Dark House - Thomas Kastura - E-Book

Dark House E-Book

Thomas Kastura

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Beschreibung

Es war eine unverzeihliche Verrücktheit. Zehn Jahre ist es her, dass John und seine Freunde als Abschluss ihres Studiums in einem verlassenen Gebäude ein »Dark House« einrichteten: mehrere völlig abgedunkelte Räume, in denen nichts zu sehen, aber alles erlaubt war. Wie weit würden sie gehen? Würden sie nach dieser Grenzerfahrung noch dieselben sein? Kurz darauf verübte eine junge Frau aus der Gruppe Selbstmord, über den niemals wirklich gesprochen wurde. Nun wollen die Freunde endlich Licht ins Dunkel bringen und treffen sich auf Johns Anwesen an der felsigen Küste von Dorset. Doch kaum ist ein Tag vergangen, liegt einer von ihnen tot auf den Klippen – der Beginn eines tödlichen Reigens ...

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Seitenzahl: 345

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Thomas Kastura

Dark House

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Inhaltsübersicht

ZitatTag eins1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. KapitelTag zwei35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitel46. Kapitel47. Kapitel48. Kapitel49. Kapitel50. Kapitel51. Kapitel52. Kapitel53. Kapitel54. Kapitel55. Kapitel56. Kapitel57. Kapitel58. Kapitel59. Kapitel60. Kapitel61. Kapitel62. Kapitel63. Kapitel64. Kapitel65. Kapitel66. Kapitel
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Freunde,

wir wissen nicht, wo das Dunkel ist oder der Morgen,

noch wo die Sonne sich unter die Erde senkt,

oder wo sie aufgeht.

Drum lasst uns nachsinnen, ob es einen Ausweg gibt.

Ich jedoch glaube: Es gibt keinen.

 

Homer, Die Odyssee, Zehnter Gesang

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Tag eins

1

Die Maus lebte noch. Der Drahtbügel hatte sie nur am Bein erwischt. Unter einem Regal mit eingeschweißtem Schinken und Edelsalami zappelte sie panisch und versuchte, die Falle abzuschütteln.

Wie lange ging das schon so? Roddy kratzte sich an einer Stelle am Oberarm, manchmal juckte es dort.

Dann streifte er Arbeitshandschuhe über. Als Kind hatte er Wüstenrennmäuse gehalten. Sie waren aus reiner Lust an der Bewegung durch die Röhren des Terrariums gerannt. Stundenlang hatte er sie beobachtet und dabei die Zeit vergessen.

Er hielt die Maus fest und hob den Bügel der Falle leicht an. Sie kam frei und strampelte um ihr Leben. Durch den Handschuhstoff fühlte er die Wärme des kleinen Körpers. So viel Energie.

Schwer zu sagen, ob die Maus Glück gehabt hatte. Das Bein sah nicht gut aus, es war deformiert, unbrauchbar. Mit einer solchen Verletzung würde sie beim Kampf um Nahrung den Kürzeren ziehen gegenüber ihren Artgenossen. Von denen wimmelte es in der Lagerhalle nur so in diesem Herbst. Ein Genickbruch wäre gnädiger gewesen. Sauberer.

Er umschloss die Maus mit beiden Händen und brachte sie nach draußen. Die schwarzen Knopfaugen traten hervor und fixierten ihn. Ein seelenloser Blick. Roddy musste an seinen Kreditberater bei der Bank denken. Leider können wir Ihnen keine weiteren Darlehen gewähren, Mr. Lockwood. Aber wir sind Ihnen gerne beim Insolvenzverfahren behilflich.

Der Finanzplan, mit dem er den Supermarkt seiner Eltern in ein Feinkostparadies hatte verwandeln wollen, war gescheitert. Je früher er die Lagerhalle verkaufte, desto besser. Mitsamt dem Schinken und dem Ungeziefer.

Die Einladung nach Culls Cove lag im Kofferraum seines BMW, auf einem Haufen ungeöffneter Rechnungen. Eine Wiedersehensfeier mit den alten Freunden. Einige schienen ihre Pläne verwirklicht zu haben, beruflich wie privat, vor allem John, der Gastgeber. Herzchirurg, Teilhaber einer Klinik in Berkshire, der stank vor Geld. Vielleicht half er ihm aus der Klemme, dem guten, zuverlässigen Roddy, der bei den Partys immer für genug Trinkbares gesorgt hatte, früher. Ein paar Tage hatte er Zeit, John zu überreden. Da konnte sich was ergeben.

Die Maus wand sich in Roddys behutsamem Griff. Der Lieferantenparkplatz grenzte an eine dichte Hecke, zum Aussetzen ideal.

Er überlegte es sich anders. Das tat er oft.

Roddy ging weiter zu den Müllcontainern. Da strichen immer viele Katzen herum. Eine weiß-schwarz gescheckte duckte sich gerade hinter einen Weinkarton.

»Deine Chance.« Er ließ die Maus frei.

Sie rannte los. Fast hätte sie es unter den Müllcontainer geschafft, trotz des kaputten Beins.

Die Katze machte einen Satz und erwischte ihre Beute mit einem gezielten Pfotenhieb.

Die Maus wurde durch die Luft geschleudert. Einmal, zweimal.

Offenbar wollte die Katze noch spielen.

Roddy streifte die Handschuhe ab und sah zu.

2

Bye!« Lewis und Bell winkten dem klapprigen Fiat hinterher. Halb erwarteten sie, dass ihre beiden Söhne in der Heckscheibe auftauchten und den Abschiedsgruß erwiderten. Nach dem üblichen Gejammer hatten sie ihre Ohrstöpsel aufgesetzt und es sich auf der Rückbank bequem gemacht. Grandmas Fahrkünste waren nur mit Videospielen zu ertragen.

»Keine Sorge, die sind gut aufgehoben«, meinte Lewis.

»Deine Mutter lässt sie das Spätprogramm schauen und stopft sie mit Chicken-Nuggets voll. Ich wünschte, sie würde mehr auf die Gesundheit der Kids achten.«

»Dafür ist eine Oma da. Dass sie den Enkeln auch mal was durchgehen lässt.«

»Genau wie du. Wenn du mal zu Hause bist.« Sie lachte, verstrubbelte sein dichtes, gelocktes Haar. »Von wem sollen die Jungs denn Disziplin lernen?«

Lewis mochte das nicht. Sein Haar war einer seiner augenfälligsten Vorzüge. Bei den Castings hatte er damit schon einige Kollegen ausgestochen, Sänger, die zwar perfekt intonierten, aber deren Schädel langsam kahl wurden. Toupets galten bei Tenören als peinlich, zumindest bei den jüngeren, und Heldenrollen an bedeutenden Opernhäusern waren dünn gesät.

