Exodus Towers - Jason M. Hough - E-Book

Exodus Towers E-Book

Jason M. Hough

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Beschreibung

In der actionreichen Dystopie von Bestseller-Autor Jason M. Hough geht es für die Menschheit um alles... Die letzten Überlebenden der Erde schöpfen neue Hoffnung: In Brasilien wurde ein zweiter Weltraumaufzug entdeckt, dessen geheimnisvolle Alien-Technologie Schutz vor der verheerenden Seuche bietet, die die Welt entvölkert hat. Eine weitere Kolonie wird gegründet, doch die fruchtbare Gegend lockt auch eine marodierende Söldnertruppe an und weckt das Interesse der Sekte, die in Darwin City die Macht übernommen hat. Bald ist Skyler Luiken in mehr Kämpfe verwickelt, als er gewinnen kann – während gleichzeitig die Rückkehr jener Aliens naht, die die Menschheit entweder retten oder endgültig vernichten könnten. Die Fortsetzung des Science Fiction-Erfolgs "Darwin City"

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Seitenzahl: 868

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Jason M. Hough

Exodus Towers

Die Letzten der Erde

Aus dem Amerikanischen von Simone Heller

Knaur e-books

Über dieses Buch

Die letzten Überlebenden der Erde schöpfen neue Hoffnung: In Brasilien wurde ein zweiter Weltraumaufzug entdeckt, dessen geheimnisvolle Alien-Technologie Schutz vor der verheerenden Seuche bietet, die die Welt entvölkert hat. Eine weitere Kolonie wird gegründet, doch die fruchtbare Gegend lockt auch eine marodierende Söldnertruppe an und weckt das Interesse der Sekte, die in Darwin City die Macht übernommen hat. Bald ist Skyler Luiken in mehr Kämpfe verwickelt, als er gewinnen kann – während gleichzeitig die Rückkehr jener Aliens naht, die die Menschheit entweder retten oder endgültig vernichten könnten.

Inhaltsübersicht

WidmungMottoKarte Darwin, Australien, ca. 2283Karte Camp Exodus und Umgebung, Bélem, Brasilien, 2283Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Kapitel 40Kapitel 41Kapitel 42Kapitel 43Kapitel 44Kapitel 45Kapitel 46Kapitel 47Kapitel 48Kapitel 49Kapitel 50Kapitel 51Kapitel 52Kapitel 53Danksagung
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Für Kip, der zweimal lebte und kein großes Getöse darum machte.

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Ist ein Heide auf der Leiter,

Ziele hoch und nimm ihn ins Visier.

Nimm seinen Platz ein, steige weiter

Unsre Zeit ist hier.

– Text: ~/funk, Kapstadt, 2270, ins Testament der Leiter aufgenommen von Schwester Haley, 2281

 

 

Erbauer? Dass ich nicht lache.

Die haben doch nichts getan, als ein Kabel und einen ekelhaften Bazillus runterzuwerfen.

Wenn jemand den Titel Erbauer verdient hat, dann wohl eher Neil Platz.

– Skadz, Darwin, Australien, 2280

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Kapitel 1

Belém, Brasilien

27.4.2283

Die junge Frau tanzte vor einem Publikum aus Geistern.

Ihre langsame, anmutige Drehung versetzte das makellos weiße Kleid, das sich an ihre geschmeidige Gestalt schmiegte, in Wellenbewegungen. Ihre ausgestreckten Arme glitten so selbstsicher und beherrscht durch die feuchte Luft, wie Skyler es seit Jahren nicht mehr gesehen hatte.

Sie hatte ihn noch nicht bemerkt. Sie war eine Fata Morgana in der hellen Sonne, und er hatte sich in die Schatten am Rande des abgeschiedenen Platzes geschmiegt. Sie war ganz auf ihre Bewegung und Schrittfolge konzentriert. Das Kopfsteinpflaster unter ihren bloßen Füßen war gesprungen und uneben, wie alles in Belém. Abgesehen von Skylers regloser Gestalt lagen noch zwei Skelette in einer Ecke des Hofes, verbunden in einer ewigen Umarmung, während Gras durch ihre hohlen Brustkörbe wuchs. Auch ihnen schenkte sie keine Aufmerksamkeit. Alles nur Geister.

Die ausgeplünderten Überreste einiger Boutiquen trennten den Platz von der breiten Straße dahinter. Skyler hatte ihn nur betreten, weil er auf der Suche nach einem leicht zu verteidigenden, stillen Ort gewesen war, an dem er sein Mittagessen zubereiten konnte. Ob das vor einer oder vor zehn Minuten gewesen war, wusste er nicht mehr. Fürs erste stand er da, still und leise unter einem stuckverzierten Vordach, das im hiesigen Wechselbad aus grellem Sonnenschein und sintflutartigem Regen etwas Erholung gewährte. Säulen, die einst weiß und elegant gewesen waren, stützten den Dachabschnitt. Inzwischen waren sie so gut wie eingeschlossen von blühenden Ranken, genauso wie die Wände und umliegenden Dächer. Sogar die Statue, die über die junge Frau wachte, hatte sich der Umarmung der urwaldgrünen Tentakel ergeben. In ein paar Jahrzehnten würden sie die gesamte Stadt eingenommen haben, dachte Skyler. Genau wie überall sonst.

Außer in Darwin natürlich. Diese Stadt verschlang eine ganz andere Plage.

Er lehnte sich an die nächstbeste Säule, völlig eingenommen von den fließenden Bewegungen der jungen Frau. Sie war nicht hübsch, nicht im klassischen Sinne. Nicht wie Tania. Sie hatte kurzes, kastanienbraunes Haar, das ebenso dramatisch flog wie ihr Kleid, aber es war dreckig und verfilzt. Auf der tiefbraunen Haut ihrer Unterarme waren Narben sichtbar. Wenn sich ihr Rock bei einer überschwenglicheren Drehung bauschte, sah Skyler Striemen und Kratzer auf ihren durchtrainierten Beinen. Trotz ihrer kunstvollen Bewegungen und ihrer Tänzerinnenfigur war sie eine Überlebende.

Sie war immun.

Sehr vorsichtig zog Skyler ein Handfunkgerät aus dem Gürtel. Bei seinen Erkundungen hatte er es immer ausgeschaltet, damit ihn die häufigen aufgeregten Nachrichten aus dem Basiscamp nicht an die bedrohliche Wildnis um ihn herum verrieten. An jedem anderen Tag hätte er auf seine Rückkehr ins Lager gewartet, um von seinen Funden zu berichten, aber dass er eine Immune gesehen hatte, war es seiner Ansicht nach wert, das Muster zu durchbrechen.

Skyler schaltete das Gerät ein.

»… es ist dringend!«, dröhnte eine hektische Stimme aus dem Lautsprecher. In einem Wimpernschlag war die friedliche Stimmung auf dem Hof wie weggeblasen.

Skyler hatte die Lautstärke während des letzten Regengusses voll aufgedreht und vergessen, das wieder zu ändern. Der Höllenlärm hallte von den Mauern wider und ließ drei Papageien von den Ranken unter dem Vordach aufflattern. Die junge Frau kam ins Stolpern und fing sich gerade noch. Ihr Blick traf auf Skyler, und sie riss die Augen auf.

Er wollte die Hände heben, das universelle Zeichen für noble Absichten, aber er hatte sich kaum von der Säule gelöst, da drehte das Mädchen sich schon um und rannte weg.

»Camp Exodus an Skyler. Kommen!«, ertönte Karls Stimme aus dem Funkgerät.

Skylers Hand griff hektisch nach dem Gerät und riss es sich dabei vom Gürtel. Mit lautem Plastikgeklapper fiel es zu Boden. Er kniete sich hin, hob es auf und drehte die Lautstärke in derselben Bewegung auf null zurück.

Als er wieder hochschaute, war der Hof leer. »Warte!«, rief er. Sie war in einen offenen Bogengang auf der anderen Seite des Platzes gehuscht, und dorthin lief er, ohne sich die Mühe zu machen, seine Maschinenpistole von der Schulter gleiten zu lassen.

Er bog um die Ecke in den Säulentunnel, und sie blies ihm fast den Schädel weg.

Das Krachen der Pistole übertönte alle anderen Geräusche. Die Kugel ging so nah an seinem Ohrläppchen vorbei, dass Skyler ein Kitzeln spürte. Er kam schlitternd zum Stillstand und hechtete dorthin zurück, woher er gekommen war, wobei er gerade noch rechtzeitig um die Ecke kam, ehe ein weiterer Schuss knallte und nur Zentimeter von seinen Füßen entfernt Splitter aus dem Kopfsteinpflaster aufspritzen ließ.

»Feuer einstellen!«, rief er und hörte sich selbst kaum, so laut pfiff es in seinen Ohren.

Sie tat es. Stille senkte sich über den Hof.

»Ich will dir nichts Böses«, rief er. »Entspann dich.«

Keine Antwort. Vorsichtig steckte er den Kopf um die Ecke, nur so weit, dass er mit einem Auge sah. Der Gang dahinter war leer. »Verdammt«, murmelte er und schnellte hoch. Er rannte weiter, die Maschinenpistole, die er inzwischen instinktiv in die Hand genommen hatte, auf den Boden fünf Meter vor ihm gerichtet. Er knipste die am Lauf angebrachte Lampe an und tauchte den Gang in einen blassblauen Lichtstrahl, der sich kurz darauf zu einem wärmeren Weiß abschwächte, sobald die Lampe richtig leuchtete.

