranstaltungen und -partys. Und da er am Informatik-Institut arbeitete, war sie auch sehr bald mit den meisten Dozenten bekannt. Hinzu kam, dass er mit ihr für Prüfungen und Referate übte. In dieser Zeit hatte Marie das Gefühl, ihr könnte nichts mehr misslingen. Das Leben schien ohne große Probleme zu meistern zu sein. Sie machte ein wirklich gutes Vordiplom und zog mit Ben in eine Zwei-Zimmer-Wohnung. Alles schien perfekt.
Bis zu dem Abend, an dem sie extrem euphorisch von einer Besprechung mit ihrem Professor nach Hause kam und Ben mit einer seiner studentischen Hilfskräfte im Bett erwischte. In diesem Moment musste Marie erkennen, dass ihr Freund den Begriff »Hilfskraft« offensichtlich etwas freier interpretierte. Wobei er sich sonst noch helfen ließ, blieb sein Geheimnis, denn Marie zog sofort aus und brach den Kontakt ab.
Das Einzige, was ihr von Ben blieb, waren die acht Briefe, die sie jetzt in den Händen hielt, und eine handbemalte Spieluhr in Form eines Karussells. Marie erinnerte sich sehr gut daran, dass Ben damals einige Monate verzweifelt versucht hatte, den Kontakt zu ihr wieder aufzunehmen. Doch obwohl sie unter der Trennung unglaublich gelitten hatte, hatte es ihr Stolz nicht erlaubt, ihn auch nur ein Mal anzuhören. Die Briefe und die Spieluhr waren zu ihren Artgenossen in die Schuhschachtel gewandert, wo sie schon seit zehn Jahren ein finsteres Dasein fristeten.
ANSICHT. Gedankenverloren drehte Marie die blecherne Spieldose in ihren Händen hin und her. »Wo ich mit dir doch den absoluten Glückstreffer auf dem Rummel getan hab«, hörte sie ihn noch sagen (er sagte Rummel, was Marie bis dahin noch nie gehört hatte), als er ihr das kleine Karussell schenkte. Genau ein Jahr zuvor war es auf einem örtlichen Volksfest zum ersten Kuss zwischen ihnen gekommen. »Eigentlich schade, Kasimir.« Ihr Kater hatte sich neben die ausgebreiteten Hinterlassenschaften gelegt, leckte sich die Pfoten und nahm von Marie keinerlei Notiz. ANSICHT SCHLIESSEN.
Nun war es aber an der Zeit, den Zweck der Übung nicht aus den Augen zu verlieren und die Lebenszensur fortzusetzen. Die Trennung von Ben war nicht mehr rückgängig zu machen, das von ihm Gebliebene jedoch durchaus gewinnbringend zu nutzen. Die Briefe von Ben waren poetisch, aber nicht kitschig, also bestens geeignet zur posthumen Imagepflege. Schließlich war Ben inzwischen, wie Marie wusste, Chef eines nicht gerade unbedeutenden Softwareunternehmens und im letzten Jahr von einer Wirtschaftszeitschrift zum »Manager des Jahres« gewählt worden. Es konnte also nichts schaden, seine vormaligen Liebesbeteuerungen sorgsam zu archivieren. SPEICHERN.
»Das darf doch nicht wahr sein!«
Kasimir schreckte aus seinem Mittagsschläfchen auf, das er in einem Sonnenfleck auf dem Schlafzimmerteppich genossen hatte. Interessiert betrachtete er Marie, die Bens Briefumschläge einen nach dem anderen missgelaunt betrachtete. Sie enthielten keinerlei Absender, was für Liebesbriefe nicht unüblich war, wenn man sie sich während der Vorlesung in der Uni zusteckte. Wie aber sollte die Nachwelt von Maries intensiver Beziehung zu einem ebenso gut aussehenden wie intelligenten »Manager des Jahres« beeindruckt sein, wenn sie die Verbindung von ihm zu diesem nachnamenlosen Ben von vor zwölf Jahren nicht herstellen konnte? Dem musste abgeholfen werden, dafür war diese Töpfchen-Kröpfchen-Nummer schließlich da, fand Marie. OPTIONEN …
Es gab nur eine Möglichkeit: Sie musste die Umschläge mit dem vollen Namen des Absenders versehen. Ben Bergemann. Keine leichte Aufgabe für jemanden, der nicht einmal zu Schulzeiten die Unterschrift der Eltern unter der Klassenarbeit nachgeahmt hatte. Aber kurz vor Lebensende war genau der richtige Zeitpunkt für eine erste und wohl auch letzte Urkundenfälschung; schließlich hatte man danach keine Gelegenheit mehr dazu. FORMAT. ZEICHEN. Zunächst studierte Marie akribisch Bens ebenso schwungvolle wie gleichmäßige Handschrift, deren Buchstaben wie perfekt gepustete Luftschlangen aneinandergereiht waren. Vom Anfang bis zum Ende eines Wortes schien sein schicker Füller, an den sie sich noch sehr gut erinnern konnte, auch nicht für den kleinsten Moment abgesetzt zu haben.
