Verliebt und zugenäht! - Susanne Becker - E-Book

Verliebt und zugenäht! E-Book

Susanne Becker

4,4
3,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Erst das Happy End, dann das Glück

Emma ist Ende zwanzig, Schneiderin und bisher vergeblich auf der Suche nach dem großen Glück. Wie dieses aussehen soll, weiß sie ganz genau: wie in den Liebesfilmen, die sie sich immer dann ansieht, wenn es das Schicksal mit ihr wieder einmal nicht so gut meint. Doch dann steht plötzlich Jo vor ihr. Und jetzt? Einfach zum Happy End vorspulen kann man im wahren Leben bekanntlich nicht. Da muss Emma wohl zu anderen Mitteln greifen…

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 379

Veröffentlichungsjahr: 2013

Bewertungen
4,4 (16 Bewertungen)
8
6
2
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Über das Buch

Emma ist mit Ende zwanzig auf der Suche nach dem großen Glück. In ihrem Beruf als Schneiderin macht ihr eine strenge Chefin täglich das Leben schwer, und privat wartet sie auch schon allzu lange vergeblich auf die große Liebe. Dabei hat Emma eine ganz genaue Vorstellung davon, wie ihr Glück aussehen soll, denn als Fan romantischer Komödien liebt sie es, die Happy Ends von Liebesfilmen anzusehen und sich in die großen Gefühle von »Pretty Woman« und Co. hineinzuträumen. Doch als ihr eigener Traummann plötzlich vor ihr steht, ist sie so gar nicht vorbereitet. Zwar ist es Liebe auf den ersten Blick, aber sonst ist gar nichts wie im Film – obwohl Emma irrtümlicherweise im Hochzeitskleid am Set einer Fernsehserie gelandet ist. Als sie nicht daran denkt, den Irrtum aufzuklären, und von Regisseur Jo für eine der Schauspielerinnen gehalten wird, beginnt eine Serie turbulenter Verwicklungen, bei der Emma bald selbst nicht mehr weiß, welche Rolle sie spielt und wofür ihr Herz wirklich schlägt: Für die Schauspielerei oder doch für das Schneidern? – Auf jeden Fall für Jo! Doch dann taucht ein Mann in Emmas Leben auf, der ihre Gefühle erst recht durcheinanderwirbelt …

Über die Autorin

Susanne Becker, 1974 in Landshut geboren, studierte Germanistik und Kommunikationswissenschaft. Heute arbeitet sie als Requisiteurin für Film und Fernsehen. Susanne Becker lebt in München. Nach Dann gute Nacht, Marie! ist Verliebt und zugenäht! ihr zweiter Roman.

SUSANNE BECKER

Verliebt und zugenäht!

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Originalausgabe 04/2013

Copyright © 2013 by Diana Verlag, München, in der Verlagsgruppe

Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Redaktion | Uta Rupprecht

Covergestaltung | t.mutzenbach design, München

Covermotiv | © shutterstock

Satz | Christine Roithner Verlagsservice, Breitenaich

Alle Rechte vorbehalten

ISBN: 978-3-641-08676-3V003

www.diana-verlag.de

Für meine Mutter

Parole »Schlaflos in Seattle«

1

Manchmal zeigt sich das Leben

von seiner härtesten Seite,

doch minütlich grüßt das Happy End …

Wohnung Emma

Innen/Nacht

Julia Roberts sah freudestrahlend aus dem Fenster auf die Straße, Emma hingegen schniefte traurig. Und dass Richard Gere kurz darauf zu den Klängen von »La Traviata« durch das Dach seiner Limousine kletterte und mit einem Rosenstrauß zwischen den Zähnen die Feuerleiter zu seiner Liebsten erklomm, konnte sie durch den Tränenschleier kaum noch erkennen. Als Edward und Vivian sich schließlich in luftiger Höhe gegenüberstanden, schnäuzte sie sich geräuschvoll.

»Und was passiert, nachdem der Prinz die Prinzessin aus dem Turm gerettet hat?«, fragte Richard Gere Julia Roberts, und Emma kannte deren Antwort seit ziemlich genau fünfzehn Jahren.

»Die Prinzessin rettet daraufhin sein Leben.«

Gab es ein schöneres Happy End für eine Liebesgeschichte als das aus dem Kinofilm Pretty Woman? Nun, vielleicht höchstens noch den Schluss des Streifens Notting Hill, der um einiges jünger, aber deswegen nicht weniger romantisch war.

Emma wischte sich mit dem fein bestickten Taschentüchlein ihrer Großmutter über die Augen – unzählige Male schon hatte es Emmas Herzschmerz-Tränen getrocknet. Dann wechselte sie die DVD und spulte vor, bis auf dem Display exakt 1.35.40 angezeigt wurde.

Genau in diesem Moment sagte Anna zu William: »Ich müsste heute wieder abreisen, aber ich dachte, wenn ich es nicht tue, würdest du vielleicht nichts dagegen haben, wenn wir uns ab und zu sehen? Oder auch ein paar Mal öfter. Ich dachte, vielleicht hättest du mich wieder gern.« Seine ablehnende Antwort ließ zunächst keine Chance auf ein glückliches Ende vermuten, was Emma erneut die Tränen in die Augen trieb.

Zu oft schon hatte sie selbst ähnliche Situationen erlebt. Zu oft war sie von Männern, für die sie geschwärmt hatte, rüde zurückgewiesen worden. Und zu oft schon hatte es in ihrem Leben so gar nicht nach einem Happy End ausgesehen – und das, obwohl sie erst achtundzwanzig war. Vielleicht sah sie deshalb besonders gerne die letzten Minuten ihrer allerliebsten Liebesfilme in Endlosschleife. Um zu vergessen, dass das eigene Happy End schon seit sehr langer Zeit auf sich warten ließ. Vor ziemlich genau einem Jahr war die letzte dieser Zwei-Monats-Beziehungen in die Brüche gegangen, von denen sie in der Hoffnung auf den Mann ihres Lebens schon viel zu viele hinter sich gebracht hatte. Und seitdem herrschte absolute Funkstille.

Wie gern wäre sie einmal einem Mann begegnet, der wirklich etwas Besonderes war. Und der vor allem auch das Besondere an ihr erkannte. Nun gut, solche Männer gab es nicht wie Sand am Meer, aber einen einzigen hätte das Schicksal ihr nach all den Jahren so langsam mal liefern können. Gut aussehen sollte er schon … Kreativ und selbstbewusst sollte er sein. Kein Jüngelchen, sondern ein richtiger Mann.

Auf dem Fernsehbildschirm hauchte nun Anna Scott alias Julia Roberts: »Vergiss nicht: Ich bin doch nur ein Mädchen, das vor einem Jungen steht und ihn bittet, es zu lieben.« Sie sah dabei richtig klein und hilflos aus. So wie Emma sich fühlte, nachdem ihr die Chefin heute Nachmittag mal wieder eine Standpauke gehalten hatte. Ein Häufchen Elend in Rock und Strickjäckchen und mit Handtasche.