Ihre nackten Füße hinterließen auf den verschmierten Bodenkacheln gut sichtbare Abdrücke. Sie war abgebogen, dann noch einmal, hatte sich um eine dicke Wurzel manövriert, die sich durch einen Spalt heraufschlängelte, und war über einen Bereich mit zerbrochenem Glas gesprungen. Skyler folgte ihrem Weg und fragte sich beiläufig, wie lange sie schon hier lebte und wie oft sie vorher schon in der Mittagssonne getanzt hatte, ohne sich die geringsten Gedanken zu machen.

Oft, bis ich ankam, dachte er.

Am Ende des Ganges stieß er auf eine Schlafstätte. Ihr fließendes, weißes Gewand lag zusammengeknüllt am Türpfosten, ein Teil des Rockes hing an einem fiesen Splitter, der aus dem Holzrahmen hervorstand. Sie war aus dem Kleid geschlüpft und hatte es zurückgelassen wie sinnlosen Tand, und nichts anderes war es auch.

Das Fenster in der gegenüberliegenden Wand stand weit offen, und darunter sah er die breiten, brodelnden Wasser des Pará.

In einer anderen Ecke bemerkte er eine grüne Isomatte, die ordentlich zusammengerollt und aufrecht hingestellt worden war. Eine Laterne stand daneben auf dem Boden.

In seinen Ohren klingelte es nach wie vor wegen des gescheiterten Versuchs der Frau, ihm das Gesicht wegzuschießen. Selbst falls sie ihn dort draußen brüllend verspottet hätte, hätte er es wohl nicht gehört. Trotzdem wagte er einen Blick aus dem Fenster.

Die junge Frau sprintete über einen Parkplatz auf eine Reihe Hütten zu, die direkt an dem reißenden Fluss standen. Bis auf ein Paar Wanderstiefel an den Füßen war sie nackt. In einer Hand schlenkerte sie ihre Pistole, mit der anderen umklammerte sie einen schweren, olivgrünen Rucksack. Während er zusah, ließ sie sich den vollen Ranzen über eine Schulter gleiten, dann die andere, bevor sie aus seinem Sichtfeld verschwand.

Sie schaute kein einziges Mal zurück.

Skyler seufzte. »Meinetwegen musst du dir am wenigsten Sorgen machen, meine Liebe.«

Ihm fiel das Funkgerät wieder ein, und er schaltete es ein und hörte sofort Karls aufgebrachte Stimme.

»… melden. Dringend!«

»Was? Was?«, knurrte Skyler ins Mikrofon. Alles war immer dringend. Das Wort besaß keine Bedeutung mehr. »Du hast gerade eine …«

»Skyler, Gott sei Dank. Ein paar Kolonisten sind verschwunden, zusammen mit einem Turm.«

Er schloss die Augen und zwang sich, sich zu entspannen. »Sie haben ihn gestohlen?«

»Nein. Gott, nein. Sie waren auf dem Gelände des Wasserspeichers beschäftigt und haben berichtet, sie hätten im Regenwald etwas gehört. Seither gab es keinen Kontakt mehr.«

»Was haben sie gehört?«

»Ihr Anführer sagte, es klinge wie ein Chor.«

»Ein Chor. Also was mit Gesang?«

»So hat er es gesagt.«

Skyler drückte fest auf seinen Nasenrücken, um die Kopfschmerzen zu unterdrücken, die sich anbahnten. »Haben sie erwähnt, ob sie irgendwelche Pilze gegessen haben oder zu weit von ihrem Auraturm wegmarschiert sind, oder so was in der Art?«

»Ich weiß, wie das klingt«, sagte Karl, »aber das ist eine zuverlässige Gruppe, die die Barrikade in diesem Bereich seit zwei Wochen aufbaut.«

»Na schön, na schön«, antwortete Skyler. »Ich mache mich auf den Weg. Wie lange melden sie sich schon nicht mehr?«

»Seit zwei Stunden.«

Skyler fluchte. »Das erzählst du mir jetzt erst?«

»Du hattest den Funk aus!«

Skyler warf einen Blick auf das Gerät. »Punkt für dich. Also gut, äh, schick ein Team, das dort zu mir stößt. Leute, die schießen können …«

Karl fiel ihm ins Wort. »Tut mir leid, mein Freund. Tania will keinen weiteren Turm riskieren.«

»Ach, Scheiße aber auch.« Sein Ärger über den spärlichen Einsatz der Auratürme stieß auf taube Ohren, wenn er nicht mit Tania allein sprach – ein Szenario, zu dem es in den letzten beiden Monaten nur sehr selten gekommen war. Nach einer anfänglichen wundersamen Woche, in der sie die absonderlichen Alientürme erkundet hatte, hielt sie sich meist im Orbit auf. Die Organisation ihres Überlebens hatte Vorrang, und das konnte Skyler ihr nicht übelnehmen. Dennoch wäre ein wöchentlicher Besuch nett gewesen, für die Moral der Kolonie genauso wie für seine.

»Wenn sie in Bewegung waren«, fügte Karl hinzu, »und etwas ist ihnen passiert, könnte der Turm abdriften.«

Skyler knurrte. Wenn dem so war, konnte der Turm auf einen Fluss oder Tümpel stoßen. Bisher hatte noch niemand ausprobiert, einen Turm in tiefes Wasser zu schicken. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie explodieren und die Welt in ein Höllenfeuer reißen würden, war genauso groß wie die, dass sie einfach weitertrieben, versanken oder anhielten. Daher hatte Camp Exodus auf Tanias Veranlassung eine Verordnung erlassen, die Türme von Wasser tiefer als zehn Zentimeter fernzuhalten. Was Skyler betraf, hatte er über die zufällige Zahl gelacht und sich unter die wenigen »Nein«-Stimmen gereiht. Jetzt war seiner Ansicht nach die Zeit zum Experimentieren. Unter vier Augen hatte Tania ihn kritisiert, wenn auch sanft. »Dein Überleben hängt nicht von der Aura ab, Skyler.« Da war was dran. Er hatte trotzdem dagegen gestimmt.

»Skyler?«, fragte Karl.

»Gib mir ihre letzten Koordinaten«, sagte er, »und ich sehe, was sich finden lässt.«

Der Leiter des Basiscamps ratterte die Zahlen herunter.

Skyler breitete seine Karte auf dem Boden des Schlafraums aus. Aus der Brusttasche holte er einen Stift, der am Rand ein praktisches Lineal hatte. Er plante von seiner gegenwärtigen Position aus eine Route durch die Stadt. »Ich bin drüben auf der Westseite der Stadt, in der Nähe des Krankenhauses. Ich gehe nach Nordosten, bis ich auf die Wasserstraße stoße, und folge ihr von dort aus.«

»Das ist eine heftige Wanderung. Beeil dich.«

»Ich habe es vor«, sagte er.

Er zeichnete den letzten bekannten Standort der Gruppe ein. Dann zog er einen Kreis um den Bereich, in dem er sich aufhielt, und schrieb in großen Lettern IMMUNE darüber.

Die Tänzerin würde warten müssen.

Draußen auf der Straße hob Skyler seinen Leinenbeutel auf und warf einen Blick nach Osten in Richtung Wasserspeicher. Er wandte sich stattdessen nach Süden.

* * *

Der Beutel lag ihm schwer auf der Schulter. Am Morgen hatte er im schäbigen Hinterzimmer eines touristischen Souvenirladens achthundert handgroße Pakete mit Wasserreinigungstabletten hineingepackt. Jod und noch etwas, ein Vitamin, nahm er an, aber das portugiesische Etikett ließ sich nicht genauer darüber aus. Der zum Teil eingestürzte Laden hatte sonst wenig geboten, das sich zu bergen lohnte. Die Snacks auf den Regalen waren schon lange verfault, bis auf ein paar mit Preservall vollgestopfte Schokoriegel, die er eingesackt hatte. Die Kosmetikartikel hatte er zurückgelassen, da er wusste, dass das Hotel in der Nähe des Basiscamps einen ganzen Lagerraum mit solchen Dingen besaß.

Er bewegte sich einen Block nach Süden und dann einen nach Osten, bis er die Mercy Road erreichte, die die Kolonisten so genannt hatten, weil sie von der Liftbasis aus zur nächstgelegenen medizinischen Einrichtung ein paar Kilometer im Westen führte. Die Aura-»Straße« verlief kurvenreich über etliche der ursprünglichen Straßen von Belém, aber für die Kolonisten war in erster Linie die Reihe der von den Erbauern gesandten Türme bedeutsam, die entlang des Weges plaziert waren, so dass sie all jenen einen sicheren Weg boten, die Vorräte zurück ins Lager brachten.

In weniger als einer Minute hörte er das Brummen eines Lkws, der auf der Straße fuhr. Skyler winkte, und der Fahrer hielt an. Nach einer knappen Erklärung wuchtete Skyler seine Tasche auf die Ladefläche und schob sie unter einen Stapel zusammengeklappter Matratzenroste, die unterwegs zum Camp waren. Dann schlug er mit der flachen Hand zweimal auf die Fahrertür und winkte dem nervösen Fahrer freundlich zu.

Skyler musste sich die Gefahr in Erinnerung rufen, die jeder auf sich nahm, der an der Aurastraße arbeitete. Kam man zu weit von einem der Türme ab, kehrte man vielleicht nie wieder zurück. Und wenn doch, war die Wahrscheinlichkeit hoch, dass man sich in einem Zustand psychotischer, urtümlicher Wut befand.

Orangefarbene Straßenpylonen standen mehr oder weniger kreisförmig rund um die Türme, die den Lift mit dem Krankenhaus verbanden, und markierten so die sicheren Zonen, aber die Markierungen blieben nicht immer an Ort und Stelle. Falls sie nicht sorgfältig plaziert waren, reichte ein heftiger Sturm in der Regenzeit, um sie wegzuspülen – eine Situation, die mit überraschender Regelmäßigkeit eintrat, wenn man das damit einhergehende Risiko bedachte.

