Das Ahrtal des Mitgefühls - Diana Ivanova - E-Book

Das Ahrtal des Mitgefühls E-Book

Diana Ivanova

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Beschreibung

»Verwundbarkeit ist die soziologische Signatur unserer Zeit. Das Ahrtal ist hierfür ein Symbol – für die Verwundbarkeit unserer leiblichen Existenz, aber auch für die Verwundbarkeit der Infrastrukturen, die uns umgeben und die wir im gesellschaftlichen Alltag für selbstverständlich halten. Diana Ivanova zeichnet in Miniaturen, Fragmenten, Gedankentexturen und Gesprächssplittern das Bild der lokalen Gesellschaft des Ahrtals, die sich jäh mit dem Verlust der Alltagsroutinen konfrontiert sah. Auf diese Weise entsteht eine Atmosphäre der Empathie, die die physischen, psychischen und sozialen Wunden ebenso sichtbar macht, wie die überwältigende kollektive Erfahrung von Zusammenhalt und Solidarität. Das Buch von Diana Ivanova macht die Sicht frei auf die Potentiale, die in unserer von Krisen verunsicherten Gesellschaft stecken. Kunst und Kultur spielen hier eine herausragende Rolle: die Kunst des Einander-Zuhörens und die Kultur, zur rechten Zeit mit einer Klaviersonate Hoffnung in einer ausweglos scheinenden Situation zu geben. Die Energie der kleinen Gesten ist die Stärke der Fragmente aus dem Ahrtal des Mitgefühls.« (Prof. Dr. Berthold Vogel, Geschäftsführender Direktor am Soziologisches Forschungsinstitut Göttingen (SOFI) e.V. an der Georg-August-Universität)

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Diana Ivanova (Hg.)

Das Ahrtal desMitgefühls

89 Fragmente aus demLeben nach der Flut

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung

der Stiftung Rheinland-Pfalz für Kultur

und der Evangelischen Kirche im Rheinland

© Barton Verlag in der Velbrück GmbH Verlage,

Weilerswist-Metternich 2023, 2. Auflage 2023

Printed in Germany

ISBN 978-3-934648-66-1

eISBN 978-3-934648-74-6

www.barton-verlag.de

© Diana Ivanova: Idee, Konzept, Text, Fotografie, Collagen

Fotografie Coverrückseite © Martin Dietrich

Alle anderen Fotografien © Diana Ivanova

Layout, Satz und Cover: Katharina Jüssen, Weilerswist

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Inhalt

Warum dieses Buch?

„Zuerst ist es einfach still“, 30. Juli 2021

Collagen

Die Ahr

Die Ahr in diesem Buch

Martin Dietrich, Bad Bodendorf

„Es ist ein neuer Raum entstanden, für die eigenen Gefühle“

Stephan Neuhaus-Kiefel, Heppingen

„Was ich sah, erinnerte mich an Gewalt, die ich selbst erfahren habe“

Margarete Gebauer, Bad Bodendorf

„Die Künstler sind eigentlich jetzt gefordert, einfach sich einzumischen.“

Sarah Irmgartz, Heimersheim

„Ich merke, wie mir das gut tut, wenn ich mir mal erlaube, wirklich traurig zu sein“

Hubertus Kunz, Mayschoß

„Mayschoß und Ukraine? Die wichtigste Währung in einer Krise ist das Vertrauen.“

Hermann Schug und Karen Balzer, Die Feuervogel, Schuld

„Und der Fluss hat jetzt gesagt, dass alles vergänglich ist“

Rolf Habel, Bad Neuenahr

„Ich lerne sehr viel Gleichgesinnte kennen, die plötzlich nichts mehr haben und sagen: Irgendwie hat es was. Irgendwie ist das schön“

