Darkest Glory: Ich will nur dich - Cheryl Kingston - E-Book

Darkest Glory: Ich will nur dich E-Book

Cheryl Kingston

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Beschreibung

Ein Mordversuch auf die Escortdame Olivia Shepard bringt diese dazu, den verhassten Job an den Nagel zu hängen. Gleichzeitig errichtet sie meterhohe Schutzmauern um sich. Mauern, die noch Jahre später kaum zu durchdringen sind - bis Kane Tribe in ihr Leben stolpert. Der verboten heiße Finanzinvestor teilt nicht nur ihre Leidenschaft für schnelle Autos, sondern kratzt außerdem mit all seinem betörenden Charme an ihrer betonharten Fassade. Ohne seine Zielstrebigkeit wäre er nicht der erfolgreiche Geschäftsmann, der er ist: Sein neues Ziel? Olivias Herz! Doch als Olivia beginnt, ihm zögerlich ihr Vertrauen zu schenken und sich für ihn zu öffnen, muss sie erfahren, dass selbst der schnellste Fluchtwagen nicht reicht, um ihrer düsteren Vergangenheit zu entkommen. Plötzlich scheint sie alles zu verlieren, dabei wollte sie nur eins – endlich wieder lieben. Teil 1 der "Safe Harbor"-Reihe.

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DARKEST GLORY: ICH WILL NUR DICH

Cheryl Kingston

2018 Plaisir d’Amour Verlag, D-64678 Lindenfels

www.plaisirdamour.de

[email protected]

© Covergestaltung: Mia Schulte

©Coverfoto: Istockphotos.com

ISBN Taschenbuch: 978-3-86495-338-5

ISBN eBook: 978-3-86495-339-2

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Danksagung

Autorin

Kapitel 1

Blutrote Lippen.

Künstliche Wimpern.

Manikürte Nägel.

Gebleichte Zähne.

Strapse und Spitze unter einem hautengen, viel zu gewagten Kleid.

Ich sehe aus wie eine Nutte.

Ich bin eine!

Wie hat es so weit mit mir kommen können?

Verschwommen sehe ich mein Spiegelbild. Ich darf nicht weinen, doch die Tränen drohen mich zu ersticken. Tief atme ich durch, pudere mein Gesicht noch mal nach und verlasse das Badezimmer der extrem vornehmen Suite eines Luxushotels.

Mit einem künstlichen, aber dennoch überzeugenden Lächeln kehre ich zu meinem Kunden zurück.

»Pandora, da bist du ja endlich wieder. Ich habe deine Gesellschaft vermisst.« Magnus strahlt mich an. Er ist Ende vierzig, attraktiv und sehr wohlhabend. Man sollte eigentlich meinen, dass so ein Mann keinen Escortservice nötig hat, aber was weiß ich von Männern?

Mich verwundert jedoch die Tatsache, dass er, noch mehr als jeder andere Kunde, den ich bisher getroffen habe, so sehr auf seine Anonymität bedacht ist. Magnus wirkt fast schon neurotisch, und das obwohl ich zu Beginn meines Jobs eine Verschwiegenheitsklausel unterschreiben musste, damit unsere Kunden sicher sein können, dass niemand von dem Service, den sie in Anspruch nehmen, erfährt. Im Grunde ist mir seine überzogene Vorsicht egal, mir geht es ausschließlich ums Geld.

Magnus soll ein ganz besonderer Stammkunde sein und Lust auf Frischfleisch haben, wie meine Chefin Cecil es nannte.

Offiziell sind wir ein Escortservice, aber für manche Kunden macht sie Ausnahmen und vermittelt die Männer mit Extrawünschen an Mädchen, die bereit sind, für Geld Sex zu haben. Was sie genau genommen nicht nur zur Geschäftsfrau, sondern auch zur Zuhälterin macht. Ihr Anteil an unserem monatlichen Verdienst ist mit dreißig Prozent nicht wenig.

Heute wird mein erstes Mal sein, nicht das erste Mal, aber das erste Mal für Geld.

Bei dem Gedanken habe ich wieder das Gefühl, keine Luft zu bekommen. Doch ich kann keinen Rückzieher machen. Nicht jetzt und auch zukünftig nicht mehr.

Magnus nimmt meine Hand in seine und gibt mir einen Handkuss. Mein Instinkt sagt, dass ich sie ihm sofort entreißen soll, stattdessen kichere ich und lasse mich auf meinem Stuhl nieder.

Der Mann mir gegenüber ist nett und wirklich charmant, wenn man auf diesen Typ Mann steht. Trotzdem fühle ich mich schrecklich.

Ich will das nicht tun, aber ich muss!

Es sind mittlerweile zwei Stunden vergangen. Magnus und ich haben uns etwas zu essen aus der Küche des Fünf–Sterne–Hotels aufs Zimmer kommen lassen und uns durch Unterhaltungen während des Essens angenähert. Der Wein hat mich entspannt und ich konnte für einige Zeit den eigentlichen Grund dieses Treffens verdrängen.

Nun, nachdem der erste Teil des Abends beendet ist, kehrt der Knoten in meinem Bauch mit einem Schlag wieder zurück.

Muss ich wirklich mit diesem Mann Sex haben?

»Was hältst du davon, wenn wir es uns bequem machen und uns auf dem Sofa weiter unterhalten?«, fragt Magnus und deutet auf die große Ledercouch. »Vielleicht noch ein Schlückchen Wein oder hättest du lieber etwas Härteres?«

Er sagt seine Worte zwar ohne irgendeine Art von Unterton in der Stimme, dennoch ist uns beiden die Zweideutigkeit seines Satzes durchaus bewusst.

»Das wäre sehr nett.« Ich bin erstaunt, wie fest meine Stimme klingt.

»Gut, aber vielleicht sollten wir zuerst das Geschäftliche klären, dann hätten wir das erledigt und können den restlichen Abend genießen.« Lässig, regelrecht gönnerhaft, zieht er eine Geldklammer aus seiner Anzugtasche hervor und zählt erst fünfzehn 100–Dollar–Scheine ab, dann weitere drei – scheinbar Trinkgeld.

Mit einem Blick, den ich nicht genau definieren kann, der mir aber eine Gänsehaut verursacht, reicht er mir das Geld. Ohne etwas zu erwidern, nehme ich das Bündel und verstaue es in meiner Clutch.

Während ich mich sortiere, hat Magnus bereits sein Jackett ausgezogen und gießt uns nun jeweils zwei Fingerbreit Whisky ein. Ich habe bisher nicht viele Erfahrungen mit Alkohol gemacht, schließlich bin ich noch nicht lange einundzwanzig, dennoch kenne ich das brennende Gefühl, das die bernsteinfarbene Flüssigkeit in meinem Hals hinterlassen wird – ein äußerst willkommenes Brennen.

»Setz dich zu mir. Ich beiße nicht, versprochen«, versucht er mich zu beschwichtigen und deutet, nachdem er sich auf dem Sofa niedergelassen hat, auf den Platz neben sich. Warum beunruhigt mich sein Tonfall nun erst recht?

»Danke.« Ich nehme ihm das Glas ab, welches er mir entgegenhält, und setze mich neben ihn.

»Entspann dich.« Mein Kunde lehnt sich auf dem Sofa zurück und betrachtet mich, während er den ersten Schluck trinkt. »Cecil sagte, du wärst noch sehr jung und eine von den sexuell eher unerfahrenen Ladys.«

»Alter ist relativ. Ich bin auf jeden Fall alt und erfahren genug, damit wir Spaß miteinander haben können«, kokettiere ich und nehme nun ebenfalls einen Schluck. Wenn man die Körperhaltung des Gegenübers spiegelt, führt dies dazu, dass sich der andere wohler fühlt, und ich will, dass Magnus sich wohlfühlt. Ich kann es mir nicht leisten, ihn zu enttäuschen. Er zahlt gut, und ich hoffe, dass er mich auch in Zukunft buchen wird. »Und ja, ich bin noch nicht allzu lange in dem Job, aber ich habe durchaus meine Vorzüge und bin mehr als motiviert, Neues zu lernen.«

»Ja, Cecil hat seit Jahren die besten Mädchen.« Wieder schaut er mich lange an, fast so, als würde er sich überlegen, was er als Nächstes machen soll – mit mir machen soll.

Ich leere sehr undamenhaft mein Glas und ergreife die Initiative, um den Abend voranzutreiben und den Sex mit ihm endlich hinter mich zu bringen. So kann ich mir wenigstens vormachen, dass ich die Kontrolle über mein Tun habe. »Wir sollten uns dem wirklich interessanten Teil des Abends zuwenden«, gurre ich und stehe vom Sofa auf.

Auch wenn Blair, meine beste Freundin und ebenfalls Escort, mich gecoacht hat, weiß ich absolut nicht, was ich hier mache. Dennoch greife ich beherzt nach dem Reißverschluss meines Kleides. Ein kurzer Handgriff und es gleitet an meinem Körper hinab auf den Boden.