Die Nachricht von seltsamen Geräuschen und der verschollenen Mannschaft hatte sich zweifellos bereits ausgebreitet, was der Angst der Kolonisten sicher noch eine weitere Dimension verlieh.

Sobald der Lkw sich entfernt hatte, joggte Skyler durch eine Gasse nach Süden. Er überquerte die nächste Straße diagonal zu einer Reihe von Anwesen am Wasser. Sein Ziel war ein großes Haus, das sich hinter eine drei Meter hohe Mauer schmiegte. Er hatte diesen Ort vor einer Woche erkundet, nachdem er irgendwo im Inneren ein schwaches elektrisches Summen gehört hatte. Er hatte herausgefunden, dass einige Bereiche der Villa Strom hatten, vermutlich durch einen kleinen Thoriumreaktor tief im Untergrund – ein Luxus, für den die einstigen Bewohner aller Anwesen dieser Straße bestimmt ihr Geld zusammengelegt hatten.

Skyler lief über die bröckelnde Auffahrt, hüpfte über Klumpen aus wildem Gras, das zwischen den Ziegeln aufschoss. Er stemmte das Garagentor am Ende des Weges auf und stellte fest, dass seine Entdeckung nach wie vor im Inneren stand und ihn sozusagen anbettelte, sich in den Sattel zu schwingen.

Das Motorrad war vor zehn Jahren wohl teuer gewesen, und selbst jetzt sah es wie neu aus, obwohl es seit gut fünf Jahren niemand mehr gewartet hatte. Lack in schnittigem Rot überzog Teile aus Karbonfaser, umgeben von poliertem Chrom oder gebürstetem Aluminium, dessen ästhetischer Wert mindestens genauso hoch war wie der funktionale.

Anders als die anderen fünf Motorräder in der langen Garage hatte dieses knubbelige Räder und reichlich Bodenabstand. Die anderen waren alle Tiefsitzer, Rennfahrzeuge wie die Sportautos, mit denen sie sich den Platz teilten. Völlig nutzlos auf den unaufgeräumten Straßen von Belém, die voller Risse, Schlaglöcher, Unkraut und Schlimmerem waren.

Skyler ließ die Hand über die Wölbung in der Mitte des Rahmens gleiten. »Ich nenne dich Takai«, sagte er mit großer Aufrichtigkeit. Das Motorrad war ein italienisches Modell, aber er glaubte nicht, dass es etwas dagegen einzuwenden hatte.

Hinter der zentralen roten Verschalung befanden sich die essentiellen Teile: ein vollgeladener Zigg-Ultrakondi und ein starker Elektromotor.

Er zog das Ladekabel aus der Steckdose auf einer Seite des Motorrads und warf es zur Seite. Als er es gefunden hatte, war es noch leer gewesen, aber inzwischen zeigte das Messgerät einen vollen Kondi an, und Skyler grinste von einem Ohr zum anderen. Ein kleiner Zigg konnte ein solches Motorrad locker über tausende Kilometer hinweg versorgen.

Ein Helm lag auf einer Werkbank, aber Skyler ignorierte ihn. Für ihn waren seine Sinne wichtiger als der Schutz, den der Helm bot. Er schnappte sich jedoch die Sonnenbrille daneben. Nachdem er den Staub abgewischt hatte, musterte er die rötlichen Gläser und schob sie sich auf die Nase. Eine Fahrbrille, und zwar in gutem Zustand. Er lächelte erneut.

Draußen jagte er über die Zufahrt, über die Vertiefungen und Schlaglöcher setzte er einfach hinweg und platzte fast vor jugendlicher Freude am hohen Aufjaulen der Motor-Kondi-Kombination. Draußen auf der Hauptstraße drehte Skyler am Griff, um voll zu beschleunigen, und fiel beinahe aus dem Sattel, als das Motorrad zum Leben erwachte und sein Vorderrad sich vom Boden hob, während es vorwärts jagte.

Auf der Fahrt durch die Straßen Beléms, fast immer mit 100 km/h, dachte er an Samantha. Sie hätte getötet, um ein solches Motorrad fahren zu dürfen. Im Lauf der Jahre hatten sie etliche nach Darwin gebracht, aber der dafür gebotene Preis hatte ihr Verlangen, eins zu behalten, stets ausgestochen.

Der Gedanke dämpfte seine Stimmung.

Während er an den rankenüberwucherten Gebäuden Beléms vorbeiraste, fragte er sich, ob Samantha auch nur annähernd so viel Spaß hatte, wo immer sie auch war.

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Kapitel 2

Darwin, Australien

27.4.2283

Die Faust traf Samantha mitten an der Schläfe.

Ein harter Schlag, und sie wäre vielleicht gestürzt, hätte sie ihn nicht erwartet. Gestürzt und gescheitert.

Stattdessen ließ sie sich vom Fausthieb des Wächters beim Wechseln ihrer Position unterstützen und verlagerte ihr Gewicht auf den linken Fuß. Mit diesem Bein schob sie sich vor und führte den rechten Arm zu einem heftigen Haken auf den Oberbauch des Wächters nach vorne. Keuchend entwich Luft aus dem Mund des Mannes.

Ein paar Zuschauer stöhnten mitfühlend.

Von ihrer Reaktion befeuert wollte Sam den Vorteil ausbauen. Eine kurze Gerade links, wieder auf die Körpermitte. Dann ein rechter Haken, der den armen Bastard am Kiefer erwischte und ein lautes, scharfes Knacken hervorrief.

Er wirbelte halb herum, seine Augen rollten nach hinten, und er brach zusammen. Einfach so endete Sams erste Runde.

Sie schüttelte sich den stechenden Schmerz aus den Knöcheln und ging hinüber zu dem Wächter, um sich über ihn zu beugen. »Kannst du aufstehen?«

Er antwortete mit einem Husten. Dann drehte der Nightcliff-Schläger den Kopf und spuckte Blut auf den staubigen Betonboden. »Werd’s verdammt noch mal probieren«, brummte er.

Sam streckte eine Hand aus, und er nahm sie. Im Raum wurden Unterhaltungen laut, während Wetteinsätze den Besitzer wechselten. Hier eine Faust voller gestempelter Geldscheine, dort eine halbe Flasche Cider, und sämtliches Prahlen und Herausreden, das mit solchen Dingen einherging.

»Das hat Spaß gemacht«, sagte sie, während sie den Kopf von einer Seite zur anderen neigte, um ihren Nacken zu lockern. »Wer kommt als Nächstes?«

»Mach mal Pause«, erwiderte jemand und gab ihr eine Flasche Wodka mit Etikett, noch zu einem Viertel gefüllt. »Niemand kämpft zweimal hintereinander. Das ist eine Regel.«

Sie zuckte die Achseln. »Vorteil für mich.«

Eine weitere Runde begann, und die etwa fünfzig versammelten Nightcliff-Mitarbeiter wandten ihre Aufmerksamkeit wieder dem Kampf, dem Wetten und dem Saufen zu. Sie schob sich durch die Menge und bemerkte die eisigen Blicke potenzieller Gegner, an denen sie vorbeikam. Jeder davon trug seinen Rachedurst wie ein Emblem zur Schau.

Ihr Wärter wartete im hinteren Teil des Raums an der einzigen Tür, der Polizeiknüppel lag auf seinen Knien. Sein Gesicht gab einen Hauch von Bewunderung preis, als Sam ihm die Flasche reichte.

Seinen Nachnamen, Vaughn, hatte Sam durch das handgeschriebene Schild auf seinem Helm erfahren. Seinen Vornamen musste sie noch herausfinden. Ein Feld aus gleichmäßig kurzen Stoppeln wuchs auf seinem Gesicht und rahmte eine breite Nase und schmale Augen ein. Das braune Kopfhaar hielt er so kurz geschoren wie seinen frischen Bart. »Ich werde diese Woche speisen wie ein König, das habe ich dir zu verdanken«, sagte er.

»Habe ich doch gesagt«, erwiderte sie und nahm den Platz an der Wand neben ihm ein. »Hättest mich eher herbringen sollen.«

»Ach was.« Höflich nahm er einen Schluck aus der Flasche und gab sie ihr zurück.

»Die ist für dich. Ich brauche meine fünf Sinne.«

Er knurrte. »Na, und ich habe Dienst, also bleiben wir wohl beide trocken.« Er gab die Flasche stattdessen nach rechts weiter, und der Zuschauer dort nahm sie ohne Zögern an.

So ungern sie es auch zugab, sie erwärmte sich langsam für den Typen. Er war bereits in der ersten Nacht ihrer Gefangenschaft zum Zielobjekt ihrer Verführungskünste geworden. Der Blick in seinen Augen, als er ihr zum ersten Mal etwas zu essen gebracht hatte, hatte ihn als potenzielle Beute zu erkennen gegeben. Einen Weg nach draußen, wenn sie ihre Karten richtig ausspielte.

Verführung war allerdings noch nie ihr Trumpf gewesen. Sie wusste aus Erfahrung, dass ein zu offensichtliches Vorgehen normalerweise ihre Chancen zunichtemachte, und dass die meisten Männer, die ihre Gesellschaft suchten, ihre Härte und ihre robusten Kurven schätzten, und nicht ihre femininen Verlockungen. Also hatte sie das Wimperngeklimper, Lippenlecken und den anderen Blödsinn übersprungen und sich auf eine subtilere Strategie verlegt: eine dicke Lippe, mangelnden Anstand, wo sich die Gelegenheit bot, und, falls das so bei ihm ankam, ein ehrliches Interesse an seinem elenden, alltäglichen Leben.