Die Kolleginnen hätten sich von den Vorwürfen der Atelierinhaberin vielleicht nicht jedes Mal so deprimieren lassen. Doch Emma hatte von allen Mitarbeiterinnen bei Weitem die meisten Probleme mit Frau Stich. Was vermutlich auch daran lag, dass ihre Eigeninitiative der Chefin von Anfang an ein Dorn im Auge gewesen war. Als sie nach der Gesellenprüfung die Stelle im Atelier »Kreuzstich« antrat, stellte sich sehr bald heraus, dass Meisterin und Angestellte sehr unterschiedliche Auffassungen von Zusammenarbeit vertraten. Emmas Vorschläge zur Veränderung und Weiterentwicklung eingeführter Schnittmuster blockte die Chefin grundsätzlich ab, ohne auch nur eine Minute zuzuhören. Stattdessen teilte sie ihr nach und nach immer öfter die unbeliebten oder unkreativen Arbeiten zu, um bloß keine noch so kleine neuartige Idee in Emmas Kopf entstehen zu lassen.

Vor Emmas innerem Auge tauchte jetzt Frau Stichs akkurat geschminktes, ernstes Gesicht mit dem strengen Haarknoten auf, und in den Ohren klang ihr erneut die unerbittliche Stimme, die sie so gut wie nie lobte, sondern immer nur zur Ordnung rief.

»Sie blockieren die Overlock ja regelrecht«, hatte sie ihr heute vorgeworfen, als sie zum Nähteversäubern an dieser speziellen Maschine saß. »Wenn Sie das Gerät nicht schnell wieder freigeben, können Ihre Kolleginnen nicht zügig weiterarbeiten.« Dass es durch solche Tiraden noch nie schneller gegangen war, kapierte sie offensichtlich nicht.

Im Gegenteil, als würde sie die Arbeit ihrer Angestellten heimlich mitstoppen, erklärte sie Emma: »Sie brauchen an der Overlock etwa eineinhalb Mal länger als die anderen!« Das war zwar vielleicht nicht ganz aus der Luft gegriffen, aber das Einfädeln fiel bei dieser Maschine so gut wie jeder Schneiderin ziemlich schwer und war daher allseits verhasst. Was dazu führte, dass alle – und nicht nur Emma – an der Overlock mit größter Sorgfalt und deshalb langsamer arbeiteten, um ja nicht zu riskieren, dass auch nur ein Mal der Faden riss.

»Wenn sich Mister Thacker nun bewusst gemacht hätte, dass er ein Schlappschwanz war, und Sie auf Knien kriechend bitten würde, es sich noch einmal zu überlegen? Würden Sie dann Ihre Meinung ändern?«, fragte Hugh Grant im selben Moment vorsichtig dazwischen. In Emmas Kopf wurde seine Liebeserklärung jedoch übertönt von schrillen Vorwürfen und Ermahnungen, die dröhnend gegen ihre Schläfen pochten: »Flott, flott«, »rascher«, »zügig voran« – Frau Stich schien über einen riesigen Karteikasten mit Vokabeln zum Thema Schnelligkeit zu verfügen, aus dem sie tagtäglich schöpfte.

»Für immer«, antwortete Julia Roberts gerade sanft und glücklich lächelnd auf die finale Frage, wie lange sie in England bleibe. Doch Emma hörte in diesen Worten einzig und allein die Ankündigung einer lebenslangen Knechtschaft. Die Vorstellung, ihre Tage bis zur Pensionierung wehrlos in den Fängen dieser Peinigerin zu fristen, ließ sie erneut in Tränen ausbrechen. Sie sah die dünnen Spinnenfinger der Chefin mit den perfekt lackierten Fingernägeln vor sich und hatte das Gefühl, bereits jetzt unlösbar in den klebrigen Fäden ihres Netzes verfangen und dem Tode geweiht zu sein.

Was hatte sie sich nach dem Abitur alles erträumt! Schneiderin wollte sie werden. Nun ja, das hatte sie geschafft. Aber eigentlich wollte sie danach Modedesign studieren, um irgendwann einmal selbst die schönsten Kleider zu entwerfen. Und was war daraus geworden? Nichts. Stattdessen ließ sie sich jetzt schon seit sechs Jahren von der Stichsäge knechten, ohne auch nur einen einzigen Schritt in Richtung ihres eigentlichen Ziels weitergekommen zu sein.

Sie vergrub das Gesicht im geblümten Stoff eines ihrer selbst genähten Kissen auf dem Bett. Beinahe hätte sie dadurch verpasst, wie William Thacker der hochschwangeren Anna Scott auf der alles entscheidenden Bank im Park ein letztes Mal vorlas, während die Kamera die beiden zu den Klängen von Elvis Costellos »She« sanft umrundete. Und das wäre wirklich schade gewesen, da doch genau diese Sequenz Emmas absolutes Lieblings-Happy-End war. Trotzdem war nach den überaus unerfreulichen Ereignissen des heutigen Tages noch ein weiteres vonnöten.

Emma warf einen Blick auf die unbekleidete Schneiderbüste neben ihrem Nähtischchen und fühlte sich ähnlich nackt. Kein Traummann, kein Traumberuf, kein Traumleben. Da konnte einem schon mal zum Heulen zumute sein.

Sie legte Manhattan Love Story ein und startete den Film bei genau 1.20.10 mit dem äußerst passenden Ausspruch: »Was wir machen, definiert nicht, wer wir sind. Uns definiert, wie gut wir uns hochrappeln, wenn wir gefallen sind.« Erst dieser Satz von Bob Hoskins gab Emma die nötige Zuversicht, um am nächsten Tag der Chefin erneut unter die Augen treten zu können.

Sie schniefte ein letztes Mal. Es hatte wieder einmal geholfen. In Ordnung, sie würde sich nicht kleinkriegen lassen. Bob alias Lionel hatte recht. Und vielleicht würde auch sie irgendwann für ihre Ausdauer belohnt, so wie Marisa alias Jennifer Lopez, die immerhin nach weiteren fünfzehn Minuten den zukünftigen Senator Christopher bekommen sollte.

Und am Ende des Films wurde Marisa auch noch der Weg zu einer beruflichen Karriere geebnet. Vielleicht würde sie selbst das auch noch irgendwann schaffen. Eine richtige Karriere musste vielleicht gar nicht sein. Aber selbstständiges Arbeiten, eventuell sogar das Entwerfen eigener Kreationen wäre für die absehbare Zukunft schon wünschenswert. Ein zumindest versöhnlicher Abschluss für den ziemlich verkorksten Tag, dachte Emma noch, bevor sie sich in ihre Kissen kuschelte und einschlief.

Der erste Blick in den Spiegel am nächsten Morgen war weniger erfreulich. Emmas geschwollene Lider sahen aus wie kleine rosafarbene Raupen, die ihre geröteten Augen umrahmten. Und die Tränensäcke schienen zeigen zu wollen, dass sie für den nächsten Traueranfall schon jetzt genügend Flüssigkeit gesammelt hatten. Sich in den Schlaf zu weinen konnte zwar sehr befreiend wirken, hatte aber offensichtlich äußerst unschöne Spätfolgen. Da halfen auf die Schnelle weder eiskaltes Wasser noch Fettcreme.

Obwohl Emma verzweifelt eine halbe Stunde lang mit allen vorhandenen Mitteln versucht hatte, die scheußlichen Raupen aus ihrem sonst so ebenmäßigen Gesicht zu vertreiben, sah sie ihr Spiegelbild noch immer ungläubig an. Ihre Haut wirkte nun, nach ausführlichem Gerubbel, noch durchscheinender als sonst. Die Tierchen jedoch saßen weiterhin unterhalb der Augenbrauen, als wären sie dort festgetackert. Schön war das nicht. Aber Emma hatte schließlich keinen Modeljob, bei dem man makellos zur Arbeit erscheinen musste – und sogar Mannequins konnten sich im Zeitalter von Photoshop & Co. geringfügige Schönheitsfehler leisten. Nein, auf Äußerlichkeiten legte Frau Stich bei ihren Angestellten wirklich keinerlei Wert. Immerhin.

