Darwin City - Jason M. Hough - E-Book
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Jason M. Hough

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Beschreibung

Der Science Fiction-Roman "Darwin City" spielt in der Mitte des 23. Jahrhunderts, nachdem eine Seuche den größten Teil der Welt entvölkert hat. Ein letzter sicherer Hafen ist die australische Stadt Darwin, in der mysteriöse außerirdische Architekten einen Weltraumaufzug errichtet haben, der in einem gewissen Radius Schutz vor der tödlichen Krankheit bietet. In dieser zerstörten Welt gerät ein Mann, der eigentlich nichts weiter will als überleben, zwischen die Fronten eines gnadenlosen Machtkampfs: Jason M. Houghs New York Times- Bestseller begeistert mit harter Action, unvergesslichen Charakteren und einer faszinierenden Welt aus zerstörten, halb verfallenen Städten und futuristischen Habitaten im Orbit. "Newcomer Hough zeigt Talent für filmische Szenen und realistische Dialoge. Die Leser werden sehnsüchtig den nächsten Teil erwarten." Publishers Weekly

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Seitenzahl: 760

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Jason M. Hough

Darwin City

Die Letzten der Erde. Roman

Aus dem Englischen von Simone Heller

Knaur e-books

Über dieses Buch

Die Menschheit steht vor ihrer totalen Auslöschung, eine geheimnisvolle Alien-Rasse kann Rettung oder Untergang bringen, und ein Mann, der nichts weiter will als überleben, gerät zwischen die Fronten eines gnadenlosen Machtkampfs: Jason M. Houghs New York Times- Bestseller begeistert mit harter Action, unvergesslichen Charakteren und einer faszinierenden Welt aus zerstörten, halb verfallenen Städten, futuristischen Habitaten im Orbit und einem gigantischen Weltraumaufzug, der auf geheimnisvolle Weise Schutz vor jener Seuche bietet, die Menschen in hirnlose Kreaturen verwandelt.

Inhaltsübersicht

WidmungMottoKartenKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Kapitel 40Kapitel 41Kapitel 42Kapitel 43Kapitel 44Kapitel 45Kapitel 46Kapitel 47Kapitel 48Kapitel 49Kapitel 50DanksagungLeseprobe »Exodus Towers«
[home]

Für meine Frau Nancy und ihr Vertrauen in diesen irren Traum.

Für meine Söhne Nathan und Ian. Mögen sie nie aufhören zu forschen.

Für meinen Freund Kevin und die Geschichten, die er uns hinterlassen hat. Zürne weiter, Bruder.

[home]

Die Menschheit ist gefangen. Ein blindes Neugeborenes, das an der Nabelschnur einer unbekannten Mutter hängt.

Sie setzt die Welt in Flammen, während sie uns in Flammen wickelt.

– Vers aus dem jakobitischen Testament der Leiter

 

 

Sie sagten: »Die Sanftmütigen werden die Erde besitzen«, als sei das etwas Gutes.

Vielen Dank auch, ihr Arschlöcher.

– Skadz, 2271

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Kapitel 1

Über dem Indischen Ozean

12.1.2283

Blut rann an der Innenseite der winzigen Phiole hinab und sammelte sich am Boden. Mit einem dumpfen Geräusch pochte ein Finger, die Quelle der Flüssigkeit, gegen das Glas.

Skyler drehte das Gefäß wieder um. Frisch aus der Thermostat-Hülse entnommen, hinterließ die Phiole ein kühles Gefühl auf der Haut. Eine kleine Erfrischung im sonst schwülen Cockpit.

Vor seinem inneren Auge spielte sich die Szene noch einmal ab: der tote Subhumane und der Rauch, der von einer Hälfte des dürren Körpers aufstieg, der Geruch nach verbranntem Haar, so stark, dass Skyler würgen musste. Dann Samantha, wie sie – immer nur machen, nie denken – triumphierend über der Leiche stand. Sie riss das Kampfmesser aus der Scheide an ihrem Unterschenkel, und es blitzte abermals, als sie es in die Hand der elenden Kreatur stieß. Zwei Finger und ein halber Daumen kullerten davon. »Ehe alles verbrennt«, hatte sie gesagt.

»Wir brauchen nur einen«, hatte Skyler erwidert, sobald seine Nerven es erlaubt hatten.

Haare wären einfacher und sauberer gewesen, doch die waren alle abgesengt. Eine ziemliche Sauerei, das Ganze, aber es kam nur auf das Endergebnis an, sagte er sich.

»Sichtkontakt mit dem Lift«, meldete Angus vom Pilotensitz.

Skyler knurrte bestätigend und drehte die Phiole wieder um. Der muskulöse Finger war schmutzverkrustet und endete in einem gelben, gespaltenen Nagel, der ungleichmäßig abgekaut war. Es sprengte fast die Vorstellungskraft, dass er von einer ehemals menschlichen Hand abgetrennt sein sollte. Fast.

Sogar für einen Subhumanen war diese Kreatur außergewöhnlich aggressiv gewesen und hatte zu einem großen Rudel gehört, doppelt so viele wie die typische »Familie«. Seltsam, ja, aber jetzt zum Glück Vergangenheit.

Er hob den Blick. Weiter vorne deutete eine Reihe von Lichtern den Verlauf des Liftkabels an. Acht Gondeln zählte Skyler, von den Wolkengipfeln bis zu den Sternen. Er beobachtete sie lange genug, um zu erkennen, in welche Richtung sie sich bewegten. Im Moment aufwärts. Also Luft und Wasser für die Orbitalen. Vielleicht auch ein paar Ersatzteile und obendrauf noch etwas Schmuggelware.

Er stellte sich den Inhalt seines Frachtraums vor, der bis obenhin mit der Ausbeute aus einer verrottenden Basis der malaiischen Luftwaffe vor Kuala Lumpur gefüllt war. In ein, zwei Tagen würde eine dieser Gondeln die Gegenstände nach oben befördern, die dahinten verstaut waren. Erst das Geld natürlich.

Skyler lächelte. Erfolg war ein gutes Gefühl. Er hatte fast vergessen, wie er sich anfühlte. Allein schon der Finger würde die Kosten der Mission decken, wenn die DNA stimmte.

»Wollen Sie wieder ans Steuer?«, fragte Angus.

Mit dieser Frage löste sich der unerbittliche, hypnotische Bann, in den ihn das in der gläsernen Röhre hinablaufende Blut gezogen hatte. Er ließ die Phiole wieder in ihre Hülle gleiten und versiegelte sie. Aus reiner Gewohnheit griff er nach dem Steuerknüppel, dann hielt er inne. Alte Gewohnheiten bekam man nur schwer los. Er ballte die Faust und zog sie zurück. »Mach du das diesmal.«

»Sicher?«

»Du bist so weit. Lass es einfach langsam angehen.«

Angus drehte sich auf dem Pilotensitz und versuchte vergeblich, Skyler über die Schulter anzuschauen. Ein paar Sekunden verstrichen, ehe der Junge halbherzig zustimmend lächelte.

Die Melville ging in Sinkflug über. Skyler lehnte sich nach links und sah auf die Wolkengebirge hinab, die sich ihnen entgegentürmten. Blitze tanzten unter dem purpurnen Morast, der immer weiterwuchs, bis das Flugzeug schließlich in den dichten Nebel glitt.

Knappe zehn Sekunden lang wallten geisterhafte Schwaden rund um das Cockpitfenster, dann waren sie durch. Sobald sie sich unter dem Sturm befanden, prasselte Monsunregen gegen das Cockpitfenster und hämmerte auf den Rumpf ein.

Es dauerte eine weitere Minute, bis sie unter dem Sturm hervorkamen. Über Darwin war der Himmel klar, eine Ausnahme in der Regenzeit. Ein schöner Willkommensgruß für die Heimkehrer.

»Auragrenze«, sagte Angus. »In zehn, neun …«

Skyler schloss die Augen. Ein kleiner Teil von ihm wollte es spüren, wollte die eigenartige Aura des Lifts physisch erleben. Das unsichtbare Feld umgab den Weltraumlift etwa neun Kilometer weit, ehe es ein abruptes Ende fand. Die im Inneren des Feldes schützte es vor der außerirdischen Krankheit, die den restlichen Planeten verheert hatte. Wie – oder warum – die Aura diesen Effekt hatte, war ein ebenso großes Rätsel wie der Lift selbst.

»… fünf, vier …«

Der unstete, wogende Effekt endete in einer Zone, die man Auragrenze nannte. Ein Niemandsland, in dem der Schutz langsam verblasste.

Skyler lehnte im Kopilotensitz den Kopf zurück. Er würde nichts spüren. Er spürte nie etwas; genauso wenig die übrige Mannschaft. Die Krankheit hatte keine Wirkung auf sie.

Sie waren immun, das war eine unausweichliche Tatsache. Segen und Fluch zugleich, eine Eigenschaft, die nur wenige andere hatten. Sehr wenige.

»… drei …«

Obwohl die Immunität ihm erlaubte, die Stadt jederzeit zu verlassen, gab es einen kleinen Teil von Skyler, der normal sein wollte, gefangen wie alle anderen. Er wollte nicht besonders sein. Oder begehrt. Eigentlich wäre er am liebsten wieder in den Niederlanden gewesen, auf alltäglichen Patrouillenflügen für die Luftwaffe, hätte ein gutes Leben geführt. Aber das war lange her, in einer anderen Welt.

»… zwei, eins … jetzt.«

Das Flugzeug bockte.

Nicht stark, aber Skyler merkte es. Verdammt gutes Timing für Turbulenzen, dachte er. Ein verlegenes Lachen kam ihm über die Lippen.

Unter ihnen, jenseits der Scheibe, war der Stadtrand von brennenden Müllhalden gesäumt. Menschentrauben drängten sich um die Flammen, eher zum Schutz als wegen der Wärme. So weit entfernt vom Lift lebten die, denen es am schlechtesten ging, so nahe an der Freizone. Skyler stellte sich vor, es sei, als würde man am Rand einer Klippe leben.