Auch Bell hätte es mit ihrem Sopran weit bringen können. Wahrscheinlich weiter als Lewis, der stimmlich eher im Mittelfeld lag und auf die großen Engagements immer noch wartete. Izabela Kvim, allein dem Namen wohnte ein unbezahlbarer Klang inne.

Aber damals vor zehn Jahren, kurz vor ihrem Abschluss an der Royal Academy, hatte Bell etwas aus der Bahn geworfen und ihr Selbstvertrauen erstickt. Lewis war Zeuge gewesen, in einem Nebenraum des Dark House. Er hatte ihr deswegen nie Vorwürfe gemacht, und sie hatte ihm später seine Affären nie vorgehalten. Vielleicht ein ungleicher Deal, doch Sex war selten gerecht, oder? Nach der Geburt ihres ersten Sohnes hatte er Besserung gelobt, und sie auch. Nichts war dadurch einfacher geworden.

Schließlich hatte Izabela den Kindern den Vorzug gegeben und war Mrs. Byrd geworden. Bella Byrd für ihre Musikschüler in Winchester, Bell für Lewis und ihre Freunde. Jedes Mal, wenn er die CD einer neuen Sängerin mitbrachte, pries sie laut die Behaglichkeit ihres Spießerlebens – und verfluchte es, wenn er nicht mehr hinhörte.

Lewis nickte seiner Frau zu, sie gingen zurück ins Haus. Vorbei an den gepackten Koffern, hinab in den Keller. Auf ein geräumiges Untergeschoss hatten sie Wert gelegt, als sie einen Altbau zum Kauf gesucht hatten. Eine Stunde war noch Zeit.

Er nahm auf einem Stuhl mit Armlehnen Platz. Bell machte die Riemen fest und wickelte ihm ein Seidentuch um den Hals. Dadurch sah man keine Würgemale, und seine Stimmbänder wurden nicht in Mitleidenschaft gezogen. Die Schnur, an deren Enden Holzgriffe befestigt waren, bestand ebenfalls aus Seide. Lewis hatte die Garotte bei einer Bach-Tournee in Spanien erstanden. Vor nicht allzu langer Zeit waren verurteilte Mörder dort noch öffentlich erwürgt worden.

Sie zog die Garotte aus einer abschließbaren Alu-Truhe und legte sie Lewis an. Beziehungen folgen seltsamen Regeln. Im Laufe der Jahre werden Rituale immer wichtiger, Inseln im Alltag.

Bell löschte das Licht. Erst jetzt schlüpfte sie aus ihrer Bluse und ihrem geblümtem Sommerrock. Den Slip hatte sie schon im Klo abgestreift, als die Jungs noch durchs Wohnzimmer getobt waren. Sie war praktisch veranlagt.

Der Raum hatte kein Fenster, die Dunkelheit verschluckte alles.

Lewis spürte die Schlinge um den Hals. Er sog die Luft scharf ein. Sie setzte sich auf seinen Schoß, stützte die gespreizten Beine auf seinen Unterarmen ab und zog zu.

Warten. Jedes Mal bekam sie eine Gänsehaut.

Bell kontrollierte seinen Puls. Knapp zwei Minuten, so lange hielt er durch.

»Fester?«, fragte sie.

»Mmh«, machte er, das Seidenband schnitt ihm in den Hals.

Sie küsste ihn und saugte das bisschen Luft in seinen Lungen aus ihm heraus. Sie spürte ihn unter sich, doch die Hose, die er stets anbehielt, war dazwischen. Grober Jeansstoff. Sie rieb sich daran, Bell mochte ihren eigenen Geruch.

Er begann zu würgen, stand kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren.

Nur sie konnte ihm das bieten. Es weckte Lust auf das bevorstehende Wochenende mit John und den anderen. Mit dem verrückten Struan. Mit Sophia, dem Biest. Und mit Knowles, dem Bell das frühe Ende ihrer Karriere zu verdanken hatte.

Sie lockerte das Seidenband.

Eine Stunde – gut eingeteilt war das eine halbe Ewigkeit.

3

Mörderisch, dieser Druck. Der Schädel drohte ihm schier zu zerplatzen. Bloß nicht einatmen. Bloß nicht den Reflexen nachgeben. Jeder Versuch, den Kopf aus dem Wasser zu heben, kostete wertvollen Sauerstoff.

Struan Mackenzie blieben noch ein paar Sekunden.

Sein Kajak war gekentert, er hing kopfüber im Boot, gefangen in einer innendrehenden Walze unter einem etwa fünfzehn Meter hohen Wasserfall. Das Paddel war weg, er war ohne Begleitung unterwegs, und das Tosbecken, von Fichten beschattet, war verdammt finster. Manch einer verlor da die Orientierung und wusste nicht mehr, wo oben und unten war. Das Wasser besorgte den Rest.

Er hatte schon eine Menge Leute absaufen sehen. Selbstüberschätzung, Übermut, ein dummer Unfall. So ähnlich wie damals bei der Polizei in Sheffield, nur dass man als Detective Sergeant nicht einfach aussteigen konnte, wenn ein Kollege bei einem Einsatz ums Leben kam. Struan hatte es trotzdem getan, den Dienst quittiert, alle Brücken abgebrochen. Seither fuhr er Kajak. Da war er sein eigener Herr.

Also noch ein letztes Mal. Er brachte den Oberkörper mit gleichmäßigen Schwimmbewegungen an die Wasseroberfläche. Es gelang ihm, sich ein kleines Stück vom Zentrum der Walze zu entfernen. Dann die letzten Kraftreserven in einen entschlossenen Hüftschwung investieren. Handrolle. Der Auftrieb des Bootes half ihm, es aufzudrehen.

Es funktionierte. Sein Kopf tauchte auf. Er beugte sich nach vorn, das Kajak stabilisierte sich. Er bekam ein bisschen Luft. Mit den Händen paddelte er weg von der Prallzone, durch einen Schleier zerstäubenden Wassers. In Sicherheit.

Struan erlebte solche Situationen andauernd, vor allem im Regenwald von Ecuador, wo er in den Wintermonaten eine Kajakschule unterhielt und geführte Touren anbot. Eines der größten Abenteuer der Welt, hieß es im National Geographic.

Der Tod fuhr immer mit, selbst auf einer bekannten Route. Struans Bewegungen waren automatisiert. Doch das allein reichte nicht. Es gab da einen Punkt in ihm drin, eine Art Stärkepol. Er ließ ihn niemals in Panik verfallen. Setzte Energien frei, die ihm regelrecht übermenschlich vorkamen. Vor zehn Jahren hatte Struan ihn entdeckt und war ein anderer geworden.