Ich hatte noch nie zuvor so etwas wie Reizwäsche an, dementsprechend schwer ist es mir gefallen, welche auszusuchen. Magnus scheint meine Wahl aber sehr zuzusagen. Nur zu deutlich sehe ich die Erregung in ihm brodeln, seine Nasenlöcher blähen sich immer wieder auf und die Pupillen sind vergrößert.

»Dreh dich für mich!«, fordert er und macht mit dem Finger eine kreisende Bewegung.

Als er mir mit der flachen Hand einen leichten Klaps auf den Po gibt und ihn dann knetet, zucke ich zusammen. Durch ein weiteres Kichern, das ich nun seit vier Monaten perfektioniere, überspiele ich gekonnt meine kurzzeitige Unsicherheit.

Magnus ist vielleicht der erste Kunde, mit dem ich Sex haben werde, aber es gab bereits vor ihm Kunden, die mich angefasst haben.

Anfangs ist es ein innerer Kampf gewesen, mich mit fremden Männern zu treffen, doch mittlerweile schaffe ich es, zumindest bis mein Job erledigt ist, Pandora, das Escortmädchen, zu bleiben.

Magnus greift nach meinem Handgelenk und zieht mich auf seinen Schoß. Sofort fühle ich die riesige Beule, die sich an meinen Schritt presst, und muss schlucken. Sie macht mir Angst!

Jungfrau bin ich nicht mehr, aber meine Erfahrungen halten sich dennoch in Grenzen. Jetzt bin ich froh, dass ich vorhin Blairs Ratschlag befolgt und mich vorsorglich mit Gleitgel vorbereitet habe. Bisher mochte ich Sex und hatte nie Probleme damit, feucht zu werden, aber ob das in so einer Situation auch so ist, weiß ich nicht. Vor allem weiß ich nicht, wie er mit mir umgehen wird – zärtlich oder bestimmend?

Natürlich habe ich vorab mit Cecil geklärt, welche Tabus ich habe, zum Beispiel, dass ich nicht gefesselt oder geschlagen werden will. Aber was für ein Typ Mann er ist, weiß ich dennoch nicht.

Plötzlich sind seine Hände überall auf meinem Körper, ertasten, erkunden mich, und zu meinem Erstaunen muss ich zugeben, dass Magnus geduldig und zärtlich ist. Als er mir jedoch die Hand in den Nacken legt und mich küssen will, drehe ich den Kopf weg. »Keine Küsse auf die Lippen!« Selbst mir kommt meine Stimme komisch vor, so hoch ist sie, ihn scheint es nicht zu stören. Kommentarlos geht er dazu über, meinen Hals, meine Schlüsselbeine und den Ansatz meiner Brüste zu liebkosen.

 So schlimm fühlt es sich gar nicht an, es kribbelt sogar ein wenig. Aber das ist bloß meine körperliche Reaktion, denn mein Hirn läuft immer noch auf Hochtouren, und wieder frage ich mich, warum ein Mann Geld für Sex bezahlt. Beziehungsweise, warum sich ältere Männer Frauen wünschen, die in manchen Fällen sogar jünger sind als ihre eigenen Kinder.

Seine Finger im Bund meines Höschens zerren mich in die Realität zurück, instinktiv verkrampfe ich mich und jegliches positive Gefühl verpufft wieder.

»Entspann dich!«, fordert er und im Handumdrehen liege ich mit dem Rücken auf dem Sofa. »Ich bin kein egoistischer Teenager mehr und werde dafür sorgen, dass du den Sex mit mir genießt.«

»Oh, davon bin ich überzeugt«, krächze ich und widerstehe dem Drang, meine Beine zusammenzupressen.

»Spreiz die Beine für mich, ich will von dir kosten!« Erst als seine Zunge über meine Schamlippen streicht, verstehe ich, was er damit gemeint hat. Innerlich schüttle ich mich, denn die Art, wie er es sagt, ist widerlich.

»Du schmeckst so gut und bist so glatt und weich. Ich liebe rasierte Mädchen.« Genüsslich leckt er mich weiter, und ich kann nicht verhindern, dass mein Körper erneut auf seine Liebkosung reagiert.

Doch auch wenn mein Körper empfänglich für ihn wird, schreit eine Stimme in meinem Kopf, wie falsch das Ganze ist. Ich fühle mich zerrissen, schmutzig und schuldig.

In diesem Moment schaffe ich es endlich, auf Autopilot zu schalten – nicht mehr zu denken, nur noch zu handeln. Wie durch einen dicken Nebel nehme ich wahr, dass er nach einiger Zeit mit seinem riesigen Glied in mich eindringt, mich dehnt und immer wieder zustößt, bis er ganz in mir ist.

Danach schaltet mein Gehirn endgültig ab.

Ich weiß nicht, wie viele Stunden vergangen sind, seit er zum ersten Mal in mich gedrungen ist, aber ich schätze, es ist schon nach zwölf, als Magnus aus dem Badezimmer tritt und wieder genauso akkurat gepflegt aussieht wie vor einigen Stunden.

»Du kannst das Zimmer die ganze Nacht über benutzen oder es verlassen, sobald du dich ebenfalls frisch gemacht hast. Es ist bis morgen bezahlt.« Er lächelt mich an, während er seine Krawatte bindet. »Ich bin nächsten Monat wieder in der Stadt und würde mich freuen, wenn wir uns wiedersehen würden.«

Ohne auf meine Antwort zu warten, beugt er sich zu mir und küsst mich auf die Wange. Dann ist er weg, und ich liege immer noch im Bett – das Laken wie ein Schutzschild um meinen Körper geschlungen. Plötzlich ist mir übel, ich schaffe es knapp ins Badezimmer und übergebe mich. Ruhe finde ich erst, als ich bittere Galle schmecke. Ich fühle mich dreckig, schlimmer als dreckig, ich will – muss – mich säubern!

Vor Anspannung zitternd trete ich unter die Dusche. Es dauert, bis das Wasser heiß ist, aber dann prasselt es auf mich nieder, und ich seife mich immer und immer wieder ein, während die letzten Stunden, oder zumindest ein Teil davon, in Endlosschleife vor meinen Augen ablaufen.

Ich sehe Magnus, der mich befriedigen und erregen will, erst nur mit dem Mund und der Zunge, dann zusätzlich mit seinen Fingern. Bei dem Gedanken schrubbe ich noch fester. Wie kann es sein, dass mein Körper ab einem gewissen Punkt mit Erregung darauf reagiert hat?

Unter anderen Umständen würde ich mich vielleicht besser fühlen, denn, wenn ich ehrlich bin, hat Magnus sich viel Zeit für mich genommen, Geduld gehabt und mich gründlich auf das vorbereitet, was folgte. Immer noch spüre ich das Ziehen zwischen meinen Schenkeln, so wund bin ich.

Die nächsten Tage werde ich mich ständig daran erinnern, was ich gerade getan habe oder besser gesagt, mit mir habe machen lassen.

Ich schäme mich so sehr!

Das Wasser ist mittlerweile kochend heiß, aber sauber fühle ich mich trotzdem nicht.

Erst als meine Tränen durch den Damm von angestauten Emotionen brechen, schrumpft die Last, die mich die ganze Zeit zu erdrücken drohte. Ich kann nicht beschreiben, wie verwirrt, aber auch froh ich bin, den ersten bezahlten Sex mit einem Kunden hinter mich gebracht zu haben. Der Ekel, für Geld Sex gehabt zu haben, ist jedoch immer noch präsent – ich bin so unglaublich tief gesunken!

Das einzig Positive ist, dass ich in Magnus offenbar einen weiteren, aber vor allem guten Kunden gefunden habe, der mir eine Lösung für all meine Probleme bietet. Probleme, für deren Lösung ich alles – absolut alles – tun würde!

Schluchzend sitze ich auf dem Boden der Dusche und weine um mich und die Gründe, die mich dazu getrieben haben, mich zu verkaufen.

Kapitel 2

Zwei Monate später

»Du siehst müde aus.«

Lächelnd schaue ich von meiner Zeitschrift auf. »Du dafür frisch und munter.«

»Ich fühle mich tatsächlich gut.« Die Frau mir gegenüber lächelt mich an und beißt genussvoll in den gefüllten Donut, den ich ihr mitgebracht habe. Ich bewundere sie für ihren Mut, ihre Lebensfreude, aber vor allem für ihre innere Stärke. Ich will nicht vor ihr weinen, und dennoch steigen mir Tränen in die Augen.

»Ach Schätzchen, nicht weinen. Mir geht es wirklich gut.«

»Ich weiß und darüber bin ich unglaublich froh.« Ich beiße mir auf die Unterlippe. Seit einigen Monaten ist jeder Tag mit ihr ein kostbares Geschenk für mich. »Worauf hast du heute Lust? Sollen wir einen Film schauen oder Karten spielen?«

»Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich gerne mit dir weiterlesen.«

»Absolut nicht, sehr gerne sogar.« Ich stehe auf und hole das besagte Buch von dem kleinen Nachttisch. Wieder zurück in meinem Sessel betrachte ich das wunderschöne Cover und streiche über den mittlerweile abgenutzten Umschlag. Es ist eins der Lieblingsbücher meiner Mutter. Sie hat es in ihrer Jugend mehrere Male gelesen und später dann mit mir zusammen.