Anton Simons, Bad Bodendorf

„Wer vernünftig ist, kann das nicht wollen, zurück“

Karsten Janotta, Bad Bodendorf

„Was sich auf jeden Fall geändert hat, ist mein Blick auf materielle Dinge“

Hildegard Ginzler, Sinzig

„Wir haben eine Katastrophe de luxe erlebt“

Stephan Maria Glockner, Bad Neuenahr

TRAUMATAL: „Ich finde es schlimm, dass dieses Tal so nachhaltig zerstört ist.“

Joachim Heyna, Walporzheim

„Die Ahr ist kein Monster“

Edyta Bertram, Dernau

„Das Schwierigste für mich war erst mal: Hilfe annehmen“

Angelika Furth, Ahrbrück

„Süßigkeiten. Das war ganz wichtig. Nervennahrung. Das war der Renner nach der Flut.“

Paul Schumacher, Marienthal

„Der Begriff Jahrhunderthochwasser, den sollte man streichen“

Martina Schneider, Kreuzberg

„In der Flutnacht habe ich mich schon von meinem Haus verabschiedet“

Oliver Griess, Insul

„Wir gehören zu den 34 Häusern, die im Ahrtal nicht mehr an der gleichen Stelle bauen dürfen“

Andrea Babic, Altenahr

„Langsam weitermachen“

Lukas Sermann, Altenahr

„Ich wünsche mir für die Region Ahr, dass ein Umdenken kommt. Ich muss aber sagen, dass ich nicht daran glaube.“

Moka Biss, Koblenz/Altenahr

„Ahrtal, meine zweite Heimat“

Missy Motown, Krälingen

„Es ist Zeit, im Ahrtal das Ganze als Chance zu sehen. Eine Chance, Dinge einfach zu bewegen“

Stefan Bergner, Sinzig

„Für ausnahmslos alle Menschen, die ich hier getroffen habe, ist die Flut eines der einschneidenden Erlebnisse ihres Lebens“

Sichere Orte.Was hat mir nach der Flut geholfen?

„Das Ahrtal des Mitgefühls“, Juli 2023

Gedichte

der geruch nach uns

wassererkenntnisse

wut ist die kleine schwester der flut

sehnsucht nach

erschöpfung ist ein seltsames wesen

es gibt diese Tage

danach

die muttersprache der welt

Geschichten

Wegschmeißen

Abstand

Nichtwissen

Die Magnolien

Warum dieses Buch?

Dieses Buch sammelt Fragmente meiner eigenen Erfahrungen nach der Flut im Ahrtal 2021 und meiner Begegnungen mit Menschen für den Podcast „89 Schritte“, den ich seit Januar 2022 mache. Es kann als intimer Reiseführer durch das Katastrophengebiet Ahrtal gelesen werden. Oder als Momentaufnahme einer langsamen Rückkehr in die Normalität, was auch immer „Normalität“ bedeuten mag. Oder als eine nicht abgeschlossene Suche nach dem Sinn des Erlebten. Beim Lesen der Texte aus dem Podcast und beim Schreiben ist mir noch einmal klar geworden, dass ich auch zwei Jahre nach der Flut kein vollständiges Bild von dem habe, was geschehen ist und vielleicht nie haben werde. Aber es ist mir klar geworden, dass mir die Tage nach der Flut ein neues Bild von Deutschland – vom Ahrtal – gezeigt haben. Und mir das Gefühl gegeben haben, ich – die Bulgarin –, gehöre hierher. Jetzt.

Vielleicht war es dieses merkwürdige, ganz neue, mit nichts anderem vergleichbare Gefühl, das sich vielleicht als „Ahrtal-Mitgefühl“ beschreiben lässt, oder noch nicht beschreiben lässt, das mir den mächtigen Impuls gegeben hat, zu suchen, zu fragen, mit anderen zu sprechen: Wie war es denn bei euch? Wie war es bei dir?