Nach einem Monat hatte sie Vaughn lediglich dazu gebracht, sie zum inoffiziellen Boxclub gehen zu lassen, der sich einmal die Woche in der Kantine traf. Trotzdem sah sie darin einen großen Meilenstein für ihre Flucht. Sie hatte ihre Zelle verlassen, Schritt eins bei jedem Gefängnisausbruch.

Als Nächstes stand auf ihrer Liste, Kelly zu finden. Gelegentlich beantwortete Vaughn ihr zögerlich Fragen nach der Frau. Blackfield hatte befohlen, die beiden getrennt voneinander zu internieren, hatte er ihr erzählt. Keinerlei Kontakt. Kelly ging es nach einem kurzen Hungerstreik gut, sie wurde in einer ähnlichen Zelle wie Sam verwahrt, aber auf der anderen Seite der Festung. Das war alles, was er zu wissen behauptete.

Sie besann sich auf ihre Winkelzüge und nestelte am Kragen ihres Tanktops. Männer liebten nasse Shirts – sie wusste genug über Verführung, um sich da sicher zu sein –, aber die Runde war zu schnell vorbei gewesen. Rückblickend wäre es vielleicht besser gewesen, sie hinauszuzögern, nur um ihr weißes Shirt schön mit Schweiß zu tränken. Sie begnügte sich damit, an ihrem Kragen zu zerren, um sich Luft zuzufächeln und Vaughn dabei mit jedem Zupfen einen Blick zu gewähren, falls er sich die Mühe machte, herzuschauen.

Du musst nur fragen, du Idiot, dachte sie, und schon wälzen wir uns in den Laken. Wir haben beide ein bisschen Spaß, auch wenn es das letzte Mal ist, dass du mich siehst. Ich werde dafür sorgen, dass sich die Sache lohnt.

Die Menge explodierte, als ein weiterer Kampf endete. Man schleifte jemanden mit den Füßen voran aus dem provisorischen Ring.

»Ich bin dran, Knastschwester«, ließ sich eine rauhe Stimme aus der Nähe vernehmen.

Sam stand auf, um sich ihrem nächsten Gegner zu stellen. Der dunkelhäutige Riese von einem Mann war ein paar Zentimeter größer als sie und hatte einen buschigen Bart, der ihm bis auf die Brust reichte. Verblasste Tätowierungen zogen sich über seine Brust und Arme. »Bin mir nicht sicher, ob das da in deinem Bart Gesöff ist«, sagte sie, »oder Sabber.«

Er starrte ihr auf die Brüste, dann wieder zurück. »Beides. Los jetzt, Gefangene. Wenn dein Besitzer nichts dagegen hat …«

Vaughn nickte kaum erkennbar und verschränkte die Arme. Sam wusste, worauf er setzen würde.

Sie gingen ins Zentrum der versammelten Menge, wo ein offener Raum den Boxring darstellte. Sama spannte die Hände an und sprang ein paar Mal schnell auf den Zehenspitzen auf und ab. Das daraus resultierende Hüpfen ihre Brüste errang die Aufmerksamkeit des halben Raums, aber ob Vaughn es von seinem Platz ganz hinten sah, wusste sie nicht.

Ihrem Gegner fiel es auf. Er leckte sich die Lippen. »Schöne große Ziele«, sagte er mit einem betrunkenen Grinsen.

»Tut mir leid, Kumpel«, erwiderte Sam. »Wenn ich nicht unter der Gürtellinie zuschlagen darf, musst du dich von den beiden Hübschen fernhalten.«

Unter den Zuschauern kam Gelächter auf.

Der Hüne legte den Kopf schief und wirkte ehrlich verletzt. »Himmel, Weib. Ich wollte doch nicht draufschlagen …«

* * *

Vaughn führte sie am Arm über den trostlosen Hof Nightcliffs.

Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, ihr Handschellen anzulegen, ein gutes Zeichen, wenn man Samantha fragte. Aber er hielt seinen schwarzen Knüppel in der Hand. Er würde ihr einen heftigen Kampf liefern, wenn sie damit anfing, und außerdem war da noch die Sache mit Kelly. Geduld.

»Ich besorge dir was, das du auf das Auge legen kannst«, sagte er nach einer Weile.

»Mach dir keine Mühe. So schlimm ist es nicht.«

»Es ist lila.«

Sam seufzte und nickte knapp. Ihr Schädel hämmerte. Sie musste das rechte Auge geschlossen halten, weil sonst zu befürchten stand, dass es ihr regelrecht aus dem Kopf quellen würde.

Er führte sie zwischen den Gebäuden hindurch und über schmale, eingezäunte Bereiche. Wolken hinderten einen ansonsten hellen Mond daran, die Welt großartig zu beleuchten, aber es war genug, dass Vaughn sich nicht mit einer Taschenlampe abgab. Ihre nassen Schritte übertönten fast die Verladearbeiten an der Gondelstation.

Sie ließ es darauf ankommen und tat, als stolpere sie. Als sie sich wieder aufrichtete, stöhnte sie und machte einen ungeschickten Schritt.

»Alles gut?«, fragte er.

»Mir ist etwas schwindlig. Geht schon vorbei.« Zuerst wollte sie den Kopf an seine Schulter legen, doch bei ihrer Größe war das ein ungelenkes Unterfangen, deshalb lehnte sie sich einfach an ihn an.

Vaughn verstand den Fingerzeig und ließ einen Arm um ihre Taille gleiten.

Perfekt, dachte sie. Ein schöner, romantischer Spaziergang.

»Also«, sagte sie, »was gibt’s Neues von draußen?«

Vaughn zuckte die Achseln. »Ich achte da nicht groß drauf.«

»Du musst doch etwas gehört haben.«

Er blieb ein paar Schritte lang still. Sie vermutete, er habe Befehl, ihr keine Neuigkeiten zuzutragen. In der Tatsache, dass er jetzt damit rang, sah sie ein richtig gutes Zeichen.

»Ich habe gehört«, fuhr Sam fort, »jemand habe Russell hereingelegt, und er sei nach Afrika geflogen, wo sie dann eine Bombe auf seine Flotte geworfen haben.«

»Eine Bombe war’s nicht«, sagte Vaughn. »Sie haben einen alten Satelliten aus dem Orbit geholt oder so was in der Art.«

»Ohne ihn zu treffen? Na, offensichtlich.« Russell hatte Samantha zweimal aufgesucht, um sie mit anzüglichem Smalltalk und undurchsichtigen Drohungen einzudecken. Zum Glück hatte er vor ein paar Wochen seine Besuche eingestellt, da er wohl endgültig überzeugt war, dass sie nicht wusste, wo die »Verräter« sich aufhielten.

»Haben ein paar der Bergungsflugzeuge plattgemacht, die Russell dabei hatte.« Vaughn ließ ihr Zeit, damit sich das setzen konnte. Er kannte ihre Vergangenheit, wusste, dass sie da draußen vielleicht Freunde hatte. »Sie wollten auch einen Satelliten auf Nightcliff stürzen lassen, aber der ging daneben. Das Ding knallte außerhalb der Aura in die alte Innenstadt, und ein paar Sehenswürdigkeiten gingen drauf.«

Zweimal daneben? Skylers neue Freunde zielten entweder furchtbar schlecht, oder Vaughn hatte etwas falsch verstanden. Sam sah auch nicht, was es ihnen bringen würde, Nightcliff wegzubomben. Selbst wenn das Alien-Seil des Lifts alles überstand, wäre die Infrastruktur jenseits aller Hoffnung auf Reparatur vernichtet. Nein, es musste ein Warnschuss gewesen sein. Blackfield verstand es vielleicht nicht, aber sie erkannte die Absicht dahinter.

»Die Wasseranlagen streiken«, fuhr der Wächter fort, der sich ihr jetzt weiter öffnete. »Das sind Platz-Leute da drüben, du weißt schon. Sie sind die Einzigen, die die Maschinen bedienen können.«

»Ein Streik? Was wollen sie?«

Er zögerte. »Egal. Blackfield schickt ein paar Einheiten rüber, um das zu beenden.«

»So ist er, unser Russell. Löst alles mit Kugeln.«

»Er hat keine andere Wahl.«

»Ihnen geben, was sie wollen?«

Vaughns Lippen wurden schmal. »Nein«, sagte er. »Nein, das kann er nicht.«

»Die müssen eine Menge wollen«, antwortete sie.

»Darüber soll ich nicht reden.«

Da war er. Der schmale Grat, auf dem Vaughn balancierte. Noch eine Woche, dachte sie, und er würde ihr im Freudentaumel nach einer Balgerei in den Laken alles darüber erzählen.

»Was sonst? Wie verkraften die Orbitalen ihren neuen Oberbefehlshaber?«

Er hielt inne und ließ sie los. Einen Sekundenbruchteil dachte sie, sie wäre zu weit gegangen, aber er machte eine wirbelnde Bewegung mit dem Zeigefinger. Sam wandte ihm den Rücken zu und verschränkte die Hände hinter sich. Sie hielt sie weit unten, an ihrem Po, so dass er nicht vermeiden konnte, sie erst einmal dort zu berühren, um ihr die Handschellen wieder anzulegen. Ein kleiner Teil von ihr hatte nichts dagegen, dass dort Finger entlangstrichen.

Zum ersten Mal, seit sie diese Taktik einsetzte, riss er ihre Hände nicht vom Hintern weg. Tatsächlich brauchte er sogar länger als sonst, um die Handschellen anzulegen.