Es ist eins dieser Bücher, die man liebt, egal wie oft man sie bereits gelesen hat. Ein modern gestaltetes Märchen über die Liebe, den Mut und das Leben mit all seinen Schattenseiten. Es tut weh und gleichzeitig ist es Balsam für meine Seele, genau dieses Buch zu lesen. Mit ihm verbinde ich etwas ganz Besonderes – meine Kindheit, Mutterliebe und mittlerweile auch Frieden.

Ich schlage das Buch auf und betrachte das provisorische Lesezeichen – ein altes Foto von mir und meiner Mutter. Kurz räuspere ich mich, schlucke den Knoten in meinem Hals herunter, dann beginne ich zu lesen.

Es ist noch keine halbe Stunde vergangen, als ich das Buch leise zuschlage und zum Bett hinüberschaue. Mom ist eingeschlafen.

Die Wachphasen nehmen immer mehr ab – ihr Körper ist von der Krankheit zu geschwächt, um am Leben richtig teilhaben zu können. Selbst lange Gespräche fallen ihr zunehmend schwerer.

Einige Zeit konnte ich es verdrängen, doch mittlerweile kann ich die Augen nicht mehr vor der Realität verschließen.

Sie wird sterben!

Vielleicht nicht heute, nicht diese Woche, aber dennoch bald – zu bald. Sie ist doch noch so jung. Und ich bin zu jung, um ohne Mutter zurückzubleiben.

Meine Gedanken kehren zu dem Tag zurück, als ich von ihrer schrecklichen Krankheit erfahren habe. Es ist fast ein Jahr her, dennoch kommt es mir so … frisch vor.

Ich war für ein Wochenende zu Besuch nach Hause gekommen – mein erster Besuch, seit ich mit dem College angefangen hatte. Selbst heute kann ich nicht festmachen, woran es gelegen hat, aber ich habe sofort gefühlt, dass etwas nicht stimmte.

Meine Mutter lag in eine dicke Decke eingepackt auf dem Sofa und sah sich etwas im Fernseher an. Eigentlich nichts Ungewöhnliches, doch das, was sie ausstrahlte oder besser gesagt nicht ausstrahlte, alarmierte mich.

»Hallo Mom«, begrüßte ich sie und ging zögernd auf sie zu.

»Hallo Schätzchen«, erwiderte sie auf ihre typische Art und lächelte zu mir auf. Dennoch kam sie mir fremd vor. »Wie geht es dir? Hattest du eine angenehme Fahrt?«

»Ja, danke. Mir geht es gut und dir? Ist irgendetwas passiert?« Ich weiß bis heute nicht, weshalb ich sofort ahnte, dass etwas Schlimmes vor sich ging.

Meine Mutter richtete sich auf, und erst da sah ich, dass sie dünner geworden war. Nicht dünner wie nach einer strengen Diät, sondern dünner auf eine ungesunde, krankhafte Weise. Ich kannte sie nur als füllige, aber nicht zu dicke Frau. Doch nun sah sie mindestens zehn Kilo leichter aus. Besonders im Gesicht merkte man ihr den Gewichtsverlust an.

»Eigentlich hatte ich gehofft, dein Vater würde vor dir kommen. Aber vielleicht ist es besser so.«

Sie bedeutete mir, mich auf den Sessel neben ihr zu setzen, und ich ließ mich darauf plumpsen.

»Ich bin dieses Gespräch mehrfach im Kopf durchgegangen, aber die richtigen Worte findet man trotzdem nicht. Es gibt einfach nichts zu beschönigen.« Sie griff nach meiner Hand. Während ihre kalt und trocken war, hatte ich verschwitzte, klamme Hände. »Ich habe Krebs.«

Die Worte von damals hallen auch jetzt in meinem Kopf wider und ich betrachte meine schlafende Mutter in ihrem Krankenhausbett. Es tut weh, sie so zu sehen, und dennoch versuche ich, mir jede Einzelheit von ihr einzuprägen. Sie hat nichts mehr mit der Frau von damals gemein, ist ein Schatten ihrer selbst, trotzdem erkenne ich in ihr immer noch die starke, liebevolle Mutter, die alles für mich tun würde. Also ist es nur fair, dass ich nun auch alles für sie tue.

Ich bin froh, dass sie nicht weiß, wie weit ich dafür gegangen und wie tief ich gesunken bin. Sie würde es hassen, dass ich all meine Zukunftsträume aufgegeben habe, um meinen Körper für Geld zu verkaufen und damit meinen Lebensunterhalt und ihre Arztrechnungen zu zahlen. Allein deshalb darf sie niemals davon erfahren, denn ich wünsche mir, dass sie wenigstens ihre letzten Tage friedlich und gut aufgehoben in dieser Institution verbringen darf.

Zum Glück hinterfragt sie nicht, wie ich all die teuren Behandlungen, Operationen und ihren aktuellen Klinikaufenthalt finanziere. Ich denke, sie fragt nicht, weil sie es gar nicht wissen will oder weil sie daran glauben möchte, dass mein Erzeuger sie nicht ganz im Stich gelassen hat. Allein bei dem Gedanken an dieses Arschloch beginne ich innerlich zu brodeln. Warum kann er es nicht sein? Warum sie?

Zwischen die Trauer und die Verzweiflung mischt sich immer mehr Hass. Drei Emotionen, die ich seit knapp einem Jahr nur zu gut kenne. Emotionen, die mich begleitet, geprägt und verändert haben: die Trauer und die Verzweiflung darüber, das Schicksal nicht ändern zu können, aber vor allem der Hass und die Wut auf meinen Vater, der uns im Stich gelassen hat.

Das Leben kann manchmal unfair sein, doch was bringt es, darüber zu philosophieren? Es ist, wie es ist.

Deshalb versuche ich, möglichst wenig Gedanken an ihn zu verschwenden, doch in Momenten wie diesen schlägt mein Hass in Wellen hoch.

Welcher Mann – welcher Mensch – lässt seine Familie, vor allem seine krebskranke Frau allein und ohne finanzielle Mittel zurück? Sich zu trennen ist eine Sache, aber die gemeinsamen Konten bis auf ein paar tausend Dollar leer zu räumen und dann mit einer neuen Frau ins Ausland abzuhauen. Ich kann es auch jetzt noch nicht fassen.

Ich will ihn nie wiedersehen und wünsche ihm die Pest an den Hals!

Immer weiter rege ich mich auf und denke unweigerlich an den schnöden „Abschiedsbrief“, den er uns hinterlassen hat: Tut mir leid, aber es passt einfach nicht mehr, Mary. Ich wünsche dir alles Gute und hoffe, du wirst wieder gesund. Das hatte auf einem Post–it am Kühlschrank gestanden, nachdem wir nach der ersten Chemotherapie nach Hause zurückgekommen waren.

Für meine Mutter war damals ein zweites Mal die Welt zusammengebrochen. Zum Glück weiß sie bis heute nicht, dass er mit einer anderen durchgebrannt ist. Das habe ich auch nur durch Zufall erfahren.

Ich denke, so wie die Lage jetzt ist, kann Mom irgendwie Frieden finden. Allein deshalb werde ich sie weiterhin in dem Glauben lassen, dass er für alle Kosten aufkommt und uns monatlich einen Scheck schickt. Gleichzeitig wird sie so nicht auf die Idee kommen, mich zu fragen, woher ich all das Geld habe. Sie soll niemals erfahren, dass es von meinem Job als Escort stammt, und auch nicht, dass ich das College geschmissen habe. Sie war damals so unglaublich stolz auf mich, als ich die Zusage bekam und die ersten Kurse mit Bestnoten bestand.

Während ich über ihren Schlaf wache, erlaube ich mir, an die Zeit am College zu denken. Eine Zeit, die anfangs eine bessere gewesen ist. Wie sehr habe ich das Campusleben genossen, es genossen, neue Erfahrungen zu machen, verschiedene Menschen kennenzulernen und Wissen wie ein Schwamm in mich aufzusaugen.

Ohne mir darauf etwas einzubilden, kann ich von mir sagen, dass ich eine der vielversprechendsten Studentinnen im ersten Semester gewesen bin. Ich hätte es wahrscheinlich weit gebracht, doch nach der Krebs-Diagnose und nachdem er uns im Stich gelassen hatte, schaffte ich den Spagat zwischen Uni, Nebenjob und den einstündigen Fahrten zurück nach Hause nur eine begrenzte Zeit.

Ganz mittellos waren wir zum Glück nicht gewesen; nach dem Verkauf von Moms Haus und der Begleichung der restlichen Hypothek blieb noch genügend Geld für eine kleine gemeinsame Wohnung und die ersten Behandlungen übrig.

Eigentlich hätte das Geld ausreichen sollen, um die Arztkosten zu decken, bis sie über den Berg war, denn zuerst hieß es, ihre Form von Leberkrebs sei heilbar oder zumindest eindämmbar. Doch dann hatte sich herausgestellt, dass es schlimmer war als vermutet. Wir mussten erkennen, dass die Chemotherapie zu keiner Heilung führen würde, die Tumore auch nicht operabel werden ließ, sondern bloß eine Art lebensverlängernde Maßnahme war.