Kurz nachdem Ben und sie zusammengekommen waren, hatte sich Marie einen ähnlichen Füller gekauft, weil Ben ihr immer wieder erklärt hatte, dass Kugelschreiber das Schriftbild verschlechterten. Nach der Trennung hatte sie ihn natürlich sofort entsorgt, was sich nun als extrem ungünstig erwies. Zum einen hätte er jetzt ihrer Fälschung Glaubwürdigkeit verliehen. Zum anderen fiel ihr aufgrund ihres über die Jahre durch Kugelschreiber verschlechterten Schiftbildes die Nachahmung der »Schriftzüge des Jahres« besonders schwer. Mit ihrem Schulfüller, den sie ganz hinten in einer Schublade fand, versuchte sie ihr Glück wieder und wieder. Ein Mal verrutschte das »e« infolge einer ungücklichen Handbewegung, ein anderes Mal entglitt die Feder beim »m«. WIEDERHOLEN.
Nachdem sie mehrere Blätter eines Din-A4-Collegeblocks mit Bergemanns gefüllt hatte, fühlte Marie sich in der Lage, einen Briefumschlag seiner Jungfräulichkeit zu berauben. Kasimir hatte sich wieder zusammengerollt, als sie ein rotes Kuvert mehrmals umwendete, um den besten Platz für den wichtigen Absender zu suchen. An welche Stelle hätte wohl Ben seinen Namen gesetzt? Und wo würde der wichtige Zusatz von den Rezensenten der Briefe am ehesten bemerkt? Marie entschied sich für die Platzierung auf der Rückseite des Kuverts in der Mitte der Einstecklasche. KOPIEREN. EINFÜGEN. Mit möglichst flüssigen Bewegungen setzte sie ihre Luftschlangen auf das leicht raue Papier. Nicht schlecht. Von Mal zu Mal wurden ihre Bewegungen sicherer und das Ergebnis besser. Und so entstanden in einem Schlafzimmer in München innerhalb weniger Minuten acht echte Bergebeziehungsweise Hartmanns auf zwölf Jahre alten Briefumschlägen.
Zufrieden lehnte Marie sich zurück und betrachtete einige Minuten ihr Werk. Ben Bergemann. Ben Bergemann. Ben Bergemann. Sie verglich ihre Kuvert-Beschriftung mit den Brief-Originalen und sah Kasimir Beifall heischend an: »Na, was sagst du jetzt?« Da Kasimir natürlich nichts dazu sagen konnte und vermutlich auch nicht wollte, jedoch wieder einmal vorwurfsvoll aufblickte, fühlte Marie sich als infame Urkundenfälscherin entlarvt und verurteilt. RÜCKGÄNGIG? Aber schließlich war Ben, wenn auch nicht mit ausführlicher Unterschrift, wirklich der Absender dieser Briefe gewesen, und er hätte sie mit Sicherheit auch mit seinem kompletten Namen versehen, wenn er geahnt hätte, wie wichtig dieses Detail für Marie einmal werden würde. Also: Marie rehabilitiert, Kasimir widerlegt, Briefe archiviert. SPEICHERN.