Das Ahrtal war für mich lange keine Heimat. Durch die Flut ist es eine geworden. Jetzt wundere ich mich selbst über diese Aussage. Wie kann ein Ort durch eine Katastrophe zur Heimat werden? Ich lebte erst zwei Jahre im Ahrtal – wir waren von Bonn nach Bad Bodendorf gezogen, die Natur hatte mir während der Pandemie viel Geborgenheit und Ruhe gegeben. Das Ahrtal gab mir ein sanftes „bulgarisches“ Gefühl – wilde Kräuter sammeln, der Stille des Waldes lauschen, die Bäume, die Ahr – alles erinnerte mich ein wenig an unser Sommerhaus im Balkangebirge, nicht weit von Sofia entfernt. Die Flut erinnerte mich später noch stärker an Bulgarien, an meine Heimat – die Hektik, das Gefühl der Hilflosigkeit und des totalen Umbruchs, die Spontaneität, die Menschlichkeit … All das kannte ich aus den 90-er Jahren, nach der Wende … Irgendwie fühlte ich mich auch wohl im Chaos: eine gewisse Gewohnheit. Aber es gab etwas Neues. Ich war zum ersten Mal eine Betroffene. Ich konnte selbst spüren, erleben und verstehen, wie Körper und Geist in einen anderen Modus schalten, wenn plötzlich etwas „Unfassbares“ passiert.

Nach der Flut wurden wir dann nochmal von Bildern überflutet. Das Ahrtal wurde zur Metapher für pure Zerstörung. So war es an vielen Stellen auch – 400 Gebäude wurden durch die Flut gerissen, 134 Menschen starben, von 4.200 Gebäuden entlang der Ahr sind schätzungsweise mehr als 3.000 beschädigt worden. Solche Fragen werden mir bis heute gestellt: Was wurde bei euch zerstört? Was wurde bei euch verwüstet? Am Anfang war ich einfach nur sprachlos und tief verletzt, wie unsensibel Menschen sein können, mir solche Fragen zu stellen. Man konnte einfach fragen: Was ist bei euch passiert? Jetzt reagiere ich sofort auf „Zerstörungsfragen“ und sage: Diese Frage verletzt mich. Mir ist noch einmal klar geworden, wie wichtig es ist, im Gespräch mit Betroffenen nicht pauschal wertend zu fragen, sondern konkret, interessiert, menschlich. Ich nenne das „traumasensible Sprache“. Die Sprache des Mitgefühls.

Und da Sprache und Stimme meine Arbeitsmittel sind, wollte ich etwas ausprobieren, wo nicht Bilder eine Rolle spielen, sondern nur das Innere und das Zwischenmenschliche.

So ist der Podcast „89 Schritte“ entstanden.

Die Texte in diesem Buch sind in 23 Gesprächen aufgezeichnet worden, von Dezember 2021 bis Juni 2023. Drei sind von Menschen, die eine wichtige Rolle im Ahrtal als Helfer übernommen haben, zwanzig von betroffenen Menschen.

Alle Stimmen kann man im Podcast „89 Schritte“ hören.

Diese Texte tragen die Atmosphäre des Augenblicks, sie sind ein Dokument der inneren Zustände meiner Gesprächspartner:innen, deshalb habe ich sie nicht mehr als nötig überarbeitet. Sie sollen wie gesprochen klingen.

Genau aus diesem Grund habe ich beschlossen, meine ersten Texte, Gedichte, Collagen und Fotos den Gesprächen hinzuzufügen. Aus „89 Schritte“ sind so „89 Fragmente“ entstanden, ein Gewebe aus verschiedenen Materialien und Texturen, das auch unterschiedlich und ebenso „fragmentarisch“ gelesen werden kann.

