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Im Gegensatz zum breit rezipierten absurden Theater wurde das poetische Theater Frankreichs trotz seiner damaligen Wirkkraft von der Forschung bisher noch nicht als eigenständiges ästhetisches Phänomen erfasst. Diese Arbeit definiert und erforscht das poetische Theater der Nachkriegszeit am Beispiel von René de Obaldia, Romain Weingarten und Georges Schehadé. Als später Ausläufer des surrealistischen Theaters steht das poetische Theater in einer avantgardistischen Tradition, weshalb die Avantgardetheorie als Referenzrahmen dient. Für die unterschiedlichen Phasen des Avantgardetheaters (historische Avantgarde, nouveau théâtre, postdramatisches Theater) werden Denkmodelle entworfen, die seine Entwicklung illustrieren und eine Situierung des poetischen Theaters innerhalb der Avantgarde möglich machen.
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Seitenzahl: 587
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Susanne Becker
Das poetische Theater Frankreichs im Zeichen des Surrealismus
René de Obaldia, Romain Weingarten und Georges Schehadé
Narr Francke Attempto Verlag Tübingen
© 2019 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.narr.de • [email protected]
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ePub-ISBN 978-3-8233-0127-1
Für meine geliebten Eltern,
Steffi und Patrick.
« Il y a ce qu’on voit et il y a ce qu’on ne voit pas. Sans cela on ne pourrait pas jouer. Voilà. »
Die vorliegende Publikation beruht auf der gleichnamigen Dissertation, die ich im Jahr 2017 an der Universität Osnabrück im Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaft eingereicht und anschließend verteidigt habe. Für die Veröffentlichung wurden mehrere Kürzungen und Korrekturen vorgenommen.
Mein tief empfundener Dank gilt meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Wolfgang Asholt, für seine fachkundige und feinfühlige Betreuung und für die wichtigen inhaltlichen Wegweisungen bei diesem Vorhaben. Seine Geduld und sein Verständnis waren ermutigend. Auch menschlich war er mir ein großes Vorbild.
Herzlich danke ich Frau Prof. Dr. Andrea Grewe, die sich freundlicherweise als Zweitgutachterin zur Verfügung gestellt hat. Ihr, Frau Trudel Meisenburg, Frau Prof. Dr. Susanne Schlünder und Herrn Prof. Dr. Wolfgang Adam danke ich für ihre Beteiligung an der Prüfungskommission und ihre hilfreichen Anregungen und Vorschläge.
Für die finanzielle Unterstützung danke ich der Studienstiftung des deutschen Volkes, die es mir erlaubt hat, mich frei von beruflichen Verpflichtungen auf mein Promotionsvorhaben zu konzentrieren. Mein besonderer Dank gilt in diesem Zusammenhang auch meinem Vertrauensdozenten, Herrn Prof. Dr. Oliver Dörr, für seine sachkundige Unterstützung und Anteilnahme.
Danken möchte ich auch Frau Hanna Bäumker und Frau Kerstin Schneiker von der Universität Osnabrück für ihren Beistand bei organisatorischen und administrativen Fragen sowie den Mitarbeitern des IMEC in Caen, die mir den Zutritt zum „Fonds Romain Weingarten“ ermöglicht haben.
Die Gespräche mit René de Obaldia und Isabelle Weingarten haben meine Arbeit bereichert und werden mir für immer in wertvoller Erinnerung bleiben.
Meine tiefe Liebe und Dankbarkeit gelten meinen Eltern Cornelia und Joachim, meiner Schwester Steffi und Patrick, Eva und Uli, Gisi und Struppi, Almut und Thomas, Matthi und Resi, Christian, Franzi und Conni, Emilia und Julius, den Lulus, meinen geliebten Großeltern Trudel und Theo, Anne und Kurt sowie meinen guten Freunden, die mich unverbrüchlich begleitet haben. Danke für alles.
„Le nouveau théâtre mérite attention puisque c’est celui qu’on jouera demain.“1 So äußerte sich der Schauspieler Henri Tisot, der in der Uraufführung von Romain Weingartens La Mandore mitspielte. Über vierzig Jahre später stellt sich die Frage, ob das nouveau théâtre tatsächlich zum Repertoire gehört. Ein regelmäßiger Blick in die Wochenzeitschrift L’officiel des spectacles, in der die aktuell in Paris und Umgebung laufenden Theaterstücke aufgelistet sind, belegt das Gegenteil. Es fällt auf, dass das nouveau théâtre, wenn überhaupt, fast ausschließlich in seiner absurden, nicht aber in seiner poetischen Ausprägung vertreten ist. Dies ist vor allem dem wohl bekanntesten Vertreter des absurden Theaters, Eugène Ionesco, zu verdanken. Mit den seit 1957 nicht abreißenden Aufführungen von La cantatrice chauve und La Leçon hat das Pariser „Théâtre de la Huchette“ Ionesco ein Denkmal gesetzt. Seit mehr als sechzig Jahren werden beide Stücke ununterbrochen in ihren Originalinszenierungen von 1950 bzw. 1951 gezeigt. Sie halten damit den Weltrekord der am längsten ohne Unterbrechung an einem Ort gespielten Stücke und haben über zwei Millionen Besucher angelockt, sodass es auf der Website des Theaters zu Recht heißt, das Spectacle Ionesco sei „[u]ne avant-garde devenue un classique“2. Doch auch abseits des ständig im Repertoire vorkommenden Ionescos ist das absurde Theater mit Stücken Arrabals, Becketts, Genets und Pinters immer wieder vertreten.
Einen anderen Eindruck gewinnt man dagegen vom poetischen Zweig des nouveau théâtre, von dem heute fast nur noch Tardieu und Obaldia übrig geblieben sind. Was sagt dies über das poetische Theater aus? Liegt der Grund für die Nichtbeachtung des poetischen Theaters bei den Autoren, deren Texte sich nur schwer auf die Bühne übersetzen lassen und besser gelesen als gespielt werden? Oder bei risikoscheuen Theaterschaffenden, die auf bewährte Erfolge setzen? Oder vielleicht doch beim Publikum, für das Poesie am Theater negativ konnotiert ist, wie eine britische Theaterkritikerin des Guardian3 vermutet? Oder ist das poetische Theater ganz einfach aus der Mode geraten, weil es von anderen Theaterformen überholt wurde?
Die mangelnde Beachtung der Theaterpoeten durch die Institution Theater geht Hand in Hand mit einer Vernachlässigung dieser Episode des Theaters durch die Forschung. Während das absurde Theater der 1950er und 1960er Jahre in Öffentlichkeit und Forschung sowohl in Frankreich als auch in Deutschland breit rezipiert wurde, bleibt das zeitgleich stattfindende poetische Theater noch weitgehend unbeachtet – generell, aber auch und vor allem in seinem Bezug zur Avantgarde.
Die vorliegende Arbeit möchte zu einer größeren Ausgewogenheit der Forschung über das französische nouveau théâtre in Form einer Valorisierung des poetischen Theaters beitragen. Am Beispiel von René de Obaldia, Romain Weingarten und Georges Schehadé soll die Originalität des poetischen Theaters demonstriert werden, das bisher in seiner ästhetischen Eigenexistenz von der Forschung unterschätzt worden ist. Das poetische Theater soll als theaterhistorische Epoche definiert und analysiert werden.
Der gemeinsame Nenner der Theaterpoeten ist die Verwandtschaft mit dem surrealistischen Theater. Zahlreiche Elemente der surrealistischen Theaterästhetik finden sich später bei den Theaterpoeten wieder. Die Theaterpoeten nehmen – bewusst oder unbewusst – die zwei Filiationen (die literarische und die dramatische) des surrealistischen Theaters auf. Diese Arbeit soll die Verbindungslinien zwischen beiden Theaterepochen aufzeigen.
Die Verwandtschaft mit dem Surrealismus rückt das poetische Theater in eine avantgardistische Tradition. Die Avantgardeforschung hat viele verschiedene Erklärungsansätze hervorgebracht, um das Phänomen „Avantgarde“ zu erhellen. Dabei hat sie das Theater ausgespart, was angesichts des theatralischen Charakters der Avantgarde überraschen mag. Für die unterschiedlichen Epochen des Avantgardetheaters sollen Denkfiguren vorgeschlagen werden, außerdem soll das poetische Theater im Kontext des Avantgardetheaters verortet werden.
Die Arbeit ist in drei große Abschnitte untergliedert, die sich mit 1. der Avantgarde, ihrer Theorie und ihrem Theater, 2. dem Surrealismus und seinem Theater und 3. dem poetischen Theater befassen. Diese drei Themenkomplexe sind wie folgt miteinander verbunden.
Im folgenden Kapitel wird die Avantgardetheorie beleuchtet. Sie liefert ein wichtiges Bezugssystem, um die Avantgarde mit ihren künstlerischen Hervorbringungen – darunter auch das Theater – zu begreifen. Außerdem erlaubt sie es, die Aktualität und Relevanz der Avantgarde für das 20. und 21. Jahrhundert zu bestimmen, besonders auch im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Kunst und Gesellschaft. Die wichtigsten Denkfiguren der Avantgarde sollen veranschaulicht werden. Es wird sich zeigen, dass die Merkmale, Widersprüche und Aporien der Avantgarde bereits im Kleinen, nämlich im Theater, vorhanden sind, da hier die „Beziehung Kunst-Leben schon institutionell in besonderer Weise präsent ist“1.