»Bizarr. Haben Sie diesen Ruck gespürt?«, fragte Angus. Dann sagte er: »Ach du Scheiße. Schauen Sie mal.«

Skyler sah auf. Die Stimme des Jungen klang nicht mehr staunend, sondern besorgt.

Vor ihnen hatte sich etwas verändert. Skyler war nicht klar, was …

»Wo sind die Gondeln hin?«, fragte Angus.

Die Lichter am Kabel waren weg. »Was um alles in der Welt …?«

Das Funkgerät rauschte. »Melville, hier Nightcliff-Aufsicht«, übertönte eine panische Stimme das statische Rauschen. »Was zum Teufel haben Sie gemacht?«

Skylers Kehle wurde trocken. Er konnte nur den Streifen Himmel anstarren, wo die Gondeln gewesen waren.

»Melville! Antworten Sie, oder wir schießen Sie ab!«

»Angus«, sagte Skyler, ohne auf den Funkspruch zu achten. »Hier schweben.«

Der Junge nickte, brachte das Flugzeug in die Waagerechte und schaltete auf Vertikalschub um.

»Denk nach, denk nach«, flüsterte Skyler vor sich hin. Er beugte sich nach vorn, als würden ihm die paar zusätzlichen Zentimeter bessere Sicht gewähren. Mit zusammengekniffenen Augen zog Skyler eine gedankliche Linie von der Spitze des Nightcliff-Turms aus.

Vor den trüben Wolken sah er dort den schwarzen Umriss einer Gondel, die reglos am Kabel hing. Also nicht verschwunden, nur ausgefallen.

Stromausfall?, dachte er. Das war unmöglich. Er erinnerte sich, dass es etwas mit der Reibung durch die Atmosphäre zu tun hatte. Der Lift konnte gar nicht anders, als Energie zu erzeugen. In den fünf Jahren, seit Skyler in die Stadt gekommen war, hatte er Darwins Skyline nie ohne den ehrfurchtgebietenden Anblick der Gondeln gesehen, die an ihrem Kabel entlangglitten und frische Luft und Wasser hinauf zu den Orbitalen oder Nahrung zurück nach unten brachten.

»Melville«, erklang die zerhackte Stimme erneut. »Letzte Warnung.«

Skyler tippte geistesabwesend auf den Sendeknopf. »Nightcliff, hier Melville. Nicht schießen. Wir halten unsere Position. Was ist los?«

Während er auf die Antwort wartete, sah Skyler die Scheinwerfer der Gondeln flackern und dann in voller Helligkeit wieder aufleuchten.

Ein paar Sekunden später gingen sie erneut aus. Eines nach dem anderen diesmal, in einer perfekten Abfolge vom Weltraum bis hinunter zur Festung.

Minuten vergingen. Skyler spürte, wie ihm Schweiß über die Schläfen lief, und wischte ihn mit dem Handrücken weg.

Ein statisches Rauschen aus dem kleinen Lautsprecher ging der Stimme des Wachhabenden voraus. »Setzen Sie neuen Kurs auf Nightcliff, um sich einer Inspektion zu unterziehen. Kommen Sie dem Befehl nicht nach, schießen wir Sie ab. Bei jeglicher Verzögerung schießen wir Sie ebenfalls ab. Sie haben dreißig Sekunden zur Bestätigung.«

Der Befehl kam Skyler vor wie ein schlechter Witz. Die Mission war einwandfrei verlaufen, ein Glanzstück, bis jetzt. Inspektion. Er schüttelte den Kopf. Die ganze harte Arbeit, zerschlagen von diesem einen bedeutungsschweren Wort.

»Was soll ich sagen?«, fragte Angus. Er kämpfte mit seinem Gurt, um Skyler über die Schulter anschauen zu können.

Die braunen Augen des jungen Mannes flehten um beruhigende Worte. Skyler konnte nur die Achseln zucken. »Halt sie hin«, sagte er. »Ich denke nach.«

Er versuchte, sich die letzte Inspektion ins Gedächtnis zu rufen. Sie musste zwei Jahre her sein. Länger. Damals hatten sie behauptet, sie hätten Angst vor einer Grippeepidemie. Eine Kiste Wodka hatte die Angelegenheit bereinigt, wenn er sich recht entsann. Damals war er Pilot gewesen, hatte sich nicht aus dem Cockpit bewegt und nichts mit der Sache zu tun gehabt. Diesmal würde sein Kopf auf dem Richtblock liegen.

Die erste erfolgreiche Mission seit Monaten, seit Skyler den Kapitänssitz übernommen hatte, und nun das. Eine gottverdammte Inspektion.

Vermutlich wollten sie nur etwas abhaben. Das Sahnestück der Beute eines heimkehrenden Bergungsflugzeugs. Möglicherweise hatten sie das Licht der Gondeln absichtlich ausgehen lassen, jetzt, wo er darüber nachdachte. Eine wirklich clevere List.

Im Geiste ging er den Frachtbrief der Melville durch. Zwei Tage hatten sie sich durch das verlassene Gelände gewühlt und das alte Mädchen bis obenhin vollgepackt. Es herrschte kein Mangel an Waren, mit denen man Nightcliff bestechen konnte. Der Trick würde darin bestehen, sie von den guten Sachen abzulenken. Den konkreten Bestellungen.

Skylers Blick fiel auf die Neoprenhülle, die hinten am Pilotensitz hing. Er dachte an ihren morbiden Inhalt und die Kommune, die zusammengelegt hatte, um das Beweisstück bergen zu lassen. Viel Geld und dazu das Versprechen von sechs Kisten frischer Nahrung. Selbst nachdem Prumble seinen Anteil erhalten hatte, war diese Belohnung zu gut, um sie sausen zu lassen. »Wir wollen nur Gewissheit über das Schicksal unseres Vaters. Bringt uns etwas, irgendetwas, das wir ordentlich begraben können.«

Wie einen Finger. Skyler riss den Behälter von seiner Schnur und ließ ihn in die Innentasche seiner Jacke gleiten.

Er aktivierte die Gegensprechanlage. »Sam, Jake, ihr müsst diesen Schweißer verstecken.«

Es dauerte ein paar Sekunden, bis Samantha antwortete: »Wir könnten ihn über Bord werfen. Ihn später wieder holen.«

»Negativ. Wir sind über dem Labyrinth.«

»Du landest doch nicht etwa, oder? Lass ihren Bluff auffliegen«, sagte sie. »Sie werden keine Rakete an uns verschwenden.«

Skyler unterdrückte den Drang zu widersprechen. Auf den Schweißer, ein spezielles Modell, mit dem man auf einer Raumstation arbeiten konnte, war eine hohe Belohnung ausgesetzt. Er war das Wertvollste, was sie an Bord hatten. Es wäre schwierig, ihn den Bewohnern des Elendsviertels unter ihnen wieder abzunehmen, und sehr gefährlich.

Angus unterbrach seine Gedanken. »Fünf Sekunden. Wir sollten besser antworten.«

Skyler seufzte, unzufrieden mit der Alternative. »Bestätige. Setz neuen Kurs auf Nightcliff und geh auf zweihundert Meter runter.«

Innerhalb von Sekunden drehte sich das Flugzeug und ging in Sinkflug. Die Festung Nightcliff, die die Basis des Lifts umgab, kam in Sicht.

Samanthas Stimme kam knisternd über den Lautsprecher. »Also spielen wir brav mit, ja?«

»Wir können unsere Liftnutzungsrechte nicht aufs Spiel setzen. Kannst du mit Jake die Kisten durchgehen und alles Wertvolle nach unten räumen?«

Mit einem frustrierten Ächzen sagte sie »Aye, aye« und klinkte sich aus.

Skyler grunzte. Er zog in Erwägung, ein paar ausgewählte Gegenstände in der Nähe der Tür zu platzieren – eine unausgesprochene Bestechung –, aber das konnte auch nach hinten losgehen.

Durch das regennasse Panoramadach sah Darwin aus wie schon seit Jahren: fast kreisrund, am Rand bestehend aus chaotischen Elendsvierteln und dichter Barackenbesiedlung, aus der Richtung Mitte immer höhere Gebäude wurden. Gärten gediehen auf den leichter zu verteidigenden Dächern.

Im Herzen des Ganzen, direkt an der Küste, umgab die Festung Nightcliff den Weltraumlift.

Dahinter zog sich eine Flottille verfallener Kähne und rostiger Frachtschiffe hinaus in den Ozean. Die Fische, die man aus dem Meer holen konnte – auch ein Garten –, wurden jeden Tag weniger.

»Die Gondeln bewegen sich nicht«, sagte Angus.

Skyler sah vom Turm von Nightcliff bis ganz hinauf in die Wolken. Ja, die Gondeln waren wie festgefroren.

»Seltsam«, sagte er. Seine tieferen Sorgen behielt er für sich. Kein Verkehr auf dem Lift bedeutete keinen Handel. Keine Möglichkeit, die Waren zu befördern, die sie aus Malaysia geholt hatten.

So ein verdammtes Pech.

Angus drehte sich erneut halb im Sitz um. »Soll ich Nightcliff danach fragen?«

»Spar dir die Mühe«, sagte er. »Wir werden es bald erfahren.«

***

Angus flog mit der Melville einen weiten Bogen, um sich der Festung wie angewiesen von Osten zu nähern – die Windböen meisterte er mit stiller Präzision.

»Achte auf die Höhe «, sagte Skyler. Der Junge war als Pilot ein Naturtalent, und es steigerte sein Selbstvertrauen, wenn man ihm den Pilotensitz überließ, und sei es nur für kurze Abschnitte wie diesen. Doch während die Melville für den Anflug auf Nightcliff wieder in die Waagerechte ging, erwischte sich Skyler dabei, wie er die Handgriffe des Piloten imitierte. Er liebte das Fliegen, das Band zwischen Mensch und Maschine. Das Verlangen war tief in seiner Psyche verankert. Die Aufgabe de Piloten abzugeben hatte sich angefühlt wie das Ende einer lebenslangen Freundschaft.