Streng genommen hatte Professor Knowles den Punkt entdeckt. Er hatte Struan gezeigt, was in ihm schlummerte, in einer denkwürdigen Nacht. Einfach war das nicht gewesen, er hatte Opfer bringen müssen und keinerlei Rücksichten genommen. Jeder hatte damals für seine Grenzerfahrungen bezahlen müssen, auf unterschiedliche Weise. Freundschaft ist ein dehnbarer Begriff.

Struan erreichte das Ufer und stieg aus dem Bach, dem Afon Goedol, wie auch immer die Waliser das aussprachen. Er schulterte das Boot und stapfte zurück zu seinem Van.

Bald würde er Knowles wiedersehen. In Culls Cove, das lag irgendwo im Süden am Ärmelkanal. Johns Einladung mit der Wegbeschreibung klemmte am Armaturenbrett.

John. Der steckte in der Tretmühle wie der Rest der alten Crew. Wenigstens hatte er seine Ärztekumpels einmal nach Ecuador zu einem Incentive gelotst. Ein Kontrollfreak und Sicherheitsfanatiker. Dachte immer, einer müsse der Chef sein, und alle anderen hätten zu spuren. Verkraftete wohl bis heute nicht, dass ihm damals im Dark House alles entglitten war.

Es gab kein Licht. Wir sprachen wenig. Dadurch schärften sich die anderen Sinne. Geruch, Gehör, Tastsinn. Zärtlichkeit und Brutalität erweckten etwas in uns. Jede Berührung ein Stromschlag. Wir drangen zur Weisheit von Blinden vor. Qualen relativierten sich ebenso wie Küsse. Es war, als dachten und handelten wir nicht wie viele, sondern wie einer, als hörten wir nur eine einzige Stimme. Wir unterwarfen uns, um über uns zu herrschen. Ist das ein Widerspruch? Nein, es gibt keine Widersprüche. Je totaler die Dunkelheit, desto heller das Licht, das wir entzünden.

Struan nahm einen Schluck Tee aus der Thermosflasche. Er stieg in trockene Klamotten und schnallte das Kajak auf dem Dachträger fest. Beim dritten Versuch sprang der Motor an. Er fuhr zurück zur A496, später würde er die M5 bis Taunton nehmen und dann sehen, wie er weiterkam.

Teamplay war eine Floskel für die breite Masse. Im Zweifelsfall war man auf sich allein gestellt.

4

Du magst mich.« Es war eine Feststellung, keine Frage.

Mittag im King’s Arms. Sie kippten den dritten Black Wodka, Gwen Harding kam auf Betriebstemperatur. Alkohol war selten stärker als sie.

»Klar«, sagte der Mann auf dem Barhocker neben ihr. Er trug ein auf Taille geschnittenes Jackett, Clubkrawatte, überkrontes Lächeln. Und er war so spitz, wie es ein Anwalt nach einem gelungenen Schlussplädoyer nur sein konnte. Man sah es an seinen Augen und seiner Hose.

Der Flug von Schönefeld nach Stansted und der Transfer vom Flughafen ins Zentrum Londons hatte Gwens letztes Geld geschluckt. Ihr Betriebskapital belief sich auf eine Fünfpfundnote. Damit wedelte sie herum, bevor neue Drinks kamen. Doch Mister Black Wodka zahlte. Er nannte sie Sally, der erste Name, der ihr eingefallen war.

Sie trug ein schwarzes Trägertop mit Rüschenrand. Der Ausschnitt ging gerade noch als selbstbewusst durch und lenkte das Gespräch in eine unmissverständliche Richtung. Sie zeigte sich schlagfertig, fachlich kompetent, witzig. Ihr Rock war eng genug.

Ein vom Erfolgsrausch ungetrübtes Auge würde sich fragen, ob in ihre schwarze Hornbrille nur Fensterglas eingesetzt war und ob ihr langes blondes Haar wirklich echt war. Es würde ihren wässrigen Trinkerblick bemerken und die vom Make-up überdeckte Schramme an der Stirn, damit war sie gestern Nacht gegen den Kühlschrank geknallt. Dass sie aus der Berliner Anwaltskammer ausgeschlossen worden war und sich mehr schlecht als recht mit Kellnerjobs durchschlug, wusste so gut wie niemand, erst recht nicht in London.

Culls Cove, weiter dachte sie jetzt nicht. Vielleicht eröffnete sich eine neue Chance. Ihre letzte lag lange zurück. John hatte Knowles als Gast angekündigt. Das genügte als Anreiz. Allerdings ließ sich nicht jede offene Rechnung mit Geld begleichen.

Sein Knie streifte ihres. Sie lächelte wissend. Er legte die Hand auf ihren Oberschenkel. Sie hielt still, ließ ihn spüren, wie geschmeidig die Muskeln unter ihrer Haut waren, wie gut es sich anfühlte, wenn seine Finger weiter nach innen tasteten. Etwas in ihr öffnete die Lippen, um ihm zu zeigen, dass ihr die Berührungen gefielen. Sie empfand nichts dabei, ihr Körper brauchte keine Hilfe, der bekam das ganz von allein hin. Schließlich wies sie mit dem Kopf zur Tür, als könnte sie es kaum erwarten – was der Wahrheit entsprach.

Die Sitze in der Anwaltslimousine waren komfortabel. Gwen konnte es nur recht sein, dass – wie hieß er noch gleich? – die Stimmung mit einer Prise Speed anheizte. Dadurch würde es eine Weile dauern, bis ihm das Fehlen seiner Brieftasche auffiel. Die Bahnkarte nach Pelham kostete mehr als fünf Pfund.

Als er fertig war, nannte sie ihm eine erfundene Telefonnummer. Er gab sie in sein Smartphone ein. Gwen stieg aus und winkte zum Abschied. Er grinste wie ein Junge, der etwas richtig gemacht hat und dafür gelobt werden will. Sie warf ihm eine Kusshand zu. Keine Ursache, sollte das heißen. Dem Umfang nach zu urteilen war die Brieftasche prall gefüllt mit Scheinen. Dann verließ sie das Parkhaus, hielt ein Taxi an und fuhr zur Waterloo Station.

Ihr Reisetrolley befand sich in einem Schließfach. Auf der Bahnhofstoilette nahm sie Brille und Perücke ab und wechselte die Kleidung. T-Shirt, Jeans und Bikerjacke, das fühlte sich besser an. Die Brieftasche warf sie in einen Mülleimer, nachdem sie das Bargeld eingesteckt hatte.

Gwen löste ein Ticket. Eine knappe Stunde bis zur Abfahrt. Besonders verlockend erschien ihr das Wiedersehen mit den alten Freunden plötzlich nicht mehr. Was sollte sie auf die unvermeidlichen Fragen nach Laufbahn und Partner antworten? Lügen strengten an.

Ein großes Steak, danach würde alles anders aussehen. Sie machte sich auf die Suche nach dem nächsten Pub.