Trotzdem nahm Emma, als sie kurz darauf die Wohnung verließ, außer den kleinen Raupen auch noch eine Sonnenbrille mit. Draußen blies ein eiskalter Aprilwind, der sich auf ihrer noch etwas müden Haut angenehm belebend anfühlte. Vielleicht vertrieb die frische Luft, die im Gesicht fast ein wenig prickelte, auf dem Weg zur Arbeit nicht nur die geschwollenen Lider und Tränensäcke, sondern auch alle negativen Gedanken. Emma wusste aus Erfahrung, dass die morgendliche halbe Stunde auf dem Fahrrad in dieser Hinsicht Wunder wirken konnte, und trat beherzt in die Pedale.

Über den Bäumen des Englischen Gartens zeigte sich langsam die Sonne, was die Münchner Stadtvögel mit einem begeisterten Morgenkanon bejubelten. »Tirili, tirila, nimm dir ein Beispiel an uns«, schienen sie ihr von allen Seiten zuzurufen, »flieg davon!« Und am liebsten hätte Emma die Arbeit Arbeit sein lassen und wäre zu einer kleinen Radtour aufgebrochen. Ein Duft von Ulmen- und Eschenblüten, der ihr seit der Kindheit wohlvertraut war, lag süß und schwer in der Luft und weckte eine unbestimmte Sehnsucht nach Freiheit.

Wer wollte sie aufhalten, wenn sie einmal nicht der Pflicht, sondern einzig und allein ihrem Gefühl folgte? Wie weit würde sie wohl kommen, bevor die Nacht oder zumindest unvermeidliche Skrupel einsetzten? Frei und ungezwungen sämtliche Grenzen zu überschreiten, um schließlich erschöpft, aber glücklich im Irgendwo zu landen …

In Schwabing wäre sie ganz in Gedanken fast am Atelier vorbeigefahren, doch jetzt konnte sie leider noch nicht alles hinter sich lassen. Wann es allerdings so weit sein würde, wusste sie selbst nicht. Im Moment genügte es ihr vollkommen, ab und zu davon zu träumen. Emma schob den Bügel ihres Fahrradschlosses zwischen die Speichen des Hinterrads und drehte sorgsam den Schlüssel um. Dann betrat sie den Verkaufsraum des eher unscheinbaren Ladens und ging sofort weiter in die Werkstatt. Die Kolleginnen waren bereits da, Emma wieder einmal die letzte.

»So wie du aussiehst, kommst du gerade aus einer ganz anderen Welt«, sagte Mona lachend und konnte natürlich nicht wissen, wie recht sie damit hatte. »Bei mir jedenfalls hat heute früh nicht mal ansatzweise die Sonne geschienen.«

Emma hatte keine Ahnung, was Mona damit sagen wollte. Sie zog es vor, nur mit »Guten Morgen« zu antworten.

»Verdammt dunkel hier, oder?« Auch Azubi Jasmin grinste und trat mit ihrer Kaffeetasse zu den beiden anderen.

»Nun komm schon, nimm das Ding ab«, verlangte Mona und streckte die Hand nach Emmas Gesicht aus, »man könnte ja fast meinen, du versteckst ein blaues Auge.«

Das nicht, aber zwei dicke, glasige rosa Raupen, hätte Emma am liebsten geantwortet, ließ es aber lieber. Die anderen hielten sie sowieso schon für etwas seltsam, sie mussten nicht wissen, dass sie wegen einer einzigen Standpauke wieder einmal einen ganzen Abend geheult hatte – mit tatkräftiger Unterstützung mehrerer romantischer Kino-Happy-Ends. Emma kam das jetzt selbst idiotisch vor.

Manchmal wäre sie gern ein bisschen wie die anderen gewesen. Nicht so verträumt, nicht so sensibel, dafür selbstbewusster und souveräner. Mona wurde von der Stichsäge nie aus der Bahn geworfen, da konnte die noch so sehr schimpfen. Und Jasmin tat widerspruchslos alles, was angeordnet wurde. Auf diese Weise eckte sie bei der Chefin nie an. War das besser?

Emma nahm die Brille ab und hatte im ersten Moment wirklich das Gefühl, vom gleißenden Tageslicht in der Werkstatt geblendet zu werden.

»Na bitte«, stellte Mona fest, und Emma erwartete spöttische Blicke oder Bemerkungen, wenn nicht sogar schallendes Gelächter, »nichts zu sehen. An die Arbeit, Mädels!« Leicht enttäuscht drehten sich die Kolleginnen um und setzten sich an ihre Nähmaschinen. Schon bald hörte man Rattern aus jeder Ecke des Raumes, so als hätte man eine ganze Armee von Aufziehmännchen gleichzeitig losgelassen.

Emma befühlte vorsichtig ihre Augenlider, konnte jedoch mit den Fingerkuppen keine Veränderung feststellen. Egal. Hauptsache, die anderen hatten keinen Verdacht geschöpft. Gerade wollte sie sich an ihre gestern begonnene Arbeit machen, da kam die Chefin hektisch in die Werkstatt gerauscht.

»Das ist mal wieder typisch«, keifte sie los und stemmte herrisch die Arme in die Hüften, »alle arbeiten, nur unser Fräulein Jacobi starrt Löcher in die Luft!«

Emma wusste, dass es keinen Sinn hatte zu widersprechen. In der Werkstatt war es jetzt so still, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören. Falls eine von ihnen es überhaupt gewagt hätte, eine fallen zu lassen. Kein Rattern mehr, kein Flüstern, nichts. Diesen Tonfall kannten sie alle nur zu gut. Emma zog den Kopf ein und erwartete die nächste Standpauke.

»Das trifft sich gut«, hörte sie stattdessen und wäre vor Überraschung beinahe aus den hübschen altmodischen Schnürschuhen gekippt. »Gerade hat mich die Kostümchefin dieser Rathaus-Serie angerufen. Wie hieß sie noch gleich?«

»Die Chefin?« Emma hatte keine Ahnung, woher sie das wissen sollte.

»Papperlapapp. Die Fernsehserie natürlich!«

»Meinen Sie ›Amtliche Gefühle‹?«

»Richtig«, bestätigte Frau Stich wie bei einer Prüfungsaufgabe und rollte dabei das »R« wie eine ihrer Nähmaschinen. »Sie fahren hin und liefern das fertige Hochzeitskleid!« Dabei tippte sie Emma mit ihrem knochigen, langen Zeigefinger auf die Brust.

Die spürte, wie ihr alle Farbe aus dem Gesicht wich. Spätestens waren jetzt beide Raupen an Durchblutungsstörungen zugrunde gegangen. Sicher bereitete es kein Vergnügen, den ganzen Tag mit einer Tyrannin im Nacken seine Arbeit zu verrichten. Aber mit deren Wagen ein sündhaft teures Modellkleid durch den Münchner Verkehrsdschungel zu kutschieren war noch um einiges unangenehmer.

»Jetzt machen Sie schon! Die Sache duldet keinen Aufschub. Es eilt!« Auch das noch. Emma erwog kurz sämtliche Fluchtmöglichkeiten nebst Ohnmachtsanfall und Hals- oder Beinbruch. Dass Ausreden in dieser Situation jedoch nicht zogen, war von vornherein klar.