Amors Schuhschachtel beherbergte nun neun Briefe. Nicht gerade üppig in einem fünfunddreißigjährigen Leben, das immerhin ungefähr zwanzig geschlechtsreife Jahre beinhaltete, fand Marie. Kein Ruhmesblatt also für das vorzubereitende posthume Image. Während sich Kasimir geräuschvoll auf die andere Seite drehte, ersann sie den nächsten Schritt in Sachen Liebesbrief-Kosmetik. Sie musste die Quantität der Korrespondenz deutlich erhöhen, sollte die Nachwelt nicht auf den Gedanken kommen, ihr Liebesleben habe sich in diesen zwanzig geschlechtsreifen Jahren auf zwei Beziehungen beschränkt, von denen eine gerade mal ein paar Monate gedauert hatte.
OPTIONEN … Es mussten eindeutig etwas mehr Liebesgeständnisse her. Mit einer Handvoll ziemlich normaler Texte konnte sie nach ihrem Tod mit Sicherheit niemanden beeindrucken. Wie aber kam man an poetische, ausgefallene Liebesbriefe, wenn man gerade keinen Mann zur Hand und selbst auch kaum Erfahrung mit derartigen Mitteilungen hatte? Marie stand auf und lief einige Male unruhig im Zimmer hin und her. Mit Grauen erinnerte sie sich an die wenigen kümmerlichen Versuche, mit denen sie selbst sich im Laufe ihrer Beziehungen abgequält hatte. Vielleicht war ja das der Grund, dass sie jetzt kurz vor Ende ihres Lebens nur auf eine recht spärliche Anzahl schriftlicher Liebesgeständnisse zurückblicken konnte. Denn wie man in den Wald hineinschreibt, so schreibt es ja wohl heraus …
Selbst schuld also, aber damit konnte sie sich in diesem Moment leider nicht zufriedengeben. Aktivität war gefragt – etwas, das sie in den vergangenen Monaten eher vermieden hatte. Doch wollte sie nicht, dass ihr Ende genauso unauffällig wurde wie das Leben davor, dann musste sie jetzt über ihren Schatten springen und sich selbst als Liebesbrief-Autorin betätigen. Und das, obwohl Schreiben noch nie ihre große Stärke gewesen war. Ausgerechnet. Vielleicht sollte sie sich eher an einem Gemälde oder einer CD mit Liebesliedern versuchen? Das lag ihr vermutlich mehr. VERSCHIEBEN. Auch keine schlechte Idee, aber zuerst musste sie die Aktion Liebeskorrespondenz zu einem erfolgreichen Abschluss bringen. »Drücken gilt nicht«, sprach sie sich selbst Mut zu und streichelte Kasimir ein paar Mal liebevoll über den Kopf, den dieser, überrascht über die Ansprache, kurz gehoben hatte. Schließlich konnte sie ihre schriftstellerischen Versuche jederzeit wieder vernichten und es bei den vorhandenen Briefen belassen. SPEICHERN.
Marie beschloss, sich zunächst einige Anregungen zu holen, und lief ins Wohnzimmer zu ihrem Bücherregal. Vielleicht fand sich hier etwas, das man als Inspiration für einen eher unkreativen Geist wie den ihren brauchen konnte. Doch bis auf einen Gedichtband von Goethe, den sie in ihrer Schulzeit von den Eltern geschenkt bekommen hatte und in dem sich natürlich auch Liebesgedichte fanden, beherbergte das Regal keinerlei brauchbare Vorlagen. »Wie schreibe ich einen Liebesbrief an mich selbst, wenn es sonst keiner tut?« – das wäre mal ein hilfreiches Buch in der vielfältigen Literaturlandschaft gewesen, fand Marie an diesem Samstag und setzte sich mit Goethes Gedichten auf ihr Sofa, um gleich mit der Recherche zu beginnen. ÖFFNEN. Vielleicht war das Geschenk der Eltern, das sie damals mit siebzehn als ziemlich sinnlos empfunden hatte, jetzt doch noch von Nutzen.
Einige seiner Gedichte hatte der Meister mit dem Namen der jeweils Angebeteten versehen, was Marie für ihre Zwecke eher ungelegen kam. Natürlich hatte sie nicht vor, ein Goethe-Werk sozusagen unter falschem Namen an sich selbst zu adressieren, doch auch für andere Verwendungszwecke waren fremde Namen eher kontraproduktiv. Nachmachen konnte sie seine manchmal doch recht überschwängliche Art des Dichtens natürlich sowieso nicht. Das hätte vermutlich auch kein sprachlich versierterer Schreiber geschafft. VERWERFEN. Und wenn ihr auch das Lesen des lange nicht mehr beachteten Gedichtbandes durchaus Spaß machte, merkte Marie recht bald, dass sie dem Verfassen eigener Liebesbriefe so in keinem Fall näherkam. Im Gegenteil: Sie verbrauchte recht unergiebig wertvolle Zeit.