Und noch etwas Wichtiges zur Bedeutung dieses Buches: es ist im wahrsten Sinne des Wortes auch ein Körper. Da ich auch Yogalehrerin und Trauma-Yoga-Therapeutin bin, konnte ich in den Tagen und Monaten nach der Flut beobachten, wie viel langsamer der Körper das Geschehene verarbeitet, wie viel mehr Raum, Zeit und Aufmerksamkeit er braucht – im Gegensatz zum Verstand, der viel schneller ordnet. Aber der Körper hat ein tieferes und umfassenderes Gedächtnis. Er hat die ersten Stunden der Erschöpfung gespeichert und erinnert sich in unregelmäßigen Abständen daran. Ich selbst musste mit Erstaunen feststellen und zugeben, wie ich eine Achillessehnenentzündung monatelang nicht bemerkt und wahrgenommen habe. Die Arbeit an diesem Buch wurde unterbrochen und verlangsamt durch verschiedene körperliche Arbeiten und körperliche Beschwerden einiger Mitarbeiter. Das Körperliche war immer präsent. Deshalb ist dieses Buch für mich ein wichtiges körperliches Dokument, ein temporärer Körper, ein Zuhause für diese flüchtige und schwer zu beschreibende Mischung von Gefühlen nach der Flut. Es bestätigt ihre Realität.

Zuerst ist es einfach still

30. Juli 2021

Zuerst ist es einfach still. Kein Laut. Leise hat das Wasser uns überflutet, den Garten, den Keller, ist schon ins Wohnzimmer gekrochen, hat sich zum Klavier geschlichen. „Wir gehen in den ersten Stock, nehmen nur das Wichtigste mit!“ Ich schaue mich um. Das Erste, das ich in die Hand nehme, ist ein weißes Hemd, das ich an diesem Tag gekauft habe.

Der Wasserspiegel sinkt nach und nach.

Dann kommen viele Geräusche auf einmal – Hubschrauber, Sirenen, schwere Autos. Das geht tagelang so. Nachrichten von Menschen und über Leichen, die auf den Wiesen gefunden werden. Dann der Lärm von Generatoren, Pumpen, Bohrern.

Das Gefühl, zusammenzuhalten.

Der Geruch von Schlamm. Ich kenne ihn von den Überschwemmungen in Prag 2002, aber jetzt ist dieser Geruch bei mir zu Hause. Er ist überall. Der Schlamm, der nach den großen Wassermassen zurückbleibt. Er enthält Gifte, ausgelaufenes Öl, Benzin, alles, was das Wasser auf seinem Weg weggespült, zerstört und bis zu uns mitgerissen hat.

Der Müll wird erst einmal direkt auf den Bürgersteig gekippt. Berge von Müll, Schlamm, alles, was der Schlamm zugedeckt hat. Dann kommen die Mülltonnen, die wir gemeinsam mit den Nachbarn füllen. Der Müll scheint nicht weniger zu werden. Dann kommen viele Menschen aus den Nachbarstädten, um zu helfen.

Das Ende ist in Sicht.

– Herr Meyer, verglichen mit anderen im Ahrtal ist unsere Katastrophe mild. Warum sind Sie so blass?

Mir fällt auf, dass ich oft den Ausdruck „milde Katastrophe“ benutze. Ich benutze ihn wohl, um mich zu beruhigen. Bei uns im Ort gibt es keine verschwundenen Nachbarn, keine zerstörten Häuser, keine kaputten Straßen. Alles ist reparabel.

Aber Herr Meyer ist immer noch blass. Er ist gekommen, um sich die Hochwasserschäden anzusehen. Er wird unsere Heizung reparieren, die im Keller steht und unter Wasser stand. Er antwortet mir:

– Aber das Wort ist doch Katastrophe.

Wir kennen alle Nachbarn. Wir treffen uns auf der Straße, nachdem das Wasser zurückgegangen ist und man mit Stiefeln rausgehen kann. Alle reden leise miteinander. Kein Wasser, fast nirgendwo Strom, kein Internet, kein Telefon.

Die Anwesenheit der Nachbarn ist beruhigend. Wie gut, dass wir nicht allein sind! Alle sind am Leben!