»Sie bringen hier in der Werkstatt am allerwenigsten. Da können Sie sich besser draußen nützlich machen.« Damit verließ Frau Stich geschäftig den Raum, um schon einmal das bereits verpackte Kleid ins Auto zu legen. Emma wusste genau, dass die Chefin sie lediglich loswerden wollte, um sich nicht schon wieder mit Emmas Ideen oder Änderungsvorschlägen auseinandersetzen zu müssen. Doch das konnte sie ihr ja schlecht auf den Kopf zusagen.

»Heute meint’s die Stichsäge aber besonders gut mit dir«, flüsterte Jasmin etwas neidisch, sobald die Luft rein war. Außer Emma hätte sich vermutlich jede der Kolleginnen gefreut, auf derart elegante Weise der im doppelten Sinn dicken Luft im Atelier für eine Stunde oder mehr zu entkommen.

»Dann fahr doch du. Ich hab nichts dagegen«, erwiderte Emma.

»Hast ja gehört – damit kommst du nicht durch.«

»Jetzt freu dich halt, dass du raus darfst«, sagte Mona aufmunternd, »mindestens eine Stunde ohne Stichsäge. Das ist schon was, oder etwa nicht?«

»Vielleicht lernst du ja sogar einen von den Schauspielern kennen!« Beim Gedanken daran glänzten Jasmins Augen wie der goldene Knauf der Ateliertür, nachdem sie ihn unter den strengen Augen der Chefin blank poliert hatte.

»Wenn Sie noch länger hier sinnlos rumstehen, wäre das Kleid sogar per Post schneller dort!«, unterbrach Frau Stichs keifende Stimme die Unterhaltung. Sie drückte Emma energisch die Autoschlüssel in die Hand und kommandierte: »Bavaria-Filmgelände, Halle drei, Kostümabteilung, zu Händen Teresa Schubert! Und vorsichtig! Danach sofort zurück! Verstanden?«

Emma nickte stumm und ergriff die Flucht, bevor die Chefin weitere Anweisungen ausstoßen konnte. Im Auto ließ die Anspannung allmählich nach, und sie begann sich über den unverhofften Ausflug in die Filmwelt, die sie so sehr liebte, zu freuen. Wer wusste denn, ob sie auf der Suche nach dieser Frau Schubert aus der Kostümabteilung nicht wirklich einem Schauspieler über den Weg lief?

Emma erschrak. Wie sah sie denn überhaupt aus? Ausgerechnet an einem »Raupen-Tag« bestand die Möglichkeit, dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben einem Filmstar begegnete. Sie versuchte, im Rückspiegel zu überprüfen, ob ihre Lider noch so unvorteilhaft geschwollen waren, und fuhr dabei, ohne es zu bemerken, immer langsamer. Sofort setzte hinter dem Wagen mit der Aufschrift »Atelier Kreuzstich«, der sich nun fast im Schritttempo die Grünwalder Straße entlang bewegte, ein ohrenbetäubendes Hupkonzert ein.

Da Emma mit dem Zustand ihrer Augen einigermaßen zufrieden war, gab sie wieder Gas. Trödeln konnte sie immer noch, wenn sie »ihm«, wer auch immer es war, erst gegenüberstand. Sie überlegte, welche bekannten Darsteller in »Amtliche Gefühle« mitspielten, aber ihr fiel keiner ein. Sie guckte einfach viel lieber Kinofilme als Serien. Dann würde sie sich wohl oder übel überraschen lassen müssen – und hoffen, dass sie ihn auch tatsächlich erkannte. Immerhin würde es ganz ausgezeichnet in ihre Kinoträume passen, wenn sie einen richtigen Star kennenlernte. Vielleicht wurde irgendwann sogar mehr daraus? Marisa und William hatten das schließlich auch geschafft.

An der Pforte des Bavaria-Filmgeländes erkundigte sie sich nach dem Weg zum Studio drei, in dem die tägliche Fernsehserie »Amtliche Gefühle« gedreht wurde. Ein ziemlich bescheuerter Titel, wie Emma fand, doch darum ging es jetzt nicht. Zunächst einmal war sie froh, dass sowohl Firmenwagen als auch Hochzeitskleid heil an ihrem Bestimmungsort angekommen waren. Damit war sie schon so gut wie aus dem Schneider – dachte sie.

Emma parkte das Auto und nahm entschlossen den Kleidersack mit dem Hochzeitskleid heraus. Doch schon nach wenigen Schritten blieb sie ehrfürchtig vor der riesigen Halle stehen, in die sie eigentlich schleunigst hineingehen sollte. Kahl und mächtig ragte die Wand des Studios vor ihr auf, fast schwindelerregend hoch, und Emma fühlte sich unwillkürlich an die Burg erinnert, auf der Rapunzel im Märchen gefangen gehalten wird. Es gab weder Fenster noch Türen, damit auch nicht der kleinste Lichtstrahl ins Innere fiel. Lediglich über ein mannshohes schweres Eisentor hätte man sich eventuell Zutritt verschaffen können, doch das war mit einem gewaltigen Riegel fest verschlossen. Und das Metallgestänge an der Außenseite verstärkte den Eindruck eines Hochsicherheitsgefängnisses noch.

Eingeschüchtert betrat Emma den Büroflur neben dem abschreckend wirkenden Koloss. Mit einem Blick erfasste sie ihr tragisches Dilemma: Kein einziger Schauspieler, nicht einmal eine Schauspielerin war zu sehen. Genau genommen weit und breit keine Menschenseele, also auch niemand, den man nach Frau Schubert, der Kostümdame, hätte fragen können. Emma blieb im Eingangsbereich stehen und blickte ratlos den leeren Gang entlang. Er wurde nur von dem durch die Tore an beiden Enden einfallenden Tageslicht erhellt, was ihn geradezu unheimlich wirken ließ.

Da öffnete sich plötzlich eine schwere Eisentür auf der linken Seite, ein junger Mann sprang heraus und hechtete gegenüber in eines der Büros. Emma hätte ihn gerne gefragt, wo sie anklopfen sollte, um ihre kostbare Fracht loszuwerden, doch da hatte er bereits die Tür hinter sich zugezogen. Und schon gingen mehrere rote Lampen an Wänden und Decke an, was nach höchster Alarmstufe aussah. Es machte die Atmosphäre nicht gerade anheimelnder.

Als sich einige Minuten später immer noch niemand ihrer erbarmt hatte, wagte Emma es notgedrungen, selbst einen Schritt zu machen. Sie kam sich vor, als wollte sie unbefugt das Allerheiligste eines Tempels betreten, und war darauf gefasst, sofort erwischt und hinausgeworfen zu werden. Andererseits hatte sie einen Auftrag auszuführen, von dem zwar nicht ihr Leben, aber doch zumindest ihre berufliche Zukunft abhing. Würde sie das Kleid nicht ordnungsgemäß abliefern – die Folgen wollte sie sich unter keinen Umständen ausmalen!

Mit dem Mut der Verzweiflung klopfte sie zaghaft an die erstbeste Tür und erschrak selbst über das laute, hallende Geräusch. Im Geiste sah sie bereits zahllose Filmschaffende aus sämtlichen Räumen stürzen und sich über die unliebsame Unterbrechung beschweren, doch von innen kam lediglich ein »Herein«. Emma zog die Tür auf, steckte aber nur den Kopf durch den Spalt, um bloß keinen Fauxpas zu begehen. Schließlich wusste sie nicht, wo und wann hier genau gedreht wurde.

»Ja?« Die Frau am Schreibtisch hob den Blick und sah Emma fragend an.