Um die halbe Stunde mit Goethe nicht ganz ungenutzt zu lassen, setzte sich Marie mit ihrem Schulfüller und einem jungfräulich weißen Briefbogen an den Wohnzimmertisch. Gerade noch rechtzeitig fiel ihr ein, dass ihre Liebesbrief-Fälschung sofort auffliegen würde, wenn sie die Zeilen in ihrer eigenen Schrift zu Papier brächte. Also musste sie noch einmal unterschiedlich geformte Buchstaben üben, vergleichen und wieder ändern, bis sie sich ans Werk machen konnte. Dann schrieb sie mit ihrer jungenhaftesten Schrift eines der Gedichte, an das sie sich aus ihrer Schulzeit noch erinnern konnte, ab:
»Willkommen und Abschied«. Sehr ergreifend.
»Ganz war mein Herz an deiner Seite/Und jeder Atemzug für dich.« Wer wünschte sich das nicht?
»In deinen Küssen welche Wonne!/ In deinem Auge welcher Schmerz!« Muss Liebe schön sein! Leider konnte sich Marie kaum mehr daran erinnern.
»Und doch, welch Glück, geliebt zu werden!/ Und lieben, Götter, welch ein Glück!« Nun wurde es ihr doch etwas wehmütig ums Herz. Wie musste sich eine Frau fühlen, der ein Mann solche Gedichte schrieb? Für Marie unvorstellbar. Sie musste sich ihre Liebesbriefe mühevoll selbst schreiben, und eine andere bekam derartige Kunstschätze einfach mal so präsentiert. Das Leben war ungerecht. SPEICHERN.
Schnell wischte sie die sentimentalen Gedanken beiseite und erfand als Absender einen jugendlichen Goethe-Liebhaber namens Wolfgang (wie sinnig), der in ein paar einleitenden Worten bekannte, er habe bei diesem in der Schule behandelten Gedicht sofort an Marie denken müssen. Das war für einen unbeholfenen Jüngling genug Liebeserklärung, fand Marie und steckte den Bogen abschließend in ein passendes Kuvert.
Dass es mit ein paar abgeschriebenen Dichter-Zeilen nicht getan war, war klar. Und ein Brief mehr machte noch keine begehrenswerte Marie. WEITER. Um das Verfassen eigener Gedanken kam sie demnach nicht herum. Leider. Aber so ein perfekter Selbstmord verlangte eben auch Opfer. Sie musste sich schriftstellerisch betätigen, ob sie wollte oder nicht.
Nur Mut! Frisch gewagt ist halb gesülzt. Kasimir kam verwundert aus dem Schlafzimmer getrottet, als wollte er nachsehen, wo sein Frauchen so lange blieb. Er strich einige Male um Maries Beine und maunzte fordernd, bis sie sich von ihrem Projekt losriss und ihm die geforderten Streicheleinheiten zugestand. Doch auch als er sich längst wieder auf seinen Sessel verabschiedet hatte, blieb der Briefbogen leer. Marie hatte keine Ahnung, wie sie anfangen und was sie schreiben sollte.
Wieder stand sie auf und lief unruhig hin und her. Bewegung sollte angeblich gut für das Gehirn sein, wirkte sich aber offensichtlich nicht unmittelbar aus, denn die kreativen Gedanken ließen trotzdem auf sich warten. Einen kurzen Moment dachte sie darüber nach, ihre beste Freundin, Alma, anzurufen und um Hilfe zu bitten. Die war schließlich Redakteurin bei der »Süddeutschen Zeitung« und als solche prädestiniert für die ansprechende Verschriftlichung aller Arten von Gedanken. Doch wie hätte sie ihr ungewöhnliches Anliegen erklären sollen? Sie konnte schließlich nicht sagen, dass sie gerade dabei war, ihren Nachlass publikumswirksam zu fälschen. Zu dumm. VERWERFEN.