Jemand muss der Anführer sein, rief er sich in Erinnerung. Mit einem schiefen Lächeln überlegte er, Angus auf den Kapitänssitz zu setzen. Der Gedanke, wieder zum einfachen Vergnügen des Fliegens zurückzukehren, ließ es fast erstrebenswert scheinen.

Von der inzwischen untergegangenen Sonne war nur noch eine rote Schliere am westlichen Horizont geblieben. Darwin verbarg sich überwiegend im Schatten. Von oben wirkte es beinahe friedlich – ein grausames Trugbild.

So weit entfernt vom Lift hatten nur wenige Gebäude Strom. Sie wurden von Mini-Thoriumreaktoren versorgt, die sich tief im Untergrund befanden. Die Höhe der Summen, die man Skyler für die Suche nach Ersatzteilen – Sicherungen, Kabel und dergleichen mehr – bot, verhalf ihm zu einer Vorstellung davon, wie begehrt solche Gebäude bei den Einwohnern waren. Elektrizität bedeutete in jeder Hinsicht Macht. Die Möglichkeit, Lampen und eine Klimaanlage zu betreiben oder sogar Kondensatoren zu stromen, konnte den Ausschlag geben, wenn es darum ging, eine Gegend für sich zu beanspruchen.

Näher an Nightcliff wurden die Gebäude höher. Alle Dächer waren von Gärten bedeckt, die der Skyline im schwindenden Licht eine unheimliche, waldartige Silhouette verliehen. Die Gärten waren noch besser bewacht als die Energiequellen. Die Reichen, wenn man sie so nennen konnte, verschanzten sich in den oberen Stockwerken, um ihre private Nahrungsquelle zu schützen, ihre Wasserzisternen. Gartenbesitzer mussten sich nicht um rationierte Nahrungsmittel streiten, die aus dem Orbit nach unten kamen. Sie konnten verhältnismäßig behaglich leben und ihren Überschuss gegen Waren und Dienste eintauschen, die sie benötigten. Zum Beispiel die Rückführung der sterblichen Überreste eines zurückgelassenen Patriarchen. Skyler tätschelte die Phiole in seiner Tasche.

Die Dachbewohner konnten allerdings ihre Penthouse-Enklaven nicht verlassen. Nicht ohne schlagkräftige, vertrauenswürdige Eskorte. Der Preis des Erfolgs.

Darwins Ärmste lebten auf Straßenniveau, abgeschnitten von den Dächern. Zum Überleben waren sie ganz auf Nahrung aus dem Orbit angewiesen und kämpften um jeden Krümel. Einige hatten inoffizielle Jobs, machten Besorgungen für die Gartenbesitzer oder trieben Schutzgelder von den umliegenden Straßenhändlern ein. Wanderarbeiter, Aushilfen, Diebe. Talente jedweder Art garantierten so gut wie immer ein Leben in gemäßigtem Komfort. Fahrradreparatur war beinahe genauso gefragt wie Hebammendienste.

Als Mitglied einer Bergungsmannschaft, wie Skyler, hatte man Promi-Status und alle Probleme, die damit einhergingen. Jeder brauchte etwas von draußen, aber nur wenige konnten zahlen.

Das Dröhnen der Maschinen der Melville veränderte sich, als Angus Schub auf die Vertikaldüsen gab. Beim Blick nach vorn über die Schulter seines Piloten sah Skyler inzwischen deutlich die Mauern Nightcliffs. Sie würden die gewaltige Barriere in weniger als einer Minute überfliegen.

Er spürte, wie ihm Schweiß den Rücken hinablief. »Sam, Jake, wie läuft’s da hinten?«

»Wir brauchen mehr Zeit«, sagte Samantha über den Lautsprecher. »Eine Kiste noch.«

Skyler fluchte.

»Soll ich hier schweben?«, fragte Angus.

»Nein, das sieht verdächtig aus.« Skyler schaltete die Gegensprechanlage ein. »Wir haben keine Zeit mehr, Sam. Macht schneller.«

»Was ist, wenn wir was echt Problematisches finden?«

Skyler hielt inne. Er wusste, was sie meinte: Sollen wir es verstecken? Ihr wäre genau das natürlich am liebsten gewesen.

»Captain, schau dir das an«, sagte Angus.

Skyler beugte sich vor, um Angus besser über die Schulter sehen zu können.

Bei dem Anblick verkrampften sich seine Eingeweide.

Vor dem Südtor Nightcliffs, auf dem Ryland Square, brodelte und wogte eine riesige Menschenmasse. Aus allen angrenzenden Gassen strömten Leute herbei.

Ein Aufstand, erkannte Skyler.

Ordnungshüter bildeten eine Reihe vor dem Tor. Ihre schwarzen Schlagstöcke hoben und senkten sich wie die Beine eines Tausendfüßlers. Ganze Bereiche in der Mitte des Platzes waren unter weißem Tränengas verborgen. Durch den Dunst erkannte Skyler einen großen Frachtcontainer, der auf der Seite lag. Zerlumpte Bürger, die sich Stofffetzen vors Gesicht hielten, schwärmten wie Ameisen über seinen Inhalt. Am Rande der Menge sah Skyler Kinder, die Müll auf die Festung warfen.

»Was zum Teufel geht da vor?«, fragte Angus mit einem hysterischen Unterton.

»Entspann dich «, sagte Skyler. »Tief durchatmen. Kurs halten.«

Die Gegensprechanlage rauschte, und Samantha meldete sich. »Skyler? Was sollen wir tun? Wir haben hier hinten etwas ONC-Schnur.«

Octanitrocubanschnur. Er erinnerte sich aus seiner Grundausbildung daran und zuckte zusammen. Hochexplosiver Sprengstoff in Strangform. Übler Kram, perfekt für präzise Detonationen. Genau die Sorte Zeug, die Nightcliff so weit wie möglich fernhalten wollte. Die Festung hatte vor allem einen Auftrag: für die Sicherheit des Lifts zu sorgen. Solche Waffen galten als Gefahr für die von Außerirdischen errichtete Anlage.

Wie paralysiert vom Anblick des Aufstands und den verdunkelten, erstarrten Liftgondeln flüsterte Skyler: »Ich weiß nicht, Sam. Ich weiß nicht.«

»Wir können es verstecken oder es über Bord werfen«, sagte sie. »Deine Entscheidung, Captain.«

Er bezweifelte, dass ihr die dritte Möglichkeit, es Nightcliff zu überlassen, überhaupt in den Sinn kam. So dachte sie einfach nicht. Skyler schon, und er nahm an, ein Beutestück wie dieses würde die Inspektoren womöglich davon abhalten, sich zu viel anderes zu nehmen. Vorausgesetzt, sie kamen nicht auf den Gedanken, dass sie es zu einem bestimmten Zweck geholt hatten.

»Wir sind über die Mauer«, sagte Angus.

»Sam«, sagte Skyler, »wir sind drin. Wir können es nicht abwerfen.«

Er beobachtete, wie die gewaltige Mauer der Festung unter ihnen hindurchglitt und ihnen die Sicht auf den Aufstand nahm. Nur vage bekam er mit, wie Angus sich mit den Wachhabenden im Turm der Festung auf ein Landefeld einigte. Das Flugzeug schlingerte, als der junge Mann ihren Kurs anpasste.

»Ruhig, Angus«, sagte Skyler. »Tief durchatmen.«

»Tut mir leid.«

»Schaffst du’s? Ich gehe nach hinten.«

»Ich werde es versuchen«, sagte Angus.

Skyler tippte wieder auf die Gegensprechanlage. »Lass den Sprengstoff, wo er ist. Wenn sie ihn finden, soll es so sein.«

»Ich wusste, dass du das sagen würdest«, erwiderte sie.

***

Im Laderaum kauerten Samantha und Jake über einer grünen Mun-Kiste mit weißer Blockschrift oben und an den Seiten. Sie sortierten Magazine. Neben ihnen stand ein bereits halb voller Spind.

»Wir können behaupten, es sei unser Zeug«, sagte Jake, »und stamme nicht von der Mission.«

Eine Absicherung dagegen, dass Nightcliff die Fracht vollständig konfiszierte, übersetzte Skyler, und er konnte es ihnen nicht verübeln. Munition diente in weiten Teilen Darwins als Währung, und jenseits der Auragrenze hatte sie definitiv ihren Nutzen. Skyler nickte und ging weiter.

Sam vertrat ihm den Weg. Mit ihren über zwei Metern musste sie sich in dem engen Raum leicht bücken. Aufrecht hätte sie ihn überragt, aber so nach vorne gebeugt waren sie auf Augenhöhe. Ihr langes, blondes Haar steckte unter einer Tarnmütze, was ihre ohnehin scharf geschnittenen Züge noch stärker betonte. »Du lässt Angus landen?«

»Sam … nicht jetzt.«

Er ging um sie herum zur hinteren Laderampe. Das Flugzeug kam stark in Schräglage, als Angus es nach unten brachte, was Skyler zwang, nach den ausgefransten Nylonhaltegurten an der Wand zu greifen.

Das Bergungsgut der Mission füllte sechs große Holzkisten in der Mitte des Frachtraums, gehalten von gelben Plastiknetzen, die mit Haken am Boden befestigt waren. Obwohl Sam und Jake sie eilig durchsucht hatten, sahen die Kisten immer noch gut gesichert aus.

»Gute Arbeit«, sagte Skyler. »Als hättet ihr sie nie angerührt.«

Ein dumpfer Schlag von unten verriet, dass die Melville gelandet war, gleich darauf wurde das Summen ihrer Turbinen schnell leiser.

»Gut gemacht, Angus«, sagte Skyler in die Gegensprechanlage.

»Danke. Draußen wartet … äh … ein Haufen Soldaten.«

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Kapitel 2

Darwin, Australien

12.1.2283

Da er nicht wusste, was er sonst tun sollte, drückte Skyler mit der Handfläche den Schalter, der die Rampe bediente.

Von der Decke erklang ein Warnton, dazu kam ein bernsteinfarbenes Drehwarnlicht. Die Glühbirne flackerte, als wolle sie ihn daran erinnern, sie zu ersetzen, eine Aufgabe, die er schon mehrfach verschoben hatte. Einige Monate ohne erfolgreiche Mission bedeuteten auch, dass Pflichten auf der Strecke blieben. Tut mir leid, altes Mädchen, dachte er. Du verdienst etwas Besseres.