Als sie gefesselt war, führte er sie in den Bau. Zwei Wachen auf Patrouille kamen an ihnen vorbei und grunzten Vaughn einen Gruß zu. Für sie waren die Handschellen gedacht, erkannte sie. Vaughn wollte sie nicht wissen lassen, dass er das Protokoll verletzt hatte. Sie wusste es aber, was bedeutete, dass sie jetzt ein Geheimnis teilten. Nicht mehr lange, dachte sie, und ich habe dich im Netz.

Das niedrige Gefängnisgebäude schloss sich an Nightcliffs Nordmauer an. Sie hörte, wie sich Wellen an den Felsen dahinter brachen, so zuverlässig wie ein schlagendes Herz. Leider erreichte dieses beruhigende Geräusch ihre fensterlose Zelle nicht. Nichts gelangte dorthin, bis auf die kalten Mahlzeiten und ihre freudlosen Wächter. Vaughn nachts, und ein Arschloch namens Saul tagsüber. Sie nannte ihn Paul, um ihn auf die Palme zu bringen, was nur zu einfach war.

Vaughn führte sie zurück in ihre provisorische Zelle in dem behelfsmäßigen Gefängnis. Die Stäbe waren aus Betonstahlstäben und alten Rohren zusammengeschweißt. Das funktionierte ganz gut. Das Bett, eine dünne Schaumstoffmatratze, über die ihre Füße herabhingen, stand aufgerichtet an der Hinterwand. Jemand hatte hier gefegt, während sie weg gewesen war. Vermutlich auch nach Schmuggelware gesucht – nicht, dass sie welche besessen hätte.

»Bis morgen«, sagte Vaughn, nachdem er ihr die Handschellen abgenommen hatte. Er schloss hinter sich ab.

»Du wolltest mir noch was erzählen«, sagte sie zu seinem Rücken.

»Morgen«, wiederholte er.

Sam verschränkte die Arme und lehnte sich an die Wand neben der Tür. »Vaughn …«

Er hielt inne.

»Komm schon, Mann«, sagte sie. »Du weißt nicht, wie es ist, hier eingesperrt zu sein, ohne zu erfahren …«

»Wir sind beide hier eingesperrt.«

Die Worte brachten sie ins Wanken. In seiner Stimme lag mehr als nur ein Hauch von Zorn. Nicht auf sie, glaubte sie. »Dann rede mit mir. Was ist so schlimm?«

»Ich habe Instruktionen.«

Sie lachte schnaubend. »Wow … Instruktionen. Ich werde dich nicht verpfeifen.«

Der Wächter stand im äußeren Eingang, halb drinnen, halb draußen. Ohne zurückzuschauen sagte er: »Die Nahrung ist knapp. Die Verräter haben die Farmen gestohlen, habe ich gehört, und die Reserven in Nightcliff sind entweder aufgebraucht oder verdorben. Also muss Russell die Dachbewohner dazu bringen, ihren Kram zu teilen, aber keiner spielt da mit, und ihm fehlen die Streitkräfte, um die Sache zu erzwingen.«

Sam schluckte und blieb still. »Die Verräter haben die Farmen gestohlen.« Die Worte ließen ihr beinahe Tränen in die Augen treten. Hätte Skyler hier gesessen, sie hätte ihn mit einer Umarmung geplättet. Die Farmplattformen stehlen, das war ein verdammt genialer Schachzug.

Der Wächter seufzte. »Die Wasseranlagen streiken. Die gottverdammten Bergungsmannschaften streiken.«

»He, ich war auch bei einer Bergungsmannschaft, das weißt du doch.«

»Jeder will ein Stück von Russells Kuchen«, sagte er, ohne auf sie zu hören, »ehe sie sich mit ihm zusammentun. Das ist zumindest das, was ich höre …«

»Russell ist aber einer, der nicht gerade gerne teilt.«

Darüber lachte Vaughn. »Nein, ist er nicht. Außerdem geht es ihm nur noch darum, die Abtrünnigen zu finden. Er kommt kaum noch hier runter. Bis morgen.«

»Nacht.«

Eine halbe Stunde später kam ein Junge herein und reichte ihr Frühstück durch die Stäbe. In dem Paket fand sie einen Eisbeutel, noch gefroren.

Sam ließ sich auf der Matratze nieder, ohne auf ihre schmerzenden Arme und Knöchel zu achten, und legte den gefrorenen Block auf ihr angeschwollenes Auge.

»Noch eine Woche, und ich komme dich holen«, flüsterte sie zur Decke empor. »Noch eine gottverdammte Woche.«

Sie sank in den Schlaf, während die Sonne über Darwin aufging.

Nicht, dass sie sie hätte sehen können.

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Kapitel 3

Belém, Brasilien

27.4.2283

Am Wasserspeicher ließ Skyler das Motorrad stehen.

Inzwischen regnete es große, dicke Tropfen, und am Ende des gepflasterten Abschnitts der Straße hatte er feststellen müssen, dass sogar die knubbligen Reifen des Motorrads kaum mehr Halt fanden. Noch schlimmer war das hohe Gras, unter dem die Gegend rund um den eckigen, menschengeschaffenen See erstickte.

Er bremste, bis keine Gefahr mehr bestand, dass er sich selbst umbrachte, und stieg ab, sobald er den See erreichte, um ein trockenes Plätzchen für das Motorrad zu suchen. Ein würdiger Kandidat trat in Form eines Büros hinter der verlassenen Reinigungsanlage in Erscheinung, und Skyler stellte das Motorrad unter, wobei er sich in der egoistischen Hoffnung wiegte, dass es immer noch da sein würde, wenn er es zum nächsten Mal brauchte. Die Kolonie, die komplett von Orbitalen bewohnt wurde, hatte einen starken Hang zum »Gemeinschaftseigentum«. Hier draußen arbeiteten oft Teams aus Technikern und Wissenschaftlern, die versuchten, die Maschinen wieder in Gang zu bringen. Nach zwei Monaten hatte die Kolonie immer noch keine Möglichkeit, große Mengen Wasser zu reinigen – ein Problem, das ganz oben auf ihrer Prioritätenliste stand.

Er legte die Schlüssel des Motorrads auf den Hinterreifen, warf der Maschine einen letzten bewundernden Blick zu und ging. Zurück unter freiem Himmel umrundete er den Rand des Wasserbeckens. Nach Monaten beinahe durchgehenden Regens war es ordentlich angeschwollen, ließ Skyler aber trotzdem nachdenklich werden. Er bezweifelte, dass er in der grünbraunen Düsternis noch seine Finger erkennen würde, sollte er den Arm bis zum Ellbogen darin versenken.

Auf der gegenüberliegenden Seite des Sees wandte er sich nach Norden und trottete über das weite Feld, das das Wasser aus dem Regenwald zwischenspeicherte. Es begann zu regnen, ein stetes Trommeln. Skyler hielt im hohen Gras an und kniete sich hin. Er hatte inzwischen immer einen breitkrempigen Lederhut auf dem Rücken, und den schob er sich nun auf den Kopf. Das dunkelbraune Leder stank, wenn es nass wurde, aber es hielt den Regen ab.

Der Wasserspeicher lag zwar nur knapp einen Kilometer außerhalb der Stadt, war aber komplett von dichtem Regenwald umgeben. Beléms östlicher Stadtrand ging so abrupt vom Slum in den Dschungel über, dass Skyler anfangs die Auragrenze in Darwin vor Augen gehabt hatte. Auf einer Seite dicht besiedelte Elendsviertel und Betongebäude, die es in ihrer Dichte mit dem Labyrinth aufnehmen konnten. Ein paar Schritte weiter östlich über einer Straße oder einem Bach dominierte der Regenwald. Er vermutete, dass vor der Ankunft der Krankheit irgendein Umweltschutzgesetz in Kraft gewesen war, um diese Ressource zu erhalten, die reiche Möchtegern-Abenteurer aus der ganzen Welt anzog. Wie viele Städte war Belém eher nach oben gewachsen, als sich auszubreiten.

Von diesem Standort aus hörte Skyler keinen Chor. Das leichte Gewitter, das auf seinen Hut und das endlose, grüne Blätterdach prasselte, übertönte vermutlich jedes andere Geräusch, falls es überhaupt existierte. Er hatte seine Zweifel. Wahrscheinlicher war, dass die verschollenen Kolonisten alle das gleiche verdorbene Zeug gegessen hatten.

Keine Spur eines Auraturms zeigte sich über den Baumwipfeln, als er den Horizont gewissenhaft absuchte. Das war keine große Überraschung, denn die mobilen Arbeitsmannschaften bekamen normalerweise einen kleineren Turm mit, aufgrund der Annahme, dass die großen Türme »besser« und damit wertvoller waren. Skyler wusste von nichts, das auf eine solche Tatsache schließen ließ, aber er hatte es längst aufgegeben, über solche Trivialitäten zu streiten.

Er ging weiter. Eine Straße am äußeren Stadtrand, fast überwuchert vom neu gewachsenen Wald, stellte den Übergang zwischen der Lichtung und der eindrucksvollen Baumgrenze dar. Eine grobe Barrikade, noch nicht einmal halb fertig, war entlang des einen Meter breiten Weges im Entstehen begriffen, eher, um die örtliche Fauna draußen zu halten als Subhumane. Skyler ging zum Endpunkt des improvisierten Zauns und musterte die Umgebung. Die Arbeit war an einer scharfen Kurve des Grenzwegs zum Erliegen gekommen, und von dort ging eine breitere Schotterstraße ab und führte direkt ins dunkle Herz des Regenwaldes. Die Baumwipfel erstreckten sich von einer Seite zur anderen über den Pfad, so dass ein natürlicher Tunnel mit schwachem grünem Licht entstand. Das Dach aus breiten Blättern führte auch dazu, dass die Erde darunter mehr oder weniger trocken blieb.