5

Der Wettermann tat so, als stünde der Weltuntergang kurz bevor. Ergiebige Regenfälle, Herbststürme an der Südküste, im Gebiet von Plymouth, Portland und Wight sogar bis Orkanstärke, schwere See.

Das Wochenende würde also etwas ungemütlich werden, zumindest im Freien. Bestens, fand Carol, dann gab es kein Outdoorprogramm. Mit John, Tim und den anderen vor einem prasselnden Kaminfeuer zu sitzen und in alten Zeiten zu schwelgen reichte ihr vollkommen. Seit wann hatte sie keinen Urlaub mehr genommen? Ihr Privatleben war zu einem Nostalgiepuzzle verkümmert, von dem immer mehr Teile fehlten.

Regungslos harrte sie auf dem Presenter-Stuhl aus, bis der Meteorologe an sie zurückgab.

»Ich bin Carol Wheeler«, sagte sie zum Abschluss der Nachrichtensendung. »Wir sehen uns wieder auf Channel 4.«

In einer Woche, fügte sie in Gedanken hinzu, während der Jingle eingespielt wurde und sie unter dem Studiodesk in ihre Pumps schlüpfte.

Ein Gruß in die Regie, ein paar Worte zu den Kameraleuten. Jetzt noch zum Abschminken und dann los.

Sie nahm vor ihrem Spiegel in der Maske Platz und schloss die Augen. Die Visagistin machte sich stumm an die Arbeit. Nach dem Auftritt genoss es Carol, einen undurchlässigen Kokon um sich zu erschaffen, ein paar Minuten der Ruhe, ohne Scheinwerferlicht, Teleprompter und Regieanweisungen. Die Sicherheit des Nicht-gesehen-Werdens.

»Ich krieg schon Lampenfieber. Wie hältst du das bloß aus?«

Es war Pauline, Carols Vertretung. Ganz wild darauf, endlich zum Zug zu kommen.

»Keine Angst, du wirst dich phantastisch schlagen«, sagte Carol und stellte sich vor, wie das junge Ding von einem Doppeldeckerbus überfahren wurde, einem alten, schweren, für Stadtrundfahrten. Die Bremsen dieser Karren waren unzuverlässig.

Pauline blieb neben ihr stehen und plapperte munter weiter. Über die Eigenarten der verschiedenen Analysten, die in die Nachrichtensendung eingeladen wurden. Über den Look, der bei den Konkurrenten von BBC News gerade angesagt war. Als sie alles durchgehechelt hatte, musste sie Carol unbedingt noch »schöne Ferien« wünschen. Schlange.

Die Quote würde hochschnellen, neue Gesichter brachten die Leute zum Umschalten. Vor allem, wenn sie so unverschämt gut aussahen wie Pauline mit ihrem Latte-macchiato-Teint.

Doch ein guter Presenter wurde man nicht mit einem Starbucks-Lächeln. Man brauchte eine einprägsame Ausstrahlung. Professionell sollte sie wirken, mit einer gewissen Härte, aber an den richtigen Stellen verständnisvoll und einfühlsam. Dafür musste man die Stimme modulieren, einen Hauch echtes Gefühl hineinlegen – und bloß nicht in diesen Journalisten-Singsang verfallen.

Beim Fernsehen kam es auf kleinste Nuancen an. Carol beherrschte sie. Und nicht nur das. Sie schrieb ihre Texte selbst, in Abstimmung mit der Redaktion. Bei einem Interview konnte ihr niemand etwas vormachen. Wenn ihr ein Politiker Lügen auftischte oder es mit Ausflüchten probierte, hakte sie nach, charmant, aber ohne Gnade. Manchmal entlockte sie ihren Gesprächspartnern eine unbedachte Live-Äußerung, die am nächsten Tag durch alle Medien ging. Es lag an den kleinen Dingen: eine Berührung unter dem Tisch, ein Zwinkern, das von den Kameras nicht erfasst wurde. Diesem Heimlichkeitskick, direkt vor den Augen der Nation, konnten sich nur wenige Parlamentarier entziehen. Danach rätselten sie, warum sie dieser Frau, die auch nicht besser – allerdings auch keineswegs schlechter – aussah als ihre persönliche Referentin, auf den Leim gegangen waren.

Wenn Carol wollte, konnte sie mit dem halben Oberhaus und dem kompletten Unterhaus ins Bett gehen, Schwule und Lesben eingeschlossen. Teure Hotelsuiten, Wochenenden in Landschlösschen, Typ Geliebte mit eigenem VIP-Status. Sie wollte aber nicht. Ihre Arbeit bedeutete ihr alles. Eigentlich war es gar nicht »Arbeit«, sondern Kunst. Die Kunst der Überredung.

Die Pauline ganz sicher nicht beherrschte, dieses Quoten-Fötzchen.

Die Visagistin war fertig. Sie kannte Carols Stil und hatte die Studioschminke durch ein natürlich wirkendes Make-up ersetzt.

»Danke. Sie sind ein Schatz!« Den Lippenstift trug sie selbst auf, etwas röter als sonst. Ein Blick auf die Uhr. Ob Tim schon wartete?

Timothy De Greef. Er leitete ein Marktforschungsinstitut. Da wurden Umfragen durchgeführt, Statistiken ausgewertet, Schulungen angeboten mit Stundensätzen, von denen jeder Sterbliche nur träumen konnte. Klar, dass Tim in dieser Branche gelandet war. Schon als Student trug er seine Brille an einer Schnur und schwitzte sommers wie winters ausgewaschene Polohemden durch. Konnte niemandem einen Gefallen abschlagen. Untersetzt, schlecht rasiert, irgendwie gehemmt, aber auf eine knuffige, süße Art. Wie es ihm nach dem Studium wohl ergangen war?

Sie ging zur Pforte hinunter. Direkt davor hatte sich eine Menschentraube gebildet, Sicherheitsleute, Mädchen vom Empfang, Redakteure. Alle standen um ein Auto herum, ein Sportwagen, dunkelgrün. Der verchromte Kühlergrill blinkte im Sonnenschein.

Carol schob sich hindurch. Ein Aston Martin, so viel konnte selbst sie erkennen, und zwar ein alter. »Mark II«, hörte sie jemanden sagen, »aus den Fünfzigern.« Mit einem belgischen Kennzeichen.

»Pünktlich wie die Nachrichten.« Tims unverkennbarer Akzent. »Hi, Carol. Können wir los?«

Er trug ein Jude-Law-Outfit – weißes, offen stehendes Hemd, schwarzes Jackett, keine Brille. Sogar die Taille hatte was von Jude, man konnte die Rippen zählen unter dem Slim-Fit-Stoff. Nur schlecht rasiert war Tim immer noch.