Unter dem Boden sprang summend die Hydraulik an, und er trat von der Rampe zurück, als sie sich absenkte.

Regenwasser von dem Sturm in der Atmosphäre, aufgepeitscht vom restlichen Schub aus den ersterbenden Triebwerken der Melville, sprühte durch die Öffnung herein und klatschte Skyler ins Gesicht. Er kniff die Augen zusammen, während er das Wasser mit dem Ärmel abwischte.

Als sich die Rampe senkte, kam allmählich das weitläufige Gelände Nightcliffs in Sicht. Links von Skyler erhob sich der Lift-Turm über zweihundert Meter in einen tiefvioletten Himmel. In jeder anderen Nacht hätte eine Reihe von Leuchtpunkten, bestehend aus den Scheinwerfern der Gondeln, das Aufzugsseil kenntlich gemacht, wie ein vertikaler Strang von Lichterketten, die sich bis hinauf in den Weltraum erstreckten.

Aber nicht in dieser Nacht. Durch die dunklen Gondeln war das dünne Kabel so gut wie unsichtbar.

Skyler fragte sich, ob es nur die stehen gebliebenen Kabinen gewesen waren, die die Menge draußen zur Gewalt getrieben hatten. Vielleicht war der Abschaltung etwas anderes vorausgegangen. Eine Konfrontation mit dem Orbitalrat oder streikende Wassertransporter. Solche Gerüchte breiteten sich aus wie ein Lauffeuer. Der kleinste Hauch von Problemen, von einer ernstzunehmenden Veränderung ihrer ohnehin schon trostlosen Lage, konnte die Menschen zu solchen verzweifelten Gewalttaten treiben.

Eine Ansammlung hoher Gebäude stand um den Fuß des Turms, so dass man den Krater nicht sehen konnte, der entstanden war, als das Seil in die Erde eingedrungen war. In den Gebäuden belud man die Gondeln hinter gewaltigen Rolltoren und reihte sie hintereinander auf. Eine Reihe von Kränen, jeder höher als fünfzig Meter, umringte den Bereich. Sie befestigten Frachtcontainer an den Gondeln oder nahmen sie ab. Skyler sah eine leere Gondel an einem der Kräne. Die spinnenartigen Kabinen bestanden aus einer Mittelachse mit Elektromotoren, Inversionsplatten und Milliarden von winzigen Armen, die das unfassbar dünne Kabel umschlossen. Oben und unten an der Achse waren acht Gerüstarme angebracht, an denen die Fracht hing. Auf dem Asphalt wartete ein Stapel langer Stahlkisten, untätige Arbeiter drängten sich in der Nähe zusammen.

Rechts von ihm, an der am Meer verlaufenden Mauer der Festung, sah Skyler ein Durcheinander aus Baracken und anderen Hilfsgebäuden, darunter auch den alten Platz-Familiensitz, der schon längst zugenagelt war. Jemand hatte ihm erzählt, dieses einst luxuriöse Anwesen diene inzwischen als Lagerraum. Was für eine Verschwendung.

Die Festung Nightcliff war aus purer Notwendigkeit entstanden, um den von Außerirdischen errichteten Lift einzufassen und zu verteidigen. Warum die Erbauer siebzehn Jahre zuvor den Lift hier errichtet hatten, wusste niemand. Nur wenige interessierten sich noch dafür. Die Außerirdischen waren nie in Erscheinung getreten, hatten sich nie vorgestellt. Keine Erklärung, nur ein automatisiertes Baugefährt, das im Orbit stehen blieb und seinen Faden wie eine Angelschnur in den Boden schoss.

Skyler war Anhänger der Theorie der »reinen Glückssache«. Das Kabel war vom Himmel gefallen, ihm voraus eine pfeilförmige schwarze Masse, und hatte sich tief in diesen kleinen Landstrich hineingebohrt.

Fast über Nacht hatte sich Darwin von einer verschlafenen Stadt am Meer in eine wuselige Metropole verwandelt: ins Zentrum der Welt. Skyler erinnerte sich an die Aufnahmen, die er in der Schule gesehen hatte: Vorher-nachher-Vergleiche, die seinen jungen Geist verblüfft hatten. Eine Zeit des Fortschritts und der Wunder. Eine Zeit des Zukunftsglaubens.

Sie war nicht von Dauer gewesen.

Fast fünf Jahre nach der Ankunft des Lifts war die Krankheit ausgebrochen und hatte sich über den Erdball verbreitet. Warum oder wie der Lift sie unschädlich machte, blieb ein Rätsel. Es gab eine Verbindung zwischen beiden, so viel war klar, aber in dieser Zeit der weltweiten Panik war es nur auf eines angekommen: auf nach Darwin. Darwin ist sicher. Die Stadt war damals unter dem Ansturm der Flüchtlinge, darunter Skyler, zusammengebrochen. Die Erinnerungen an seine Reise brachten ihn auch jetzt noch zum Zittern. Erstaunlich, was Menschen einander antun konnten, wenn ihr Überlebensinstinkt einsetzte.

Die Rampe der Melville traf mit einem tiefen Knirschen auf Beton, was Skylers Aufmerksamkeit von der Aussicht ablenkte.

Russell Blackfield, der Präfekt von Nightcliff, wartete auf dem Landefeld. Seine Anwesenheit zerstörte sämtliche Hoffnungen, die Skyler noch gehegt hatte, es könne sich um eine reine Routineinspektion handeln.

Neben dem mächtigen Mann standen vier Schutzwachen, zwei an jeder Seite. Sie trugen braune Kampfhelme, das einzige Stück Rüstung, das sie besaßen. Ihre übrige Ausstattung entsprang einer Vielzahl von Militäruniformen aus der Zeit vor der Krankheit. Hauptsächlich sah Skyler unterschiedlich gut erhaltene Arbeitsuniformen der australischen Armee. Einer trug einen schlecht sitzenden chinesischen Offiziersmantel.

Ihre Waffen waren auf Skyler gerichtet – alle hatten schlanke, dunkle Maschinengewehre. Ihre Uniformen passten nicht zueinander, ihre Knarren schon.

Russell trat vor. »Kommen Sie da raus. Ihre Mannschaft auch. Die Hände so, dass ich sie sehen kann.«

Der Mann trug ein einfaches, weißes T-Shirt, das völlig durchnässt war. Sein kurzgeschorenes blondes Haar klebte in feuchten Klumpen am Kopf. Er trug keine Waffen, soweit Skyler sah.

Skyler schaute nach hinten und sah, dass Jake und Samantha bereits herauskamen. »Jake, hol Angus.«

Sein Schütze nickte und wandte sich um.

Samantha ging zwischen ihnen die Rampe auf den Asphalt hinab. Russell verfolgte sie mit lüsternem Blick, die Diskussion war plötzlich vergessen.

Skyler beugte sich vor, um dem Präfekten die Sicht zu verstellen. »Was soll das?«

»Sabotage«, brummte Russell und reckte den Kopf, um an Skyler vorbeizuschauen.

Sekunden später kam Jake mit Angus im Schlepptau aus der Maschine. Die beiden traten neben Samantha, die Hände nach vorne gestreckt.

»Nun gut«, sagte Russell. »Was zum Teufel haben Sie mit meinem Lift angestellt?«

Stille senkte sich über den Hof.

Da der Antrieb der Melville ganz aus war, hörte man nur den fernen Lärm der aufständischen Menge vor dem Südtor.

Hinter Russells Diktatoren-Fassade erkannte Skyler Sorge. »Sie glauben, das hätten wir verursacht?«

Der grobschlächtige Mann trat näher. Er kniff die Augen zu. »Der Strom ist in dem Augenblick ausgefallen, als Sie auf die verdammte Aura gestoßen sind. Ganz genau. Stellen Sie sich ruhig dumm, Plünderer, aber wir werden der Sache auf den Grund gehen.«

Russell machte eine Geste. Drei Wächter rannten die Rampe herauf und schickten sich an, die gelben Netze von den Frachtbehältern zu entfernen. Der vierte blieb stehen, sein Gewehr deutete auf den Boden zwischen sich und der Mannschaft.

Skyler konnte nur hilflos zusehen. »Schauen Sie, wir waren überrascht über die Verdunkelung der Gondeln, genau wie Sie. Wir haben nichts an Bord, das so etwas auslösen könnte. Ich weiß nicht mal, wie das passieren konnte.«

Russell marschierte halb die Rampe hinauf, eher auf den Inhalt des Flugzeugs konzentriert als Skyler. »Ihr seid die Crew aus Immunen, oder?«

»Stimmt. Wir kommen gerade von einer Tour im Norden zurück.«

Falls Russell das gehört oder eine Meinung dazu hatte, gab er sie nicht zu erkennen. Seine Aufmerksamkeit blieb auf die Frachtkisten gerichtet. »Immunität. Muss schön sein, die Stadt ohne den Anzug zu verlassen. Echte Reisefreiheit.«

»Das da draußen ist kein Garten Eden«, sagte Skyler.

»Dennoch haben Sie die Wahl.«

Skyler schwieg. Er erzählte so gut wie nie von seiner Immunität gegen die Krankheit, wegen der Fragen, die darauf folgten. Es waren immer dieselben: Fühlst du dich anders? Glaubst du, die Erbauer haben dich auserwählt? Könntest du nach meiner Frau oder meinem Kind oder den sterblichen Überresten des Gemeindevorstands, den wir zurückgelassen haben, suchen?

Und schließlich: Warum kehrst du überhaupt zurück?

Er hatte keine zufriedenstellenden Antworten für sie.

Am meisten hasste er es, die Außenwelt zu beschreiben. Freizone nannten sie sie. »Wie ist es da?«, fragten sie immer. Keiner wollte hören, dass die Welt vor die Hunde gegangen war, dass alle großen Metropolen der Menschen nun Unkraut, Ratten, Krähen und Schlimmerem eine Heimstatt boten. Nein, sie wollten glauben, die Welt hätte sich von den Sünden der Menschheit erholt. Nach allem, was geschehen war, brauchten sie einen Silberstreif am Horizont.