In den ersten Tagen sind wir die einzigen, die noch Strom haben, der Stromkasten im Erdgeschoss war nicht betroffen. Also bauen wir mit der Pumpe der Nachbarn linker Hand und unserem Strom eine provisorische Anlage im Rosen- und Lavendelgarten. Alle sind glücklich. Man kann sogar kalt duschen.

– Ist das orange Echinacea?

– Ja, als Geschenk einpacken?

– Nein, für etwas Farbe im Garten.

Die Frau schaut mich an und versteht sofort.

– Gehören Sie zu den Betroffenen? Bitte, Sie werden mir nichts bezahlen, nehmen Sie das einfach mit …

Ich kann die Tränen kaum zurückhalten. Ich kann sie nicht zurückhalten.

Das Wort „betroffen“ ist etwas Besonderes. Ich war noch nie in einer solchen Situation. Ich war eher auf der anderen Seite, habe „Betroffene“ begleitet. Ich bin sehr empfindlich, sehr sensibel. Es ist wichtig, wie man es sagt. Man kann mich zum Heulen bringen, man kann mich beleidigen.

Ich beantworte jede Frage, ob ich Hilfe brauche, mit Ja.

Ich sehe, dass jede Hand hilft. Je mehr, desto weniger Schlamm, desto schneller Normalität. Aber ich brauche keine langen Gespräche und Beschwerden.

Ich ärgere mich sehr über einen gemeinsamen Freund, der sich ständig darüber beschwert, was für schöne Dinge weggeworfen werden. Ich ärgere mich über alle möglichen Analysten, die davon reden, dass die Immobilienpreise fallen werden, dass der Tourismus in der Region zusammenbrechen wird, dass dies und jenes passieren wird…

Das Beste sind die Menschen, die Menschlichkeit, die Liebe. Grenzenlose Solidarität.

Wir brauchen ein Auto. Unseres steht unter Wasser und wir bekommen erst in vier Monaten ein neues. Ich schicke eine Nachricht an alle meine Gruppen und Freunde bei WhatsApp. In fünf Minuten haben wir ein Auto, das wir fahren können, solange wir es brauchen.

Wir lassen die Abende mit improvisierten Konzerten ausklingen. Ein Freund kommt vorbei, setzt sich an das Klavier, das nicht beschädigt wurde, ein wunderbares altes Ritmüller, und spielt. Gestern Abend hat unsere Freundin Ursula, eine Klavierlehrerin, die eine Stunde von uns entfernt wohnt, für zehn Leute gekocht, sich dann ans Klavier gesetzt und für uns gespielt. Bach, Satie, Schumann, Frankhauser. Mit meinem Körper spüre ich, wie die Musik irgendwo in mir den unsichtbaren Boden nährt, auf dem wir jeden Tag aufs Neue gehen.

– Es gibt eine warme Mahlzeit, Reis mit Kichererbsen und Salat.

Ein junger Mann mit Bart lächelt mich an, als er mich in schlammigen Stiefeln aus dem Keller kommen sieht.

– Ich frage die anderen, ob sie auch etwas wollen, und gebe Ihnen Bescheid. Woher kommen Sie?

– Aus Koblenz.

Von uns aus sind es 45 Minuten bis Koblenz, ein Teil der Autobahn ist durch die Flut beschädigt worden. Ich bin kurz davor, wieder zu weinen. Dann nehme ich sechs Portionen. Heute sind wir zu sechst.

– Das Besteck ist auch da, sagt der junge Mann. Guten Appetit.

Collagen

Andere Menschen kommen.

– Wir sind aus Köln. Wir wollen helfen. Was können wir tun?

Ich schicke sie zu den Nachbarn, die älter und allein sind. Ihr Sohn kämpft in einer Nachbarstadt um sein Haus und kann nicht immer hier sein.

Dann kommen die Nächsten:

– Wir sind aus Kripp. Wir können nicht einfach abends im Garten sitzen, wenn wir wissen, dass ein paar Kilometer weiter eine Katastrophe passiert ist.