Das poetische Theater, das Gegenstand dieser Arbeit ist, stand in der Kontinuität des surrealistischen Theaters. Im dritten Kapitel erfolgt daher ein kurzer Überblick über die wichtigsten Aspekte des Surrealismus sowie des surrealistischen Theaters. Es kann hier nicht um eine umfassende Untersuchung gehen, da der Surrealismus und sein Theater von der Forschung bereits ausgiebig analysiert wurden. Hervorgehoben werden sollen lediglich die Aspekte, die auch im poetischen Theater anzutreffen sind. Hierfür wird auf theoretische Schlüsseltexte der Surrealisten und Personen im Umkreis der Surrealisten (z.B. Lautréamont, Reverdy, Apollinaire, Goll etc.) Bezug genommen sowie auf das von Henri Béhar in seiner wichtigen Studie Le théâtre dada et surréaliste formulierte Korpus surrealistischer Stücke und Sketche. Das surrealistische Theater lässt sich in zwei Kategorien unterteilen: die literarischen Stücke, in denen das Wort im Vordergrund steht, und die dramatischen Stücke, in denen alle Bühnenmittel gleichberechtigt sind. Mithilfe der Avantgardetheorie lässt sich nachvollziehen, wieso das surrealistische Theater wenig erfolgreich war und warum die meisten Surrealisten bald das Interesse am Theater verloren.
Das poetische Theater der Nachkriegszeit knüpft an die beiden Ausprägungen des surrealistischen Theaters an. Es wird hier exemplarisch am Beispiel der drei Theaterpoeten René de Obaldia, Romain Weingarten und Georges Schehadé untersucht. Es wird dabei nicht von einem fertigen Theaterpoesiebegriff ausgegangen, vielmehr soll die Definition von Theaterpoesie im Laufe der Untersuchung erst herausgearbeitet werden. Die Auswahl der drei Theaterpoeten sowie der hier untersuchten Stücke lässt sich wie folgt begründen.
Als wohl kommerziell erfolgreichster unter den Theaterpoeten der Nachkriegszeit steht René de Obaldia, dessen Stücke bis heute regelmäßig gespielt werden (im Dictionnaire de la Littérature française XXe siècle heißt es sogar, Obaldia sei „l’un des auteurs de théâtre les plus joués dans le monde entier“2), für die Popularisierung des Surrealismus am Theater. Obaldia interessiert sich nicht für Theorien oder die Revolutionierung der Institution Theater. Er will das Theater durch einen surrealistischen Sprachgebrauch wieder auf seine Essenz zurückführen: das Wort. Damit fügt er sich in die literarische Tradition des surrealistischen Theaters ein, auch wenn sein Sprachtheater dank seiner fast schon intuitiven Einhaltung dramatischer Grundregeln weit von der undramatischen Bühnenpoesie der Surrealisten entfernt ist. Bei Obaldia vollzieht sich eine Dramatisierung der surrealistischen Sprache und Inhalte sowie eine Rationalisierung surrealistischer Ideen.
Obaldias Theater wird am Beispiel von Genousie untersucht. Dieses im Jahr 1960 uraufgeführte Stück gilt als Obaldias erstes wichtiges Theaterwerk und wurde von der Kritik – zusammen mit den Impromptus à loisir – noch zum Avantgardetheater gezählt. Nach dem großen Erfolg von Du vent dans les branches de sassafras wurde Obaldia eher als Boulevardautor wahrgenommen. Genousie ist ein wichtiges Beispiel für ein surrealistisch inspiriertes poetisches Theater der Nachkriegszeit. Auch wenn Obaldia eine direkte Beeinflussung seines Werks durch den Surrealismus leugnet, zeichnen sich Verbindungslinien ab: Einbruch des Wunderbaren ins Alltägliche, Verhöhnung der intellektuellen Bourgeoisie, Spiel-im-Spiel-Elemente, Performativität der Sprache und eine heimliche Korrespondenz zwischen Realität und Traumwirklichkeit.
Romain Weingarten ist in dieser Diskussion deshalb wichtig, weil er zeigt, dass sich die Theateravantgarde nach dem Krieg kritisch mit dem Surrealismus auseinandersetzte und zwischen verschiedenen „Surrealismen“ unterschied. So interessiert sich Weingarten weniger für die Literarizität und Wissenschaftlichkeit des Bretonschen Surrealismus, sondern für die Körperlichkeit und Viszeralität Artauds und Vitracs, womit er an die dramatische Tradition des surrealistischen Theaters anknüpft. Während Obaldia und Schehadé keine Anstalten machten, das Theater zu erneuern, zeugt Weingartens Beschäftigung mit Artauds Schriften von einem echten theoretischen Interesse, dem Wunsch nach einer grundlegenden Erneuerung des Theaters und der Suche nach einer neuen Theatersprache. Dass er, ähnlich wie Artaud, in der Praxis nie erreichte, was er in der Theorie anstrebte, ist dabei zweitrangig: sein Theater hat Experimentcharakter und antizipiert bereits das postdramatische Theater, in dem der Text zugunsten nicht-verbaler Bühnenmittel in den Hintergrund tritt.
Weingartens Theater wird am Beispiel des 1948 aufgeführten Akara näher untersucht. Akara gilt als erstes Avantgardestück der Nachkriegszeit, der Autor selbst hat es als das letzte surrealistische Stück überhaupt bezeichnet. Einflüsse des Artaudschen und Vitracschen Theaters – Weingarten stand zu dieser Zeit vor allem unter dem Eindruck von Victor ou les enfants au pouvoir – sind in Akara besonders präsent. Die Aufführung machte Furore, Audiberti bezeichnete das Stück als „Hernani 48“. Mit seiner viszeralen Qualität, der Quasi-Absenz dramatischer Kategorien wie Handlung und Figurenentwicklung, der Gleichberechtigung verbaler und nicht-verbaler Bühnenmittel, dem Einsatz von Masken und dem Bestreben, nicht die objektiv wahrnehmbare Realität abzubilden, sondern die universalen Kräfte zwischen Menschen und Dingen, steht Akara in einer avantgardistischen Tradition. Im Gegensatz zu Obaldia, der sein Publikum auch auf intellektueller Ebene erreichen will, zielt Weingartens Theater vor allem auf die affektive Welt des Zuschauers, weshalb es oft schwer lesbar, unverständlich und rätselhaft wirkt. Auch deshalb hat sein Theater – abgesehen von dem großen Erfolg L’Eté – nie die öffentliche Anerkennung erlangt, die ihm eigentlich gebührt.
Georges Schehadé stand nach dem Krieg mit den Pariser Surrealisten in Kontakt, und Breton bezeichnete dessen erstes offizielles Stück Monsieur Bob’le in den Entretiens als „intégralement surréalist[e]“3. Diese Absegnung von Schehadés Theater als surrealistisch durch den Papst des Surrealismus persönlich ist schon Grund genug, dem libanesischen Theaterpoeten in einer Diskussion über das surrealistische Theater der Nachkriegszeit besondere Aufmerksamkeit einzuräumen. Schehadés Theater steht, wie das Obaldias, in der literarischen Tradition des surrealistischen Theaters, denn hier nimmt die poetische Sprache das Primat ein. Seine Stücke haben in der französischen Presse passionierte Debatten rund um die Vereinbarkeit von Poesie und Bühne entfacht. Die Symbiose der beiden Bereiche war bei einem Großteil der surrealistischen Theaterarbeiten ausgeblieben und wurde zum Teil auch Schehadés Theater abgesprochen. Welche minimalen Kriterien muss ein poetisches Theaterstück erfüllen, damit es auch als Theater – und nicht einfach als ein vor Publikum vorgetragenes Gedicht – wahrgenommen wird? An Schehadés Theater zeigt sich zudem eine Entwicklung, die für die gesamte Theateravantgarde der Nachkriegszeit von Bedeutung wurde: die Beziehung der Theaterschaffenden zur Öffentlichkeit, d.h. zu Publikum und Kritikern. Dieser Aspekt war für die historische Avantgarde, die innerhalb eines Netzwerks aus eigenen Zeitschriften und Verlagen operierte und die ihre Stücke zum Teil in Eigenregie auf die Bühne brachte und deshalb ein höheres Maß an künstlerischer Freiheit genoss, noch weitgehend irrelevant gewesen. Für die professionalisierte Theateravantgarde nach 1945 war das dramatische Schaffen nun auch an finanzielle Zwänge gebunden. Gerade Schehadé, der den Großteil seiner wichtigsten Schaffensperiode außerhalb der französischen Hauptstadt verbracht hatte, war auf seine Pariser Freunde angewiesen, die gleichzeitig als Kritiker, Berater und Mittelsmänner fungierten. Die Frage nach der Verantwortung der Kritik gegenüber einem aus kommerzieller Sicht fragilen poetischen Theater und gegenüber Autoren, die autonom arbeiteten und nicht mehr vom Rückhalt einer geschlossenen Gruppe profitierten, drängt sich hier auf.