Nur um einmal angefangen zu haben, setzte Marie ein in wieder neu verstellter Schrift geschwungenes »Meine Liebste« an den oberen Papierrand und betrachtete es kritisch. Zu kitschig? Warum eigentlich? Verliebte waren manchmal so. Sie musste nur versuchen, sich etwas mehr in diesen für sie schon sehr weit entfernten Zustand zu versetzen. Schwierig. Wann war sie das letzte Mal verliebt gewesen? Marie begann zu rechnen: Vor ziemlich genau acht Jahren hatte sie ihre erste Stelle als Systemadministratorin bei einem Münchner Pharmaunternehmen gekündigt. Der Grund war die Trennung von Lars, einem Arbeitskollegen, gewesen – ihre letzte Beziehung, die ganze achtzehn Monate gehalten hatte. Unglaublich! Acht Jahre! Kein Wunder, dass es ihr schwerfiel, zumindest vorstellungshalber in den Zustand des Verliebtseins zurückzufinden.
Also: »Meine Liebste« … Das konnte doch nicht so schwer sein. »Nach unserer unbeschreiblich schönen Nacht (lieber ein bisschen dicker auftragen) denke ich in jeder freien Minute an Dich.« Warum eigentlich nur in jeder freien Minute? Was war mit den anderen? Wenn schon, dann richtig. Wann war man schon mal in der äußerst komfortablen Situation, die Liebeserklärungen, die man bekam, steuern zu können? Marie zerknüllte den begonnenen Brief und setzte erneut oben auf einem leeren Bogen an: »Meine Liebste, nach unserer unbeschreiblich schönen Nacht denke ich Tag und Nacht an Dich! Ich sehe Dich vor mir, wie du …« Ja, wie eigentlich? EINFÜGEN.
Sie hatte keine Ahnung, was ein potenzieller Liebhaber an ihr hätte herausheben können. Und einfach das Blaue vom Himmel herunter zu erfinden war zu riskant und auch irgendwie unter ihrem Niveau, fand Marie. Also marschierte sie erst einmal ins Schlafzimmer vor den großen Spiegel, um eine ausführliche Bestandsaufnahme zu machen. Kasimir kam natürlich unverzüglich hinterher, froh über wenigstens etwas Bewegung an diesem für seinen Geschmack eher langweiligen Samstag. Er postierte sich neben seinem Frauchen und versuchte kurz mit seinem Spiegelbild Kontakt aufzunehmen. Als sein wiederholtes Miauen jedoch ohne Antwort blieb, schlich er gelangweilt ins Wohnzimmer zurück und ließ Marie mit ihrer Selbstanalyse allein. Typisch Mann.
Oberschenkel zu dick, Bäuchlein zu groß, Hüften sehr breit und schon die ersten Falten im Gesicht – nicht gerade die beste Ausgangssituation, um einen imaginären Verliebten zu Begeisterungsstürmen hinzureißen. Marie wollte ihren Beobachtungsposten vor dem Spiegel schon wieder frustriert verlassen, da entdeckte sie, dass ihr die kleinen Fältchen um den Mund eigentlich eher eine besondere Note gaben, als dass sie sie alt und verbraucht wirken ließen. Zur Probe lächelte sie ihrem Spiegelbild einmal kurz zu und musste zugeben, dass Kasimir recht hatte: Durch einen kontaktfreudigen Gesichtsausdruck konnte das Aussehen noch gewinnen. SPEICHERN.
Nun gut, die dunklen, schulterlang gewellten Haare, die sie meist zu einem lockeren Knoten zusammengebunden trug, konnten sich durchaus auch sehen lassen. Ein paar herausgerutschte Strähnchen umspielten ihr Gesicht, was ihr ein wenig das strenge Aussehen nahm. Auch das konnte man sicher in einem Liebesbrief ganz gut verwerten. Die braunen Augen waren okay, die Nase ein bisschen nach unten gezogen, der Mund hingegen wieder gut proportioniert. Und die Sommersprossen gaben ihrem Gesicht fast etwas Charmant-Witziges. Ergebnis: Kopf recht hübsch, Oberkörper in Ordnung, Beine verbesserungswürdig. Alles in allem gar keine so schlechte Bilanz, fand Marie jetzt doch und setzte sich wieder an ihren bereits begonnenen Liebesbrief. Der unbekannte Verehrer, dem sie schließlich den Namen Thomas gab (je normaler, desto unauffälliger), schwärmte nun ausführlich von ihren süßen Fältchen und den vorwitzigen Strähnchen, die ihr immer wieder ins Gesicht fielen.