Monatelang hatte meine Mutter gekämpft und niemals den Mut verloren. Doch nachdem sie zweimal so sehr geschwächt gewesen war, dass ein simpler Infekt sie fast umgebracht hätte, und die Nebenwirkungen der Chemotherapie so schlimm geworden waren, dass es ihr durchgehend schlecht ging, entschied sie sich gegen weitere Behandlungen. Sie wollte die ihr verbleibende Zeit so unbeschwert wie möglich verbringen.

Seit sie nicht mehr therapiert wird, geht es ihr zumindest geistig wesentlich besser. Sie ist bei klarerem Verstand und scheint wieder die Frau von damals – der Zeit vor dem Krebs – zu sein.

Was sind schon einige Wochen weniger, wenn sie dafür umso schöner und ohne unermessliches Leid sind?

Mein Handy piept und ich zucke zusammen.

Ich bin für das Wochenende in der Stadt und würde gerne den heutigen und den morgigen Abend mit dir verbringen. -M

Magnus ist wieder hier und will mich sehen. Seit unserem ersten Treffen hat er mich noch zwei weitere Male gebucht. Heute würde also unser vierter Termin sein.

Schnell tippe ich eine Bestätigung und bekomme prompt eine Uhrzeit und den Ort genannt.

»Bin ich eingeschlafen?«, ertönt die leise Stimme meiner Mutter.

»Ja, aber das ist nicht schlimm, ich habe währenddessen den Stoff für die nächste Klausur durchgearbeitet.« Unauffällig lasse ich mein Handy in der Tasche verschwinden und stehe auf. »Möchtest du noch etwas trinken oder essen?«

»Einen Schluck Gingerale hätte ich gerne.«

Nach dem Schlafen sieht sie hilflos wie ein Kind aus. Der Anblick tut mir schrecklich weh und erinnert mich nochmals schmerzlich daran, weshalb ich Magnus später unbedingt treffen muss, um Frieden für meine Mutter und für mich erkaufen zu können.

»Sollst du haben.« Nachdem ich ihr das Glas gereicht habe und sie getrunken hat, setze ich mich wieder auf meinen Platz. »Ich muss nachher zur Lerngruppe. Wenn du magst, lese ich dir vor dem Abendessen noch etwas aus dem Buch vor und fahre dann, sobald wir gegessen haben.«

»Du brauchst nicht hierzubleiben, du vernachlässigst deine Freunde und dein eigenes Leben bereits genug. Geh und mach dir einen schönen Abend.«

 Ihre Selbstlosigkeit erstaunt mich immer wieder. Selbst in dieser Situation, in der sie an erster Stelle stehen sollte, denkt sie nur an mich und daran, dass es mir gut geht. Dabei merkt sie gar nicht, dass sie im Moment das Einzige ist, das ich überhaupt noch im Leben habe.

»Ich bin gerne bei dir, außerdem treffe ich meine Freunde nachher zum Lernen. Vor acht taucht keiner bei Blair auf. Und ich habe uns schon eine Pizza bestellt. Ich lasse mir ganz sicher keine Pizza mit Salami, Schinken und Thunfisch entgehen.«

Das bringt meine Mutter zum Lachen und beweist mir, dass ich alles richtigmache.

Ich liebe sie, und sie liebt mich. Alles andere ist im Moment egal. Ich sollte die verbleibende Zeit mit ihr sinnvoll nutzen, denn irgendwann ist das nicht mehr möglich und dann möchte ich nichts bereuen müssen.

Als ich gehe, schläft Mom friedlich und mit einem Lächeln auf den Lippen.

Für solche Augenblicke würde ich alles geben, und genau das macht es mir leichter, mich immer wieder auf den Weg zu einem Kunden zu machen.

Kapitel 3

»Da ist ja mein Mädchen.« Strahlend begrüßt Magnus mich bereits an der Hotelzimmertür und küsst mich schmatzend auf beide Wangen. »Ein Treffen mit dir ist jedes Mal ein kleines Highlight in dieser Stadt!«

»Ich freue mich ebenfalls, dich wiederzusehen.« Ich lasse mir von ihm aus dem Mantel helfen und mich in den Wohnbereich der Suite führen. Es ist die gleiche wie die Male zuvor. Sie hat etwas Vertrautes und hilft mir, mich wohler zu fühlen.

Beim ersten Mal ist mir nur die weiche cremefarbene Couch aufgefallen, doch mittlerweile habe ich auch den Rest des teuren Mobiliars wahrgenommen: Beistelltische aus Mooreiche, Kristallleuchten, griechischer Marmorfußboden, im Prinzip alles, was ein reiches Herz begehrt.

Der Luxus ist angenehm, aber erfreut mich dennoch nicht. Das Einzige, was ich genieße, ist das Badezimmer. Das Duschen nach dem Sex ist zu einem Trost geworden, genau wie das Nutzen der Badewanne mit eingebauten Massagedüsen. Als ich das zweite Mal in diesem Zimmer gewesen bin, habe ich sie entdeckt, und die kräftige Massage der Düsen hatte etwas Beruhigendes, fast schon Heilsames für meine gequälte Seele gehabt.

Auch das übergroße und federweiche Kingsize Bett hätte etwas, wenn ich mich darin nicht für Geld verkaufen und Sex haben müsste. Ich bleibe deshalb nie länger als nötig in ihm, geschweige denn in diesem Zimmer. Ich brauche immer eine gute Stunde, um mich so weit zu fangen, dass ich mich wieder unter Menschen trauen kann. Die meiste Zeit davon verbringe ich damit, mich zu säubern. Mein Make–up herzurichten und mich anzuziehen, nimmt hingegen nur zehn bis fünfzehn Minuten ein. Sofort danach verlasse ich das Badezimmer und kurz darauf auch das Hotel.

»Ich habe mir erlaubt, uns noch eine Kleinigkeit zum Essen zu bestellen«, kündigt Magnus an und rückt mir den Stuhl zurecht.

»Wie aufmerksam von dir. Aber das bist du schließlich immer – aufmerksam und ein wahrer Gentleman.« Das und dabei gleichzeitig berechenbar.

Bei ihm läuft bisher alles nach Schema F: Essen und Small Talk, Bezahlung und Trinkgeld, danach geht es für die nächste Stunde, vielleicht auch eineinhalb, zur Sache. Anschließend verschwindet er unter der Dusche und verlässt, nach zwei schmatzenden Küssen auf meine Wangen, das Zimmer.

Während der letzten drei Treffen habe ich bereits viel über ihn und seine Marotten – wie meine Mutter es nennen würde – erfahren, aber dennoch werde ich nicht schlau aus ihm. Er behandelt mich nach wie vor gut, trägt mich fast schon auf Händen. Trotzdem ist da etwas, was mich irritiert – mich nicht richtig mit ihm warm werden lässt. Ich kann noch nicht mal sagen, warum. Vielleicht ist er einfach zu glatt.

Es liegt auf jeden Fall nicht daran, dass er mich für Sex bucht, eher an manchen Gesten oder Aussagen, die auf den ersten Blick nichtssagend, unterschwellig jedoch abwertend sind. Nicht mir gegenüber, das nicht, aber in Bezug auf andere, zum Beispiel dem Zimmerservice oder wenn er über seine Angestellten spricht.

Ich schätze, er hält sich für etwas Besseres und über viele erhaben, kann sich aber gleichzeitig so gut darstellen, dass es nicht sofort auffällt.

Anfangs habe ich noch versucht, ihn zu analysieren, herauszufinden, weshalb er sich Escorts bestellt – bin aber zu keinem Schluss gekommen. Meine Theorie ist jedoch, dass er einfach das Geld dazu hat, exklusive Wünsche auszuleben. Wenigstens verlangt er keine ausgefallenen Sachen von mir, man könnte also sagen, dass ich Glück habe. Magnus ist ein attraktiver und eindrucksvoller Mann, selbst für sein Alter sieht er sehr gut aus. In seiner Jugend sind die Mädchen ihm wohl scharenweise hinterhergelaufen.

»Wie ist dein Aufenthalt bisher verlaufen?«, frage ich, bevor ich mich weiter in meinen Gedanken verliere.

»Gut, ich hatte einige Meetings und ein frühes Geschäftsessen – also nichts Weltbewegendes oder nur halb so Interessantes wie unser Treffen jetzt.«

»Das freut mich zu hören, zumindest, dass ich dein Highlight des Tages bin, du bist nämlich meins. Ebenso freut es mich, dass du mich morgen auch sehen möchtest oder habe ich deine Nachricht missverstanden?« Das Wort buchen verwende ich im Beisein von Kunden nicht. Ich will ihnen das Gefühl vermitteln, ich würde mich gerne mit ihnen treffen – ihnen die Illusion einer Beziehung vorgaukeln.