Schehadés Theater soll am Beispiel des erstmals im Jahr 1951 aufgeführten Stücks Monsieur Bob’le näher untersucht werden, denn hier konnte sich die Poesie des Autors noch ungefiltert niederschlagen. Nicht umsonst schrieb Schehadé an Guy Dumur: „M. Bob’le est un texte de poësie“4. Außerdem wurde Monsieur Bob’le von Georges Vitaly inszeniert, der zuvor bereits Stücke Audibertis und Pichettes auf die Bühne gebracht und „une réconciliation du théâtre et de la poésie, pour servir ce 'théâtre de verbe' qui doit effectivement avoir sa place à côté du 'théâtre d’action'“5 angestrebt hatte. Im Laufe seines dramatischen Schaffens ist Schehadés écriture dramatique zunehmend konventioneller und insgesamt dramatischer geworden. Seine späteren Stücke waren mehr auf Publikumserfolg ausgerichtet und hatten an Poesie verloren zugunsten einer größeren Dramatizität. Monsieur Bob’le weist dagegen noch eine erfrischende Unbekümmertheit bezüglich seiner Publikumswirksamkeit auf. An den unterschiedlichen Reaktionen auf Monsieur Bob’le zeigt sich, ob und unter welchen Bedingungen ein poetisches Theater möglich ist. So hat Alter das Stück beispielsweise als ein gescheitertes Experiment angesehen, das die Grenzen des poetischen Theaters aufgezeigt habe, das aber sehr wichtig für die Entwicklung des Theaters allgemein gewesen sei.6 Surrealistische Elemente in Monsieur Bob’le sind die Absenz von Handlungs- und Figurenkohärenz, Traumwirklichkeit, die Entpsychologisierung der Figuren und vor allem die Poesie. Diese nimmt hier in der Gestalt des Monsieur Bob’le die Hauptrolle ein und transformiert alles und jeden, mit dem sie in Berührung kommt. Es ist eine Sprachpoesie, die sich vor allem in Weisheiten und Redewendungen ausdrückt und in einem Buch, dem „Trémandour“, gesammelt wird. Durch einen poetischen Sprachgebrauch kann die Realität neu erschlossen werden.
Im fünften und letzten Kapitel sollen die Ergebnisse der Arbeit zusammengefasst und analysiert werden. Warum war das poetische Theater nicht erfolgreich? Wie kann es definiert werden? Welche surrealistischen Elemente sind im poetischen Theater zu finden? In welchen Figuren kann das Avantgardetheater gedacht werden? Welche Bedeutung hat das poetische Theater für die Theatergeschichte des 20. Jahrhunderts, und wie ist es innerhalb des Avantgardetheaters zu situieren?
Diese Arbeit ist eine textbasierte und keine aufführungspraktische Untersuchung. Abgesehen von methodischen Schwierigkeiten, die mit einer aufführungsorientierten Herangehensweise verbunden sind, scheint eine textbasierte Untersuchung nur konsequent, schließlich liegt der Fokus beim surrealistischen und poetischen Theater hauptsächlich auf der Sprache. Wo Rezensionen vorhanden sind, wird auch die Rezeption des poetischen Theaters in die Untersuchung miteinbezogen, da die Publikumsreaktionen Aufschluss geben über Akzeptanz und Avantgardecharakter des poetischen Theaters zur damaligen Zeit. Anliegen dieser Arbeit ist es auch, die Autoren – soweit möglich – selbst sprechen zu lassen, was die teilweise sehr ausführlichen Fußnoten erklärt. Zur Wiedergabe französischer Zitate ist anzumerken, dass das im Französischen übliche Leerzeichen vor bestimmten Satzzeichen („espace insécable“) nicht eingehalten wurde. Um die Fußnoten nicht weiter in die Länge zu dehnen, wurden die Seitenzahlen bei Zitaten aus Theaterstücken direkt im Text hinter den jeweiligen Zitaten angegeben.
Der Avantgardebegriff entstammt ursprünglich dem Militärjargon und wird im Brockhaus von 1892 folgendermaßen definiert:
Avantgarde (spr. awáng-, Vorhut, Vortrab), diejenige Abteilung eines marschierenden Truppenkörpers, welche dieser (das Gros) auf eine gewisse Entfernung vorschiebt, um sich gegen die Erkundung durch den Gegner und seine überraschenden Angriffe zu sichern sowie Nachrichten über denselben zu erhalten. […] Eine A. teilt sich nach vorwärts in immer kleiner werdende Abteilungen bis zu der ganz vorn marschierenden Spitze. Jede dieser Abteilungen hat den Zweck, der nachfolgenden stärkern eine größere Sicherheit und Zeit zu gewähren, um sich in Gefechtsbereitschaft zu setzen. […] Die vorgeschobenen kleinern Abteilungen haben sich nach der ihnen folgenden größern in betreff der Fortbewegung zu richten.1
Zeitlich-örtliches Voraussein, Linearität, Kampfbereitschaft, die Existenz einer kleinen Gruppe an der Spitze, auf die mit einiger Verzögerung das Gros folgt, das Erforschen eines unbekannten und gefährlichen Terrains – diese Charakteristika der militärischen Avantgarde werden später auch mit der künstlerischen Avantgarde assoziiert.
In den gesellschaftlichen Kontext ging der Avantgardebegriff erstmals im 19. Jahrhundert über. Die Forschung schreibt dem Saint-Simonisten Olinde Rodrigues (1825) sowie dem Fourieristen Gabriel-Désiré Laverdant (1845) die erste metaphorische Verwendung des Avantgardebegriffs zu. Beide thematisierten die Beziehung zwischen Kunst und Gesellschaft und sahen den Künstler-Seher in einer sozialen Vorläuferrolle. Die Verquickung zwischen militärischem und metaphorischem Avantgardebegriff ist noch bei Baudelaire zu beobachten. In seinem Vademecum Mon cœur mis à nu (1859-1866) macht er sich über die Affinität der Franzosen zu militärischem Vokabular lustig, spricht sich gegen engagierte Kunst aus und nennt die linksradikalen Schriftsteller abschätzig „[l]es littérateurs d’avant-garde“2.
Eine Politisierung des Avantgardebegriffs ist in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu beobachten. Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert verliert der Begriff allmählich seine militärische und politische Bedeutung und etabliert sich im literarisch-künstlerischen Feld, mit dem er nun ausschließlich assoziiert wird. Die Neo-Impressionisten gelten als erste Kunstbewegung, die sich selbst als Avantgarde bezeichnet hat. Im Rahmen der letzten Ausstellung der Impressionisten im Jahre 1886 präsentierten Maler um Georges Seurat, der in seinem Gemälde Un Dimanche à la Grande-Jatte als erster die neo-impressionistische Technik angewandt hatte, ihre Werke der Öffentlichkeit. In einem Artikel über diese Ausstellung schrieb der Kunstkritiker Félix Fénéon, der den Ausdruck „néo-impressionnisme“ erfunden hatte, über Seurat, Signac, die Pissarros und Dubois-Pillet, sie seien „à l’avant-garde de l’impressionnisme“3. Der Avantgardebegriff war damit mitten in der Kunst angekommen, auch wenn er aufgrund der Aufsplitterung der avantgardistischen Bewegungen in Ismen nicht als Eigenbezeichnung verwendet wurde. Spätestens mit dem Aufkommen der Neo-Avantgarde ab den 1950er Jahren ist der Avantgardebegriff im Mainstream gelandet, wo er heute omnipräsent ist.
In der Kunstwelt ist die Avantgarde noch immer aktuell. Davon zeugen beispielsweise die Ausstellungen Marcel Duchamp. La peinture, même im Jahr 2014/15 und Le Surréalisme et l’Objet im Jahr 2013/14 am Pariser Centre Pompidou. Die Documenta 13 im Jahr 2012 bezog sich gestalterisch explizit auf den Surrealismus, sodass einige Besucher sie kritisch als „Surrealismus für Zuspätgekommene“1 bezeichnet haben.
Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis heute ist die Avantgarde auch in der Wissenschaft alles andere als erledigt. Zum „Jahrhundert der Avantgarden“2 oder „Zeitalter der Avantgarden“3 wurde das 20. Jahrhundert erklärt – eine schmeichelnde Bezeichnung, wenn man bedenkt, dass die Avantgarde nur etwa die Hälfte des letzten Jahrhunderts aktiv war. Dass die Avantgarde auch im wissenschaftlichen Diskurs noch hochaktuell ist, belegten in den letzten Jahren die Tagung „Avant-garde or Modernism: What remains of the Avant-garde Project?“4 am Freiburg Institute for Advanced Studies im Juni 2012 oder die seit dem Jahr 2008 alle zwei Jahre stattfindenden Konferenzen des European Network for Avant-Garde and Modernism Studies5 sowie das Kolloquium „Zwischen Kunst und Kommerz – zur Aktualität des Surrealismus“6 an der Universität Siegen im November 2007.
Vor allem aber hat sich der Avantgardebegriff in der Konsum- und Mediengesellschaft etabliert, wo er zur Vermarktungsstrategie geworden ist. So wirbt ein Hersteller von Hundegeschirr mit seinen „Avant Garde Dog Harnesses“ in vielfältigen Ausführungen. Ein Unternehmen für Sanitärtechnik verspricht „Erlebnis und Genuss für Anspruchsvolle“ in seiner „Avantgarde Massagewanne“. Ein Tester der Apple Watch für Die Zeit fragt: „Ist das Avantgarde oder nervt das nur?“7 Und als Antwort auf die Frage, wie Verlage ihre Autoren dazu bringen könnten, ihre Werke im Sinne des „transmedialen Storytellings“ an den app-versierten Leser zu bringen, antwortet ein Texttheoretiker: „Indem man sagt, das ist Avantgarde!“8
Eine „Entgrenzung“9 des Avantgardebegriffs vom künstlerischen ins kommerzielle Feld hat stattgefunden. Der Begriff ist von Kunst und Wissenschaft in alle anderen Lebensbereiche übergetreten, wo er eine inflationäre Anwendung findet und das bezeichnet, was technisch, ästhetisch oder funktionell als besonders avanciert, modern, neu und innovativ gelten soll. Die Trennung zwischen Avantgarde und Kitsch (sofern diese je bestanden hat, was bezweifelt werden darf), wie sie noch Clement Greenberg10 vorgenommen hat, wurde endgültig aufgehoben. Die Avantgarde ist in der „Ästhetisierung der Lebenswelt“11 zum Status Quo geworden, Neuheit und Avanciertheit, die einst nur punktuell aufblitzten, sind mittlerweile im Zuge des heute waltenden „Kreativitätsimperativ[s]“12, nach dem jeder kreativ sein soll und muss, zur Normalität geworden.