Von Russell Blackfield, dem Despoten von Nightcliff, hätten solche Fragen eine ganz eigene surreale Anmutung gehabt. Obwohl er es nie zugegeben hätte, wünschte sich Skyler, er hätte Sams Rat befolgt und den Aufruf zum Landen ignoriert.

Zu seiner Überraschung ließ Russell das Thema fallen. Er schien gänzlich uninteressiert. »Definieren Sie ›Norden‹«, sagte er.

»Malaysia«, sagte Skyler. »Eine Luftwaffenbasis.«

»Sind Ihnen Subs begegnet?«

»Nicht auf dieser Tour«, log Skyler. Er spürte das Gewicht des Subhumanen-Fingers in seiner Jackentasche.

Russell starrte in den Frachtraum, als erwarte er, dass ein Subhumaner daraus hervorsprang. »Das ist schlau«, sagte er, »Militärbasen abzuklappern. Viele Ersatzteile und Vorratslager, durch die man sich wühlen kann?«

»Das ist genau der Gedanke dahinter«, sagte Skyler.

»Was ist mit Waffen?«

Bei dieser rhetorischen Frage zuckte Skyler die Achseln.

»Vielleicht eine EMP-Bombe?«

Womit ich mein eigenes Flugzeug genau wie jedes andere Gerät in der Stadt abschießen würde, Dumpfbacke. »Ich sehe, worauf das hinausläuft«, sagte Skyler. »Ich sage Ihnen, wir haben den Lift nicht sabotiert. Er ist doch unsere Lebensader.«

»Er ist unser aller Lebensader«, sagte Russell.

»Das trifft es noch eher.«

Der Präfekt ging die Rampe hinauf zum Eingang des Frachtraums. Seine Männer zerrten alles aus den Kisten und warfen die Fracht nach einem beiläufigen Blick beiseite. »Ist hier drin etwas für die Orbitalen?«, fragte Russell.

»Keine Ahnung«, erwiderte Skyler. »Unser Agent gibt uns eine Liste, und wir versuchen, sie abzuarbeiten. Es ist seine Sache, an wen er verkauft.«

»Sie machen sich nicht die Hände schmutzig, was? Bestreitbarkeit. Das gefällt mir.«

Skyler schüttelte den Kopf. »Ich konzentriere mich einfach auf die Mission.«

»Wer ist Ihr Agent?«, fragte Russell. »Grillo?«

»Prumble.«

»Ah«, sagte Russell. Er hob die Stimme, um zu allen Anwesenden zu sprechen. »Ein unbedeutender Mittelsmann ist an ein Team wie Ihres verschwendet. Sie sollten direkt für mich arbeiten. Für Nightcliff.«

Skyler warf einen Blick auf seine Mannschaft. Sam verschränkte die Arme vor der Brust, den Blick voller Trotz. Jake war wie immer nicht einzuschätzen. Der junge Pilot Angus starrte Skyler an, er sehnte sich nach Orientierung, zumindest seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen.

»Eine Gruppe wie Sie könnte ich gebrauchen«, fügte Russell hinzu. »Wir hier in Nightcliff brauchen jede Menge Zeug, das würde Sie beschäftigt halten, und Sie müssten sich nicht mit dem Pöbel da draußen abgeben.« Er machte eine beiläufige Geste zum Südtor, wo inzwischen der Aufstand tobte, wenn man nach dem Lärm ging, der über die hohe Mauer drang.

Niemand antwortete. Skyler suchte nach Worten, irgendetwas, mit dem er seine Position als derjenige behaupten konnte, der die Entscheidungen traf. Aber er fand keine, und der Augenblick ging vorüber.

»Denken Sie drüber nach«, sagte Russell, während er die Rampe zum Frachtraum hinaufmarschierte.

Sie nahmen sich die ganze Maschine vor, von vorne nach hinten, fast eine halbe Stunde lang.

Einmal sah Skyler, wie Russell in ein Walkie-Talkie sprach. Kurz danach kam ein weiteres Team aus Nightcliff zum Flugzeug. Keine Wachen, sondern Arbeiter in öligen Overalls. Sie hatten eine Ameise dabei.

Auf Russells Befehl hin luden sie ausgewählte Gegenstände auf.

Wieder ein Reinfall, dachte Skyler bestürzt. Der vierte in Folge. Er bezweifelte, dass sie sich einen fünften leisten konnten.

»Ich hab dir gesagt, du sollst nicht landen «, bemerkte Samantha, gerade laut genug, dass Skyler es hörte.

Er schüttelte den Kopf, Enttäuschung machte sich in ihm breit. Sie ließ keine Gelegenheit zum Auftrumpfen aus.

Dann stapfte Russell die Rampe herab, mit grimmigem Gesicht, die Kiste mit ONC-Schnur in den Armen. »Sie wissen, dass ich so einen Dreck nicht in der Stadt dulden kann. Das habe ich schon oft bekanntgemacht.«

»Haben wir unabsichtlich eingepackt«, sagte Skyler.

»Zur Strafe werden wir ein paar Dinge an uns nehmen.«

Skyler begutachtete die Sachen, die sie aufgeladen hatten. Drei Mun-Kisten, eine Kiste Whiskey und die Schweißer-Ausrüstung. Der Schweißer ärgerte ihn am meisten. Das Gerät hatte Prumble konkret angefordert, vermutlich auf Anweisung eines Orbitalen. Ein erheblicher Teil ihrer Bezahlung hatte sich damit erledigt.

Es hätte schlimmer kommen können. Sie hätten alles nehmen können, und er hätte sie nicht aufhalten können. Wieder hielt er den Mund.

Eine dröhnende Detonation erschütterte den Hof.

Aus der Ferne, aus Richtung des Aufstands. Ein plötzlich aufblitzendes Licht erhellte die Hochhäuser jenseits der Mauern von Nightcliff. Ein Feuerball züngelte empor, bevor er sich auflöste.

Der Boden erzitterte und rüttelte an den Flügeln der Melville, so dass sich ein Schauer winziger Tropfen löste. Skyler kauerte sich instinktiv zusammen und schloss angesichts des plötzlichen Sprühregens die Augen. Das Geräusch der Detonation hallte wie Donner über das Gelände.

Alle zuckten zusammen. Außer Russell Blackfield.

»Sehen Sie, was ich mit Sprengsätzen in der Stadt meine?« Er hielt sich wieder das Walkie-Talkie an den Mund. »Ich will eine zweite Einheit am Tor, voll gerüstet, in fünf Minuten. Es wird Zeit, diese Irren plattzumachen.«

Skyler sah die Rauchwolke gen Himmel steigen. Als er wieder nach unten schaute, stand Russell unmittelbar vor ihm. Sie sahen einander in die Augen.

»Ich verstehe«, sagte Russell. »Sie sind ein hochgeschätzter Dienstleister, das verstehe ich. Aber der Schmuggel hat ein Ende, und zwar verdammt noch mal jetzt.«

»Aber wir haben keine EMP-Bomben an Bord, stimmt’s?«

»Verarschen Sie mich nicht, Skyler«, sagte er. Dann grinste er. »Sie sind für den Augenblick vom Haken. Vergessen Sie nicht, dass ich Ihren einzigen Zugang zu denen in der Hand habe, die über uns stehen und leben. Den kann ich genauso gut abdrehen.«

Skyler warf einen Blick nach oben, wo unsichtbar das haarfeine Kabel verlief. »Verstanden.«

»Sie verschwenden Ihre Zeit, wenn Sie Müll für den Pöbel da draußen holen. Oder die gottverdammten Orbitalen«, sagte Russell. Er hielt inne und sah Skyler abschätzend an. »Denken Sie über mein Angebot nach. Ehe ich es widerrufe.«

»Werde ich«, sagte Skyler.

Russell wandte sich an die größere Gruppe. »Ich verkürze Ihren Aufenthalt nur ungern, aber ich muss mich an eine bewundernde Öffentlichkeit wenden.«

Damit entfernte er sich. Gemächlichen Schrittes, als wäre nichts geschehen. Die Wachmänner und Arbeiter folgten ihm, die Ameise mit der Beute hinter sich.

»Angus«, sagte Skyler.

»Ja?«

»Ab nach Hause.«

Der Pilot brauchte keine weitere Aufforderung und eilte die Rampe hinauf.

Als Nächstes kam Jake, still wie immer, sein hartes Gesicht nicht zu deuten. Der Mann rasierte sich immer sauber den Kopf, und an seiner Schläfe pochte eine Ader, was bei ihm wohl als Gefühlsregung durchging. Skyler hatte noch nie gesehen, wie er die Fassung verlor. Für einen Scharfschützen war das eine gute Eigenschaft, wenn auch vielleicht nicht für den Zusammenhalt des Teams. Trotzdem kam er mit Samantha zurecht, was, wie Skyler klar war, wahrscheinlich die Geduld eines Scharfschützen erforderte.

Der Gedanke ließ ihn grinsen.

»Findest du das witzig?«, fragte Samantha. Sie wartete mit verschränkten Armen auf dem Landefeld

»Nein, es ist nur … komm schon, Sam, es ist kein totaler Verlust. Sie haben nicht alles genommen.«

»Sie haben genug genommen«, sagte sie. »Wieder eine Nullnummer.«

Sie stapfte die Rampe hinauf, ihre Springerstiefel dröhnten auf dem Stahlboden.

Skyler blieb zurück, versuchte, sich etwas auszudenken – irgendwas –, das er zu ihr sagen könnte, um ihre Unterstützung zu gewinnen. Er dachte an die Mannschaft zurück, wie sie gewesen war, bevor Skadz weggegangen war. Der frühere Captain hatte keine Probleme im Umgang mit Samantha gehabt – ihre Einwände hatte er irgendwie immer in Witze verwandelt.