»Entschuldigen Sie bitte die Störung, aber ich komme vom Atelier Kreuzstich und suche eine Frau Schubert.« Den Rest hatte Emma vor lauter Aufregung schon wieder vergessen. Blieb nur zu hoffen, dass hier nicht allzu viele Mitarbeiter dieses Nachnamens existierten.

»Kein Problem. Den Gang entlang und dann die vorletzte Tür rechts.« Sie wandte den Blick voller Entschiedenheit zurück zum Computerbildschirm, und es bestand kein Zweifel daran, dass die Unterhaltung hiermit beendet war. Das »Danke« nahm die wortkarge Person vermutlich gar nicht mehr wahr, so emsig tippte sie schon wieder. Das Seriengeschäft schien ein recht stressiger Betrieb zu sein, folgerte Emma und machte sich auf Zehenspitzen auf den Weg zu der beschriebenen Tür.

Dort nahm man sie mit derartigem Hallo in Empfang, dass sich eine weitere Frage nach Frau Schubert erübrigte. Der Lärm ließ jegliche Aufforderung, leise zu sein, obsolet erscheinen. »Endlich«, jubelten mehrere glockenhelle Stimmen gleichzeitig, und Emma hatte sich selten so willkommen gefühlt. Richtig gut tat das, so geschätzt zu werden. Vielleicht sollte sie einfach für immer hier bleiben und überhaupt nicht mehr unter die Knute der Stichsäge zurückkehren?

Mehrere Hände griffen so hastig nach dem Kleidersack, dass Emma schon befürchtete, die kostbare Ware könnte in letzter Minute doch noch einen Schaden davontragen.

»Ich sag der Aufnahmeleitung Bescheid«, zwitscherte eine der Frauen und verschwand.

»Ich geh dann wieder ans Set zurück«, verkündete eine zweite, »hier läuft ja jetzt alles.«

Die beiden Verbliebenen strahlten Emma seliger an als Julia Roberts in einem ihrer Happy Ends.

Doch damit war es sogleich vorbei, als die erste Kollegin mit bestürzter Miene zurückkehrte. »Jetzt haben wir den Salat«, bemerkte sie, »die Schauspielerin ist noch gar nicht da. Stau oder so.«

»Das wird verdammt knapp«, war die Antwort, und alle drei nickten gewichtig.

»Dann muss jetzt eben eine von uns dran glauben.« Drei Augenpaare richteten sich wie abgesprochen auf Emma, die wieder einmal überhaupt nicht begriffen hatte, wovon die Rede war. Instinktiv kam ihr aber der Gedanke, es sei nun an der Zeit, sich so schnell wie möglich zu verabschieden. Die Stichsäge rotierte vermutlich bereits, weil sie so lange ausblieb. Emma konnte ihr Keifen förmlich hören: »Ich hab’s gewusst, nicht einmal so eine Lieferung kann diese Person in einer vernünftigen Zeit erledigen!«

Doch statt schriller Töne drang ein leichtes Säuseln an ihr Ohr: »Könntest du vielleicht … Ich bin Sanni, hi. Wie war noch mal dein Name?«

»Emma. Warum?«

»Ich sag der Aufnahmeleitung Bescheid«, meinte die erste Frau erneut und verschwand noch einmal.

»Hör zu, Emma, die Schauspielerin, die das Hochzeitskleid im nächsten Bild tragen soll, steht im Stau. Wir hatten heute eine kurzfristige Umstellung der Dispo, deswegen ist es hier gerade ein wenig chaotisch. Also jedenfalls kann sie das Kleid nicht vorher anziehen, um den Saum für die Szene zu präparieren. Verstehst du?«

Emma hatte – ganz anders als in ihrem Beruf üblich – schon nach dem ersten Satz den Faden verloren, dachte jedoch nicht im Traum daran, das zuzugeben. Sie nickte.

»Die Darstellerin ist ziemlich zierlich«, fuhr Sanni fort und grinste. »Wir ja nun leider nicht.« Sie sah ihr Gegenüber erwartungsvoll an und ähnelte dabei einem Hund, der gerade das Öffnen der Frolic-Packung vernommen hatte. Emma nickte vorsichtshalber noch einmal. Im selben Moment ahnte sie, dass genau das ein großer Fehler gewesen sein könnte.

»Du kannst dich hier drin umziehen«, flötete Sanni zuckersüß und schob die völlig überrumpelte Schneiderin hinter den Vorhang einer Umkleidekabine. Das Brautgewand samt Kleidersack folgte in Windeseile. »Danke dir«, hörte Emma noch von draußen.

Sie saß in der Falle. So ohne Weiteres würde sie hier nicht entkommen können.

Zwar hatte sie immer noch nicht ganz verstanden, welches Problem die Kostümabteilung von »Amtliche Gefühle« eigentlich hatte. Doch dass sie nun angehalten war, das von ihr gelieferte Hochzeitskleid selbst anzuziehen, war mehr als klar. Und dass sie früher hätte Widerstand leisten müssen, um das zu vermeiden, ebenfalls. Also blieb ihr jetzt nur eins, nämlich das Ganze so schnell wie möglich über die Bühne zu bringen, um nicht allzu spät ins Atelier zurückzukommen und sich noch mehr Ärger als ohnehin schon einzuhandeln. Kurz dachte Emma mit Wehmut an die verlockende Vorstellung von einer romantischen Begegnung mit einem berühmten Serienstar, dann öffnete sie entschlossen die schmucken Silberknöpfe ihrer eigenhändig bunt bestickten Flohmarktjacke.

Das Princesse-Kleid anzuziehen erforderte überraschend viel Geduld, da das kunstvolle Spitzen-Mieder tatsächlich sehr, sehr eng und der mehrlagige Tüllrock sehr, sehr weit war. Ständig darauf bedacht, nur ja nichts zu beschädigen, benötigte Emma bestimmt eine Viertelstunde, bis sie mit am Rücken klaffendem Oberteil in dem schulterfreien Traum in Weiß aus der Kabine trat. Nun ja, eigentlich trippelte sie eher wie eine Aufzieh-Ballerina, da ihre Beine für den Rock zu kurz oder dieser für ihre Statur zu lang war. Um also unter keinen Umständen auf den Saum zu treten und diesen schon vor der notwendigen Änderung zu ruinieren, ging sie vorsichtshalber auf Zehenspitzen.

»Wow«, lautete Sannis erster Kommentar, und Emma war nicht ganz sicher, ob sie das ernst oder ironisch meinte. Auch die Bemerkung »Du kommst da drin aber echt fett rüber« trug nicht gerade zur Klärung bei. Emma erwiderte sicherheitshalber erst einmal gar nichts.

Die Garderobiere warf einen Blick auf den noch offenen Verschluss am Rücken und stellte trocken fest: »Ich würd’ da ja nie im Leben reinpassen.« Dann zog sie den Reißverschluss mit einem Ruck zu. »Du kannst die Brautschuhe dazu anziehen.«

Sonst noch was? Vielleicht Ringe, Bouquet oder Schleier? Emmas Blick war wohl ziemlich verständnislos, denn Sanni setzte nach: »Damit du keinen Krampf in den Zehen kriegst.« Das war natürlich etwas anderes.

Tatsächlich war das Stehen in Pumps wesentlich bequemer als auf dünn besockten Zehenspitzen. Vor allem, wenn man bedachte, dass sich die Bearbeitung des Saumes eventuell ein wenig hinziehen konnte. Mit Stecknadeln im Mund kroch Sanni um den weißen Tüllberg herum.