Die Übertragung der Charakteristika des ursprünglich militärischen Begriffs (zeitlich-örtliches Voraussein, Linearität, Kampfbereitschaft, Erkundung eines unbekannten Terrains) auf die aktuelle kommerzielle „Avantgarde“ muss daher scheitern, denn wie kann die Avantgarde eine Vorhut sein, wenn das Gros sie schon erreicht hat? Was kann sie erkunden, wenn alles bereits erforscht ist? Wie kann sie Gefechte liefern, wenn es keinen Feind mehr gibt? Wie kann die Avantgarde gegen das Establishment kämpfen, wenn sie längst Teil des Establishments geworden ist? Welches Terrain kann sie erobern, wenn sie das ganze Gebiet bereits eingenommen hat? Wie kann der fortschrittsorientierte Gedanke der Avantgarde überhaupt noch bestehen, wenn die Idee einer linearen Geschichtsschreibung spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg obsolet geworden ist? Kurz: wozu dient eine Avantgarde, wenn alles bereits Avantgarde ist? Eine relative Konzeption, die Avantgarde und Mainstream in Dichotomien wie alt-neu, traditionell-modern, konventionell-innovativ, vorher-nachher, reaktionär-subversiv, vorne-hinten denkt, wirft Probleme auf.
Dies hatte Ionesco in seinem Discours sur l’avant-garde (1959) schon früh festgestellt: „on ne peut s’apercevoir qu’il y a eu avant-garde que lorsque l’avant-garde n’existe plus en tant que telle, lorsqu’elle est devenue arrière-garde“1. Auch Hans-Magnus Enzensberger hat sich hierzu in seinem vielbeachteten Essay Die Aporien der Avantgarde (1962) geäußert:
Das Modell, an dem sich die Vorstellung der Avantgarde orientiert, ist untauglich. Das Voranschreiten der Künste in der Geschichte wird als lineare, eindeutige übersichtliche und überschaubare Bewegung gedacht, in der jeder seinen Platz, Spitze oder Troß, selber bestimmen könnte. Ungedacht bleibt, daß diese Bewegung vom Bekannten ins Unbekannte führt; daß mithin nur die Nachzügler angeben können, wo sie sind. […] Das avant der Avantgarde enthält seinen eigenen Widerspruch: es kann erst a posteriori markiert werden.2
Genauso problematisch wie die Vorher-Nachher-Dichotomie ist die Alt-Neu-Figur, denn das Neue wird immer irgendwann alt, und die Möglichkeiten des Neuen sind nicht unbegrenzt. Für Richard Schechner etwa, der nicht von einer, sondern gleich von fünf Avantgarden spricht3, ist der Avantgardebegriff als Bezeichnung für aktuelle Entwicklungen in der Kunst obsolet geworden, da die Innovation und das Neue endlich seien:
We can […] see how very far the current avant-garde is from the historical avant-garde. The current avant-garde is neither innovative nor in advance of. Like a mountain, it just is. Although the term 'avant-garde' persists in scholarship as well as journalism, it no longer serves a useful purpose. It really doesn’t mean anything today. It should be used only to describe the historical avant-garde, a period of innovation extending roughly from the end of the nineteenth century to the mid-1970s (at most). […] A Rubicon has been crossed. […] The limitless horizons of expectations that marked the modern epoch and called into existence endless newness have been transformed into a global hothouse, a closed environment. I do not agree with Baudrillard that everything is a simulation. But neither do we live in a world of infinite possibilities or originalities.4
Viel ratsamer ist es also, den Avantgardebegriff als Epochenbegriff für einen genau abgesteckten Zeitraum zu verwenden: die sogenannte „historische Avantgarde“ bezeichnet „die einzelnen, historisch, national-regional wie gesamteuropäisch und international agierenden Bewegungen und Ismen zwischen dem futuristischen Aufbruch 1909 und dem Zweiten Weltkrieg“5, insbesondere also Futurismus, Dadaismus und Surrealismus. Die Avantgarde muss ihren Avantgardismus somit nicht mehr anhand von langen und deshalb wenig aussagekräftigen Kriterienkatalogen (wie es beispielsweise von Beyme6 in seinem 12-Punkte-Programm vorgeschlagen hat) unter Beweis stellen, sondern ist als ein historisch klar eingegrenztes Phänomen zu begreifen, dessen Anfang und Ende dank der avantgardistischen Manifeste7 zeitlich genau datiert werden können. Mit Marinettis erstem futuristischen Manifest, das am 20. Februar 1909 im Pariser Figaro veröffentlicht wurde, wird „die Geburt der Avantgarde eingeläutet“8. Mit dem Ende des Surrealismus gilt die historische Avantgarde als abgeschlossen, d.h. offiziell im Jahr 1969 (drei Jahre nach Bretons Tod), in Wahrheit aber bereits ab Mitte der 1930er Jahre, als der Surrealismus seinen Zenit nach einem gescheiterten Ausflug in die Politik überschritten hatte.
Der eng gefasste und vor allem in der europäischen und insbesondere deutschsprachigen Forschung verbreitete Begriff der historischen Avantgarde macht eine wissenschaftliche Betrachtung der Avantgarde als Gesamtphänomen überhaupt erst möglich. Die avantgardistischen Ismen lassen sich trotz ihrer Vielfalt auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner reduzieren:
der Gruppencharakter;
der Versuch, Kunst in Lebenspraxis zu überführen;
die Auflösung der traditionellen Triade Künstler-Kunstwerk-Rezipient.9
Mit dem Eintritt in die Postmoderne in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kann eine Renaissance der Avantgarde beobachtet werden. Szabolcsi kommentiert dieses Ereignis im Jahr 1971 auf folgende Weise:
Things that were declared dead thirty years ago have risen from the dead; museum pieces come back to life once more. It certainly indicates that many of the questions the 'first avant-garde' posed have not been properly answered yet, and the problem of the function of art and the artist is far from being satisfactorily solved.1
Diese neue Avantgarde, auch Neo-Avantgarde genannt, kann mit Foster definiert werden als
loose grouping of North American and Western European artists of the 1950s and 1960s who reprised such avant-garde devices of the 1910s and 1920s as collage and assemblage, the readymade and the grid, monochrome painting and constructed sculpture.2
Die Neo-Avantgarde führt die historische Avantgarde nicht einfach weiter. Die Umstände avantgardistischen Schaffens hatten sich seit der historischen Avantgarde drastisch weiterentwickelt. Die Konsum- und Warengesellschaft der Nachkriegszeit hatte die Beziehungen zwischen Künstler, Material und Zuschauer grundlegend verändert.
Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte sich der Kunstmarkt außerdem von Paris nach Amerika verschoben. Ab nun galt es, „d’affirmer que l’art européen était aussi périmé que la vocation historique de l’Europe sur le plan politique. L’art se ferait désormais à New York“3. Die Aufwertung der amerikanischen Neo-Avantgarde als originär, innovativ und ideologiefrei im Gegensatz zur (vermeintlich) ideologiegeladenen und historisch gewordenen Avantgarde der Alten Welt führte zu neuen Wegen in der Avantgardeforschung. Mit zunehmender Distanz (insbesondere auch im Kontext der 68er-Bewegung) zu seiner verheerenden jüngeren Geschichte war eine kritische Aufarbeitung der faschistischen Vergangenheit Europas möglich geworden. Die historische Avantgarde hatte, so empfanden es viele, ihren Teil zur Katastrophe beigetragen. Die Liebäugelei der Futuristen und der Surrealisten mit dem Faschismus bzw. dem Kommunismus und Aussagen wie die Bretons („L’acte surréaliste le plus simple consiste, revolvers aux poings, à descendre dans la rue et à tirer au hasard, tant qu’on peut, dans la foule.“4) hat man der Avantgarde bis heute nicht verziehen. Aufgrund ihrer strukturellen und programmatischen Parallelen (z.B. Gruppencharakter, parteiähnliche Organisation, Disziplin, Aktionismus, doktrinäre Haltung, Hang zu Esoterik, Anti-Positivismus, Mystik und Okkultismus, Gewalttätigkeit und Aggressivität) erhärtete sich der Totalitarismusverdacht gegenüber der historischen Avantgarde. Politisch manifestiert hätten sich ihre totalitären Tendenzen in ihrer Verflechtung mit repressiven Diktaturen wie dem Stalinismus5 oder später mit dem Terror6 der 1960er und 1970er Jahre oder sogar des 11. Septembers 2001. Man darf den totalen Anspruch der historischen Avantgarde (d.h. ihre Intention, das Leben durch die Kunst zu revolutionieren) allerdings nicht mit einem totalitären Anspruch gleichsetzen, denn damit würde man die Avantgarde in ihrem selbstkritischen Moment7 unterschätzen. Die historische Avantgarde wollte die Demokratie nicht abschaffen, sie war sogar auf sie angewiesen.8 Das Europa der zweiten Jahrhunderthälfte, dem die zwei Weltkriege noch im Nacken saßen, stand gesellschaftlichen Ganzheitsentwürfen – wie die Avantgarde sie vorgeschlagen hatte – jedoch misstrauisch gegenüber und stempelte sie als ideologiegeladen und tendenziell gefährlich ab.