Es sind vier Leute auf Fahrrädern, als hätten sie einen Ausflug gemacht. Sie bleiben ein paar Stunden bei uns und füllen die Container.

Wir sind zusammen. In diesem Moment spielt das die größte Rolle, und nicht, dass es eine Katastrophe ist.

P.S. Es war sehr schwer, diesen Text zu schreiben. In den ersten Tagen nach der Flut dachte ich, dieses Leben ist einfach vorbei, ich werde nie wieder schreiben. Ich konnte meine Gedanken und Erlebnisse kaum ordnen. So einen Zustand kannte ich nicht. Ich hatte Angst, dass es so bleiben würde.

Meine Freundin Tatjana, Chefredakteurin der Website, auf der ich jeden Monat analytische Texte auf Bulgarisch schreibe, hatte mich vorsichtig gebeten, etwas aufzuschreiben. Der Text erschien zuerst auf Bulgarisch.

Heute bin ich ihr dafür sehr dankbar.

Der Text hat mir gezeigt, dass es möglich ist. Das war mein erster Schritt zurück zu mir selbst. Keine Konzentration auf das große Ganze. Kein Bedürfnis, das Große zu sehen, zu erklären, zu verstehen. Keine Gespräche mit Leuten, die das tun. Nur kleine, winzige Mikrogeschichten. Fragmente. Schritt für Schritt.

Collagen

Die Ahr

Der Name Ahr leitet sich vom keltischen Wort für Wasser „aha“ ab. Die Ahr entspringt in der Eifel im Ortskern von Blankenheim und mündet zwischen Remagen und Sinzig bei Kripp in der Ebene der „Goldenen Meile“ in den Rhein. Die Ahr hat durch ihre zahlreichen, etwa 59 Zuflüsse ein sehr großes Einzugsgebiet von 897 km2.

Historisch sind an der Ahr 64 Hochwasser dokumentiert, davon 31 im Sommerhalbjahr (Mai bis Oktober) und 33 im Winterhalbjahr (November bis April). Von den 9 Hochwassern mit besonders hohen Pegelständen sind 5 Sommerhochwasser (1601, 1804, 1818, 1848, 1910) und 4 Winterhochwasser (1687, 1739, 1795, 1880). Die folgenschwersten Hochwasser sind gemäß der überlieferten Schäden die Sommerhochwasser von 1601, 1804 und 1910, die alle durch Gewitter ausgelöst wurden. Auch die Flut von 2021 war ein Sommerhochwasser, ausgelöst durch Dauerregen und Gewitter.

Die Ahr in diesem Buch

Ich weiß, dass viele die Ahr heute als bedrohlich empfinden. Für mich ist sie das nicht.

Ich habe so viele schöne, positive Kindheitserlebnisse an diesem Fluss, wir haben im Sommer so viel gespielt, so viel Spaß gehabt, dass dieses Vertrauen unerschütterlich ist. Es ist so etwas Schlimmes passiert, natürlich wird es irgendwann wieder passieren, aber ich habe keine Angst vor dem Fluss. Mein Vertrauen ist unerschütterlich.

Martin Dietrich (S. 24)

Sechs Wochen später fuhr ich an die Ahr. Das war nicht die Ahr, die ich kannte, die ruhig ist, die einem sonst in der Natur viel gegeben hat. Die Bäume, die man kennt, die Bänke, das war nicht die Ahr. Es war einfach ein bisschen verwüstet. … Es roch auch unangenehm. Und dann? Das muss alles erst wieder wachsen … Dann war ich wieder da und habe mir gesagt – ich muss nicht immer alles sehen.