In einem nächsten Brief durfte ebendieser Thomas die netten Sommersprossen und die liebenswerte Mimik loben, um schließlich zu ihrer herzlichen und humorvollen Art zu kommen. Je länger sie schrieb, desto kreativer flossen die Liebesgeständnisse aus Maries Schulfüller, der sich je nach Absender ein völlig neues Schriftbild anzueignen schien. Langsam bekam sie Routine in der Erschaffung immer anderer Schriftzüge, sodass sie kurz überlegte, eventuell gleich noch ein paar Zeugnisse oder Studienscheine zu fälschen. Auch die hätten durchaus ein paar Verbesserungen vertragen können. Da aber Aufwand und Risiko in diesem Fall ungleich höher und ohnehin noch genügend zu tun war, verwarf Marie den Gedanken und konzentrierte sich wieder ganz auf ihre momentane Aufgabe. Sie erfand einen traumhaften Italien-Urlaub mit einem Holger, schuf aufregende Biking-Touren mit einem Christian und erdachte romantische Abende mit einem Frank, die alle in einem oder mehreren Liebesbriefen an sie Erwähnung fanden. Und alle begeisterten sich für eine Marie, die sie bis heute selbst nicht gekannt hatte, nach eingehendem Studium jetzt aber direkt ein wenig mochte. BEENDEN.
In den letzten Jahren hatte sie außer zu Alma und ein paar Arbeitskolleginnen zu so wenigen Leuten wirklich Kontakt gehabt, dass keiner ihre kleine Beziehungskorrektur bemerken würde. Und da die gefälschten Briefe alle nicht datiert waren, konnte jeder denken, der eine oder andere ihm unbekannte Flirt sei in einer der vielen Kontaktpausen passiert. Und sogar Alma war bis vor Kurzem ein Jahr beruflich in London gewesen, sodass auch diese eigentlich so herzliche Freundschaft etwas auf Eis gelegen hatte. In dieser Zeit hatte sich Marie noch etwas mehr zurückgezogen, was sie jetzt mit dem Erfinden neuer Flirts und Beziehungen mühsam wieder ausbügeln musste. Hätte sie das mal früher gewusst!
Nachdem sie sich in ihren Briefen, wie sie meinte, nun genügend selbst beweihräuchert hatte, las sie alle selbst erdachten Texte noch einmal durch und steckte sie, allesamt für gut befunden, in verschiedene Kuverts, die sie zum Teil wieder aus dem Abfall holte. Schließlich wurde die Fälschung umso glaubwürdiger, je unterschiedlicher das Material war, das zum Einsatz kam. Und die zunächst entsorgten Umschläge waren immerhin aus verschiedenen Jahren, wodurch sie sogar jeder Echtheitsprüfung standhalten würden. Nicht dass Marie eine solche bezüglich ihres Nachlasses erwartet hätte – das wäre wohl auch etwas vermessen gewesen -, aber man konnte ja nie wissen.
So entstand im Laufe dieses Samstags ein recht ansehnlicher Stapel aus einigen echten und etwas mehr unechten Liebesbriefen, die aber an Romantik und Gefühl kaum zu überbieten waren. So manche Angebetete hätte sich glücklich geschätzt, derart ausführliche und liebevolle Zeilen von einem ihrer Verehrer zu bekommen. Vielleicht war es sowieso das Beste, sich bei der Beurteilung der eigenen Qualitäten nicht auf irgendwelche Männer, sondern auf sich selbst zu verlassen, überlegte Marie und schloss einigermaßen zufrieden die Schuhschachtel und damit das erste Kapitel ihrer Lebenszensur für die Nachwelt. SPEICHERN.