Siedend heiß fiel Emma da wieder die Chefin ein, die jetzt vermutlich bereits tobte. Telefonieren konnte sie jetzt allerdings gerade ganz schlecht, außerdem genügte es, wenn sie sich die Standpauke bei ihrer Rückkehr abholte. Also erst mal abwarten und stillhalten …

»Okay, das klappt ganz gut«, nuschelte Sanni mit stecknadelbesetztem Mund extrem undeutlich, während sie zu Emmas Füßen kauerte und den Saum an einigen Stellen neu befestigte.

»Moment, nicht bewegen«, kommandierte es dann unter dem üppigen Tüllhaufen hervor, »ich bin gleich wieder da!« Die Garderobiere sprang auf und warf sämtliche zwischen den Lippen verbliebenen Nadeln neben Fadenrollen und kunterbunte Stoffreste auf den Tisch. Und bevor die Ersatzbraut widersprechen oder genauer nachfragen konnte, war sie bereits aus der Tür. Nun gut. »Nicht bewegen« war eine ziemlich eindeutige Ansage, an die man sich halten konnte. Zunächst.

Als Sanni allerdings nach endlosen fünf Minuten immer noch nicht wiederkam, verlor Emma die Lust, die Anweisung weiterhin wortwörtlich zu befolgen. Sie drehte sich zu dem großen Spiegel in der Ecke um und betrachtete sich eingehend. Stand ihr wirklich nicht schlecht, das Hochzeitskleid. »Ein bisschen vielleicht wie ein Baiser«, zitierte sie im Kopf Andie MacDowell in Vier Hochzeiten und ein Todesfall. Die schwarzen kurzen Locken hoben sich jedoch, wie bei der Schauspielerin im Übrigen auch, perfekt gegen den strahlend hellen Stoff ab. Und ihr weißer Haarreif mit dem Stoffblümchen passte wie ausgesucht zu diesem Ensemble. Emma sah sich im Geiste schon vor den Altar treten – zu schade, dass der passende Traumprinz für diesen Anlass erst noch gefunden werden musste.

»Die Braut ist schon fertig. Wir können«, hörte sie auf einmal hinter sich eine männliche Stimme und gleich darauf das Knacken des Funkgerätes. Auf der Schwelle stand ein grinsender Jüngling. »Hallo, ich bin Alex«, stellte er sich so hastig vor, als wäre die Polizei hinter ihm her. »Kannst du bitte gleich mitkommen?«

Natürlich konnte Emma. Auch wenn ihr nicht ganz klar war, wie das mit der eigentlich weiterhin gültigen Anweisung »nicht bewegen« konform gehen sollte. Aber was wusste sie schon vom Filmgeschäft? Vielleicht war es nötig, dass Sanni den Rest der Anprobe anderswo absolvierte? Im Grunde war es Emma auch egal. Sie wollte nur so schnell wie möglich wieder zurück zur rotierenden Stichsäge, bevor sie von ihr mit einem Todesfluch belegt oder gar gekündigt wurde.

Also stöckelte sie hinter dem Jüngling mit dem wichtigen Funkgerät her. Irgendwie erinnert er mich an den grinsenden Liftboy aus Pretty Woman, dachte Emma, während sie Alex folgte. Den Flur entlang, durch die schwere Eisentür, an einer ganzen Reihe neutral aussehender Wände vorbei, durch dunkle Ecken und Gänge. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wo sie sich gerade befand, und wollte es auch gar nicht wissen. Emma kam sich vor wie Theseus im Labyrinth, musste jedoch gerade feststellen, dass sie ihr Garnknäuel vergessen hatte. Und das bei einer Schneiderin! Nun ja, im Notfall könnte sie immer noch das fremde Hochzeitskleid auftrennen, dann hätte sie wenigstens einen Faden. Hauptsache, sie kam hier bald weg. Das Ganze dauerte sowieso schon viel zu lange.

Plötzlich ertönte direkt über ihnen eine laute metallische Stimme, die heiser kommandierte: »Auf Anfang! Wir drehen!«

Liftboy Alex blieb augenblicklich stehen und grinste nun gar nicht mehr, soweit Emma das bei der schummrigen Beleuchtung erkennen konnte. »Psst! Wir drehen«, hauchte er kaum hörbar, aber sichtlich aufgeregt. Zum Glück war die Lautsprecher-Ansage gleichen Inhalts deutlich lauter gewesen. Die Braut beschlich in diesem Moment das Gefühl, dass Alex, welche Funktion auch immer er haben mochte, noch nicht allzu lange in der Filmbranche arbeitete. Na, hoffentlich ging das gut.

Emma klopfte vorsichtshalber – natürlich geräuschlos – dreimal gegen ihre Stirn und wartete darauf, dass ihr junger Begleiter Entwarnung gab.

Dieser Tag verlief überhaupt nicht so, wie sie sich das vorgestellt hatte. Eigentlich hatte sie gehofft, einem oder mehreren Prominenten zu begegnen, jetzt tappte sie im wahrsten Sinn des Wortes im Dunkeln. Schon gefühlte hundert Stunden lang trieb sie sich bei den »Amtlichen Gefühlen« herum, und nun stand sie mit einem planlosen Jüngelchen und in komplett fremdem Hochzeitsoutfit zwischen ungemütlichen Holzwänden herum und durfte sich weder rühren noch den Mund aufmachen. Beim Film hatte sie es sich wahrlich schöner vorgestellt.

Trotz erhöhter Raupengefahr stand Emma kurz davor, ob dieser unerwartet harten Ernüchterung in Tränen auszubrechen. Da schnarrte der Lautsprecher: »Danke. Nächstes Bild.« Liftboy Alex entspannte sich, winkte sie geschäftig weiter und eilte selbst doppelt so schnell davon wie zuvor. Beinahe wäre sie in der Eile mit ihren hochhackigen Schuhen über die unzähligen am Boden liegenden Kabel gefallen. Sie raffte, so gut sie konnte, die Tülllagen des Rockes zusammen und stolperte in Richtung des gleißenden Lichts, das hinter der nächsten Wand verheißungsvoll strahlte.

Und da stand sie nun. In einer offensichtlich nachgebauten Amtsstube der Serie. Vor einem ihr vollkommen unbekannten Filmteam. Im Brautkleid. Eine ganze Reihe der Anwesenden betrachtete sie mit neugierigen Blicken, andere waren in ihre Tätigkeiten vertieft und achteten gar nicht auf sie. Liftboy Alex flüsterte einem Kollegen etwas ins Ohr und verschwand unmittelbar danach, ohne auch nur »tschüs« gesagt zu haben. Emma fühlte sich so unwohl wie selten in ihrem Leben. Um den zahlreichen interessierten Augenpaaren auszuweichen, schaute sie zunächst einmal auf den Boden.

Erst allmählich wurde ihr bewusst, dass um sie herum eifrig gearbeitet wurde. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass man Möbel, Requisiten und Scheinwerfer hinaus und herein trug. Manche der Filmschaffenden grüßten sie ganz beiläufig im Vorbeigehen. Das Stimmengewirr schwoll an, wie ein Bienenschwarm geriet der gesamte Apparat in Bewegung. Es summte und brummte überall, ohne wirklich laut zu sein, und langsam kam sie sich nicht mehr so vor, als würde nur sie allein im Mittelpunkt stehen.