»Nein, hast du nicht. Wenn du nicht verplant bist, unbedingt. Leider habe ich morgen Abend noch ein Geschäftsessen und würde mich erst zwischen zehn und elf auf den Weg hierher machen können. Passt dir das? Ich würde dir für diese ungewöhnliche Zeit auch ein Extra bezahlen.«

»Das passt mir sogar ziemlich gut.« Ich nippe an meinem Wein und lächle. Weniger Zeit mit ihm und mehr Geld für mich, kein schlechter Deal. »Wie laufen die Vorbereitungen zu deiner Senatoren–Wiederwahl?«

»Gut, aber sprechen wir nicht von der Arbeit, ich würde gerne abschalten.« Seine Reaktion verwundert mich, selbst wenn sie mich nicht weiter interessiert. Mir ist egal, dass er Senator ist, und ich will mir auch keine Meinung über seine politischen Ambitionen bilden, zumal er für meinen Staat sowieso nicht zuständig ist.

Ich habe zwar erst beim zweiten Treffen erfahren, dass er in der Politik tätig ist, dafür seitdem umso mehr. Manchmal sind seine Monologe sehr anstrengend, vor allem, weil ich immer wieder den Verdacht habe, er würde nur heiße Luft von sich geben. Man kann nicht behaupten, dass ich politisch ambitioniert bin, aber selbst mir ist klar, dass einige seiner Pläne utopisch sind – quasi leere Versprechungen, um die Menschen zu seiner Wiederwahl zu bewegen.

»Wie wäre es später mit einer Massage? Ich habe ein schönes Öl für dich gekauft«, säusele ich und hoffe, dass ihn die Massage müde machen wird, sodass er nachher nicht mehr so ausdauernd ist, wenn er mit mir schlafen will.

»Das klingt himmlisch, meine Süße, aber erst solltest du von dem Essen kosten, das ich für uns bestellt habe. Es wird dir sicher schmecken. Es sollte jeden Moment gebracht werden.« Wie aufs Stichwort klopft es an der Tür, und der Zimmerservice fährt den Speisewagen in den Raum, sobald Magnus ihn hereingebeten hat.

Eigentlich habe ich keinen Hunger, aber aus Höflichkeit esse ich noch eine Kleinigkeit mit ihm. Während ich meinen Nachtisch verspeise, beobachtet mich Magnus mit einem Grinsen und zum ersten Mal erwidere ich es mit einem ehrlichen Lächeln. Ich würde unter normalen Umständen zwar keinen Sex mit ihm haben wollen, aber ganz langsam merke ich, dass ich ihn auf eine verquere Art vielleicht doch mögen könnte. Einige Kunden sind mir, im Vergleich zu ihm, auf jeden Fall wesentlich weniger sympathisch. Mit ihnen muss ich zum Glück aber auch nicht schlafen. Ich glaube, mit einem weiteren Mann könnte ich das sowieso nicht tun. Da Magnus mir schnell zu verstehen gegeben hat, dass er mich regelmäßig buchen wird und hinsichtlich des Finanziellen keine Kosten scheut, ist das auch nicht nötig.

Die Termine mit ihm und den anderen Kunden reichen zusammen mit den guten Trinkgeldern aus, um die anstehenden monatlichen Kosten für meinen Lebensunterhalt und einen Teil der Arztkosten abzudecken. Die immensen Schulden, die sich in der Vergangenheit nach den ganzen Behandlungen angehäuft haben und auch weiterhin anhäufen werden, werde ich mit der Zeit abarbeiten müssen.

»Hat dir schon mal jemand gesagt, dass es eine Freude ist, dir beim Essen zuzuschauen?«, fragt Magnus, und ich bemerke, dass ich einmal mehr mit meinen Gedanken ganz woanders gewesen bin.

»Das hat mir in der Tat noch niemand gesagt.« Wieder stiehlt sich ein kleines, aber echtes Lächeln auf meine Lippen.

»Es gibt wenige Frauen, die einen Nachtisch mit solch einem Genuss essen, ohne dabei den kleinsten Anschein von Reue zu haben. Treibst du viel Sport, um so perfekt auszusehen?«

»Nicht mehr als die meisten. Ein Work-out hier und da und regelmäßiges Joggen.« Dass mich eine so simple Frage aus dem emotionalen Gleichgewicht werfen würde, habe ich nicht erwartet. Dafür ist die Lüge, die mir so leichtfällt, umso überzeugender. Wie hätte ich auch erklären sollen, dass ich seit Monaten nicht richtig esse? Meist sogar nur im Beisein meiner Kunden oder meiner Mutter, weil ich sonst nichts herunterbekomme. Der Druck, der Stress und die Sorgen lasten zu schwer auf mir. »Was ist mit dir? Du siehst ebenfalls aus, als würdest du viel Wert auf deine Gesundheit und deinen Körper legen.«

»Du schmeichelst mir, Süße, aber du hast recht, ich lege sehr viel Wert auf mein Erscheinungsbild. Nicht jeder muss mit knapp fünfzig wie ein unförmiger Sack aussehen.«

Magnus als trainiert zu beschreiben, wäre übertrieben, dennoch hat er einen flachen Bauch, breite Schultern und kräftige Arme. Wie gesagt, er ist ein attraktiver Mann, und das weiß er offensichtlich ebenfalls.

»Wenn es dir nichts ausmacht, hätte ich jetzt gerne meine Massage. Du kannst mich dabei genauer betrachten und dich davon überzeugen, wie gut ich gebaut bin.«

Mit diesen Worten ist er leider zu weit gegangen, und der anfängliche Widerwille, mit ihm Sex zu haben, kehrt zurück. Der mittlerweile antrainierte Schalter legt sich in meinem Kopf um und ich schalte auf Autopilot. Mit ihm zu schlafen, fällt mir nicht mehr so schwer wie noch beim ersten Mal. Dennoch merke ich jedes Mal, wie ein weiteres Stück von mir zerbricht. Vielleicht ist es genau das, weshalb ich zunehmend abstumpfe. Ich bin in den wenigen Wochen beziehungsweise Monaten eine andere Frau geworden. Eine, die ich nicht sein will und auch nie sein wollte.

Katzenhaft lächle ich ihn an und stehe auf. Lasziv strippe ich für ihn und ziehe ihm das Hemd aus. Als er ebenfalls unbekleidet ist, schubse ich ihn aufs Bett. Für einige Augenblicke genießt er meinen Anblick, doch dann dreht er sich auf den Bauch und bedeutet mir damit, dass er bereit für seine Massage ist.

Eine gute Viertelstunde massiere ich ihn und merke dabei, dass er sich immer mehr entspannt. Gerade als ich denke, dass er einschläft, murmelt Magnus: »Es gibt da noch etwas anderes, das gerne massiert werden würde.«

Kaum hat er ausgesprochen, dreht er sich um und präsentiert mir seine pralle Erektion. Wäre die Situation nicht so unangenehm, hätte ich vielleicht über seine Plumpheit gelacht. Doch mir bleibt jetzt nichts anderes übrig, als sein bestes Stück zu massieren. Wohlig stöhnt er und genießt sichtlich meine Behandlung. Ich kann mir denken, was er von mir erwartet, und rolle ihm ein Kondom über. Magnus ist zwar stets gepflegt und scheinbar frisch geduscht, dennoch will ich ihn nicht schmecken, davon abgesehen wäre es unverantwortlich. Die Gefahr, sich mit einer Krankheit anzustecken, ist für Mädchen wie mich einfach zu groß.

Voller Erregung beobachtet er mich, und als ob ich nichts lieber tun würde, als ihm den Schwanz zu lutschen, nehme ich ihn in den Mund – lecke und sauge an ihm. Eins habe ich schon vor meiner Arbeit als Escort gemerkt: In Sachen Sex ist es unglaublich einfach, Männern etwas vorzuspielen. Wahrscheinlich, weil sie blind für ihre eigenen Unzulänglichkeiten sind.

»Nicht so gierig, Süße. Ich will in dir kommen«, stöhnt er, und noch ehe ich weiß, wie mir geschieht, hat er mich hochgezogen und ich sitze mit gespreizten Beinen über ihm.

Ich gerate in Panik, ich bin nicht bereit! Ich will ihn nicht reiten!

Nicht so sanft wie sonst reiben seine Finger meine Klitoris, stimulieren mich, und ich presse ein hoffentlich echt klingendes Stöhnen heraus. Viel zu schnell dringt er erst mit einem, dann mit zwei Fingern in mich ein. Ich bin froh, mich mit Gleitgel vorbereitet zu haben, trotzdem tut es weh, als er kurz darauf mit seinem Glied in mich stößt.

Zum Glück habe zumindest ich gute Vorarbeit bei ihm geleistet, denn bereits nach einigen Minuten steht er vor seinem Höhepunkt. Die Hände in meine Hüfte gekrallt, treibt er sich in mich, wird immer schneller und ergießt sich letztendlich mit einem lauten Schrei in das Kondom.

Meine Knie zittern vor Anspannung, als ich von ihm heruntersteige, und ich bin froh, dass es vorbei ist.

»Süße, das war unglaublich.« Unter halb geschlossenen Lidern blickt er zu mir auf. »Ich werde die Nacht über hierbleiben. Wenn du willst, kannst du das ebenfalls tun.«

»Danke für das Angebot, aber ich muss nach Hause. Kann ich noch etwas für dich tun, bevor ich dich verlasse?« Mir ist zwar klar, dass eine komplette Nacht mit Magnus mir einen dicken Bonus bringen würde, zeitlich kann ich es mir jedoch nicht leisten. Komisch, oder? Ich habe zu wenig Geld und zu wenig Zeit, und wenn ich von beidem zu wenig habe, muss ich abwägen, was wichtiger ist.