Er dachte daran, sie zu feuern, verwarf die Idee aber so schnell, wie sie ihm gekommen war. Er brauchte sie, und zwar nicht nur, weil sie immun war. Es gab herzlich wenig Immune auf der Welt, aber Samantha konnte auch noch kämpfen.

Schritte aus Richtung des Liftturms rissen ihn aus seinen Gedanken.

Ein bleicher Mann, hager. Kränklich, fand Skyler. Strähniges graues Haar hing in feuchten Strähnen um das knochige Gesicht des Mannes. Er trug einen langen, dunkelblauen Mantel, der wie eine nasse Decke an ihm klebte. Beide Hände hatte er tief in die Vordertaschen geschoben. Ein weiterer Beamter von Nightcliff, der auf Schmiergeld aus war.

»Sie sind Skyler, ja?«, fragte er. »Der Immune?«

Nicht noch eine Spezialanforderung, dachte Skyler. »Möglich. Wer will das wissen?«

»Sie arbeiten über Prumble?«

»Ja«, sagte Skyler.

Der Mann hielt inne, die Stirn gerunzelt, als träfe er eine Entscheidung. »Würden Sie ihm ein Schreiben übergeben? Ich kann wegen der Abriegelung nicht weg.«

Ehe Skyler antworten konnte, holte der Mann eine dünne Speicherkarte aus dem Mantel. Er drückte sie Skyler in die Hand. »Danke«, sagte er und drehte sich um.

»Warten Sie.«

»Ja?«

»Was ist mit den Gondeln passiert?«

Der kränkliche Mann richtete den Blick nach oben. »Eine Fehlfunktion«, sagte er. »Die Energie war weg, dann kam sie wieder.«

Eine Fehlfunktion. Der Gedanke, dass der Lift ausfallen könnte, löste eine stechende Woge der Angst aus. Das wäre das Ende, dachte er, für alle außer ihn und eine Handvoll anderer Immuner. »Wenn die Energie wieder da ist, weshalb fahren sie dann noch nicht?«

»Blackfield nutzt die Gunst der Stunde. Jetzt geht’s darum, zu beweisen, wer der Feigling ist«, sagte er und entfernte sich.

Skyler wusste nicht, was das bedeutete. Er entschied sich, nicht nachzuhaken. »Was soll ich sagen, von wem es kommt? Das Schreiben, meine ich.«

Der Mann im Mantel ging weiter. »Kip!«, rief er über die Schulter. »Er weiß dann schon Bescheid. Sorgen Sie dafür, dass er das Schreiben erhält.«

Während der Fremde davontrottete, steckte Skyler die Speicherkarte ein.

Im Cockpit angekommen, bat Skyler um die Starterlaubnis, und der Tower erteilte sie. Angus wartete nicht auf einen Befehl, um die Vertikaldüsen zu starten.

Auf dem kurzen Flug zum alten Flughafen sah Skyler genau hin, um das Liftseil zu sehen – ohne die Warnlichter ein schweres Unterfangen.

Schließlich machte er die verdunkelten Gondeln aus, die immer reglos am Kabel hingen. Geblähte mechanische Spinnen, die sich verzweifelt festkrallten.

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Kapitel 3

Platz Space-Ag-Station 12

13.1.2283

Tania Sharma sah gespannt zu, wie ein Schwarm winziger schwarzer Ameisen die Überreste einer zu Boden gefallenen Avocado wegtrug. Die Frucht, dunkel und verfault, lag unbrauchbar auf dem weißgekachelten Boden.

Über ihr wucherte der große Baum, von dem sie gefallen war, chaotisch vor sich hin, die grauen Äste waren übersät mit grünen Blättern. Ausgehend von einer zentralen Röhre, die mit nährstoffreichem künstlichem Erdreich gefüllt war, breitete er sich in alle Richtungen aus. Eine sanfte Brise ermunterte die Blätter sporadisch zu einem kleinen Tanz, der nach und nach den ganzen Obsthain erfasste. Jedes Mal, wenn der Wind wehte, atmete Tania tief ein und versuchte, die ganzen Gerüche zu identifizieren, die er mit sich trug – eine unterhaltsame Aufgabe, auch wenn es hoffnungslos war.

Der »Himmel« darüber wurde dunkler, dann wieder heller, während die Station sich anpasste, um weiterhin Sonnenlicht einströmen zu lassen. Bewegliche Spiegel lenkten die Strahlen durch teure Borosilikat-Fenster. Als Kind hatte Tania Aufbau und Programmierung der Farmen fasziniert auswendig gelernt. Sie hatte die dort angebauten Pflanzen studiert, ihre genetischen Veränderungen und die ideale Bodenzusammensetzung. Alles, was ihr junger, unersättlicher Geist darüber herausgefunden hatte. Selbst jetzt, mit sechsundzwanzig, regten die Farmen im Orbit ihre Phantasie an.

»Haben wir eine übersehen?«

Sie drehte sich zu der bekannten Stimme um.

In der niedrigen künstlichen Gravitation hüpfte Neil Platz auf sie zu wie ein kleines Kind – die Bewegung strafte seine silbergraue Mähne Lügen. An sich mochte Tania die volle Erdschwerkraft lieber, wie sie auf den meisten Stationen herrschte, aber sie wusste, dass die Landwirtschaftsplattformen für optimales Pflanzenwachstum konfiguriert waren, nicht für menschlichen Komfort. Äpfel wuchsen am besten bei einem Bruchteil des Erdstandards, während Kartoffeln den optimalen Ertrag lieferten, wenn die Anziehungskraft höher war als bei Mutter Natur üblich. Das kam Tania immer besonders seltsam vor.

Neils Grinsen sprach von der Freude, die es ihm bereitete, hier so leichtfüßig zu sein. Trotz seines Alters strahlte er mehr Lebensfreude aus als jeder andere, den Tania kannte. Er war leger gekleidet, in eine schwarze Freizeithose und ein einfaches weißes Sweatshirt. An den Füßen trug er ein Paar neue Laufschuhe.

Bei seinem Anblick schmunzelte sie. »Was haben wir übersehen?«

Neil landete anmutig vor ihr und ging auf ein Knie, um die Avocado zu betrachten. »Dieses Kerlchen hier. Den Ameisen scheint es recht zu sein.«

»Die Ameisen folgen nur ihren Genen.«

»Die preisgünstigste Reinigungsmannschaft, die ich je eingestellt habe«, sagte er. »Wunderbar effizient.«

Tania glättete ihren einfachen blauen Overall und faltete die Hände im Schoß. »Du wolltest mich sehen?«

»Genau«, sagte er. »Danke, dass du gekommen bist.«

»Mir gefällt es hier, die Luft ist so … sie ist einfach wundervoll.«

Er atmete tief ein und nickte. »Ich habe dich vermisst, mein Liebes. Du strahlst richtig, ein wahres Ebenbild deiner Mutter.«

»Der Bart gefällt mir«, antwortete sie. »Steht dir.«

Er kratzte sich über die grauen Stoppeln, die sein Kinn bedeckten. »Mir ist die gottverdammte Rasiercreme ausgegangen. Ich hoffe, die Bergungsmannschaften finden noch was.« Er sprach mit australischem Akzent, der stark war wie eh und je, obwohl er so viel Zeit im Orbit verbracht hatte. Tania fand das charmant.

»Hat dich Zane begleitet? Ich habe ihn schon lange nicht mehr gesehen.«

»Mein Bruder ist auf Gateway und hält den Rat in Schach.«

»Vier Monate zwischen zwei Besuchen ist ziemlich lang«, sagte sie und betonte jedes Wort, um sicherzustellen, dass Neil die Rüge auch wahrnahm.

Er wandte sich von der Insektenparade ab und setzte sich neben sie auf die Bank. »Ich hatte zu tun. Nun aber, angesichts dieser Blockade der Gondeln …«

Tania wusste, warum er angerufen hatte, warum er sich ein persönliches Treffen an einem einsamen Ort gewünscht hatte. Veränderte Prioritäten, das Ende von Herzensangelegenheiten. Vier Monate lag ihre Anfrage zurück, vier Monate lang Stille, und nun würde er es offiziell beenden.

Sie biss sich auf die Zunge, gestattete ihrer Enttäuschung, langsam nachzulassen. »Die Stromschwankungen auf dem Kabel. So ernst ist es also?«

»Ha!«, bellte er. »Manch einer hätte das gern. Der selbsternannte König in Nightcliff hat die Gelegenheit mit beiden Händen ergriffen und alles lahmgelegt. Genau die Ausrede, die er brauchte.«

»Lahmgelegt bis wann?«

Neil schaute auf, als eine weitere Brise die Äste erschauern ließ. »Bis er eine zufriedenstellende Erklärung bekommt.«

»Nun«, sagte sie vorsichtig. »Es kam noch nie vor. Wir sollten es von einer Arbeitsgruppe untersuchen lassen.«

Er wischte ihre Bemerkung beiseite. »Entspann dich. Ich beauftrage Greg und Marcus damit. Du musst an einem wichtigeren Projekt arbeiten.«

Aufregung, die schnell in Angst umschlug, erfasste Tania. Jedes Mal, wenn die Theorie zur Sprache kam, verpflichtete Neil sie zur Geheimhaltung. Sie sah über die Schulter zum Eingang.

»Wir sind unter uns. Ich habe dem Personal ein paar Stunden freigegeben. Außer den Ameisen natürlich.«

Sie atmete die wohlriechende Luft ein, zwang sich zur Ruhe. »Ich dachte, du hättest es möglicherweise vergessen.«

»Im Gegenteil. Ich kriege die Idee einfach nicht mehr aus dem Kopf.«

»Ich hatte die Theorie schon beinahe aufgegeben, Neil«, sagte sie im Wissen, wie kleinlaut sie klang. »Du hättest es mir sagen sollen. Warum hast du so lange gewartet?«

Er schnitt eine Grimasse.

Tania musterte ihn genau, um in seinem Gesicht einen Subtext zu erkennen, und fand wie üblich wenig. Sie kannte sein Gesicht besser als das ihres eigenen Vaters. Manchmal träumte sie von ihrem Vater, möge seine Seele in Frieden ruhen, und er hatte Neils Gesicht.