Bei aller sicher notwendigen Vergangenheitsbewältigung wollte Marie aber nicht die Zukunft aus den Augen verlieren. Diese würde zwar nicht mehr allzu lange andauern, sollte aber schließlich zum bestgeplanten Teil ihres Lebens werden. Deshalb konzentrierte sich Marie nun wieder auf die Organisation ihres Ablebens, denn dafür war noch einiges an Recherche nötig. Todesart, -ort und -zeitpunkt waren noch völlig offen und sollten keinesfalls spontan gewählt werden. Als Informatikerin und Computerexpertin entschied sich Marie natürlich für das Internet als adäquates Recherchemedium. AUSWÄHLEN. Mit einer weiteren Tasse Tee und ihrem Laptop machte sie es sich mit ihren Utensilien unter den strengen Blicken von Kasimir auf dem Sofa im Wohnzimmer bequem und loggte sich im Netz ein. SUCHEN.
Sehr bald schon zeigte sich, dass sich die üblichen Suchmaschinen für die Planung des eigenen Todes als komplett untauglich erwiesen. Sie lieferten zwar eine Unmenge an spektakulären und auch weniger interessanten Geschichten über die unterschiedlichsten Todesfälle, ließen einen aber mit der Frage nach Vorbereitung, Durchführbarkeit und Erfolgsquote ziemlich im Stich.
Noch schlimmer: Die Seiten, die sich im Internet mit dem Thema Selbstmord beschäftigten, hatten in der Hauptsache seine Vermeidung, Therapien und das Schicksal der Angehörigen zum Inhalt. Also genau die für Marie gänzlich unerheblichen Aspekte. Fast musste sie befürchten, von ihrer bei klarem Bewusstsein getroffenen Entscheidung abzukommen, falls sie sich allzu lange mit derart kontraproduktiven Websites beschäftigte. Dieser Gefahr wollte sie sich unter keinen Umständen aussetzen. VERWERFEN.
Der Fall lag klar: Marie musste sich der Thematik von einer unverfänglicheren Seite nähern. Der Selbstmord musste sich sozusagen nicht als Ziel, sondern vielmehr als eine Art Nebenwirkung darstellen, zumindest für die Dauer der Recherche. Die Begriffe »Suizid« und auch »Tod« waren demnach als Suchbegriffe vollkommen ungeeignet. GEHE ZU … Gegen null Uhr wagte sich Marie auf neues Terrain und fütterte ihren Computer mit den verschiedensten Möglichkeiten, auf unverfängliche Art den Tod zu finden.
Sie inspizierte die Homepages von Gartencentern, Baumärkten und Elektrofachgeschäften. Möglichkeiten boten sich hier genug. Diese Läden priesen eine Vielzahl geeigneter Tatwerkzeuge zu durchaus erschwinglichen Preisen an. »Zwei Heckenscheren zum Preis von einer« versprach beispielsweise ein Gartencenter in Schnäppchenlaune, konnte Marie damit allerdings gar nicht locken. Hätte sie sich mit einer Heckenschere umbringen wollen (auf welche Weise, war ihr selbst nicht klar), dann ganz bestimmt nicht »stereo«. Außerdem hatte sie in den vergangenen Jahren aufgrund ihres recht einsamen Lebens kaum Geld für Nicht-Lebensnotwendiges ausgegeben und so eher ungewollt ein nettes Sümmchen angespart. Marie konnte sich ihren Selbstmord also durchaus etwas kosten lassen.
Diese Erkenntnis brachte Marie zu vorgerückter Stunde auf die Idee, das Problem von einer ganz anderen Seite zu betrachten. Jede Form von Discountern wurde kategorisch ausgeschlossen, zumal sie die zuletzt recherchierten Todeswerkzeuge von der Gartenharke bis zur Bohrmaschine alle in einer äußerst blutigen Art und Weise und mit optisch ziemlich unvorteilhaftem Ergebnis hätte anwenden müssen. Was in jedem Fall denkbar ungeeignet war für die posthume Imagepflege.
Wenn auch keine endgültige Lösung des Problems, so hatte diese Nacht durch den Ausschluss verschiedener Optionen trotzdem ein ziemlich zufriedenstellendes Ergebnis erbracht: Maries Todesart musste äußerliche Unversehrtheit garantieren und mit nicht unerheblichen Kosten verbunden sein, also eine gewisse Exklusivität ausstrahlen, um von ihr den Zuschlag zu bekommen. Durch diese beiden Charakteristika konnte sie nun sehr schnell weitere Möglichkeiten endgültig ausschließen.