6

Nach dreißig Meilen war es vorbei mit der Cabrio-Herrlichkeit. Schwere Regentropfen klatschten auf die Holzverkleidung des Cockpits. Sie waren gerade mal bis Guildford gekommen.

Tim hielt am Straßenrand und machte sich daran, das Dach am Rahmen der Windschutzscheibe einzuhaken. »Rost tut diesem Baby gar nicht gut.«

»Mir auch nicht.« Carol lachte, ein bisschen zu laut. Witze waren nicht ihre Stärke.

»Hoffentlich gibt’s in Culls Cove eine Garage. Schon mal dort gewesen?«

»Nein. Aber wie ich John kenne, erwartet uns ein gewisser Komfort.«

»Vielleicht will er’s in seinem Refugium ja ganz schlicht haben, Downshifting, alles aufs Wesentliche reduziert.« Tim ging um den Wagen herum und befestigte das Dach an der Beifahrerseite. Es war eine schreckliche Fummelei.

»Sophia hätte da bestimmt was dagegen. Die war schon immer ein Luxusgeschöpf.«

»Seltsam, dass die beiden noch zusammen sind. Nach zehn Jahren.«

»John ist eben der traditionelle Typ.«

»Wie heißt der Ort noch mal, aus dem er stammt?«

Carol überlegte. »Pinneberg. Bei Hamburg.« Auf ihr Gedächtnis war Verlass. »Vielleicht trennt man sich dort nicht so leicht. Bis dass der Tod euch scheidet. So was prägt.«

»Kommt Gwen nicht auch aus Deutschland?«

»Zur Hälfte, ihr Vater war britischer Offizier in Westberlin.«

»Bloody krauts!« Tim erinnerte sich an den Spruch, der immer dann gefallen war, wenn Gwen irgendein argloses Erstsemester im Pub unter den Tisch getrunken hatte. »Wir hatten jede Menge Spaß, nicht wahr? Bristol. Eine bessere Stadt zum Studieren gibt’s nicht.«

Er stieg wieder ein und fuhr deutlich langsamer weiter. Ein Unfall war das Letzte, was er mit dem Mark II riskieren wollte. Im Grunde war er wohl ein Kleinbürger geblieben, oder? Er fand solche Beobachtungen zunehmend amüsant. Bürgerliche Gewohnheiten an sich zu entdecken, die ihm früher als verdammenswert gegolten hatten. Oh Mann, er hatte jeden erdenklichen Stoff besorgt, wenn die Nachfrage gestimmt hatte, vor allem für den letzten, den allerletzten Abend in diesem seltsamen Haus. Er selbst hatte höchstens mal einen Joint geraucht, damit der Eindruck entstand, dass er mit von der Partie war.

»Um ehrlich zu sein, habe ich den Kontakt zu den anderen verloren«, sagte Carol. »Keine Ahnung, was aus ihnen geworden ist.«

Ihr wurde bewusst, was sie für ihren Beruf alles aufgegeben hatte. Als es bei Channel 4 mit dem Fernsehen losgegangen war, hatte sie sich komplett abgeschottet. Keine Mails oder Briefe beantwortet, keine Ehemaligenfeiern an der Uni besucht, sich tot gestellt. Bloß keine Bindungen in den ersten Redakteursjahren. Und keine sozialen Altlasten. Dann die Presenter-Schulung. Der Sender hatte sie richtig rangenommen. Ihre Stimme war tiefer geworden, sie hatte ihre Nase begradigen und einen Leberfleck am Dekolleté entfernen lassen. Gesicht und Frisur auf Frontaleinstellung getrimmt. Sich formbar gezeigt. Programmdirektoren liebten das. Carol hatte genau darauf geachtet, welche Tabletten kombinierbar waren und mit wem sie schlief. Inzwischen war Letzteres nicht mehr nötig, Karrieresex war kein Faktor mehr in ihrer Lebensplanung. Ein weiteres Jahr, dann stand sie vor der Frage: Trophäenfrau oder eine Führungsposition hinter der Kamera.

Ihre alten Freunde hatten sich immer seltener auf ihrem Anrufbeantworter gemeldet, irgendwann gar nicht mehr. Dabei waren es keine x-beliebigen Studienbekanntschaften, nicht nach der Nacht im Dark House. Zwischen ihnen existierte ein Band, das Carol zielstrebiger gemacht hatte, widerstandsfähiger. Vielleicht auch skrupelloser. Das Band ließ sich ignorieren, aber nicht völlig durchschneiden. Aus diesem Grund hatte sie die Einladung nach Dorset angenommen.

Wer von uns weiß noch, was damals genau passiert ist? Es war stockdunkel und still wie in einem Grab, keine Geräusche drangen von draußen herein. Wir hätten uns genauso tief unter der Erde befinden können, in einer Mine oder einem bodenlosen Schacht. Die meisten von uns hatten etwas getrunken oder Drogen genommen, um den Kick zu verstärken. Wir taumelten durch die allumfassende Nacht, durch unser Schweigen und unsere Begierden, durch unsere jungen, widerstandsfähigen Körper. Und wir hatten einen Vorsatz: Am Tag danach alles zu vergessen. Mehr Gegenwart ging nicht.

»Jetzt erzähl mal was von dir«, forderte sie Tim auf. Sie hatte nur von ihrem Job gesprochen, Selbstdarstellungsrhetorik, schwer abzustellen.

»Meine Leute kommen auch mal eine Woche ohne mich aus.«

»Wie viele …«

»Ich bin schon seit zwei Tagen mit dem Wagen unterwegs, hab mir eine kleine Auszeit genommen. Einmal die Küste entlang, mit Abstechern ins Hinterland. Nur Landstraßen, wenig Gepäck, in kleinen Auberges übernachten. Und heute Morgen mit der Fähre nach Dover. The classic way.«

»Hört sich toll an. Ich wusste gar nicht, dass du romantisch veranlagt bist.«

»Liegt nur an meinem Schmuckstück.« Tim tätschelte das Lenkrad. »Ruft einem in Erinnerung, was das alte Europa zu bieten hat.«

»Deine Firma scheint gut zu laufen.«

»Ich kann mich nicht beklagen.«

»Das Geschäft mit den Zahlen?«

»Zahlen sind glaubwürdiger als Worte.«

»Sie lassen sich leichter manipulieren«, setzte sie hinzu. »Vor allem, wenn man in Brüssel sitzt, an der Quelle.«

»Mag sein.«

»Das hast du von Knowles. Menschen in eine bestimmte Richtung manövrieren.«

»Für dich war er vielleicht so eine Art Guru«, widersprach er. »Oder für Struan. Aber ich hab mir alles selbst aufgebaut. Knowles hat daran nicht den geringsten Anteil.«

»Verleugnet da jemand seine Wurzeln?«

»Der Mann war ein Spinner. Diese Psychospielchen …«

»Haben uns alle verändert.«

»Inwiefern?«

»Einige von uns sind über sich hinausgewachsen«, sagte sie. »Damals und, wenn man dich so anschaut, auch heute.«

»So?« Tim blickte an sich herab, als wollte er ihre Einschätzung überprüfen. »Du bildest dir schnell ein Urteil.«

»Knowles hat uns dabei geholfen, unsere Dämonen zu besiegen.«

»Hat aber nicht bei allen geklappt.«

Carol stutzte. »Du meinst …«

»Schon vergessen, wer bei unserem Zehnjährigen definitiv fehlen wird?«

»Manche Dinge sollte man ruhen lassen.«

»Liegt das in unserer Hand?«

Der Regen wurde heftiger, die Scheibenwischer kamen kaum nach. Tim drosselte die Geschwindigkeit auf fünfzig Meilen die Stunde. Er zündete sich eine Zigarette an.