»Sind wir so weit? Dann erzähle ich euch jetzt kurz, was die beiden in der nächsten Szene treiben – selbstverständlich vorabendtauglich«, verkündete eine angenehme tiefe Stimme, und sofort herrschte Ruhe.

Emma hob neugierig den Kopf. Wer war das, der mit nur wenigen Worten einen wild summenden Bienenschwarm ruhigstellen konnte? So etwas wie der Imker der Serienwelt?

Alle hatten sofort innegehalten und blickten zu einem nicht allzu großen grauhaarigen, aber smarten Mann Anfang vierzig, der mit gelassenen Bewegungen die Szene skizzierte, die er offensichtlich zu inszenieren gedachte. Während er unter Einsatz einer Unmenge von Fachausdrücken und für Emma völlig unverständlich erklärte, was jeder Einzelne zu tun hatte, bewegte er sich geschmeidig von einer Seite der Kulisse zur anderen. Dabei bot er eine äußerst gelungene Melange aus jenem George Clooney, der in Tage wie dieser seiner kleinen Tochter liebevoll ein improvisiertes Kasperltheater vorspielt, und dem, der als Danny Ocean in Ocean’s Eleven wohlorganisiert den perfekten Coup plant.

Peng.

2

Der Regisseur und das Mädchen –

alles begann mit einem Brautkleid

Filmstudio

Innen/Tag

Wenn es die Liebe auf den ersten Blick wirklich gab, dann war sie das – ohne jeden Zweifel. Wie vom Donner gerührt und gleichzeitig vom Blitz getroffen, stand Emma am Rande der Szenerie und konnte die Augen nicht von dem faszinierenden Unbekannten abwenden. Nicht nur, wie er es schaffte, auf eine zugleich witzige und doch respekteinflößende Art seine Vorstellungen zu formulieren, beeindruckte sie. Seine strahlenden Augen blitzten so energiegeladen über dem verwegenen Dreitagebart, dass er an einen charismatischen Räuberhauptmann erinnerte.

In Sekundenschnelle glich sie gedanklich das Bild, das sich ihr bot, mit ihrer Männer-Wunschvorstellung ab. Gut aussehen sollte er … kreativ und selbstbewusst sein … kein Bübchen, sondern ein richtiger Mann. Bingo. Das war er. Eindeutig.

»Hervorrrragend«, beendete er gerade seine Ausführungen und rollte dabei das »R« wie ein knurrender Hund. Emma zuckte zusammen. So einen Mann wünschten sich bestimmt viele Frauen: kraftvoll, entschlossen und doch irgendwie weich. »So machen wir das.« Er war ganz in seinem Element, schien das Gefühlschaos der unfreiwilligen Braut gar nicht zu bemerken. Und der war plötzlich überhaupt nicht mehr daran gelegen, das Filmstudio möglichst schnell zu verlassen. Im Gegenteil.

Ja, ich will!, hätte sie am liebsten gerufen. Schließlich war die Konstellation mehr als schicksalhaft: beim ersten Zusammentreffen schon im Brautkleid und dazu auf dem (wenn auch nur Kulissen-) Standesamt – wenn das nichts zu bedeuten hatte! Glück im Unglück, vermutlich.

Emma sah sich schon an seiner Seite vor dem Altar stehen, während er ihr den Ring auf den Finger schob. Gerade als sie ernsthaft überlegte, ob ihm wohl Anzug, Frack oder Cut am besten stand, kam der Typ, dem Liftboy Alex vorhin so konspirativ ins Ohr geflüstert hatte, auf sie zu. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass der attraktive Unbekannte seine Ansprache bereits beendet hatte und verschwunden war, wohin auch immer. Nun ja, weit konnte er zum Glück nicht sein – welch beruhigende Vorstellung. Irgendwie bekam man hier das Gefühl, in einem abgeschlossenen Kosmos zu sein, aus dem niemand ausbrechen konnte. Und Emma war extrem froh, im Moment dazuzugehören.

»Wer war denn der Mann gerade eben – der den Ablauf erklärt hat?« Vielleicht war es unpassend, gleich mit einer Frage ins Haus zu fallen, ohne das formale Einleitungsgeplänkel. Doch auf Etikette kam es jetzt wirklich nicht an.

»Das war Fürstberg, der Regisseur.« Der Typ wollte offensichtlich lieber doch plänkeln, als weitere Fragen zu beantworten, denn er wechselte zu Emmas Leidwesen sofort in den Gesprächston: »Hi, ich bin Basti, der Set-Aufnahmeleiter. Sabine, oder?«

Äh, nein. Umgehend war Emma wieder zurück in der Realität. Und das ausgerechnet hier im Filmstudio. Erst jetzt fragte sie sich, warum sie eigentlich in einem Hochzeitskleid in einer fast komplett dunklen Halle stand. Die naheliegende Antwort war »Versteckte Kamera«, danach wurden die Möglichkeiten ziemlich dürftig. Und wen meinte dieser Setleiter eigentlich mit »Sabine«?

Das Knacken seines Funkgerätes unterbrach rüde Emmas Gedankenchaos. »Ihr habt die falsche Braut«, rauschte es an der Hüfte des Aufnahmeleiters. »Ich hab euch die richtige reingeschickt.«

Basti nahm das schwarze Kästchen vor den Mund und antwortete ungehalten: »Aber die hier hat ein Brautkleid an.«

»Ja, aber … nur schnell … weil … machen müssen«, morste es zurück.

»Mann, Alex! Erst drücken, dann sprechen!«

Eine andere Stimme mischte sich in den Funkverkehr ein: »Basti, die Bräute müssen schnellstens beide wieder raus – wir brauchen die Klamotten.«

»Wenn das so einfach wär. Wo ist denn die zweite? Ich hab hier nur eine«, stellte Basti kopfschüttelnd fest und blickte so hilflos um sich wie Kate Winslet nach dem Untergang der Titanic.

Im selben Moment wusste Emma, dass sie diese Frage beantworten konnte, denn Regisseur Fürstberg kam mit einer aparten, zierlichen Frau um eine der Stellwände herumgeschlendert. Er hatte den Arm um ihre Schulter gelegt und schien ihr die Szenerie zu erläutern, die er dem Team gerade so anschaulich auseinandergesetzt hatte. Die Frau hing ebenso fasziniert an seinen Lippen wie sie selbst vor einigen Minuten und nickte ab und zu ganz brav. Allerdings hatte er Emma vorhin überhaupt nicht beachtet, während er ihr seine ganze Aufmerksamkeit widmete.

Sie sah an sich hinunter. Das konnte doch nicht wahr sein, dass sie hier in einem Traum aus weißer Spitze und Tüll auftauchte und nicht einmal ein »Hallo« bekam, während diese Schauspielerin in Jeans und Mickey-Mouse-T-Shirt umgarnt wurde.

Doch das konnte sie ganz schnell ändern. Wenigstens das. Und vielleicht sah er sie dann endlich an.

Emma deutete dezent in Richtung des Paares und flüsterte Basti zu: »Sucht ihr zufällig die Frau da drüben?«

»Keine Ahnung, ich kenne die Darstellerin ja auch nicht. Aber das werden wir sofort klären.« Mit schnellen Schritten marschierte er quer durch die Kulissen-Amtsstube, die – vermutlich für die bevorstehende Trauung – inzwischen mit mehreren weiß-grünen Blumengestecken geschmückt war.