»Glaub mir, du hast für mich heute mehr als genug getan.« Grinsend tätschelt er mir den Po und greift dann zu seiner Hose auf dem Boden, um sein Handy hervorzuholen. Damit bin ich entlassen.

»Ich würde gerne noch duschen, bevor ich gehe.«

»Mach alles, was dein Herz begehrt, Pandora, Süße«, antwortet er abwesend, scheinbar in eine Nachricht vertieft, denn er runzelt die Stirn und tippt dann auf dem Bildschirm herum.

Ich fühle mich unbehaglich, während ich dusche, da ich weiß, dass er nebenan ist. So schnell ich kann, säubere ich mich und wasche den imaginären Schmutz von meiner Haut. Für gewöhnlich hätte ich mir die Zeit genommen und auch meine Haare gewaschen, doch das werde ich nun zu Hause machen müssen.

Sobald ich fertig bin, verlasse ich das Badezimmer und sammle meine Sachen zusammen. Magnus sitzt immer noch nackt im Bett und raucht eine Zigarette, während er offensichtlich mit seiner Frau telefoniert. Genau dieser Moment macht ihn zu nichts anderem als einem Ehebrecher und Betrüger. Ohne auch nur einen Hauch von schlechtem Gewissen zu zeigen, winkt er mir zum Abschied zu und säuselt weiter in sein Handy.

Leise schleiche ich aus der Suite und lasse die Tür vorsichtig ins Schloss fallen. Ich bin froh, dass er telefoniert hat, so konnte ich mich wenigstens um eine Verabschiedung drücken.

Während ich auf den Aufzug warte, schalte ich mein eigenes Handy an. Drei verpasste Anrufe und eine Mailboxnachricht.

Mir wird schlecht, ich gerate in Panik und ahne, was ich gleich hören werde. Mit zitternden Fingern drücke ich den Knopf zum Abrufen meiner Nachrichten, lausche mit angehaltenem Atem den mitfühlenden Worten der Krankenschwester und meine Welt bricht in sich zusammen.

Kapitel 4

Hallo Miss Shepard, hier spricht Schwester Annabeth. Es geht um Ihre Mutter. Bitte kommen Sie, sobald Sie können. Es sieht nicht gut für sie aus, tut mir leid.

Das sind die Worte, die die Lieblingsnachtschwester meiner Mutter auf meiner Mailbox hinterlassen hat.

Voller Panik bin ich in das nächstbeste Taxi gesprungen und zu ihr in die Klinik gefahren. Immer wieder habe ich vor mich hingemurmelt: Bitte sei nicht tot!

Ich kann gar nicht genau sagen, wie lange ich für den Weg gebraucht habe oder wie ich in ihr Zimmer gekommen bin, doch nun sitze ich an Moms Bett und halte ihre Hand. Tot ist sie zum Glück nicht, wobei ich nicht weiß, ob man tatsächlich von Glück sprechen kann.

Ich verstehe nicht, warum es ihr plötzlich rapide schlechter geht. Vor wenigen Stunden haben wir noch ihr Lieblingsbuch beendet und bei Pizza und Gingerale gelacht.

»Bist du das, Schätzchen?«

Ich bin froh, dass sie noch mal aufgewacht ist. Die Ärzte und auch die Schwestern sagen, dass die ersten Organe angefangen haben zu versagen und sich gleichzeitig immer mehr Wasser in ihrem Körper sammelt. Was das genau heißt, muss mir keiner erklären. Ihr wird nur noch sehr, sehr wenig Zeit bleiben – einige Tage vielleicht noch.

»Ich bin bei dir, Mom.«

Im Schein der Nachttischlampe betrachtet sie mich und lächelt. »Du siehst schick aus. Ich habe dich schon seit Ewigkeiten nicht mehr in einem Kleid gesehen. Warst du mit deinen Freundinnen aus?«

Ihre Stimme ist so leise, schwach und undeutlich, dass ich sie kaum verstehe.

»Ja, Blair und ich waren in einer Bar und wollten uns nach dem ganzen Lernen ein paar Cocktails gönnen. Das Kleid habe ich mir von ihr geliehen. Es freut mich aber, dass es dir gefällt.«

»Hmm-hmm, sehr schön.« Die wenigen Worte haben Mom so erschöpft, dass sie schnell wieder einschläft.

Ich verbringe die ganze Nacht an ihrem Bett, beobachte sie, sauge alles von ihr in mich auf, auch wenn ihr Anblick mich so sehr schmerzt. Ich kann regelrecht sehen, wie das Leben aus ihr verschwindet.

Die Zeit dehnt sich aus, und es vergehen Stunden, bis sie das nächste Mal aufwacht. Nicht nur die plötzliche Klarheit ihrer Stimme, auch ihre Worte erschrecken mich.

»Ich werde bald sterben, Schätzchen.«

»Ich weiß und bin bereit, dich gehen zu lassen. Du sollst dich endlich wieder besser fühlen.« Ich will nicht vor ihr weinen und es ihr damit nicht noch schwerer machen, loszulassen, dennoch breche ich in heftiges Schluchzen aus. Wie ein kleines Mädchen lege ich mich an ihre Seite, genieße ihre Nähe, auch – oder vor allem – weil mir bewusst ist, dass dies das letzte Mal sein kann.

Genau wie früher streicht sie mir durchs Haar und küsst meine Stirn. »Ich weiß, dass du traurig bist, ich bin auch traurig, aber es ist okay.« Ihre Bewegungen werden langsamer und leichter. »Ich wünsche mir, dass du glücklich wirst, du hast noch so viel vor dir. Und auch wenn ich nicht mehr lebe, wird ein Teil von mir immer bei dir sein.«

Diese Worte schließe ich fest in meinem Herzen ein und lausche dabei ihrem Herzschlag, schwach, aber immer noch regelmäßig.

Irgendwann am frühen Morgen schrecke ich aus dem Schlaf hoch. Sofort habe ich Angst, dass sie gegangen sein könnte, doch dann höre ich das leise Wummern in ihrer Brust und spüre ihren Atem an meinem Scheitel.

Vorsichtig stehe ich auf und lockere meine verspannten Muskeln. Ich fühle mich wie erschlagen, aber dennoch überkommt mich ein innerer Frieden – Mom sieht friedlich aus.

Im Laufe des Morgens kommt die behandelnde Ärztin und überprüft die Vitalzeichen meiner Mom. Während der ganzen Untersuchung spricht sie zwar mit ihr, doch Mom wacht kein einziges Mal auf.

Mit einem mitfühlenden Blick bedeutet mir Doktor Snyder, ihr vor die Tür zu folgen. »Miss Shepard, ich will ehrlich zu Ihnen sein. Im Moment ist Ihre Mutter stabil. Ich kann Ihnen aber nicht sagen, wie lange. Anhand ihrer Symptome sollten Sie jedoch davon ausgehen, dass sie schon bald sterben wird. Die Nieren haben bereits versagt und der Körper beginnt, sich von innen zu vergiften. Das Einzige, was uns jetzt noch übrigbleibt, ist zu warten und ihr so viel Morphin zu geben, dass sie nicht allzu sehr leidet.«

Der Kloß in meinem Hals ist so dick, dass ich nur nicken kann.

»Was ist mit Ihnen? Können wir etwas für Sie tun? Gibt es nicht doch jemanden, der Ihnen zur Seite stehen kann?«

»Ich werde später eine Freundin anrufen, sie wird sicher kommen, danke.« Die Freundschaft zu Blair bedeutet mir sehr viel. Seit wir uns zum ersten Mal begegnet sind, konnte uns nichts auseinanderbringen. Das hatte sich auch nicht geändert, als sie mich nach der zweiten versauten Prüfung zusammengebrochen auf der Damentoilette gefunden hat.

Erst habe ich mich ihr nicht öffnen wollen, doch dann hatte sie mich mit liebevoller Bestimmtheit mit zu sich genommen und mir in ihrer Wohnung erst mal einen Tee gemacht. Während der Tee zog, meinte sie, dass unsere Freundschaft nicht nur aus Spaß bestehen würde, sondern durchaus auch aus Sorgen und Problemen, die man gemeinsam besprechen und lösen könnte.

Danach waren in mir die letzten Dämme gebrochen und ich hatte Blair alles erzählt. Jedes noch so schreckliche Detail meiner Familientragödie, genau wie meine finanziellen Probleme.

Sie hatte mir in Ruhe zugehört und mich anschließend lange einfach nur angeschaut. Kurz darauf erfuhr ich Dinge über sie, die ich niemals erwartet hätte. Dinge, die ebenfalls eine Lösung für meine Probleme boten. Anfangs hatte ich es strikt abgelehnt, ihr Angebot, bei der Begleitagentur zu arbeiten, anzunehmen. Ich verurteilte Blair nicht, weil sie über einen Begleitservice Männer traf, konnte mir aber auch nicht vorstellen, es selbst zu tun. Irgendwann hatte ich jedoch keinen anderen Ausweg mehr gesehen und mir eingeredet, dass es nicht so schlimm sein könne, für Dates bezahlt zu werden.