Carol hatte mit dem Rauchen längst aufgehört. Sie nahm auch eine.

7

Warum war es immer windig, wenn sie den Toten einen Besuch abstattete? Meena Kapoor parkte ihren Mietwagen in der Greenbank Road und vergewisserte sich, dass die elektronische Verriegelung funktionierte. Einmal, zweimal. Zur Sicherheit ein drittes Mal.

Sie zog die Kapuze ihres Dufflecoats tief in die Stirn. Ein Windstoß erwischte sie von der Seite und drang ihr bis ins Mark. Sie wog vierundvierzig Kilo, das lag weit unter ihrem Idealgewicht. In den letzten Wochen hatte sie wieder schlecht gegessen und das meiste von sich gegeben.

Sie nahm den südlichen Eingang zum Friedhof. Am Pförtnerhaus vorbei, zu den Gräberfeldern. Zuerst sah sie nach ihrem Vater, einem Buchhalter, der seine zweite Bypass-Operation nicht überstanden hatte. Er war schon in Pakistan zum christlichen Glauben übergetreten, kurz bevor er als junger Mann nach Großbritannien emigriert war. Seine zukünftigen Kinder sollten in der neuen Heimat optimale Startbedingungen haben.

»Hallo.« Meena blieb stehen.

Sie wusste, worauf ihr Dad alles verzichtet hatte, um ihr eine gute Ausbildung zu ermöglichen. Die Schulgebühren, damit sie aufs renommierte Clifton College gehen konnte. All die zusätzlichen Ballett- und Flötenstunden. Ihr Zimmer in der WG mit Gwen und Sophia, obwohl sie zu Hause hätte wohnen können. Design-Studium – er hatte gar nicht begriffen, was das war. Dann ihre Launen, Künstlerallüren. Am meisten hatte er gelitten, als sie sich selbst zu verletzen begann. Schnitte an Unterarmen, Oberschenkeln, Bauchdecke, Kopfhaut. Verbrennungen. Dass sie bei Professor Knowles nicht nur Vorlesungen über Farbpsychologie gehört hatte, sondern auch seine Patientin gewesen war, hatte sie sogar vor ihren Freunden verheimlicht.

»Danke, Dad.« Sie kniete nieder und küsste die Grabplatte. Die Stelle glänzte ein bisschen. Kein Moos, keine Flechten. Sie kam oft hierher.

Er schwieg. Das tat er selten.

Meena horchte in die Stille hinein. Als brauchte ihr Vater heute ein bisschen länger, um sie zu verstehen. »Ja, ich verlasse Bristol. Zum ersten Mal seit … wie vielen Jahren?«

Zehn. Seither hatte sie sich eingemauert im Reihenhaus ihrer toten Eltern. Keine unliebsamen Störungen, keine Menschen. Nur sie, die billigen Möbel und die Wände. Sie arbeitete als Webdesignerin, das ging gut von zu Hause aus. Manchmal legte sie den Finger auf eine Fensterscheibe, als wollte sie die Außentemperatur fühlen. Die Jahreszeiten waren schwer zu unterscheiden.

Culls Cove lief ihr nicht davon. Meena widerstrebte es, die Erste zu sein. Lieber stieß sie gegen Abend zu den anderen, kurz vor dem Dinner.

Sie begab sich in einen Teil des Friedhofs, in dem sie schon länger nicht mehr gewesen war. Es fiel ihr schwer, einen Fuß vor den anderen zu setzen.

Das Denkmal für die zivilen Opfer des Bristol Blitz von 1941. Mit diesem Krieg verband sie nichts. Gwen war oft hier gewesen, um über die Schattierungen von Schuld nachzudenken, über die Vergangenheit, die in ihrer Familie seltsame Schnittmengen bildete. Verdammtes Empire. Meena reichte schon die Schuld der Gegenwärtigen.

Hollies Grab war leicht zu übersehen. In zehn Jahren tat die Natur eine Menge, um die Spuren der Toten zu verwischen.

Mit dem Ellbogen fuhr sie über die Inschrift. Hollie Cavendish. Die Jahreszahlen, mehr nicht. Darunter müsste stehen: In den Tod getrieben.

Meena schloss die Augen und sah Hollie vor sich.

So weich. Mit ihrem langen hellbraunen Haar und dem fragenden Blick. Voller Vertrauen. Bisschen naiv, was sie umso anziehender gemacht hatte. Eine Scham wie ein Winterkätzchen, das man vergessen hatte zu ertränken. Zusammen hätten sie glücklich werden können, gegen alle Widerstände. Wahre Liebe kannte keine Beschränkungen. Sie hatten kurz davorgestanden, ein Paar zu werden. Hollie hätte Meenas Drängen nachgegeben und sich eingestanden, wie sie in Wahrheit veranlagt war. Die anderen hatten es ohnehin geahnt, Gwen, Tim, und sie sogar ermutigt, unkonventionell, wie sie sich damals fühlten.

Doch dann war alles in Scherben gegangen, in einer einzigen Nacht.

Der Wind blies stärker. Es kam Meena so vor, als legte sich eine Hand auf ihre Schulter.

»Töte!« Es war nur ein Flüstern.

»Wen?«, fragte sie.

»Alles.«

8

Sophia kam aus der Dusche. Sie schlüpfte in ein frisches Höschen und entzog sich seiner Umarmung. »Ich muss jetzt los.«

»Bleib doch noch.« Lloyd wies zum Fenster. Regen prasselte gegen die Scheibe. »Wer geht bei diesem Wetter vor die Tür?«

»Wir waren uns einig, oder?«

»Na ja ...«

»Sonst wäre ich gar nicht erst gekommen.«

»Hast du keinen Spaß gehabt? Hörte sich aber anders an.« Er schnappte sich ihren Push-up-BH und versteckte ihn hinter seinem Rücken.