Trocken genug, um noch Spuren des passierenden Auraturms zu zeigen.

Obwohl er klein war, hinterließ der Auraturm eine breite, glatte Spur auf dem schlammigen Weg. Die Türme schienen zwar über dem Boden zu »schweben«, wenn sie sich bewegten, doch das »Kissen«, das sie dabei schufen, ebnete trotzdem alles ein, was aus der Erde herausragte. Gefolgt wurde die Spur von einer deutlichen Reihe von Fußabdrücken, ihre Schrittweite deutete auf Gehgeschwindigkeit hin. Daraus schloss Skyler, dass das verschollene Team ruhig gewesen war und alles unter Kontrolle gehabt hatte, als es aufgebrochen war. Allgemein wurde es so praktiziert, dass eine Person auf jeder Seite des Turms ging, um ihm einen Schubs zu geben, falls er abdriften sollte. Einmal in Bewegung gesetzt, glitten die Türme immer weiter, und daher kamen sie gern abhanden, wenn man sie nicht ständig kontrollierte. Aber sie verhedderten sich genauso leicht oder hielten an, wenn sie auf etwas stießen, das ausreichend Masse oder Höhe besaß, deswegen brauchte man auch Kundschafter vor und hinter den Alien-Objekten.

Abgesehen von den vier Führern hielten sich alle anderen Mitglieder einer Gruppe meist vorne, um die anderen zu warnen, falls eine Kurskorrektur nötig war.

Leise sprach Skyler ins Funkgerät. »Ich bin an der Stelle, an der sie den Bereich des Wasserspeichers verlassen haben. Sieht aus, als wären sie von da in den Regenwald gegangen. Ich folge ihnen.«

Ein paar Sekunden vergingen, bis Karl antwortete: »Du warst echt schnell. Gibt es einen Hinweis auf den angeblichen Chor?«

»Negativ«, sagte Skyler. »Aber ich kam an einem ganz reizenden Streicherquartett vorbei.«

»Bleib mit mir in Kontakt, du Idiot«, kicherte Karl.

Skyler hielt sich am Rande des Pfades, wo ein Teppich aus Laub verhinderte, dass seine Stiefel in den gierigen organischen Mulch darunter sanken. Über ihm bildete eine Masse aus Ästen ein Kathedralendach voller Blumen, Vögel und Schlingpflanzen. Smaragdfarbenes Licht sickerte in winzigen Tröpfchen herab, und die Luft roch nach frischem Regen, durchzogen von altem Verfall.

Der Weg war einst eine schmale Straße gewesen. Hin und wieder waren Asphaltklumpen zu sehen, wo der unnachgiebige Regen alles bis hinab zum blanken Steinboden abgetragen hatte und manchmal sogar diesen angriff. Diesen Krieg hatte Mutter Natur längst gewonnen, und Skyler schätzte, dass in weiteren fünf Jahren sogar die letzten Spuren des Weges hier verschwunden sein würden, um Farnen, Wurzeln und Lianen Platz zu machen.

Weiter vorne, wo die Straße einen kleinen Hügel erklomm, sah Skyler eine Öffnung im Blätterdach und eine dünne Rauchfahne, die sich nach oben schlängelte. Der beißende Geruch des Feuers erreichte ihn einen Augenblick später.

Eine Erinnerung an seine Abfahrt mit der ersten Gondel nach Belém kam hoch. Nordöstlich der Liftbasis war vom Schutt einer Gondel, die früher am selben Tag im Orbit zerstört worden war, Rauch aufgestiegen. Aber das lag Monate zurück, und seither hatte es beinahe täglich geregnet. Sicher waren diese Flammen schon lange erloschen.

Ein Lagerfeuer?

Er hielt seine neue Schusswaffe bereit, eine kompakte Maschinenpistole, die er vor einer Woche aus dem Keller einer Polizeiwache von Belém geborgen hatte. Skyler verließ den Weg und drang parallel dazu im Wald vor. Jahre alte Schichten aus Laub dämpften seine Schritte. Selbst nur wenige Meter von der Straße entfernt wurde es im Wald dunkel wie die Nacht. So nahe am Boden des Regenwaldes wuchs fast nichts, weil es so wenig Licht gab, aber Lianen hingen von den Ästen herab und zwangen ihn trotzdem zu einem Zickzackweg. Er brauchte jedes bisschen Selbstkontrolle, um die Machete an seinem Bein in der Scheide zu lassen, anstatt sich durch den Wirrwarr um ihn herum zu hacken. Solche Geräusche trugen selbst in einem so heftigen Regenguss sehr weit.

Auf der Erhebung hielt er inne, um die Szene vor sich zu mustern.

Der Pfad führte durch ein verfallenes Örtchen, das längst dem ungehinderten Wachstum des Waldes zum Opfer gefallen war. Ranken, so dick wie Skylers Arm, wanden sich durch jede Öffnung. Hohes Gras schoss in feuchten Klumpen aus der aufgebrochenen Erde hoch.

Eine Leiche lag gleich außerhalb der Ortsgrenze der kleinen Siedlung mit dem Gesicht nach unten in einer Pfütze. Skyler ließ sich in die Hocke fallen und hob seine Waffe ans Auge, das holographische Visier klickte er weg, damit er klare Sicht hatte.

Bis auf die Leiche wirkte das Dorf leer. Durch den nebligen Regen war die andere Seite allerdings nicht zu erkennen. In der Nähe der Leiche stieg weißer Rauch von der Wand einer kleinen Holzhütte auf. Flammen leckten von einem Gegenstand hoch, der dort abgestellt war, zu klein, um ihn aus dieser Entfernung zu erkennen.

Skyler ließ einen Augenblick verstreichen, bevor er langsam den Abhang hinabkletterte. Ein weggeworfener Rucksack lag gleich neben dem Pfad, zehn Meter von der Leiche entfernt. Skyler stieg darüber weg, das Gewehr wieder erhoben, während er weiterschlich.

Es war eine Frau. Eine Kolonistin, ihrer Bekleidung nach zu urteilen. Er sah den Ausschlag auf ihrem Hals schon von weitem, ging aber trotzdem zu ihr und drehte sie mit dem Stiefel auf den Rücken.

Mit dem Gesicht im Dreck. Keine schöne Art zu sterben. Skyler ging weiter.

Das Feuerchen kam von einem Leuchtgeschoss. Es hatte seine liebe Mühe, das schimmlige, verfaulte Holz des Gebäudes anzusengen. Jemand hatte das Ding direkt in das Bauwerk geschossen, entweder zur Selbstverteidigung, oder es war ein gescheiterter Versuch, es in den Himmel darüber abzufeuern. Der glühende Brennstoff in der gelben Hülle zischte im fallenden Regen.

Zwei weitere Leichen lagen in der Nähe des Ortskerns. Eine hielt noch den Knöchel der anderen in einem schraubstockartigen Griff umklammert, und beide hatten Ausschlag. SUBS machte sich bei jedem anders bemerkbar, und als Erstes zeigte sich oft ein Drang zum Kämpfen oder aber zur Flucht. Skylers Erfahrung nach überlebten die Kämpfer häufiger – immer unter der Voraussetzung, dass ihr Gehirn nicht der Infektion erlag.

»Das macht drei«, brummte er und warf Blicke nach rechts und links. »Wo ist der Rest?«

Den Auraturm fand er auf der anderen Seite der Siedlung, wo er an einem niedrigen Gebäude aus maroden Holzwänden zum Stillstand gekommen war. Einige Bretter waren gebrochen, als die harte Kante des Turms dagegengeprallt war, und nur Ranken hielten den schäbigen Einzimmerbau noch zusammen.

Die Reglosigkeit des Turms im Ruhezustand jagte Skyler einen kalten Schauer über den Rücken. Er fragte sich, ob sich das Ding auch nur einen Fingerbreit bewegen oder irgendwie verändern würde, sollten eine Milliarde Jahre vergehen. Im schwachen Licht waren die merkwürdigen, überlappenden geometrischen Muster, die die Oberfläche des außerirdischen Objekts zierten, gerade noch zu erkennen.

Er ging um einen Geländewagen herum, der neben dem Häuschen geparkt war. Unkraut und wildes Gras schossen überall aus der verrosteten Karosserie. Der Ladesockel am hinteren Kotflügel war immer noch mit dem Stromanschluss verbunden, obwohl sich das Kabel so gut wie aufgelöst hatte.

Jemand – etwas – hustete ganz in der Nähe.

Das abgehackte Geräusch drang durch das Rauschen des Regens wie Glas, das in einem stillen Zimmer zersplitterte, und ließ Skyler zusammenzucken. Es kam aus dem Inneren der beschädigten Hütte, weitere fünf Meter hinter der dräuenden Gestalt des Auraturms.

Ohne Zögern klickte er das Holo-Visier wieder an und brachte seine neue Waffe in Anschlag. Mit einem Schritt seitwärts begann er einen langsamen Bogen um die zusammenbrechende Hütte herum.

»Wer da?«, rief er.

Ein weiteres Husten war die Antwort, diesmal gedämpft.

»Du kannst rauskommen. Ich tue dir nichts.«

Innerhalb von fünf Sekunden ließ der Regen nach, bis es nur noch tröpfelte, dann versiegte er ganz. Man hörte nur noch die Reste abfließen, die aus dem üppigen Blätterdach rund um das Dorf auf den Waldboden prasselten.

Immer noch im Seitwärtsgang setzte Skyler seinen Bogen fort, bis er an der Rückseite des Gebäudes angelangt war. Es gab Lücken, wo einst eine Tür und ein Fenster gewesen waren, die inzwischen von dicken, blassgelben Ranken gerahmt wurden, wie Maden, die sich um eine Wunde drängten. Der Raum dahinter blieb in völlige Finsternis getaucht.