Tatsächlich ist es auch nicht ganz so schlimm. Meine moralischen Hemmungen und Grenzen im Umgang mit Kunden habe ich erst überschritten, als ich mich darauf einließ, Magnus zu treffen und für eine ordentliche Extrazahlung Sex mit ihm zu haben.

»Gibt es sonst etwas, das wir für Sie tun können? Möchten Sie vielleicht eine Tasse Kaffee?«

Zögernd nicke ich, ein Kaffee wäre tatsächlich ein Traum. Da ich so schnell wie möglich wieder zurück ins Zimmer meiner Mom will, nehme ich das Angebot dankend an. »Das wäre wirklich sehr nett.«

»Ich sorge dafür, dass man Ihnen eine bringt.« Aufmunternd drückt Doktor Snyder meinen Oberarm und verabschiedet sich.

Als ich das nächste Mal auf die Uhr schaue, ist es früher Nachmittag. Blair müsste jeden Moment kommen, zumindest sagte sie vor einigen Stunden am Telefon, dass sie bis zwölf einen Termin habe und danach so schnell wie möglich herfahren würde.

Moms Zustand ist unverändert, aufgewacht ist sie nicht nochmal, zumindest nicht richtig. Sie hat nur unzusammenhängende Worte geäußert, aber keine klaren Antworten mehr geben können. Mit jeder Sekunde schwindet meine Hoffnung, dass ich noch mal mit ihr sprechen werde. Umso wertvoller sind die Erinnerungen der letzten Nacht.

Als es an der Tür klopft, schrecke ich aus einem kleinen Nickerchen hoch. Sofort blicke ich zum Bett. Mom atmet noch, und auch ich stoße den Atem aus, denn erst jetzt merke ich, dass ich ihn unwillkürlich angehalten habe.

Mit versteiften Muskeln stehe ich auf und öffne die Tür. Ich habe nicht damit gerechnet, dass Blairs Anblick mich aufwühlen würde, aber das tut er. Ich kann noch nicht mal sagen, weshalb. Vielleicht, weil ich nicht länger allein bin und weiß, dass ich bei ihr Trost finden werde und sie mich auffangen kann. Der Damm von aufgestauten Gefühlen und Angst bricht. Tränen nehmen mir plötzlich die Sicht und rinnen heiß über meine Wangen. »Ich bin so froh, dass du da bist!«

»Du weißt, dass ich immer für dich da bin.« Nun fließen auch bei Blair Tränen und wir halten einander einige Minuten einfach fest.

Blair hat meine Mutter nur drei oder vier Mal gesehen, dennoch trauert sie mit mir.

»Ich habe dir ein paar Klamotten und etwas zum Essen mitgebracht.« Stille Kritik schwingt in ihrer Aussage mit, denn wir wissen beide, dass ich mittlerweile viel zu viel Gewicht verloren habe.

»Danke.«

Auf ihre gewohnte Art sieht sie mich mit durchdringendem Blick an. »Im Auto ist auch noch ein Kleidersack. Ich wusste nicht, was du vorhast …« Ihr Blick huscht zum ersten Mal zu dem Bett auf der anderen Seite und ich sehe deutlich das Erschrecken und das Mitleid in ihren Augen. »Aber du kannst absagen und ich springe für dich ein. Jeder wird es verstehen.«

Ich schüttle den Kopf. »Wir können uns später noch Gedanken darübermachen, aber bitte nicht jetzt, nicht hier …«

In Wahrheit zerbreche ich mir darüber schon seit Stunden den Kopf. Ich möchte nicht weg, zu groß ist die Angst, dass meine Mom in der Zeit stirbt, aber kann ich es mir leisten, Magnus abzusagen? Ich will nicht riskieren, ihn als Kunden zu verlieren, dafür brauche ich das Geld zu dringend. Auf der anderen Seite, was ist schon Geld im Vergleich zu dem Risiko, meine Mutter allein sterben zu lassen? Ich weiß absolut nicht, was ich machen soll.

Weitere Stunden vergehen, in denen nichts passiert. Dieses Warten und Nichtstun – Nicht–helfen–Können – macht mich verrückt. Ich wünsche mir, dass sie nicht stirbt, gleichzeitig bin ich jedoch an einem Punkt angelangt, an dem ich hoffe, dass alles bald ein Ende hat. Dass wir beide endlich erlöst werden. Sie von ihren Qualen und der Last des Lebens und ich von dem Bangen und Hoffen, dem Schmerz, sie dahinsiechen sehen zu müssen. Ist das egoistisch von mir?

Als mir Blair einen frischen Becher Kaffee unter die Nase hält, nehme ich ihn dankend an. Es ist der fünfte oder sechste seit heute Morgen. Das Koffein hält mich wach, macht mich aber auch noch kribbeliger und nervöser. Ich will am liebsten wegrennen, vor allem und jedem, und nie wieder zurückkommen. Ich fühle mich eingepfercht, regelrecht erdrückt, gleichzeitig habe ich Angst, mich überhaupt zu bewegen.

»Hast du auch Hunger? Ich könnte jedenfalls eine Kleinigkeit vertragen.«

Kopfschüttelnd lehne ich Blairs Angebot ab, da mein Lieblingssandwich, das sie mir zuvor mitgebracht hatte, mittlerweile unangetastet im Müll liegt. »Ich brauche nichts, aber geh du ruhig. Ich erwarte nicht, dass du die ganze Zeit bei mir bleibst.«

»Sei nicht albern, solange ich kann, werde ich bei dir bleiben.« Blair stockt, ihre Augen sehen mich kummervoll an. »Ich werde dich nicht auch noch allein lassen. Nicht jetzt, wo du mich so dringend brauchst, und auch nicht in Zukunft!«

Ich bin gerührt von so viel Loyalität. »Du bist die beste Freundin, die man sich wünschen kann!«

In stillem Einvernehmen verlässt Blair kurz darauf das Zimmer. Eine knappe Viertelstunde später kommt sie mit einer Tüte Hamburgern, Chips und Schokolade zurück. Immer noch wortlos verteilt sie ihre Errungenschaften auf dem Tisch und nimmt sich einen der Cheeseburger.

»Olivia?« Blair und ich zucken bei dem unerwarteten Klang der Stimme zusammen.

Sofort eile ich ans Bett. »Ja, Mom?«

»Geh nach Hause, du musst dich ausruhen.«

Ich frage mich unwillkürlich, ob sie bei klarem Verstand ist, so bestimmend ist ihr Tonfall.

»Ich möchte nicht nach Hause, ich möchte bei dir bleiben.«

»Geh ruhig, ich werde noch da sein, wenn du zurückkommst. Versprochen.«

Ich kann mir nicht erklären, was da gerade passiert ist. In einem Moment ist sie wach und scheinbar bei vollem Bewusstsein, im nächsten Augenblick schläft sie genauso friedlich wie noch einige Minuten zuvor. Unfähig, mich wieder von ihr abzuwenden, stehe ich einfach nur da und beobachte sie.

Als mein Handy zum wiederholten Mal brummt, verlasse ich den Platz am Bett und nehme, immer noch unentschlossen, was ich tun soll, das Mobiltelefon aus meiner Tasche.

»Magnus?«, fragt Blair leise und schielt auf meine Textnachricht.

»Ja.« Vor zwei Stunden hatte er mir geschrieben, dass er sich bei dem Essen langweile. Darauf waren zwei anzügliche und sehr direkte Beschreibungen von dem, was er sich an diesem Abend wünschen würde, gefolgt. In der neusten Nachricht, fragt Magnus mich, ob wir uns um elf treffen könnten und dass er sich sehr freuen würde.

Die ersten drei Nachrichten habe ich ignoriert, ich konnte ihm einfach keine klare Antwort geben, aber jetzt sollte ich zurückschreiben.

»Gehst du hin?«

Ich schaue auf die Uhr, es ist zehn vor zehn. Wenn ich mich kurz frisch mache, würde ich pünktlich beim Hotel ankommen. Aber wie lange wird er meine Zeit in Anspruch nehmen wollen?

»Ich weiß es nicht«, antworte ich matt. Die Worte meiner Mutter haben mir Hoffnung gegeben, dass ich es schaffen würde, Magnus zu treffen und sie nicht zwangsläufig im Stich zu lassen, wenn ich jetzt fahren würde. Bisher hat sie all ihre Versprechen gehalten. Dieses also auch?

»Ich bleibe hier, du kannst los.« Blair schaut mich traurig an. »Ich würde dir die Entscheidung gerne abnehmen und für dich zu Magnus gehen. Du müsstest dir um nichts Sorgen machen, zumindest nicht noch mehr als sowieso schon.«

»Das geht nicht, das wissen wir beide.« Auch wenn Blair behauptet, dass mich jeder verstehen würde, glaube ich nicht daran. Cecil ist viel zu sehr Geschäftsfrau, und einen Kunden zu versetzen, gehört nicht zu ihrer Geschäftsethik.