Weitaus unverfänglicher erschien dagegen eine Beschäftigung mit bisher marginalen Aspekten der Avantgarde, wie z.B. avantgardistischen Verfahrensweisen, einzelnen Künstlern und Künstlergruppen oder Minderheiten innerhalb der Avantgarde. Auch in Folge des postmodernen Relativismus und Dekonstruktivismus hat sich die Avantgardeforschung somit in verschiedene Teilbereiche ausdifferenziert. Ein Forschungsstrang widmet sich beispielsweise den weiblichen Akteuren der Avantgarde, wie z.B. Claude Cahun, Dora Maar, Germaine Dulac, Hannah Höch oder Sonia Delaunay.9 Frauen waren von der Avantgarde und der Avantgardeforschung bis in die 1970er Jahre vernachlässigt worden. „L’avant-garde, un concept masculin?“10, fragt Bonnet im 2012 erschienenen Sammelband Genres et Avant-Gardes und zeigt, wie sehr die Avantgarde mit der Hegemonie und Valorisierung des Männlichen verknüpft war. Zwar waren Frauen als Objekte in avantgardistischen Schriften stark präsent, als kunstschaffende Subjekte spielten sie aber eine zweitrangige Rolle: sie hatten innerhalb der Avantgarde meist nur eine zuarbeitende Position inne oder waren in weniger prestigeträchtigen Disziplinen wie dem Kunsthandwerk tätig. In ihrer Einleitung zum selben Band bescheinigen Bridet und Tomiche der Avantgarde einen regelrechten „mépris de la femme“ (dieser „mépris“ ging übrigens nicht nur von Männern, sondern auch von Frauen aus, wie Claire Goll11 gezeigt hat) und plädieren gegen eine binäre und essentialistische Mann-Frau-Konzeption der Avantgarde.12 In der Postmoderne geht es also weniger um eine Gesamterfassung des Phänomens Avantgarde, sondern um die Untersuchung von Teilaspekten.
Aus heutiger Sicht sind sowohl die historische als auch die Neo-Avantgarde historisch geworden. Trotz allem wird in der Forschung zwischen den beiden Avantgarden unterschieden. Drei unterschiedliche Perspektiven haben sich in der Beurteilung der Beziehung zwischen historischer und Neo-Avantgarde etabliert: 1. die Neo-Avantgarde als wirkungslose Kopie der historischen Avantgarde (z.B. Gehlen, Enzensberger, Bürger, Kuspit); 2. die Neo-Avantgarde als erfolgreiche Realisierung der avantgardistischen Intentionen (z.B. Foster); 3. die Neo-Avantgarde als neues Paradigma, das mit Moderne und Avantgarde bricht und diese sich einverleibt (z.B. Krauss, Hassan).
Im mit der historischen Avantgarde vertrauten Europa ist die Neo-Avantgarde eher negativ konnotiert als Kopie und uninspirierter Abklatsch ihres historischen Vorgängers. Davon zeugt bereits das Präfix „Neo“, das der Avantgarde nach 1945 ihre Originalität, Kreativität und Radikalität abspricht. Der Soziologe Arnold Gehlen hat in seinem Aufsatz Über kulturelle Kristallisation (1961) erklärt, dass die letzten großen Ereignisse in der Kunst sich um 1910 herausgebildet hätten und die Kunst seitdem in einen Zustand der Kristallisation eingetreten sei, d.h. „denjenigen Zustand […], der eintritt, wenn die darin angelegten Möglichkeiten in ihren grundsätzlichen Beständen alle entwickelt sind.“13 Diese Entwicklung begründet Gehlen damit, dass die verschiedenen gesellschaftlichen Domänen im Zuge der Spezialisierung in ihre Fachbereiche verwiesen worden waren und nun nicht mehr imstande seien, global gültige weltanschauliche Theorien anzubieten. Die Ideengeschichte sei damit abgeschlossen, wir seien im Posthistoire angekommen:
Es ist außerordentlich unwahrscheinlich, daß noch weitere Grundlagenveränderungen im System sind, und deshalb ist der Begriff Avantgardismus eigentlich etwas komisch, er ist überholt. Die Bewegung geht ja gar nicht nach vorwärts, sondern es handelt sich um Anreicherungen und um Ausbau auf der Stelle, wer heute von Avantgardismus spricht, der meint nur Bewegungsfreiheit als Programm, aber die ist ja längst zugestanden.14
Der große Überbau der Wissenschaften und Künste sei ausformuliert und starr, einzig eine Weiterentwicklung im Detail sei noch möglich. Kristallisation bedeutet also Stillstand und Stagnation im Großen, was eine Weiterentwicklung im Kleinen jedoch nicht verhindert. Im Vortrag Erörterung des Avantgardismus in der Bildenden Kunst (1965) erklärt Gehlen, dass diese Weiterentwicklung im Kleinen in der neuen Avantgarde der Nachkriegszeit stattfinde. Während die frühen Avantgardisten noch „Toreöffner in ein unbetretenes Gebiet“ gewesen seien, hätten sich avantgardistische Verhaltensweisen heute im Zuge einer „Ritualisierung“15 stabilisiert und stereotypisiert, die Avantgarde sei zum Establishment geworden und habe ihren revolutionären Gehalt verloren. Enzensberger geht noch härter mit der Neo-Avantgarde ins Gericht: “Jede heutige Avantgarde ist Wiederholung, Betrug oder Selbstbetrug.“16 Er, der auch nicht viel von der historischen Avantgarde hält, gesteht dieser aber immerhin zu, die Verantwortung für ihre Ergebnisse übernommen zu haben. Die Neo-Avantgarde aber wiederhole nicht nur ihren Vorgänger, sie sei nicht einmal mehr bereit dazu, für ihr Tun zu haften. Zu einer ähnlichen Einschätzung der Neo-Avantgarde kommt Bürger. Nachdem die Institution Kunst ihre Widerstandsfähigkeit gegenüber Angriffen auf sie durch die Absorption der historischen Avantgarde bewiesen und damit ihre Grenze zum Leben wieder gezogen hatte, habe die Kunst nach der historischen Avantgarde ihr radikales Potential verloren. Bürgers Fazit fällt eindeutig aus: „Neoavantgardistische Kunst ist autonome Kunst im vollen Sinne des Wortes, und das bedeutet: sie negiert die avantgardistische Intention einer Rückführung der Kunst in die Lebenspraxis.“17 Bürger spricht im Hinblick auf die Neo-Avantgarde von einer falschen Überführung der Kunst in eine spätkapitalistische Gesellschaft, in der die Kunst zwar praktisch geworden sei, aber nicht mehr „Instrument der Emanzipation, sondern der Unterwerfung“18 unter Warenästhetik, Unterhaltung und das Diktat des Konsums. Die Neo-Avantgarde werde so „zur sinnleeren Veranstaltung, die jede mögliche Sinnsetzung zuläßt.“19 Ebenso äußert sich der amerikanische Kunstkritiker Donald Kuspit20, der der Neo-Avantgarde Inhaltsleere, intellektuelle Rhetorik, reinen Unterhaltungswert und Aneignung vorwirft. Im Gegensatz zur historischen Avantgarde, die sich durch ihre therapeutische Heilkraft der tiefsten inneren Bedürfnisse des Menschen angenommen habe, besitze die Neo-Avantgarde keine transformativen Kräfte mehr. Diese Position, die die Neo-Avantgarde als rein ästhetische Kopie der radikalen historischen Avantgarde betrachtet, ist besonders in der europäischen Avantgardeforschung verbreitet.
Dagegen haben Forscher im anglo-amerikanischen Raum die Neo-Avantgarde und Postmoderne gegenüber der historischen Avantgarde aufgewertet. Der amerikanische Kunsthistoriker Hal Foster nimmt mit seiner Idee der „deferred action“21 Abstand von einer linearen Betrachtungsweise der Beziehungen zwischen historischer Avantgarde und Neo-Avantgarde und verwirft Kategorien wie „vorher-nachher“, „Ursache-Wirkung“ und „Ursprung-Wiederholung“. Die Tragweite der Avantgarde könne nie zum Zeitpunkt ihrer Entstehung, sondern immer erst mit zeitlicher Verzögerung erfasst werden. Es sei die Neo-Avantgarde, nicht die nihilistisch-anarchistische historische Avantgarde, die die Institution Kunst zuerst analysiert und kritisiert habe. Damit sei die Neo-Avantgarde „less neo than nachträglich“22. In Opposition zu Bürgers Verdikt über die Neo-Avantgarde findet bei Foster eine Aufwertung der Neo-Avantgarde statt, die das Projekt der historischen Avantgarde nicht gar beendet, sondern zum ersten Mal aufnimmt: „rather than cancel the project of the historical avant-garde, might the neo-avant-garde comprehend it for the first time?“23
Vertreter der Postmoderne gehen noch einen Schritt weiter und gestehen der historischen Avantgarde nicht einmal mehr eine erhebliche Vorleistung in Bezug auf die Entwicklung der Neo-Avantgarde zu. So setzt Rosalind Krauss in ihrem im Jahr 1985 veröffentlichten Essay über die vermeintliche Originalität der Avantgarde den Bruch in der Kunstwelt nicht mit der Moderne/Avantgarde (die sie miteinander gleichsetzt), sondern mit der Postmoderne an.24 Wenn Ihab Hassan der Moderne noch eine gewisse Persistenz zugesteht, so ordnet er die historische Avantgarde endgültig der Geschichte zu: „Once full of brio and bravura, these movements [d.h. die historischen Avantgardebewegungen] have all but vanished now, leaving only their story, at once fugacious and exemplary.“25 Die Postmoderne sei im Vergleich zur historischen Avantgarde „cooler, less cliquish, and far less aversive to the pop, electronic society of which it is a part, and so hospitable to kitsch.“26 Bei Hassan findet eine komplette Aufhebung der historischen Avantgarde in der Postmoderne statt. Auffällig ist, dass sein Kriterienkatalog für die Postmoderne (mit Punkten wie “Play”, “Chance”, Participation”, “Anti-narrative”27, “Fragmentarisierung” und “Performanz”28) nahezu identisch auf die historische Avantgarde übertragen werden könnte.