Auf seine Frage nickte die Mickey Mouse. Also war sie es. Kurz darauf deutete er in Emmas Richtung, und ihr war, als müsste ihr Herzklopfen sogar das allgemeine Summen noch übertönen. Trotzdem sah Fürstberg nicht einmal für eine Millisekunde zu ihr herüber. Stattdessen kamen jetzt Basti und die Schauspielerin eilig auf sie zu.

»Komm mit«, zischte er Emma zu, und schon waren er und die Mickey-Mouse-Dame an ihr vorbei in Richtung Ausgang unterwegs.

Enttäuscht sah Emma ein letztes Mal über die Schulter zum Regisseur, um vielleicht doch noch Blickkontakt aufnehmen zu können. Vergeblich. Dann packte Basti sie etwas rüde am Arm und zog sie mit sich.

»Kannst du mir bitte verraten, wie du an dieses Kleid gekommen bist?«, raunte der Aufnahmeleiter misstrauisch, während er Emma durch die vielen dunklen Gänge zurückbrachte. Erst jetzt wurde ihr klar, dass man sie offensichtlich des Diebstahls oder eines noch schlimmeren Deliktes verdächtigte. Da sie jedoch gleichzeitig auf am Boden liegende Kabel, die hohen Absätze und den üppigen Tüllrock achten musste, hob sie sich ihre Verteidigungsrede für später auf und konzentrierte sich zunächst auf einen möglichst unfallfreien Rückzug aus dem Labyrinth.

Kurz bevor sie die Eisentür nach draußen erreicht hatten, ertönte auf einmal die wohlklingende Stimme des Regisseurs direkt über ihr: »Lasst uns mal eine Probe machen. Wo ist denn die Braut jetzt wieder hin?«

Emma liefen gleich ein Dutzend Schauer über den Rücken. »Er« verlangte nach ihr! Hätte sie genau bestimmen können, woher die Worte tatsächlich kamen, sie wäre sofort zurückgelaufen. Über sämtliche Kabel hinweg, durch alle dunklen Winkel hindurch.

»Läuft«, schnarrte Basti in sein Walkie-Talkie, und Emma glaubte kurz, er hätte mit ihr gesprochen. Dann wurde sie durch die Tür auf den Gang hinausgeschoben.

Im ersten Moment war sie fast blind von dem doch um einiges helleren Licht außerhalb des Studios. Sie kniff die Augen zusammen und wurde gleich darauf schon wieder am Arm gepackt und den Flur entlanggezogen.

»Wo warst du denn?« Sanni wirkte ziemlich genervt. »Wir haben dich überall gesucht!«

»Dieser Lift… ähm … dieser Alex hat gesagt, ich soll sofort mitkommen.«

»Ach, der … der hat doch keine Ahnung, der ist ja nur Praktikant. Und das noch nicht mal lange. Der hat dich für die Schauspielerin gehalten.«

»Welche Schauspielerin?«

»Na, die Gastrolle, die heute das Hochzeitskleid tragen wird. Hoffentlich ist der Robe nichts passiert. Wenn du sie jetzt ruiniert hast mit deinem lustigen Ausflug ans Set …«

Emma konnte sich lebhaft vorstellen, was dann mit ihr geschehen würde. Das war mal wieder typisch. Innerhalb einer einzigen Stunde hatte sie es geschafft, von der allseits bejubelten Retterin in der Not zur geächteten Delinquentin abzusteigen. Von ihrem großherzigen Einspringen als Notfallmodel sprach keiner mehr. Und dafür hatte sie eine Standpauke der Stichsäge riskiert!

Während sie verzweifelt versuchte, mit Sanni Schritt zu halten, warf sie immer wieder schnelle Blicke auf den Rock und dessen Saum. Sie konnte keinerlei Schaden erkennen und sandte mehrere Stoßgebete zum Himmel, dass das auch für die Garderobieren galt. Im Kostümbüro angekommen, juchzten die Kolleginnen beim Anblick der beiden erneut auf. Diesmal allerdings deutlich angespannter als bei Emmas erstem Auftritt.

Die falsche Braut wurde kurzerhand in die Umkleidekabine verfrachtet, um der richtigen Braut, die genau genommen auch eine falsche war, endlich ihr rechtmäßiges Outfit zukommen zu lassen. Mit vereinten Kräften schälten mehrere Garderobieren Emma aus dem hautengen weißen Gewand und verschwanden eilig, um es der Schauspielerin anzuziehen. Schnell schlüpfte Emma wieder in ihre eigenen Klamotten und schickte sich an, den Ort des Geschehens nun endlich zu verlassen.

Beim Hinausgehen warf sie einen schnellen Blick auf die Mickey Mouse mit Namen Sabine, die von einer Horde Garderobieren umschwärmt vor den Spiegel getreten war wie eine Bienenkönigin mit ihren Arbeiterinnen. Mir stand das Kleid besser, dachte Emma mit einem kleinen Anflug von Genugtuung und verließ unauffällig den summenden Bienenstock, ohne dass eine der Frauen es bemerkt hätte.

Auf dem Flur kam sie noch einmal an Liftboy Alex vorbei, der einen erschöpften Eindruck machte. Vielleicht hatte er bereits die Standpauke bekommen, die eigentlich für Emma bestimmt gewesen war. Aber ihr stand ja sicherlich auch noch eine bevor. Bei dem Gedanken daran wäre sie vor Schreck beinahe hingepurzelt.

Ein Blick auf ihre Armbanduhr bestätigte es: Alles in allem trieb sie sich seit etwa drei Stunden außerhalb der Werkstatt herum. Ohne Modeljob im Brautkleid und den ausgedehnten Ausflug ans Filmset hätte man die Lieferung gut und gerne in der Hälfte der Zeit schaffen können. Die Stich dachte mit Sicherheit, dass es an Emmas »Schlendrian«, wie sie es nannte, gelegen hatte. Sie vom Gegenteil zu überzeugen würde ein hartes Stück Arbeit werden.

Dennoch saß Emma kurze Zeit später fröhlich im Firmenauto und summte zur Radiomusik vor sich hin. Harry Nilssons »I can’t live if living is without youhuhu« sprach ihr nach dem gerade erlebten Blitzschlag buchstäblich aus dem Herzen. Während sie vor sich hin trällerte: »No, I can’t forget this evening or your face as you were leaving«, dachte sie nur an Fürstberg. Zu schade, dass er sie nicht bemerkt hatte und dass sich keine Gelegenheit geboten hatte, ihn richtig kennenzulernen. Als Schauspielerin wären ihre Chancen bei einem Regisseur vermutlich deutlich besser gewesen.

»But I guess that’s just the way the story goooooooes.« Immerhin, die Ausgangssituation hätte auch schlechter sein können. Schließlich kannte sie bereits seinen Nachnamen, seinen Beruf und seine Arbeitsstelle. Hätte sie ihn in der U-Bahn, auf dem Viktualienmarkt oder auch im Fußballstadion gesehen, wäre es deutlich schwieriger gewesen, Kontakt aufzunehmen.

Beinahe wäre Emma auf das Auto vor ihr aufgefahren, das überraschend gebremst hatte, so sehr war sie in ihre Träume von einer gemeinsamen Zukunft mit dem Zauber-Imker von »Amtliche Gefühle« versunken. Noch nie war ihr ein Mann begegnet, der so gekonnt, souverän und zugleich liebevoll eine Horde von Menschen dirigierte. König David vielleicht, aber der war schon ziemlich lange tot und von daher ganz sicher nicht mehr auf Partnersuche.

Ein erneuter Schreck durchfuhr Emma, und diesmal waren weder andere Verkehrsteilnehmer noch die Stichsäge schuld.