Skyler hielt kurz inne, um die Taschenlampe anzuschalten, die unter dem Lauf seiner Waffe montiert war. Der starke LED-Strahl hatte draußen nur begrenzte Wirkung, aber er reichte, um das Innere in milchig weißes Licht zu tauchen.

Da er sich bereits zu erkennen gegeben hatte, marschierte Skyler zum Fensterrahmen, ohne sich um die schwerfälligen, knackenden Geräusche seiner Stiefel zu kümmern.

Als er noch zwei Meter von der Öffnung entfernt war, sprang das Wesen heraus und stürzte sich auf ihn.

Er schoss aus purem Instinkt. Die Kugel hinterließ einen münzgroßen, roten Fleck mitten in der Stirn des Wesens. Erst als es auf dem Boden zusammengesunken war, gestattete er sich, auszuatmen. Er kämpfte den Drang nieder, noch einen Schuss in den Rücken abzufeuern, und schwenkte stattdessen sein Licht einmal quer durch den Raum.

Ein weiterer Körper war an der Wand zusammengesunken. Ein Mann, dessen herausgerissene Kehle so übel aussah, dass es Skyler den Magen umdrehte. Auf dem Hals des armen Kerls war kein Ausschlag zu sehen, was bedeutete, er hatte es geschafft, sich dicht genug am Auraturm zu halten, um zu überleben, zumindest eine Weile. Leider war das seinen Kameraden nicht gelungen.

Über fünf der sechs wusste man damit Bescheid, und Skyler entfernte sich von dem Gebäude und ging in einem großen Bogen am Rand des Örtchens entlang. Es bestand aus etwa fünfzig kleinen Gebäuden und erwies sich als ansonsten völlig leblos. Er ging im Zickzack von Gebäude zu Gebäude und fand nichts Größeres als eine zwei Meter lange Schlange, die er frohgemut ihrer Wege ziehen ließ.

In dem Wissen, dass keine direkte Gefahr drohte, kehrte er zum Auraturm zurück und setzte sich daneben. Eine Stunde verbrachte er in stiller Einsamkeit. Er aß etwas getrocknete Mango, ein Grundnahrungsmittel der neuen Kolonie Belém, und einen in Preservall verpackten Müsliriegel, den er irgendwann früher aufgesammelt hatte. Er schmeckte nach Mandel und Honig, nicht schlecht, wenn man den chemischen Nachgeschmack ignorierte, den Preservall mit sich brachte. Zwei lange Schlucke aus seiner Wasserflasche spülten das vormittägliche Mahl hinunter, und er nahm sich Zeit, die Flasche aus rostfreiem Stahl mit Regenwasser aufzufüllen, das von einem tellergroßen Blatt tropfte, so dass der Kohlefilter im Deckel der Flasche ausreichend Gelegenheit hatte, die kühle Flüssigkeit zu reinigen.

Das sechste Mitglied der dem Untergang geweihten Gruppe tauchte nie auf. Skyler konnte sich leicht vorstellen, dass der Mann oder die Frau tot im Wirrwarr des Unterholzes lag, der auffällige Ausschlag deutlich auf dem einst menschlichen Hals sichtbar. Oder vielleicht hatte er oder sie überlebt, verdammt zu einem Leben als Subhumaner, und stolperte in diesem Augenblick durch den Regenwald, auf der Suche nach einer Mahlzeit oder einem Unterschlupf, wie jedes andere instinktgetriebene Lebewesen.

Wie immer dieses Schicksal aussah, Skyler bezweifelte, dass man ihn oder sie je finden würde. Jedenfalls stellte die sechste Person keine Gefahr mehr für ihn dar.

Er hob sein Funkgerät. »Karl, Skyler hier. Ich habe schlechte Neuigkeiten.«

Als Karl antwortete, beschrieb Skyler ihm die Szenerie. Er kannte den stoischen Mann gut genug, um nichts zu beschönigen.

»Das Team von der Mercy Road hat ein paar Tragen besorgt«, sagte Karl, der wie gelähmt klang. »Wir schicken morgen wieder ein Team raus, um die Leichen und ihre Ausrüstung einzusammeln.«

»In Ordnung«, sagte Skyler.

»Kannst du den Turm zurückbringen?«

»Klar«, bestätigte er. »Wir sehen uns bald. Over.«

Zehn Minuten später, während er gerade seine Ausrüstung im Schatten des Auraturms einpackte, hörte Skyler Gesang.

Keinen Gesang, entschied er.

Es war ein Chor aus primitiven Summtönen. Er kannte das Geräusch nur zu gut: Subhumane, und zwar eine ganze Schar. Das Geräusch war noch weit entfernt, kam seiner Schätzung nach aus dem Nordosten.

Er lauschte eine ganze Minute. Die Stimmen waren gerade eben noch hörbar, schwollen an und nahmen wieder ab. Es lag, wie er mit Entsetzen feststellte, ein nicht zu verleugnender Rhythmus in dem Gesumme.

»Perfekt«, sagte er vor sich hin. »Jedes Mal, wenn ich euch Bastarde durchschaut habe, verändert ihr euch wieder.«

Skyler kniete sich in den Schlamm und machte sich am Lauf seiner Maschinenpistole zu schaffen, um die Taschenlampe abzumontieren. Er ließ sie in seinen Rucksack gleiten und zog ein grünes Plastikgehäuse heraus. Er zwang sich zur Ruhe und öffnete mit dem Daumen die Verschlüsse der Hartschalenkiste, aus der ein Granatwerfer zum Vorschein kam.

Er hatte ihn noch nicht ausprobiert. Die Waffe war am selben Tag geborgen worden, an dem er auch die Maschinenpistole entdeckt hatte, im Munitionsschrank einer Polizeiwache von Belém. Normalerweise testete er jegliche Ausrüstung, bevor er sie in eine gefährliche Situation mitnahm, aber da er nur fünf Schuss hatte, verhielt er sich in diesem Fall sparsam. Die Taschenlampe würde ihm draußen jedoch nicht viel bringen, also nahm er das Risiko auf sich, ließ das Werfer-Modul in die Vorrichtung gleiten und klickend einrasten.

Skyler schlüpfte wieder in seinen Rucksack und zog die Schulterriemen so fest, wie es nur ging. Als er zuversichtlich war, dass nichts schlackern würde, konzentrierte er sich auf das Geräusch und machte sich auf den Weg in die Richtung, aus der es kam.

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Kapitel 4

Melville-Station

27.4.2283

Ziehen Sie sich aus«, sagte Zane Platz, »und legen Sie sich mit dem Gesicht nach unten auf den Boden. Bitte.«

Tania hielt die Luft an und sah zu. Auch wenn ihr der Befehl unangenehm war, konnte sie seine Klugheit nicht leugnen.

Die Neuankömmlinge warfen einander Blicke zu. Ihre Überraschung und ihr Unbehagen nach diesem Befehl waren erstaunlich klar im Video-Feed erkennbar, obwohl man nur ihre Körpersprache sah. Einige von ihnen hatten Zanes Stimme wohl auch erkannt, was nur zu ihrer Verwirrung beitrug.

Tim hatte die Auszieh-Taktik einen Monat zuvor empfohlen, nachdem der erste Schwung Kolonisten an Bord gekommen war. Damals hatte der Befehl gelautet, sie sollten einfach nichts tun und auf eine Durchsuchung warten. Diese Methode hatte viel zu lange gedauert, dachte sie. Noch wichtiger, als sie das Video analysiert hatten, war ihnen eine Verbindung zwischen den Leuten aufgefallen, die sich eifrig gebeugt hatten, und denen, die Spione waren.

Die Bitte, sich auszuziehen, die Tim vorgeschlagen hatte, würde sogar noch mehr verraten. Sie war überrascht gewesen, den Einfall von dem jungen Mann zu hören. Oder einfach nur Mann. Bei einem Abendessen kürzlich hatte sie erfahren, dass er ein Jahr älter war als sie, trotz seines jungenhaften Aussehens. Es waren die Sommersprossen, entschied Tania, die eine jugendliche Unschuld auszustrahlen schienen.

Eine der vierzig Personen zog sich aus, ohne zu zögern.

Zane legte eine Hand auf das Mikro. »Spion«, sagte er.

»Ja«, antwortete Tim hinter ihm. »Der da auch«, fügte er hinzu und deutete hin. »Fügt sich viel zu eifrig. Schaut.«

Tania grinste und schüttelte den Kopf, als hätte sie eine freundschaftliche Wette verloren. Sie notierte sich kurze Beschreibungen auf einem Block Millimeterpapier, wo sie ihre grobe Position in der gesamten Gruppe markierte. Als sie wieder aufschaute, waren schon alle Kandidaten, die Darwin geschickt hatte, dabei, sich auszuziehen. Ein paar lagen bereits nackt auf dem Boden des sanft gekrümmten Raums. Erst dann fiel Tania auf, dass sie auch wieder ausatmen konnte.

Dieser erste Augenblick, wenn die Neuankömmlinge ganz frisch aus ihrer Kapsel marschierten, bereitete ihr Panik. Bis zu diesem Augenblick konnte sie sich nur vorstellen, wie sich ein Strom gut bewaffneter Nightcliff-Wächter aus dem provisorischen Shuttle ergoss. Oder noch schlimmer, gar niemand, sondern stattdessen eine Bombe mit einem roten Band darum. Russell Blackfield spielt mit uns, dachte sie. Er brauchte die Nahrung, ja, aber nicht so dringend, dass er sein verletztes Ego hintenanstellen konnte. Früher oder später würde er etwas versuchen, etwas Ehrgeizigeres als nur eine Handvoll Informanten. Zumindest enthielt diese zweite Ladung keine offensichtlichen Überraschungen.