»Tut mir leid«, sagte er. »Ich musste mich vorbereiten.«

»Vorbereiten?«

Er lehnte sich zurück, neigte das Gesicht dem gespiegelten Sonnenlicht entgegen und schloss die Augen. »Tania, du bist eine ausgezeichnete Wissenschaftlerin. Die beste, die ich habe. Aber man muss auch politisch denken. Wenn deine Hypothese stimmt, wird sich die Welt verändern. Erneut.«

»Möglich. Solange ich aber keine Analyse durchführen kann …«

»Ich muss darauf vorbereitet sein, was passiert, falls du recht hast«, sagte er. In seiner Stimme schwang der satte, sonore Unterton mit, den Tania nur von seinen früheren Reden vor den Orbitalen oder den Bürgern Darwins kannte. Zu ihr hatte er noch nie so gesprochen, nicht, wenn sie allein waren.

Seit sie drei Jahre zuvor zum ersten Mal ihre Theorie geäußert hatte, war das Thema oft zur Sprache bekommen. Manchmal beim Tee in seinem opulenten Büro in der Platz-Station, manchmal in knappen interstationären Nachrichten. Den auslösenden Gedankenblitz hatte ihr Neil geliefert, mit seiner hingeworfenen Bemerkung, die Erbauer wären »wahrscheinlich noch nicht fertig«, obwohl er behauptete, er habe nichts dergleichen gesagt. Tania hatte die Idee aufgenommen und weitergedacht, hatte die Theorie aufgestellt, dass sie vielleicht nach einem bestimmten Plan vorgingen. Die Krankheit war fast zwölf Jahre nach dem Lift gekommen, 11,7, um genau zu sein, und es klang sinnvoll für Tania, dass sie, falls sie zurückkehrten, eine ähnliche Zeitspanne verstreichen lassen würden.

»Vielleicht werden sie faul und brauchen länger«, hatte Neil vier Monate zuvor in einer Nachricht gesagt.

Diese Bemerkung hatte Tanias Tunnelblick beendet. Oder … was, wenn sie früher kommen? Was, wenn sie schon da sind, und wir haben es nicht gemerkt? Leicht panisch hatte sie Neil angerufen, ihn gebeten, die Daten, die sie brauchte, sofort zu suchen. Er hatte gesagt, er werde sich darum kümmern, und seitdem nicht mehr über das Thema gesprochen.

»Es ist nur …«, sagte sie. »Zugegeben, wir haben möglicherweise noch Jahre, falls sie überhaupt zurückkehren. Aber es könnte genauso gut schon zu spät sein. Ohne die Daten ist das unmöglich zu sagen.«

»Ich weiß«, entgegnete er. »Ich weiß.«

»Außerdem dauert die Analyse möglicherweise ewig. Wenn mir meine Assistentin Natalie helfen könnte … Sie ist ausgezeichnet.«

»Vergiss es«, sagte Neil. »Geheimhaltung ist von höchster Bedeutung. Das musst du allein machen.«

Erneut kam ein Lufthauch auf, raschelte in den Blättern der Baumreihe.

»Dieses Geräusch erinnert mich an das Meer.« Neils Stimme klang wieder väterlich. »Wellen am Ufer von Nightcliff vor der Ankunft der Krankheit.«

»Ich erinnere mich kaum daran«, sagte Tania. »Nur an Details. Meine Heimat war immer hier oben.«

Er lächelte. »Ich bin immer mit deinen Eltern an den Felsen entlanggegangen, um ihre Forschung am Lift mit ihnen zu besprechen. Dein Vater und ich haben dich abwechselnd getragen. Du hasstest es, wenn deine Füße nass wurden.«

Dann wich die Heiterkeit aus seinem Gesicht. Tania kannte diesen Ausdruck – eine unvermeidliche Folge, wenn ihre Eltern zur Sprache kamen. Jetzt dachte er wohl an ihren Tod, und sie hoffte, er würde nicht darüber reden.

Damals war sie einundzwanzig gewesen, in den ersten Tagen der Krankheit. Ihre Mutter, eine Ärztin, war zurück nach Indien geeilt, in der Hoffnung, eine Möglichkeit zu finden, SUBS aufzuhalten. Rückblickend eine vergebliche Reise. Tania hatte nie wieder von ihr gehört.

Zur gleichen Zeit hatte Neil ihren Vater auf eine der älteren Raumstationen geschickt, die die Firma betrieb, eine, die weit vom Lift entfernt war. Aber ein unvorhersehbarer Unfall hatte sie zerstört. Ihr Vater war allein an Bord gewesen.

Neil fühlte sich für beide Tode verantwortlich, obwohl Tania ihm das Gegenteil versichert hatte. Sie waren weg, zusammen mit fast allen anderen. Für sie war es schwer, um ihre Eltern zu trauern, wo doch so viele andere gestorben waren.

Sie wechselte das Thema. »Was hattest du gesagt, wegen der Vorbereitungen?«

»Ja«, antwortete er. »Du weißt, wir versuchen seit Jahren, eine weitere Habitat-Station fertigzustellen. Hab-8.« Als sie nickte, fuhr er fort. »Sie steht viel kürzer vor der Vollendung, als dem Rat klar ist. Es ist besser, wenn du nicht mehr darüber weißt. Auf jeden Fall habe ich sie bestückt wie einen Bunker, nur für den Fall.«

»Für … welchen Fall?«

»Welchen, genau«, sagte Neil. »Den unbekannten, eines der Dinge, die ich am wenigsten mag – und da kommst du ins Spiel.«

»Es ist möglicherweise gar nichts dran. Es ist nur eine Hypothese.«

»Eine geniale Hypothese«, sagte er mit einem Hauch Ärger in der Stimme. »Es ist was dran. Ich weiß es. Nenn es Bauchgefühl. Mir egal.«

Sie nickte, obwohl sie anderer Meinung war. Sie war nicht zu solchen Gedankensprüngen fähig, nicht ohne Beweise. »Ohne die Daten …«

»Deswegen wollte ich dich treffen. Die Daten.«

Wieder erfasste sie Aufregung, und jetzt konnte sie sie nicht unterdrücken. Die Vorfreude auf die Entdeckung war zu groß. »Du hast sie!«

»Noch nicht«, sagte er, dann bemerkte er ihre Enttäuschung. »Bald, hoffe ich. Was du verlangst, ist sehr schwer zu beschaffen. Jeder Ausflug hinter die Auragrenze ist enorm gefährlich, und deine Daten sind sehr weit von Darwin entfernt. Das wird mich ein Vermögen kosten.«

Sie schwieg. Dass Neil sich Sorgen um eine Investition machte, wie klein sie auch sein mochte, deprimierte sie.

Dass der Weltraumlift sich etwa siebzehn Jahre zuvor auf Neils Grund und Boden mit der Erde verbunden hatte, hatte ihn zum reichsten Mann der Welt gemacht. Platz Industries war der Platzhirsch beim anschließenden Wiederaufleben der Weltraumaktivitäten gewesen. Neil hatte die Firma mit skrupelloser Effizienz geleitet, Tanias Vater war als sein wissenschaftlicher Leiter nie weit von ihm entfernt gewesen.

Zu oft konnte sie Blicke auf diesen Neil, den Industriekapitän, erhaschen. Aus ihrer Sicht war das alles nicht mehr wichtig. Wohlstand sollte in der Gesellschaft eigentlich keinen Platz mehr haben, und doch blieb er bestehen – tief verwurzelt in der Psyche.

Neil fuhr fort: »Sie müssen ihre eigene Luft und ihr eigenes Wasser mitnehmen. Ihr Leben einem Schutzanzug anvertrauen, der Jahrzehnte alt ist. Ein Löchlein, Tania, und das war’s.«

All das wusste Tania. Sie hatte SUBS studiert, soweit das möglich war. Man wusste wenig, denn das Expertenwissen der Menschheit war zum Großteil ausgestorben. Es ähnelte Alzheimer, einer Krankheit, gegen die man beinahe ein Jahrhundert zuvor ein Heilmittel gefunden hatte. Nur eine Einzelheit war wichtig: Die Krankheit tötete die meisten Menschen außerhalb der Auragrenze in weniger als vier qualvollen Stunden. Ungefähr zehn Prozent überlebten in einem tierähnlichen Zustand zu, »rückentwickelt«, ihre urwüchsigen Triebe und Gefühle in einem Maß verstärkt, mit dem der gesunde Verstand nicht mehr fertig wurde. Es half ihnen nicht, nach Darwin zu gehen. Die Aura heilte SUBS nicht; sie versetzte den Virus nur in Stasis. Sobald man die relative Sicherheit verließ und die inaktiven Zellen wieder auf aktive stießen, erwachten und wuchsen sie erneut.

Ein mikroskopisch kleiner Prozentsatz der Menschheit war davon überhaupt nicht betroffen.

»Auf jeden Fall«, sagte Neil, »habe ich Dinge in die Wege geleitet. Heute erst.«

»Dann werden wir sie bald haben?«

»Geduld, Liebes. Selbst wenn die Daten da draußen sind, müssen sie sie finden, nach Darwin bringen und hier heraufschaffen. Das sind schwierige Aufgaben.«

Ihre Gedanken überschlugen sich. Sie wusste von den Bergungsmannschaften in Darwin, deren Abenteuer jenseits der Aura ein beliebtes Gesprächsthema waren. Die Romantik der Gefahr und der Abenteuer an verbotenen Orten. Tania nahm an, dass die Geschichten, bis sie sie zu hören bekam, stark übertrieben waren. »Wen hast du angeworben? Jemand Zuverlässigen, hoffe ich?«

»Keine Ahnung.« Er tätschelte ihren Arm. »Es gibt nichts, das man mit mir in Verbindung bringen kann, falls die Dinge schieflaufen.«

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Kapitel 4

Darwin, Australien

13.1.2283

Der Panzerwagen brummte durch Darwins altes Speicherviertel, unter seinen dicken, genoppten Reifen zermalmte er Steine genauso wie Müll.