Margarete Gebauer (S. 40)

Ich merke, dass ich die Ahr ganz anders wahrnehme. Das Verhältnis zur Ahr hat sich verändert. Ich schaue sie an und frage. Was kannst Du noch? Wozu bist du fähig? Früher habe ich einfach die Ruhe gesucht, es war so idyllisch … Den schönen Weg von Lohrsdorf nach Bad Neuenahr …, den kann ich meinem kleinen Sohn nicht mehr zeigen. Dann denke ich, ist das wichtig? Vielleicht lasse ich mir die Ahr von meinem Sohn zeigen? Der macht jetzt neue Entdeckungen und Erinnerungen und wird sich die Orte aussuchen, die er spannend findet. Und dann entdecke ich mit ihm die Ahr neu.

Sarah Irmgartz (S. 46)

Wir kennen die Ahr sehr gut, auch die Tücken, weil man diesen Fluss eigentlich nur befahren kann, wenn „Hochwasser“ ist, wenn er einen trägt und wenn man nicht selber Steine kriegt. Und da sind wir mit unserem Sohn und unserer Tochter und mit Freunden oft auf dem Fluss gefahren, und er hat eben auch dieses Dämonische, dieses Zerstörerische, nicht nur dieses Plätschern, sehr schön und ruhig!

Hermann Schug (S. 66)

Die Leute müssen jetzt wieder warm werden mit der Ahr, das geht mir auch so. Die Ahr ist als die liebliche Ahr beworben worden. Und sie hat uns einmal ganz deutlich gezeigt, dass sie auch ganz schön böse sein kann. Sie sieht ein bisschen gruselig aus, wenn man jetzt ins Wasser guckt. Das hat vielleicht damit zu tun, dass rechts und links noch gar nichts wieder grün ist. Und auch damit, dass das Wasser noch irgendwie trüb ist, weil da noch viel Abwasser reinkommt, glaube ich.

Anton Simons (S. 86)

Die Ahr sieht jetzt interessant aus, also nicht so schön, aber ich war ihr auch nie böse. Also, das ist ein Fluss, der fließt, wie er fließt, mal so, mal so. Ich wundere mich eigentlich eher über die Menschen, dass das so in Vergessenheit geraten ist, die Hochwasser von 1910 und 1804. Dadurch, dass die Ahr ein Gebirgsfluss ist, ist sie unberechenbar. Das habe ich erst nach dem Hochwasser so richtig in seiner Bedeutungstiefe erfahren. Im Gegensatz zu den großen Flüssen wie dem Rhein oder der Donau, die steigen langsamer und da ist das eingeübt, wie man darauf reagiert, das ist ein ganz bestimmter Rhythmus des Vorgehens, das sieht man schon in Remagen bei den Bewohnern, die bleiben ganz ruhig. Dann fahren sie ihre Autos weg und ergreifen nach und nach Maßnahmen, die sich bewährt haben.

Bei den Gebirgsflüssen ist das anders. Die werden von diesen unzähligen Bächen und Rinnsalen aus der Höhe gespeist, die dann eben einzeln nicht mehr kalkulierbar sind und zusammen schon gar nicht. Ich meine, man müsste jetzt über die Mittelahr hinaus für jeden dieser möglichen Zuflüsse irgendwie ein Rückhaltebecken oder eine Rinne oder eine Verzweigung oder so etwas schaffen.

Hildegard Ginzler (S. 104)

Ich bin hier aufgewachsen, ich kenne mich aus, und jetzt erkenne ich so vieles an der Ahr nicht mehr. Vieles sieht so anders aus. Da, wo ich aufgewachsen bin, gab es wunderschöne, sehr romantische, idyllische Auen, die gibt es einfach nicht mehr. Ja, das macht so etwas mit mir, wenn man spazieren geht, wenn man mit dem Fahrrad fährt und man erkennt teilweise die eigene Heimat nicht mehr.