Es stand immer noch die Befragung der Neuankömmlinge an. Man würde sie auch fotografieren, und die Bilder würde man hinauf zu Ebene Schwarz und hinab ins Camp Exodus schicken, damit bereits vorhandene Mitglieder nach Leuten Ausschau halten konnten, die sie erkannten, und sich für sie verbürgten. Sie schwor sich, dass sie sich persönlich bei allen legitimen Kolonisten entschuldigen würde. Tims Technik, um Spione ausfindig zu machen, war zwar effektiv, aber sie wollte sichergehen, dass dem Rest klar war, dass Unredlichkeiten wie diese nun hinter ihnen lagen.

Natürlich musste sie sich für mehr als das entschuldigen. Dass sie überhaupt weggegangen war und die Farmen mitgenommen hatte. Für die unschuldigen Bergungsmannschaften und alle anderen, die gestorben waren, als die Farmplattform auf Afrika gestürzt war. Diese Verbrechen lasteten auf ihr, als trüge sie den Leichnam ihres früheren Ichs auf dem Rücken.

»Sind wir bereit?«, fragte Zane.

»Bereit«, sagte Tim.

»Ich würde mich besser fühlen, wenn Skyler hier wäre«, bemerkte Tania. »Wir sind nicht gut im Beurteilen von Leuten.«

»Es gibt unten zu viel zu tun …«

»Ich weiß, es ist nur …« Tania ließ den Satz ausklingen und gab Tim den Block mit dem Millimeterpapier. »Bring das Team rein, und sei vorsichtig.«

Er nahm den Block und grinste ermutigend. Dann verschwand er durch die Tür des kleinen Sicherheitsbüros.

Ein Teil des Ganges einer Ebene diente der »Kolonisten-Abfertigung«, wenn auch nur aus dem Grund, dass es an beiden Enden abschließbare Türen gab, und eine Zugangsröhre hinauf zum Frachtbereich. Tania war davon überzeugt, dass niemand direkten Kontakt mit den Neuankömmlingen haben sollte, bis sichergestellt war, dass keiner versteckte Waffen trug. Wie bei der ersten Ladung vor einem Monat schien sich Russell erneut zurückgehalten zu haben, wenn die nackten Körper auf dem Monitor denn ein Indiz waren.

»Wir sind an der Tür«, kam Tims Stimme über sein Handfunkgerät.

Zane antwortete: »Ist immer noch alles in Ordnung, Sohn.«

Auf dem Bildschirm öffnete sich die Tür am anderen Ende des Raums, und Tim trat mit dem Abfertigungs-Team ein, einer Gruppe, die aus sieben Kämpfern bestand, die Kelly Adelaide Monate zuvor ausgebildet hatte. Die meisten hatten eine Vergangenheit beim Militär oder der Polizei.

Der Prozess verlief reibungslos. Man geleitete die neuen Kolonisten in Gruppen zu Kabinen, die den Zentralgang dahinter säumten. Später würde man sie alle befragen, die Spione oder Schurken würde man bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit zurückschicken.

Bald blieben nur noch die beiden Männer, die als Spione gekennzeichnet waren. Tim kam mit vier Teammitgliedern zurück. Sie durchsuchten Taschen und Kleidung der mutmaßlichen Agenten von Nightcliff, und dann hielt Tim ihnen eine kurze Ansprache. »Tut mir leid, aber Sie beide werden wir eine Weile hierbehalten müssen.«

Mit hängenden Schultern und Köpfen gingen die beiden Männer zwischen einer Eskorte aus Wachen zu ihren provisorischen Zellen. Sie waren nicht dumm.

»Ich frage mich, wie viele wir bei der Befragung noch finden«, sagte Zane.

»Das kannst du genauso gut einschätzen wie ich«, antwortete Tania und erhob sich. Sie scheute davor zurück, sah aber keine andere Möglichkeit. Unten auf dem Boden war noch so viel zu erledigen, gar nicht zu sprechen von den Myriaden Aufgaben, die auf den Farmplattformen vernachlässigt wurden.

Ehe sie die Tür des Sicherheitsbüros erreichte, meldete sich der Kommunikator, und Karls Gesicht erschien.

»Ich mache das«, sagte Zane. »Hallo, Karl.«

»Ist Tania da?«

»Hier«, ließ sich Tania vernehmen und kam zurück in den Raum. »Wie wär’s mit ein paar guten Neuigkeiten?«

Karl verzog das Gesicht.

Ach, Teufel auch, dachte Tania.

»Habe gerade mit Skyler gesprochen. Er hat das Wasserspeicher-Team gefunden. Sieht aus, als hätten sie den Turm irgendwie zu weit von sich wegdriften lassen. Sie sind alle tot, fürchte ich.«

Tania sank auf ihrem Sitz zusammen, ihr Blick wich keinen Millimeter von Karls unglücklichem, erschöpftem Gesicht. »Fang schon mal ohne mich an, Zane«, sagte sie ausdruckslos. Sie konzentrierte sich wieder auf Karl. »Erzähl mir, was passiert ist.«

Sie schloss die Augen, als Karl die Geschichte noch einmal erzählte. Erinnerungen an Hawaii, an den Kampf und die Leichen, die daraus resultierten, halfen ihr, sich vorzustellen, was Skyler dort vorgefunden hatte. Mehr als alles andere wünschte sie sich, dass man für ihn eine Rolle im Orbit finden könnte, in ihrer Nähe.

Seine Immunität war aber immer noch ein zu großer Faktor. Trotz der Auratürme machten Skylers außergewöhnliche Eigenschaft und seine Fähigkeit, Dinge zu finden, ihn zum perfekten Kandidaten für das Auskundschaften und Kartieren der Stadt. Er konnte dort unten sogar noch mehr helfen, indem er den anderen die Bergungsarbeit beibrachte. Sie hatten zwei Jahre, inzwischen etwas weniger, um Camp Exodus gut ins Rollen zu bringen, bis der Plan der Erbauer vorsah, dass ein weiteres Ereignis auftreten könnte.

Plan. Das Konzept machte sie immer noch sprachlos. Aus Gründen, von denen sie annahm, dass sie sie nie verstehen würde, trat jedes Ereignis der Erbauer nach einem genau bestimmten Bruchteil der Zeit seit dem letzten Ereignis ein. Erst kam der Darwin-Weltraumlift, dann vergingen beinahe zwölf Jahre, und der SUBS-Virus begann von irgendwo in Afrika aus seinen unnachgiebigen Marsch über den Planeten. Etwas weniger als fünf Jahre später erspähte Tania das nächste Schiff, das den Lift von Belém und die seltsamen Auratürme brachte. Immer vergingen zweiundvierzig Prozent der Zeit zwischen den vorherigen Ereignissen. Wenn dieses Muster weiterbestand, würde in knapp zwei Jahren etwas Neues geschehen.

Sie erschauerte. Meist kamen ihr zwei Jahre wie ein großzügiger Zeitrahmen vor. Manchmal aber schienen sie nur ein Lidschlag zu sein. Sie musste gegen den Drang ankämpfen, alles zu übereilen. Sie würden nur eine Chance auf einen Neuanfang bekommen, dessen war sie sich sicher.

»Wie läuft es da oben?«, unterbrach Karl ihre Gedankengänge.

Sie seufzte. »So weit, so gut. Nur ein paar offensichtliche Spione diesmal.«

»Zur Abwechslung mal ganz nett, schätze ich.«

»Tim fertigt sie gerade ab. Die, die fit genug sind, schicken wir zu dir runter, sobald wir können.«

Karl nickte. »Ich habe auch gute Nachrichten. Wir haben eine Gondel mit einer Teillieferung Luft und Wasser beladen. Der Kran hat sie gerade aufs Kabel gehoben, und in etwa zehn Minuten sollte sie aufsteigen.«

»Das klingt toll«, sagte Tania. Bis auf ein paar Testlieferungen war bisher keine nennenswerte Menge Wasser oder Luft eingetroffen, seit sie in Belém angekommen waren. Sie hatte bereits sämtliches unwichtige Personal hinab auf die Erdoberfläche verlegt und leere Teile der Station versiegelt. Aufbereiter waren rar und weit verteilt auf den Stationen von Platz, denn dieser Entwurf baute stark auf eine gesicherte Versorgung durch den Weltraumlift. »So ist es billiger«, hatte Neil immer gesagt.

Karl warf einen Blick auf die Uhr. »In etwa zwölf Stunden ist sie bei euch.«

Unter anderen Umständen hätte Tania eine Feier angesetzt. Ihre Gedanken kehrten aber zu den toten Kolonisten zurück. »Wegen des Teams, das wir verloren haben. Wir werden sie doch nicht … da draußen lassen, oder?«

»Ich bringe morgen eine Gruppe raus«, antwortete Karl. »Um die Leichen zu bergen und sie ordentlich zu beerdigen.«

»Was ist mit dem Turm?«

Leichte Missbilligung trat auf sein Gesicht. »Entspann dich. Skyler kümmert sich darum«, sagte er.

»Tut mir leid«, gab sie zurück. »Der Verlust bricht einem das Herz. Ich sollte dich nicht wegen des Turms behelligen. Es ist nur …«

Karl hob die Hand. Seine Aufmerksamkeit hatte sich von der Kamera wegbewegt. Sie hörte schwachen Lärm durch die Lautsprecher. Es klang wie ein Streit.

»Einen Augenblick, Tania, draußen ruft jemand.«

»Was ist los?«