Eine vermittelnde Position besetzt Hubert van den Berg29, der für die Gleichwertigkeit der beiden Avantgarden eintritt. Er übt Kritik am „Neo“-Präfix, das die Neo-Avantgarde als zweitklassige Kopie der historischen Avantgarde abstempelt. Obwohl sie mittlerweile genauso historisch sei wie ihr Vorgänger, werde der Neo-Avantgarde ihre geschichtliche Relevanz abgesprochen. Um jedes Werturteil auszuschließen, plädiert er dafür, von der Avantgarde vor bzw. der Avantgarde nach dem Zweiten Weltkrieg zu sprechen.
Wie sich die theoretischen Überlegungen zur Avantgarde seit ihrer Entstehung entwickelt haben, soll im Folgenden betrachtet werden.
Die Avantgardeforschung hat sich seit ihrer Entstehung stets weiterentwickelt. Ab der Mitte des 20. Jahrhunderts wurden Studien über die einzelnen Ismen der Avantgarde veröffentlicht (z.B. André Breton et les données fondamentales du surréalisme von Michel Carrouges, Histoire du surréalisme von Maurice Nadeau oder Déjà jadis von Georges Ribemont-Dessaignes), die oft auch von den Avantgardisten oder ihnen nahestehenden Personen selbst verfasst wurden und damit wissenschaftlich nicht ganz unproblematisch sind.
Nachdem die historische Avantgarde ab den 1960er Jahren aufgrund der Studentenproteste und dem Erfolg der Neo-Avantgarde ihr Comeback feierte, konnte sie nun aus dieser zeitlichen Distanz heraus neu beurteilt und verortet werden. Die 1960er und 1970er Jahre sind von der Suche „nach einer Theorie zur Erfassung des künstlerischen Wandels“1 gekennzeichnet, man wollte das Phänomen der Avantgarde auf eine Formel bringen. Die Forschung beschäftigt sich zu dieser Zeit mit Fragen der Begriffsbestimmung, der Charakterisierung und der Entwicklung allgemeingültiger Kriterien für die Avantgarde, außerdem interessiert ihre Beziehung zur Moderne, mit der sie entweder gleichgesetzt oder in Kontrast gestellt wird.
Mit dem Eintritt der westlichen Kunst und Gesellschaft in die Postmoderne ab den 1980er Jahren brach eine neue Epoche an. Nach dem Schock des Zweiten Weltkriegs erschienen Fortschrittsglaube und Absolutheitsanspruch von Moderne und Avantgarde plötzlich obsolet oder sogar gefährlich. Die postmoderne Avantgardekritik löst sich von der Idee, dass die unterschiedlichen avantgardistischen Strömungen mit einer Theorie erklärt oder durch einen Kriterienkatalog näher bestimmt werden können. Stattdessen ist eine Ausdifferenzierung der Forschung in neue Bereiche zu beobachten, sie nimmt sich der Avantgarde nicht mehr als Ganzes an, sondern interessiert sich für identitätspolitische Aspekte der Avantgarde, wie z.B. die Frau, den Nicht-Europäer oder den Greis. Der Fokus verschiebt sich also weg von einer allumfassenden Avantgardekonzeption, die die verschiedenen avantgardistischen Ismen als letztlich doch recht einheitliches Phänomen synthetisiert, hin zu einem Verständnis der Avantgarde als Ansammlung unterschiedlicher Strömungen ohne einheitliche Akteure, Merkmale und Intentionen.
Die Avantgardeforschung hat eine Fülle an Denkfiguren produziert, die im Folgenden skizziert werden sollen. Dabei schließen sich die Figuren nicht gegenseitig aus, häufig ergänzen sie sich oder beleuchten dieselbe Idee aus einer anderen Perspektive. Auch wenn jede Denkfigur auf unterschiedliche Aspekte der Avantgarde eingeht, so ist ihnen allen doch eine bestimmte Positionierung zu Zeit und Raum gemein.
Abb. 1
Schon lang vor dem Einsetzen einer Theoriebildung der Avantgarde hatte der russische Künstler Wassily Kandinsky, ohne den Begriff jemals zu verwenden, mit seiner Schrift Über das Geistige in der Kunst (1911/12) eine Art Avantgardetheorie avant la lettre geliefert, in der er das geistige Leben als ein in verschiedene „Abteilungen“ unterteiltes Dreieck beschreibt. An der Spitze dieses nach oben gerichteten Dreiecks befinde sich der unverstandene und verspottete Künstler-Seher. Die Künstler in den unteren Abteilungen strebten nur nach Erfolg und schafften eine entseelte und rein materielle Kunst, an der das Publikum bald das Interesse verlöre. Es begutachte diese Kunst mit Gleichgültigkeit und Kälte und bleibe leer und hungrig. Mit der Zeit bewege sich das Dreieck aber „langsam nach vor- und aufwärts“1, und die früher Geschmähten und Verlassenen erhielten nun Zuspruch von der Masse. Das Dreieck sei in ständiger Bewegung. Niemals solle sich derjenige an der Spitze in Sicherheit wähnen, an einem endgültigen Endpunkt angekommen zu sein, denn die Spitze des Dreiecks könne nur im Hinblick auf das Dagewesene festgelegt werden: man müsse einsehen, „daß das äußere Prinzip der Kunst nur für die Vergangenheit gelten kann und nie für die Zukunft.“2
Interessant an Kandinskys Dreieck-Theorie ist die Idee der Relativität und Instabilität der Avantgarde, deren Freiheit nie absolut ist.
Abb. 2
Eine der frühsten Auseinandersetzungen mit der Gesamtheit der avantgardistischen Strömungen geschieht in Renato Poggiolis Studie The Theory of the Avant-Garde (1962, englische Übersetzung 1968). Allerdings liefert Poggioli nicht wirklich eine Theorie (Buchloh hat dessen Essay als „hopelessly atheoretical and historically insufficient“1 beschrieben), sondern er geht deskriptiv in seiner Analyse der Avantgarde vor. Mit dem italienischen Literaturkritiker beginnt die in der anglo-amerikanischen Kritik häufig vertretene Rezeption der Avantgarde als Hochphase der Moderne. Er operiert mit einem ausgedehnten Avantgarde-Begriff, der mit der Romantik beginnt und sich in vier Phasen bis zur Gegenwart fortentwickelt.2
Bereits Ende der 1950er Jahre hatte der marxistische Literaturkritiker Georg Lukács die Avantgarde (zu der er Autoren wie Kafka, Joyce, Eliot, Gide und Beckett zählte) als Teil der Moderne betrachtet. Der Verfechter des kritischen Realismus warf der Avantgarde eine antirealistische, nihilistische, dekadente, pathologische und kapitalistische Weltanschauung vor und kritisierte, dass sich Mensch, Welt und Wirklichkeit in ihr auflösten.3 Lukács Überlegungen zur Avantgarde sind heute längst nur noch von historischer Bedeutung und für eine Avantgardetheorie kaum zu gebrauchen, sie zeigen die Avantgarde aber als besonders dekadenten Teil der Moderne und unterstützen damit Poggiolis Idee von der Gleichsetzung von Moderne und Avantgarde.
Die Konzeption der Avantgarde als besonders radikale Ausprägung der Moderne ist insbesondere im englischsprachigen Raum (z.B. bei Krauss, Calinescu4) vertreten und liegt sicher auch darin begründet, dass die historische Avantgarde ein spezifisch europäisches Phänomen war.
Abb. 3
Nachdem die Kategorie des Bruchs unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa zum Tabu1 geworden war, wurde sie gegen Ende der 1960er Jahre wieder bemüht, um eine neue Tradition der Avantgardeforschung einzuleiten, die in Opposition zu Poggiolis Konzeption der Avantgarde als Hochphase der Moderne steht: die Avantgarde als Bruch mit der Moderne. Bereits im Jahr 1959 hatte Ionesco auf einer Konferenz über das Avantgardetheater in Helsinki die Linearität der Avantgarde mit dem Bild des Bruchs in Frage gestellt:
Je préfère définir l’avant-garde en termes d’opposition et de rupture. Tandis que la plupart des écrivains, artistes, penseurs s’imaginent être de leur temps, l’auteur rebelle a conscience d’être contre son temps. […] L’homme d’avant-garde est l’opposant vis-à-vis du système existant.2
Guy Debord hat als einer der ersten diese Wende in der Bewertung der Avantgarde beobachtet. Er glaubte, die moderne Kunst sei mit der Avantgarde an ihr Ende gekommen.3 Jedoch sei die Avantgarde in ihrem Bestreben, die Welt zu verändern aber letztlich doch im Bereich der Kunst verhaftet geblieben. Im Zuge der Bewusstwerdung ihres Scheiterns habe sie sich in eine doktrinäre Haltung zurückgezogen.4 Die Situationisten hätten dagegen die Kunst gerade in der Gleichzeitigkeit von Abschaffung und Realisierung überwunden und damit die avantgardistische Intention erfüllt.5 Sie waren die ersten Avantgarde der Nachkriegszeit, die sich explizit in die Tradition der historischen Avantgarde stellte.