Plötzlich wird mir bewusst, dass ich nicht nur Magnus als Kunden, sondern auch meinen Job verlieren könnte. Ich gerate in Panik, denn das kann ich mir absolut nicht leisten! »Ich fahre gleich.«

»Dann nimm wenigstens meinen Wagen.«

Dankbar nicke ich und verschwinde in dem kleinen Nebenzimmer, in dem sich eine Toilette und eine ebenerdige Dusche befinden. Nicht ganz so sorgfältig wie sonst richte ich mich her und bin bereits nach fünfzehn Minuten fertig zum Aufbruch.

Zurück im Hauptraum hadere ich wieder mit mir, stehe bloß da und starre auf einen Punkt direkt neben dem Kopfkissen. Minuten verstreichen, bis ich mich endlich in Bewegung setze und meiner Mutter zum Abschied einen Kuss auf die Wange gebe. »Ich komme so schnell ich kann zurück, Mom. Ich liebe dich.«

Ich beiße mir auf die Wangeninnenseite und verlasse den Raum, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Plötzlich kann ich nicht schnell genug wegkommen.

Auf dem Parkplatz angekommen, sehe ich sofort Blairs neuen Volvo. Beim Aufschließen fällt mir der Kleidersack ins Auge, der auf der Rückbank liegt. Umziehen werde ich mich auf dem Weg ins Hotel, irgendwo auf einem leeren Parkplatz.

Es ist bereits nach elf, als ich umgezogen das Hotel erreiche und kurz darauf die Suite betrete.

»Schön, dass du es geschafft hast«, begrüßt Magnus mich freundlich und verliert zum Glück kein Wort darüber, dass ich zu spät bin.

»Wie war das Essen?«, frage ich und halte ihm beide Wangen zum Küssen hin.

»Langweilig, aber das war abzusehen.« Eindringlich betrachtet er mich, und ich habe Angst, dass ihm aufgefallen sein könnte, dass ich mit meinen Gedanken ganz woanders bin. Doch dann legt er mir bloß die Hand in den Rücken und führt mich zur Couch. »Hättest du auch gerne einen Drink?«

»Für mich keinen Alkohol, danke.« Am liebsten würde ich gleich einen doppelten Whisky nehmen, aber der würde wahrscheinlich fatale Folgen haben. Zum einen habe ich heute noch nichts gegessen, und zum anderen habe ich Angst, dass ein Drink mich auf der Rückfahrt, zusätzlich zu allem anderen, auch noch beeinträchtigen würde, sodass ich nicht mehr fahren kann.

Wieder mustert er mich und runzelt dieses Mal sogar die Stirn. »Ist alles okay? Du scheinst mit deinen Gedanken abwesend zu sein.« In seiner Stimme schwingt keinerlei Missbilligung mit, eher so etwas wie … Besorgnis?

»Ja, entschuldige, ich muss mich nur eben frisch machen«, presse ich hervor. Der Kloß in meinem Hals ist zurück, ich bekomme keine Luft, gerate immer mehr in Panik. Das ist so falsch. Ich sollte nicht hier sein. Nicht jetzt!

Ich schließe die Badezimmertür hinter mir, und das Nächste, das ich wahrnehme, ist, dass ich an die Duschkabine gelehnt sitze und hyperventiliere – von der einen auf die andere Sekunde in einer ausgewachsenen Panikattacke gefangen. Meine Atmung wird immer hektischer. Ich bekomme keine Luft! Ich ersticke!

Wieder scheinen mir einige Sekunden zu fehlen, denn plötzlich fühle ich zwei starke Hände auf meinen Schultern, die mich niederdrücken wollen. Ich will schreien, aber mir fehlt der Atem dazu. Ich will mich wehren, doch mir fehlt auch hierfür die Kraft.

»Pandora, beruhig dich, du musst atmen!« Wie durch dicken Nebel höre ich die Worte.

»Tief einatmen und wieder ausatmen!«, befiehlt mir Magnus mit Nachdruck. Nur langsam verstehe ich, was er von mir will. Mit nach vorn gebeugtem Oberkörper reguliert sich meine Atmung im Takt seiner Befehle.

Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergeht, bis ich wieder freier atmen kann. Ich merke, wie sich mir im nächsten Moment der Magen umdreht und ich mich würgend in die Dusche übergebe.

Magnus ist mittlerweile still, ich höre nur das Rascheln seiner Hose, als er sich erhebt, und dann, wie der Wasserhahn aufgedreht wird. »Trink das.«

Ohne ihn anzuschauen, nehme ich den von ihm angereichten Zahnputzbecher entgegen. »Danke«, erwidere ich. Bravo, ich habe es versaut. Magnus wird nicht nur stinksauer sein, sondern mich auch für verrückt halten, denn ohne irgendetwas dagegen tun zu können, breche ich in schallendes Gelächter aus. Ich lache, lache und lache, so lange, bis mein Lachen in ein Schluchzen übergeht. Doch anstelle vor die Tür gesetzt zu werden, fühle ich, wie sich zögernd zwei Arme um mich schlingen. Das lässt sämtliche Dämme in mir brechen.

Es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis ich mich wieder beruhigt habe. Peinlich berührt löse ich mich aus der Umarmung. »Tut mir leid, das hätte nicht passieren dürfen, das war unprofessionell.«

»Schau mich an, Pandora.« Magnus‘ Stimme ist ganz weich. So habe ich ihn noch nie sprechen hören. Seine Hand, die mein Gesicht anhebt, ist jedoch letztendlich der Grund, weshalb ich ihm in die Augen schaue – ihn das erste Mal richtig ansehe. »Was ist passiert? Ich weiß, was da gerade mit dir passiert ist. Du hattest einen Nervenzusammenbruch, aber ich weiß nicht, warum.«

Kurz frage ich mich, ob es ihn wirklich interessiert, doch dann wird mir klar, dass das eigentlich egal ist. Ich bin ihm nicht nur eine Entschuldigung, sondern auch eine Erklärung schuldig. »Meine Mutter liegt im Sterben.«

Mein Geständnis lastet schwer im Raum.

»Warum bist du dann hier und nicht bei ihr?« Wieder ist keinerlei Vorwurf aus seiner Frage herauszuhören.

»Weil ich muss.« So kurz es geht, erzähle ich ihm meine Geschichte und beende sie dann mit den Worten: »Ich habe gedacht, ich schaffe es. Es tut mir wirklich leid. Du musst mich natürlich nicht für den Abend bezahlen. Ich hoffe bloß, du beschwerst dich nicht bei Cecil, denn diesen Fehltritt wird sie mir nicht durchgehen lassen.«

»Pandora, Süße, ich bin doch kein Monster. Ich erwarte weder, dass du nach alldem heute Sex mit mir hast, noch dass du bleibst. Ich werde dich jetzt zu deiner Mutter bringen und wir verschieben unser Treffen auf ein anderes Mal. Cecil muss davon nichts erfahren.«

Ich kann mir nicht erklären, warum ich es tue, wahrscheinlich aus Dankbarkeit und Erleichterung, doch ganz kurz berühren meine Lippen seinen Mund. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie dankbar ich dir dafür bin.«

»Hinter jedem Menschen steckt eine Geschichte. Dass deine so traurig ist, habe ich nicht geahnt.« Magnus steht auf und zieht mich hoch. »Wasch dir das Gesicht, ich lasse in der Zeit meinen Wagen kommen.«

Sobald ich mich frisch gemacht habe und wieder annehmbar aussehe, fahren wir gemeinsam mit dem Aufzug in die Tiefgarage des Hotels und steigen in den wartenden Wagen. Die Fahrt verläuft ruhig, ich bin froh, dass ich nicht reden muss und Magnus bloß tröstend meine Hand hält.

»Melde dich, wenn du etwas brauchst. Und hab keine Angst, ich bin wirklich nicht böse auf dich«, versichert er mir, als wir am Krankenhaus ankommen, und küsst liebevoll meine Wange.

»Danke.« Ich schlüpfe aus der Limousine und renne zum Nachtschalter, um eingelassen zu werden.

Während ich auf das Summen des Türöffners warte, sehe ich das Auto um die nächste Straßenecke biegen. Dafür, dass er Verständnis für meine Situation und mich dann auch noch hergebracht hat, werde ich Magnus auf ewig dankbar sein. Dass ich eigentlich mit Blairs Auto unterwegs gewesen bin, habe ich für den Moment vergessen.

Als die Tür sich öffnet, warte ich gar nicht erst auf den Aufzug, sondern renne die vier Treppenabsätze in den zweiten Stock hoch. Oben angekommen ist mir zwar schwindelig, aber das ist mir egal.

Kapitel 5

Vier Jahre später

Ich liege in der großen Badewanne unserer Dreizimmerwohnung und bereite mich auf meinen nächsten Termin vor.

Seit dem Tod meiner Mutter hat sich viel verändert. Ich wohne mittlerweile mit Blair in einem guten, aber nicht zu teuren Teil von Atlantic City. Wir sind eine richtige Mädels–WG, und der Mittelpunkt unserer Wohnung ist nicht das Wohnzimmer, sondern die große Küche mit Balkon.