»Es ist vorbei. Bitte sei vernünftig.« Sie kleidete sich weiter an. Jetzt hielt sie die Verabredung in dem kleinen Landhotel an der Straße nach Basingstoke nicht mehr für eine gute Idee. Ihre Beziehung war beendet, nach drei überaus erfüllten Monaten. Es würde keine Trostrunde geben.

»Du kannst ganz schön hart sein«, maulte er.

»Das Kompliment gebe ich zurück.« Zotig, er mochte das. Sie versuchte es mit einem komplizenhaften Lächeln und entwand ihm den BH. Sein Widerstand ließ schnell nach, wenn sie ihm schmeichelte. »Ich hab’s dir doch erklärt. Mit uns beiden hat das nicht das Geringste zu tun. Maddie ist jetzt bei mir in Behandlung, und mit dem Mann einer Patientin gehe ich nicht ins Bett. So sind die Regeln.«

»Warum hast du sie nicht abgelehnt?«

»Ich bin Psychotherapeutin, ich nehme meinen Beruf ernst. Wer mich um professionelle Hilfe bittet, kriegt sie auch.«

»Die Leute sagen, du wärst richtig gut.«

»Danke.« Sie zog den BH an und streifte ihren weißen Kaschmirpulli über den Kopf.

»Kannst du schon das Ende von Maddies Behandlung absehen?«

»Jede Therapie ist irgendwann abgeschlossen.« Sophia ließ es bedeutungsschwer klingen. Sie musste ihm Hoffnungen machen, sonst würde er noch etwas ausplaudern oder im Pub mit seinen sexuellen Höchstleistungen prahlen. Gekränkter Stolz, Frust, Mutwille – Männer waren unberechenbar, wenn es um ihre Ehre als Liebhaber ging.

Sie verschwieg ihm, dass sie die meisten ihrer Patienten dauerhaft betreute. Das war das Gute an psychischen Problemen. Sie gingen nicht so einfach weg wie eine Grippe. Die jüngste Sitzung mit Maddie hatte vor wenigen Stunden in Sophias Praxis stattgefunden. Maddie hatte Komplexe, die für eine ganze Großfamilie reichten. Nichts Schlimmes, aber verwickelt. Die Frau würde ihr längerfristig erhalten bleiben.

Lloyd warf seinen blonden Wuschelkopf in den Nacken und stieg in seine Boxershorts. Er schien sich mit der Trennung abzufinden. »Wo musst du jetzt so dringend hin?«

»Zu einer Art Klassentreffen.« Sie stopfte ihre gebrauchte Unterwäsche in den Koffer, den sie fürs Wochenende gepackt hatte.

»Wird bestimmt stinklangweilig.«

»Das glaube ich kaum. Wir standen uns alle recht nahe.«

»Kann ich von meinem Abschlussjahrgang nicht behaupten.«

»Mein Mann wird auch da sein.«

»Langweilig, sag ich doch.« Er lachte.

»Solche Bemerkungen stehen dir nicht zu.« Ihr Ton wurde eine Spur schärfer.

»Ist ja schon gut.«

»Am meisten freue ich mich auf meinen alten Professor von der Uni. Der hat mir alles beigebracht.«

»Ein Seelenklempner?«

»Viel mehr als das.« Sophia knöpfte ihren Burberry-Trenchcoat zu, aber nur so weit, dass ihr Dekolleté noch zur Geltung kam. Ihre Workout-Waden glichen poliertem Tropenholz, das wusste sie, und sie arbeitete hart daran. Bei jeder Gelegenheit stellte sie sich auf die Zehenspitzen, zum Beispiel in der Küche, wenn sie das Hausmädchen anwies, was am Abend auf dem Tisch zu stehen hatte.

So wie Lloyd aussah, mit seinen Sommersprossen und dem festen Bauch, würde er bald Ersatz finden. Vielleicht eine Lehrerkollegin, da gab es eine große, hungrige, verzweifelte Auswahl. Oder eine knackige Schülerin, er durfte sich nur nicht erwischen lassen.

»Wir hatten eine wundervolle Zeit.« Sie küsste ihn leidenschaftlich. Presste sich an ihn. Knetete seinen Hintern, damit er sie gebührend vermisste.

Als er seine Shorts herunterzerrte, löste sie sich von ihm. »Schsch!« Sie legte ihm einen Finger auf die Lippen und wollte schon sagen: »Mann, bist du dämlich«, verkniff es sich aber. Niemals die Wahrheit sagen.

Dann ging sie.

9

Der Zug aus London hatte Verspätung. John warf den leeren Kaffeebecher in einen Mülleimer und schlenderte den Bahnsteig entlang. Es war kalt geworden in der letzten halben Stunde, ein Temperatursturz. Er nahm einen Schluck aus dem Flachmann. Erst vor kurzem war er auf den Geschmack von Whisky mit Torfrauch gekommen, und Laphroaig war in dieser Hinsicht extrem, aber gut.

Ein Rentner in Wanderkleidung und mit einem alten Lederrucksack nickte ihm zu. Ja, das Zeug wärmte von innen. In England schaute einen niemand scheel an, wenn man sich eine kleine Stärkung gönnte, auf dem Lande schon gar nicht. Außerdem war John eine respektable Erscheinung. Er trug einen grünbraunen Tweedanzug und einen dazu passenden knautschigen Hut, gelbe Weste, Strickkrawatte. In dieser Aufmachung sah er aus wie Richard Attenborough und fühlte sich auch so, obwohl er erst siebenunddreißig war.

Wenn er sich für ein Wochenende von der Klinik loseisen konnte und auf Culls Cove herumspazierte, stellte er sich vor, dass die Halbinsel schon seit Generationen im Besitz seiner Familie war. Als Kind eines Pinneberger Spediteurs, der sämtliche Klischees eines Neureichen erfüllt hatte, einschließlich einer viel zu jungen dritten Ehefrau, die nach dem Tod des geliebten Gatten auf dessen Schulden sitzengeblieben war, sehnte sich John nach Tradition. Nicht so sehr wegen des Upperclass-Feelings, das konnte ihm gestohlen bleiben, sondern weil ihm seit dem Studium in Bristol dieses Bild vor Augen gestanden hatte: ein Cottage am Ende einer von Hecken flankierten, gewundenen Straße, auf einer Anhöhe irgendwo an der Küste, wo der Wind das Salzwasser über die mageren Wiesen blies und die Hügel einer karierten Picknickdecke glichen. Steinmäuerchen, Efeu, ein weißer Gatterzaun. Der Schornstein schickte eine Rauchfahne in den stahlblauen Himmel.