Mit seiner Theorie der Avantgarde (1974) führt Peter Bürger das Konzept des Bruchs schließlich erfolgreich in die Avantgardeforschung ein. Ihm zufolge strebte die Avantgarde eine Überführung der Kunst in eine neue Lebenspraxis an. Voraussetzung dieses Bestrebens war die Trennung zwischen Kunst und Gesellschaft im Ästhetizismus des auslaufenden 19. Jahrhunderts und die daraus resultierende gesellschaftliche Wirkungslosigkeit der Kunst. Die Avantgarde habe die Beziehung zwischen Autonomie und Folgenlosigkeit der Kunst und damit ihre Selbstzweckhaftigkeit im l’art pour l’art erkannt und versucht, „die ästhetische (der Lebenspraxis opponierende) Erfahrung, die der Ästhetizismus herausgebildet hat, ins Praktische zu wenden.“6 Die europäische Avantgarde war damit ein „Angriff auf den Status der Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft“.7 Die Institution Kunst als ein von der Lebenspraxis abgehobenes Phänomen wurde von der Avantgarde kritisiert, womit „das gesellschaftliche Teilsystem Kunst in das Stadium der Selbstkritik“8 eingetreten sei. Zum ersten Mal sei es der Kunst möglich, sich selbst als Institution (d.h. als ein kunstproduzierendes, -distribuierendes und –rezipierendes Gebilde) zu kritisieren und nicht nur den Gehalt und Stil einzelner Werke. Hätte die Avantgarde ihre Intentionen erfüllt, hätte dies zu einem Ende der Kunst geführt.9 Bürger betrachtet die historische Avantgarde jedoch aus drei Gründen als gescheitert an: erstens habe die Kunst nicht in Lebenspraxis überführt werden können, zweitens sei die Avantgarde von der Institution Kunst vereinnahmt, musealisiert und konsekriert worden, drittens könne man angesichts der heutigen Ästhetisierung der Lebenswelt allenfalls von einer falschen Aufhebung der Kunst im Alltag sprechen.10 Jedoch stellt Bürger die Frage, „ob eine Aufhebung des Autonomiestatus [der Kunst] überhaupt wünschenswert sein kann“11, da die Kunst nur in ihrer Distanz zur Lebenspraxis überhaupt kritisch sein könne. Trotz der Immunität der Kunstwelt gegenüber Angriffen der Avantgarde spricht er den avantgardistischen Bewegungen eine wichtige Errungenschaft zu: die Avantgarde habe die Institution Kunst als Institution überhaupt erst erkennbar gemacht und die Kunst von innen heraus verändert, indem sie das organische Kunstwerk zerstört und für die Gleichberechtigung aller künstlerischen Materialien für die Kunst gesorgt habe. Für Bürger geht das Scheitern der Avantgarde Hand in Hand mit ihrem ästhetischen Erfolg:
In retreating to its core domain of aesthetic autonomy, the art institution demonstrates a resistance to the attack of the avant-gardes, yet also adopts avant-garde practices. Seen in this light, the failure of the avant-garde’s aspirations to alter social reality and its internal aesthetic success (the artistic legitimation of avant-garde practices) are two sides of the same coin.12
Im Gegensatz zu Poggioli, für den die Avantgarde eine radikale Ausprägung der Moderne ist, rückt Bürger von einem linearen Avantgardeverständnis ab und konzipiert die Avantgarde als Bruch mit der Moderne. Damit nimmt er eine klare Unterscheidung zwischen Moderne und Avantgarde vor und wertet die Avantgarde als ästhetisch eigenständiges Phänomen mit eigenen Bedingungen, Intentionen und Merkmalen auf. Die Denkfigur der Avantgarde als Bruch ist vor allem in der europäischen Avantgardeforschung verbreitet. So stellte beispielsweise Henri Béhar der Idee einer linearen und progressiven Entwicklung von Kunst und Literatur ein drei- oder sogar vierdimensionales Modell gegenüber, in dem die Avantgarde „trous noirs“ oder „littéruptures“ entspricht, die mit dem Bisherigen brechen und „des moments de désordre absolu, totalement inclassables, difficilement repérables“13 darstellen.
Abb. 4
Aufgrund der Rekuperation, Konsekrierung, Domestizierung und Musealisierung der Avantgarde wurde spätestens ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihr Tod proklamiert. Paul Mann hat in The Theory-Death of the Avant-Garde (1991) den vermeintlichen Widerspruch aufgezeigt zwischen den zahlreichen Für-Tot-Erklärungen der Avantgarde und gleichzeitig einer reichhaltigen Produktion an avantgardistischer Kunst und Avantgardekritik. Ihm zufolge bedeutet der Tod der Avantgarde nicht ihr Ende, sondern koinzidiert vielmehr mit ihrer produktivsten Phase:
The death of the avant-garde is not its termination but its most productive, voluble, self-conscious, and lucrative stage. […] The death of the avant-garde is its theory and the theory of the avant-garde is its death.1
Anstatt der Rekuperation zum Opfer zu fallen, sei die Avantgarde selbst schon ein Prozess ständiger Rekuperation, Assimilation und Absorption innerhalb einer „discursive economy“2, ein Prozess also, der die eigene Widersprüchlichkeit schon mitdenke. Der einzige Ausweg für eine echte Negation sei das Positionieren außerhalb dieses Diskurses, was jedoch ein unmögliches Vorhaben sei. Die Avantgarde wollte sich außerhalb des Systems positionieren, habe aber verkannt, dass es gar kein Außen gibt. Als „the outside of the inside“3 führt die Avantgarde eine liminale Existenz am Rande des Systems, von dem es im Laufe der Zeit vereinnahmt wird. Mit seiner Innen-Außen-Konzeption bringt Mann eine räumliche Komponente ins Spiel, die anhand eines Kreises veranschaulicht werden kann. Die Avantgarde befindet sich am äußeren Rand des Kreises. Eine Positionierung außerhalb des Kreises ist unmöglich, der Kreis kann sich aber ausdehnen und sich das, was einst an seinen Rändern lag, einverleiben.
Ein Jahr später schlägt der Kulturtheoretiker Boris Groys (1992) eine ähnliche Konzeption vor. Für ihn gliedert sich die Welt einerseits in das kulturelle Gedächtnis, das in Bibliotheken, Museen und Archiven aufbewahrt wird, andererseits in den profanen Raum, der aus allem besteht, was wertlos, uninteressant und irrelevant erscheint. Die Grenze zwischen profanem und kulturellem Raum könne nicht ausgelöscht, aber doch verschoben werden. Zwischen dem profanen und dem kulturellen Gegenstand herrsche keine Wesens-, sondern eine Wertdifferenz. Innovation geschehe dann, wenn eine „Umwertung der Werte“4 stattfinde, d.h. wenn das Profane in einem Akt der Valorisierung in den kulturellen Raum oder das Kulturelle in einem Akt der Profanisierung in den profanen Raum übertrete. Mit seiner Konzeption der Innovation als Umwertung der Werte nimmt Groys, ähnlich wie Mann, Abstand von der gängigen Vorstellung des Neuen als etwas, das alle Grenzen überschreitet und noch nie zuvor dagewesen ist. Vielmehr weise das Neue sowohl Merkmale des kulturellen Archivs wie auch des Profanen auf. Groys erteilt damit auch eine Absage an den postmodernen Pluralismus, der eine kulturelle Hierarchie negiert. Ihm zufolge bleiben das Kulturelle und das Profane als zwei voneinander getrennte Bereiche bestehen, und auch wenn die Grenzen zwischen beiden nicht fix sind, kann es nie zu einer Aufhebung kommen. In ihrem Freiheitsdrang habe die Avantgarde das kulturelle Archiv auslöschen wollen, habe letztendlich aber nur das Profane aufgewertet und das kulturelle Archiv erweitert.
Abb. 5
Pierre Bourdieu hat in Les règles de l’art (1992) das Feld der kulturellen Produktion definiert als eine vom sozialen Feld unabhängige Sphäre. Es bestehe aus der großen Kunstproduktion für die Massen sowie aus der Avantgarde, bei der Bourdieu wiederum zwischen der aktuellen und der konsekrierten Avantgarde unterscheidet. Der Grad der Konsekrierung sei eine Frage der Zeit und trenne ganze künstlerische Generationen voneinander.1 Die unterschiedlichen Elemente, die das Feld der kulturellen Produktion ausmachten, verhielten sich zueinander wie in einem
ballet bien réglé où les individus et les groupes dessinent leurs figures, toujours en s’opposant les uns aux autres, tantôt se faisant front, tantôt marchant du même pas, puis se tournant le dos, dans des séparations souvent éclatantes.2
Abb. 6
Mit dem „Projekt Avantgarde“ (1997) stellen Wolfgang Asholt und Walter Fähnders nicht nur, wie Bürger, die Linearität der Avantgarde mit der Vergangenheit, sondern auch ihre Linearität mit der Zukunft in Frage. Ihre Fragmenthaftigkeit verleihe der Avantgarde Projektcharakter. Dabei sei das Fragment nicht etwa Ausdruck einer verloren gegangenen Totalität, sondern ein Vorgriff auf eine zukünftige Totalität. Als eine Art Fragment aus der Zukunft finde das Projekt damit bereits in der Gegenwart eine imaginierte Vollendung, weil es seine künftige Vollendung bereits im Hier und Jetzt antizipiere. Somit sei das „Projekt Avantgarde“ – im Gegensatz zum Habermasschen Moderne-Projekt1, welches auf eine Vollendung in der Zukunft ausgerichtet ist – nicht mehr auf eine spätere Realisierung angewiesen, ihm komme im Gegenteil „als Gesetztes, als Imaginiertes bereits Realität, wenn nicht gar 'Vollendung', zu.“2 Diese „Gegenwartsorientierung“3 ist ein wichtiges Merkmal der Avantgarde, deren Projekt als „Skizze des Zukünftigen“4 im Hier und Jetzt bereits seine Erfüllung findet.