»Wo sind denn alle?«

Der Klang der Stimme riss Skyler aus einem Tagtraum. Er war in die Polster des Beifahrersitzes gesunken und hatte seine Sinne von der Wärme des Tages und den Fahrzeugbewegungen einlullen lassen. Durch die geräumige Kabine schaute er zu Angus und bemerkte, wie angespannt er sich ans Steuer klammerte. »Versteckt. Beobachten uns von drinnen.«

Angus nickte, aber auf seine Stirn traten Falten. »Weshalb?«

Die Unschuld in seiner Stimme ließ Skyler grinsen. Nach den Maßstäben Darwins hatte Angus ein privilegiertes Leben geführt. Er war in einem Transporthubschrauber aufgewachsen, im Sitz neben seinem Vater, einem Piloten, der Wasserlieferungen von East Point hinauf nach Nightcliff flog. Mit sechs Jahren hatte ihm sein Vater zum ersten Mal das Steuer überlassen, behauptete zumindest Angus. Jetzt war er siebzehn, ganz schlaksige Glieder und zottige schwarze Haare, und war bereits ein besserer Pilot als Skyler.

Wenn er nur ein wenig vom Leben auf der Straße verstünde, dachte Skyler. »So weit entfernt vom Lift verheißt ein funktionierendes Fahrzeug diesen Leuten einfach nur Ärger.«

Angus lehnte sich wieder zurück. »Stimmt. Nachvollziehbar.«

Sie überholten einen einsamen Fahrradfahrer, der einen Schal vor dem Mund und eine AK-47 auf dem Rücken trug. Am Rahmen über dem eiernden Hinterreifen hingen Satteltaschen. Ein Bote.

»Mach dir nichts vor«, fuhr Skyler fort. »Sobald ihnen klarwird, dass wir nicht aus Nightcliff kommen, werden sie versuchen, es uns abzunehmen.«

Eine kleine Lüge, aber er wollte, dass Angus aufmerksam blieb. Eigentlich konnten die Leute hier kein so großes, komplexes Fahrzeug gebrauchen. Die Wartung hätte sie überfordert, und noch viel weniger konnten sie die Kondensatoren laden, und selbst wenn es gestohlen wurde, wusste Skyler, wo zwanzig weitere baugleiche Fahrzeuge warteten, völlig unbenutzt, in einem Vorratsdepot in Russland. Genau dort, wo Skadz und er dieses hier drei Jahre zuvor gefunden hatten.

Der Radfahrer, der im Rückspiegel verschwand, hatte sehr viel mehr Grund zur Sorge. Ein Fahrrad war auf so viele Arten nutzbar.

Skyler wandte sich zur Scheibe und beobachtete mit vagem Interesse, wie der leichte Nieselregen den Schmutz darauf neu arrangierte.

Beim Blick nach oben, über die Dächer, erkannte er das Liftkabel. Auf dem dünnen Seil gleißte das vormittägliche Sonnenlicht. Es wirkte wie ein Faden aus Spinnenseide, der sich in die Ewigkeit erstreckte. Nach all den Jahren erfüllte ihn der Anblick immer noch mit Ehrfurcht.

Die Nabelschnur zur Erde, hieß es, und doch ging alles Wertvolle nach oben.

Er reckte den Hals, um noch höher hinaufzuschauen, verfolgte die Linie, bis sie sich im Himmel verlor.

»Sind Gondeln zu sehen?«, fragte Angus.

»Keine einzige«, sagte Skyler. Er runzelte die Stirn. Zehn Stunden zuvor hatte Skyler auf dem Dach seines Hangars gestanden und mit wachsender Besorgnis beobachtet, wie sich die festsitzenden Gondeln wieder zu bewegen begannen. Statt ihren Weg nach oben zur Gateway-Station fortzusetzen, waren die Kabinen nach unten gefahren. Seitdem war nichts geschehen. Zum ersten Mal, seit sich Skyler erinnern konnte, war das Kabel leer.

Wenn dieser Zustand noch länger anhielt, fürchtete er, dass es zu einer ausgewachsenen Revolution kommen würde. So übel Blackfield auch war, die Alternativen gefielen Skyler nicht. Ehrgeizige Verbrecherfürsten oder sogar inbrünstige Jakobiten würden sich anschicken, in die Bresche zu springen.

Der Wagen wurde langsamer. Skyler richtete seine Aufmerksamkeit nach vorn und sah ein eingestürztes Wellblechgebäude, das auf die Straße gekippt war. Arbeiter aus verschiedensten Ethnien krabbelten über den Schutt und pickten sich die letzten nützlichen Gegenstände heraus. Rohrstücke aus Kupfer, elektrische Leitungen, Isolierung. Sie arbeiteten unter Aufsicht zweier Asiaten, die mit Macheten bewaffnet waren: Schläger der örtlichen Gang, die auf diesen Straßenabschnitt Anspruch erhob. Die beiden teilten sich eine Zigarette, und einer schlug auf einen pausierenden Arbeiter ein, trieb den mürrischen Jungen mit der flachen Seite seiner Klinge zurück an die Arbeit.

Man würde die Arbeiter mit einer Mahlzeit oder zwei entlohnen. Was für eine Methode, etwas zu beißen auf den Tisch zu bekommen, dachte Skyler. Die Stadt war überfüllt mit diesen ungelernten Arbeitern. Alle, die nach Darwin geflohen waren, während die Krankheit auf dem Planeten getobt hatte, mit nichts als ihren Kleidern am Leib und keinem Ziel außer dem Überleben. Wenige hatten Fähigkeiten, die die Menschheit benötigte, und es gab kaum Gelegenheiten, um sich weiterzubilden. Wenn man ein Handwerk erlernte, bedeutete das, dass man in eine völlig andere Kaste aufstieg. Die Kunst, eine Wunde oder einen Pullover zu nähen, ein Fahrrad zu reparieren, einen Setzling zu ziehen – dieses Wissen hatte wahre Bedeutung.

Etliche Unterstände aus zerfetzten Planen und Mülltüten aus Plastik ballten sich um den Fuß des Schutthaufens. Unter einem drängte sich eine Familie aus dem Nahen Osten, die in zerschlissene Seidenschals und dünne Decken gehüllt war. Eines ihrer Kinder hatte heftigen Husten.

»Fahr außen rum«, sagte Skyler. Auch wenn er gegen die Krankheit außerhalb der Stadtgrenzen immun war, waren irdische Erkrankungen eine gänzlich andere Sache. »Zügig.«

Angus gehorchte, riss das Fahrzeug hart nach rechts und gab Gas. Er quetschte den Wagen zwischen dem Schutt und einer Betonmauer auf der anderen Straßenseite durch, nur wenige Zentimeter trennten sie von der harten Wand.

»Gut gefahren«, kommentierte Skyler.

An der nächsten Ecke sammelte sich eine kleine Menge um einen Mann, der in eine improvisierte weiße Robe gekleidet war. Ein Jakobiten-Prediger. Er stand auf einer Holzkiste, das Gesicht verzerrt, und predigte geifernd. Vor ihm ging eine Frau auf und ab. Sie schwenkte eine ausgefranste Fahne, blutrot, mit einem handgemalten Emblem in Weiß: das christliche Kreuz mit einer Leiter als senkrechtem Balken.

Skyler konnte die Sekte, die glaubte, der Weltraumlift sei die Jakobsleiter, nicht ausstehen. Sie hatte es auf den gelangweilten und verzweifelten Mob in Darwins Außenbezirken abgesehen und war Skylers Ansicht nach nicht viel mehr als eine Verbrecherbande. Noch schlimmer, eine Verbrecherbande mit ergebenen Jüngern.

»Mach einen ganz weiten Bogen um diesen Spinner, Angus«, sagte Skyler.

»Nur zu gern«, erwiderte der.

Skyler musterte die Menge und die Gebäude ringsum. Jakobiten waren meist in Gruppen unterwegs, oft bewaffnet.

Die Predigt stockte, als das Fahrzeug näher kam. Während der Wagen vorbeirollte, starrte der Prediger Skyler mit einem unbeirrbaren Blick an, in dem brodelnder Hass stand.

Er muss annehmen, wir kommen aus Nightcliff, dachte Skyler. Wenn er Freunde in der Gegend hat …

»Schnell jetzt, Angus.«

Der Junge lenkte wieder zurück in die Straßenmitte und gab Gas. Der Energieschub brachte die Elektromotoren zum Jaulen, und Skyler spürte, wie es ihn in den Sitz drückte, als sie beschleunigten.

Im Seitenspiegel sah Skyler den Prediger und seine Menge aus dem Blickfeld verschwinden.

Ein paar Blocks weiter befahl er Angus, es wieder langsamer angehen zu lassen. Hier waren die Straßen relativ sauber und sicher. Eine der wenigen Gegenden, wo es so etwas wie Nachbarschaftlichkeit gab. Von oben erkannte man solche Orte leicht, da auf jedem Dach ein Garten blühte. Wenn nebenan Gangster oder eifersüchtige Vandalen wohnten, war es nicht einfach, einen Hain mit Papaya- oder Bananenstauden zu pflegen.

Er fragte sich nicht zum ersten Mal, wie viel Nahrung Darwin wirklich aus dem Orbit gebraucht hätte, wenn die Einwohner aufhören würden, wie Gefangene in einem Gulag zu leben.

Verfallende Lagerhäuser zogen vorbei, Relikte aus der Zeit von Darwins Boom nach der Ankunft des Lifts. Skyler sah die verblassten Logos von Luftfahrtfirmen und Bauunternehmen.

Auf vielen stand Platz Industries. Auf einem hatte jemand ein Bild von Neil Platz verewigt, das Stalin nachempfunden war. Das ließ Skyler grinsen; es war ziemlich gut.

»Hier abbiegen«, sagte er und wies auf das unauffällige Parkhaus.

Angus lenkte das Fahrzeug ins offene Maul des mehrstöckigen Gebäudes. Dunkelheit verschluckte sie. Drinnen bremste er abrupt, nur Zentimeter von einem inneren Eisentor entfernt. »Was nun?«

»Einfach warten«, antwortete Skyler.