Culls Cove kam seinem Merry-Old-England-Tick ziemlich nahe. Dort musste das Glück wohnen. Und der Leuchtturm in Sichtweite des Cottage war die Kirsche auf dem Kuchen. In dieser Umgebung gelang es John, dem Druck für ein paar Tage zu entfliehen. Die Herzklinik stand mehr denn je auf wackligen Beinen. Jede OP war eine Zitterpartie. Wenn ihm in nächster Zeit noch einmal ein Patient unter den Händen wegstarb, konnte er den Laden dichtmachen.

Sophia war ihm keine große Stütze. Sie baute ihre eigene Praxis auf, nachdem sie eine Zeitlang an der UEL in London geforscht hatte. Mit Kindern klappte es einfach nicht. Vielleicht trieb sie aus diesem Grund exzessiv Sport. Gerade war sie wieder im Fitnessstudio, wie an jedem Freitagnachmittag. Sie hielt sich strikt an ihren Trainingsplan, mit einer Disziplin, die er schon immer an ihr bewundert hatte. Sophia war stark. Er liebte sie. Auch dafür, dass sie ihr eigenes Leben führte. Der Deal war, einst nur so dahingesagt: Jeder ließ dem anderen seine Freiräume.

Manchmal sahen sie einander tage- oder wochenlang nicht, berufliche Reisen nicht eingerechnet. Doch dann gab es diese Abende, an denen sie ohne Absprache gegen zehn oder elf aufs Sofa sanken und bis in die Morgenstunden redeten und tranken, mit Knutscheinlagen, als wären sie noch Teenager. Wenn Sophia es fertigbrachte, die Tage ihres ersten Kennenlernens heraufzubeschwören, schmolz er dahin.

»Hallo, John.«

Er kannte diese tiefe Stimme. Sie verlieh jedem Wort am Ende einen kleinen Schnörkel. John drehte sich um. Der Zug war im Bahnhof eingefahren, er hatte es kaum bemerkt.

»Frederic?« Händeschütteln, den Ankömmling taxieren, keine Unsicherheit zeigen. »Schön, dass du da bist. Wie war die Reise?«

»Ich konnte ganz gut arbeiten. Bin schon vor ein paar Tagen gelandet.«

»Wirklich? Das wusste ich gar nicht.«

»Hilfst du mir mit dem Gepäck?«

Pelham war Endstation, sie mussten sich nicht beeilen. Knowles hatte drei große Schalenkoffer dabei. Sie luden sie auf einen Trolley, John schob ihn Richtung Schalterhalle.

»Willst du auf Culls Cove überwintern?«

»Ich bin ein fahrender Hörsaal. Oder ein Therapieraum, wie man’s nimmt.«

»Keine Veränderungen, wie?« John blickte auf Knowles’ Vollbart, der dessen hageres Gesicht nach wie vor einrahmte und mittlerweile fast weiß geworden war. Der Professor war einen Kopf größer als er, grauer Tuchanzug, darunter ein schwarzes T-Shirt, Trenchcoat über dem Arm, elegante Budapester. Früher hatte er Turnschuhe getragen.

Knowles strich sich über den Bart. »Das Signum meiner Zunft. Wenn ich ihn abnähme, würde man mich nicht wiedererkennen.« Belustigt setzte er hinzu: »Du hast einige Pfunde zugelegt. Steht dir gut.«

John sah an sich herab. »Bin ein bisschen seriöser geworden.«

»Vertrauen einflößend, dieser Landarztlook. Deine Herzpatienten müssen sich fühlen, als kämen sie nur auf eine Tetanusspritze vorbei.«

»In der Klinik trage ich natürlich ...«

»Ein Deutscher schnippelt einem Briten an der Pumpe herum. Da ist ein wenig Assimilation nicht verkehrt.«

»Spielt das heutzutage noch eine Rolle?«

»Erinnerungen bleiben über die Generationen hinaus wach, dafür sorgt schon die Sun. Deshalb hast du wohl Sophias Namen angenommen. Aus Johannes Schmittner wurde John Brooks. Klingt so englisch wie der Seewetterbericht der BBC.«

Sie durchquerten die Schalterhalle und erreichten den Parkplatz.

»Lass mich raten«, sagte Knowles. »Du fährst einen Range Rover.«

»Der ist nur geleast.«

»Du brauchst dich nicht zu rechtfertigen. Erste Psychologenregel: Belehre nie einen Patienten! Er könnte vergessen, die Rechnungen zu bezahlen.« Er lachte und klopfte John auf die Schulter. »Wir wollen doch nicht in die alte Lehrer-Schüler-Falle geraten?«

»Ist das eine Analyse?«

Knowles machte eine theatralische Geste, als würde er seinen ehemaligen Assistenten hypnotisieren. »Am Telefon musste ich mich zurückhalten. Da hatte ich nur deine Stimme, um ein wenig zu spekulieren.«

John stoppte den Trolley neben seinem Range Rover. »Du machst mir Angst. Immer schon.«

»Das gehört dazu.«

»Ich habe alles vorbereitet.« John betätigte die Fernbedienung. Die Heckklappe des Wagens sprang auf.

»Gut.«

»Warst du schon in Bristol? An alter Wirkungsstätte?«

»Bei diesen Ignoranten?«

»Meena wohnt immer noch da. Ihre Eltern sind kurz nacheinander gestorben.« John lud die Koffer ein.

Knowles sah hoch in die Wolken. Ein Gewitter zog auf. »Arme Meena. So viele Verluste.«

»Sie kommt auch nach Culls Cove. Mach dich auf einiges gefasst.«

»Schade, dass ich ihr nicht helfen konnte. Sie ist so etwas wie ein unabgeschlossener Fall.«

»Sind wir das nicht alle?«

»Damit hast du wohl recht.« Knowles legte John eine Hand auf die Schulter. »Aber es sind immer die schwierigsten Kinder, für die wir am meisten Verständnis aufbringen.«

10

Gwen schmiss ihre Sporttasche auf die Schalenkoffer. »Was heckt ihr da schon wieder aus?«

John blickte verdutzt zu Knowles.

»Auf dem Bahnsteig hast du mich übersehen.« Sie schüttelte tadelnd den Kopf. »Ich hab dir doch gemailt, dass ich’s irgendwie schaffe. Ist wohl nicht angekommen? Na, was soll’s, hier bin ich!«

Peinliche Pause. John machte keine Anstalten, sie willkommen zu heißen.

»Okay«, sagte sie gedehnt. »Was hast du über mich gehört?«

Er hasste solche Situationen. Tatsächlich hatte er alle Gäste eingehend überprüft, im Internet und was es sonst noch an Quellen gab. Damit er wenigstens ungefähr wusste, was auf ihn zukam. »Du hast Schwierigkeiten mit den deutschen Behörden.«

»Na und?«

»Ich dachte, du kommst nicht.«