Dank dieser nicht-linearen Sicht wird die Avantgarde vom Vorwurf der Nicht-Einlösung ihres Programms entbunden, und es ist auch überhaupt nicht mehr entscheidend, ob sie ihre Intentionen tatsächlich realisiert hat. Die Avantgarde habe ihrem Projekt demnach nicht einfach „'naiv' gegenübergestanden“5, sie habe sich nicht blauäugig von der Institution Kunst rekuperieren lassen, sondern ihr Scheitern bereits mitgedacht. Dieses Mitdenken der eigenen Aporien bezeichnet Asholt als „avantgardistische Selbstkritik“6, welche die Avantgarde, zumindest punktuell, vor ihrem eigenen Scheitern und ihrer eigenen Vereinnahmung durch die Kulturindustrie bewahrt. Dank ihres selbstkritischen Moments habe die Avantgarde eine Grenzsituation einnehmen können, in der ein gleichzeitiges Produzieren und Negieren von Kunst (so wie Debord es für die Situationisten beansprucht hatte) wenigstens kurzzeitig möglich geworden sei. Was in Manns Konzeption noch unmöglich war, nämlich eine Positionierung außerhalb des Kreises, wird bei Asholt und Fähnders realisiert: in seltenen Momenten habe die Avantgarde „die Institution Kunst und Literatur […] verlassen, um sie von außen kritisieren zu können“7. Das Spannungsverhältnis zwischen diesen Positionen habe sie dabei durchaus realisiert.
Genau dieses Phänomen des plötzlichen Aufblitzens hat Michel Foucault in seiner Préface à la Transgression (1963) als Grenzüberschreitung beschrieben. Ihm zufolge ist das Verhältnis zwischen Transgression und Grenze nicht in oppositionellen Kategorien zu denken, es löst sich vielmehr von dialektisch-binären Einschränkungen und gleicht eher einem
éclair dans la nuit, qui […] donne un être dense et noir à ce qu’elle nie, l’illumine de l’intérieur et de fond en comble, lui doit pourtant sa vive clarté, sa singularité déchirante et dressée, se perd dans cet espace qu’elle signe de sa souveraineté et se tait enfin, ayant donné un nom à l’obscur.8
In dem kurzen, luziden Moment des „éclair dans la nuit“ wird die Grenze aufgehoben. Übertragen auf die Avantgarde könnte man davon sprechen, dass in ihrem utopischen Bestreben, Kunst in Leben zu überführen, ein punktuelles Gelingen dieses Vorhabens aufblitzt. Die Transgression bestätigt gleichzeitig die Existenz sowie die Absenz der Grenze.
Auch wenn die Avantgarde die Grenze nicht dauerhaft überschreiten konnte, ist es doch ihr großes Verdienst, „erstmals diese Grenze unübersehbar in den Mittelpunkt gerückt“9 zu haben. Die Radikalität der Avantgarde werde durch die Nicht-Einlösung ihrer Forderungen in der Zukunft nicht entkräftet, denn die Brisanz einer Utopie liege „nicht im fernen Gefilde, sondern gerade in der Nähe, in der Kritik der Gegenwart, der sie die Alternative aufzeigt.“10
Abb. 7
Das traditionelle Bild der Avantgarde war das einer linearen Bewegung, die sich von einem Zentrum (Europa) nach außen ausgedehnt hat. In Apollinaires L’Esprit Nouveau et les Poëtes wird diese Ansicht deutlich:
La France, détentrice de tout le secret de la civilisation, […] est […] devenue pour la plus grande partie du monde un séminaire de poëtes et d’artistes, qui augmentent chaque jour le patrimoine de sa civilisation. […] Les Français portent la poésie à tous les peuples.1
James Harding (2006) hat diese eurozentrische Auffassung als falsche und ideologiegeladene Einflussthese zurückgewiesen. Er datiert das Emporkommen der Avantgarde auf die kolonialistische Blütezeit, in der “edge-to-center/center-to-edge relationships”2 üblich waren. Er verwirft die lineare und binäre Avantgardekonzeption, die in Kategorien wie „vorher-nachher“, „Europa-Rest der Welt“, „Zentrum-Rand“ denkt. Ihm zufolge ist das Bild der Avantgarde als „cutting edge“, die in den leeren Raum hineinragt, obsolet. Die Avantgarde sei kein hegemonisches und homogenes Konstrukt mit Zentrum in Europa, von dem aus sie sich in die nicht-europäische Welt verbreitet habe.
Stattdessen schlägt Harding ein transnationales, nicht-lineares und dezentriertes „rough edges“-Avantgardekonzept vor, „whose territorial coordinates were always already heterogeneous, dispersed, and diversely located in moments of contestation.“3 Die Ecken und Kanten ragten ineinander über und löschten sich gegenseitig aus, ihre Friktion produziere avantgardistische Aktivität. Dieses heterogene und geographisch zersplitterte Modell erkläre auch die Simultaneität von avantgardistischen Praktiken innerhalb und außerhalb von Europa. Damit bricht Harding mit der traditionellen Idee von der Avantgarde als einem überwiegend eurozentrischen, weißen und männlichen Phänomen. Der Gedanke wird später von Listengarten und Knopf aufgegriffen, die in ihrer Anthologie des Avantgardetheaters davon ausgehen, dass
the relationship among the avant-garde(s) and the mainstream(s) are never simple or stable. They reveal multiple tensions between negation and appropriation, resistance and acceptance, rebellion and compromise4.
Abb. 8
Eine Avantgardefigur ist besonders bei Theaterschaffenden verbreitet: die der Avantgarde als Rückkehr in eine längst verlorene Vergangenheit. Ionesco zufolge bricht der Avantgardekünstler zwar mit der Gegenwart und der nahen Vergangenheit, doch er „essaie de rejoindre, en la modernisant, une tradition vivante, qui s’est perdue“ und betreibt „une véritable tentative de retour aux sources“. Die Avantgarde mit ihrem „refus du traditionalisme pour retrouver la tradition“1 schlägt also einen Bogen in eine ferne Vergangenheit und versucht, eine längst vergessene Wahrheit wieder in das Hier und Jetzt zu integrieren.
Auf ähnliche Weise hat der Theatermacher Richard Schechner diesen „back-to-the-roots“-Gedanken der Avantgarde aufgegriffen: „The avant-garde is the most radical (= to the roots) version of the traditional.“2
Auch Benay sah im Avantgardetheater der Nachkriegszeit nicht nur den Versuch, ein sklerosiertes, realistisch-psychologisches Theater zu reformieren, sondern vor allem die Suche nach fundamentalen Theatergesetzen, die an das glorreiche Theater der Vergangenheit (das griechische Theater, Shakespeare, Racine, Pascal, La Fontaine, Molière) anknüpften. Er spricht deshalb vom neuen Klassizismus des Avantgardetheaters:
Qu’est-ce donc que l’avant-garde? Avec Ionesco on est en droit de répondre qu’elle n’existe pas. Car, en effet, toute bonne avant-garde est celle qui, en dernier lieu, se laisse intégrer dans la grande tradition théâtrale, c’est-à-dire le classicisme qui est liberté de même qu’éternel rajeunissement des formes et constante valorisation des vérités permanentes.3
Abb. 9
Michael Pfeiffer denkt die Avantgarde als „Phänomen von Epochenschwellen“1, das in historischen Umbruchsituationen greife, wo Vergangenheit und Zukunft besonders stark auseinanderklafften und einen Hohlraum ließen für avantgardistische Aktivität. In diesem Hohlraum übten die avantgardistischen Autoren den Spagat zwischen Vergangenheit und Zukunft, könnten sich aber nicht langfristig in dieser anstrengenden Tanzfigur halten, weshalb die Avantgarde stets nur von kurzer Dauer sei.
Abb. 10
Didier Plassard hat ein weiteres zeitliches Avantgardemodell vorgeschlagen. Er beschreibt die historische Avantgarde als „des cellules d’histoire rapide à l’intérieur de l’histoire plus lente des modes de perception et de production artistiques.“1 Mit diesem Bild schafft er es, den Widerspruch einer Avantgarde, die einerseits ihrer Zeit voraus ist, andererseits aber ein Produkt ihrer Zeit ist und auf diese reagiert, aufzulösen.
Die Denkfiguren der Avantgarde sind zahlreich. Allen gemeinsam ist eine zeitliche und/oder räumliche Vorstellung von der avantgardistischen Aktivität. Man muss die unterschiedlichen Avantgardekonzeptionen – wie van den Berg2 es für Bürgers Theorie getan hat – als „Scheinwerfermodelle“ verstehen, die ihr Objekt nur einseitig erhellen und ringsum Vieles im Dunkeln lassen oder verzerrt darstellen. Doch wenn jede Figur wie ein Scheinwerfer auf die Avantgarde fällt, dann gelingt es vielen Scheinwerfern, ihr Objekt so gut und präzise wie möglich auszuleuchten. So muss man auch die Denkfiguren verstehen: nicht etwa als miteinander konkurrierende Theorien, sondern als sich gegenseitig ergänzende und erweiternde Erklärungsversuche.
Die meisten Avantgardetheorien haben das Theater ausgeklammert, weshalb der Avantgardeforschung ein „anti-performance bias“1 bzw. ein „antiperformative bias“2 vorgeworfen wurde. Zwar findet bereits ab den 1960er Jahren eine Beschäftigung mit einzelnen Strömungen des Avantgardetheaters statt, doch erst ab den 2000er Jahren wird das Avantgardetheater auch in einem avantgardetheoretischen Kontext untersucht. Diese späte Zuwendung mag überraschen, wenn man bedenkt, dass Avantgarde und Theater viele Verbindungslinien aufweisen: man muss „the avant-garde gesture as first and foremost a performative act“3 denken.