Stephan Maria Glöckner (S. 118)

Ich kann verstehen, dass die Leute die Ahr momentan nicht so mögen. Aber wenn man das genau nimmt, die Ahr hat keine Schuld, an nichts. Die Ahr hat nur das Wasser, was runterkam, zum Rhein hingebracht. Wir waren so dreist, uns ihr in den Weg zu stellen. Wir haben dort Häuser gebaut, wo man keine bauen sollte. Man muss sich nur die alten Karten anschauen. Und die Ahr jetzt zu verteufeln, das verstehe ich nicht. Als Gästeführer habe ich mich mit der Geschichte der Ahr beschäftigt und man weiß, dass sie vor 2 Millionen Jahren ganz woanders floss, über Grafschaft. Erst später nach hier unten kam … Und jetzt, wenn die Ahr ihr altes Bett sucht, ihr die Schuld zu geben … Das finde ich schräg. Ich musste ein Gedicht schreiben, um der Ahr die Reputation ein bisschen zurückzuholen.

Joachim Heyna (S. 124)

Wir kannten Hochwasser. Das war für uns als Kinder immer sehr aufregend. Wir sind dann auf den Parkplatz gelaufen und haben geschaut, wie hoch das Wasser steht. Das war schon sehr aufregend. Das war 2016, da stand das Wasser bis zur Straße. Das war noch aufregender. Aber sonst haben wir eigentlich nie viel über Hochwasser geredet. Das Kuriose ist, jetzt nach der Flut ist mir aufgefallen, dass bei uns im Haus, also bei meinen Eltern, im Flur Bilder hängen, alte Bilder vom Ahrhochwasser 1800 oder 1900. Die sind mir vorher nie aufgefallen. Ganz kleine Bilder, schwarz-weiß. Und jetzt auf einmal sind sie aktuell geworden.

Andrea Babic (S. 178)

Als Kind war ich jeden Tag an der Ahr. Aber als Jugendlicher gibt es andere Dinge, die schöner sind, und als Erwachsener hat man keine Zeit mehr. Oder man nimmt sich die Zeit nicht mehr …

Lukas Sermann (S. 188)

Vor sieben Monaten, als mein Bruder im Sommer hier war, habe ich zu ihm gesagt, habe ich ihn angeguckt und hab gesagt, ja, ist schon ganz schön tot hier. Und ich meinte damit verdammt ruhig hier, und vier Wochen später fuhren nur noch Baufahrzeuge und ganz viel Verkehr durch Bodendorf und so weiter. Es hatte sich alles gedreht und alles verändert, was ich niemals für möglich gehalten hätte, in der Form.

Martin Dietrich,Bad Bodendorf

„Es ist ein neuer Raum entstanden, für die eigenen Gefühle“

Martin Dietrich

2020. Zusammen mit Martin beschließen wir, das Haus seines verstorbenen Vaters in Bad Bodendorf zu übernehmen. Mitten in der Pandemie ist es ein gutes Gefühl, von Bonn nach Bad Bodendorf zu ziehen. Wir fangen an, das Haus zu renovieren, und die Flut überrascht uns mitten in den Renovierungsarbeiten. Für Martin wird es eine zusätzliche Veränderung – sein Therapiezimmer wird auch von der Flut beschädigt, er kann da nicht mehr arbeiten. Wir führen viele tiefe Gespräche und ich merke, dass die Flut für uns beide nicht nur Schwere, sondern seltsamerweise auch Leichtigkeit gebracht hat. Das fasziniert mich, diese Vielfalt und Intensität der Gefühle, der Erlebnisse. So beginnt in mir die Idee zu reifen: einen Podcast mit Gesprächen zu machen. Wie ist es bei den anderen? Ist es auch so? Ich will weg von den Bildern und bei den Stimmen bleiben. Stimmen sind lebendig, wir sprechen und atmen und das Leben geht weiter. Ich möchte durch das 89 km lange Ahrtal fahren und mit Menschen am Fluss sprechen. Mein erster Gesprächspartner ist Martin. So beginnt der Podcast 89 Schritte.

Ganz zurück dahin, wo es mal war, wird es nicht gehen. Aber es wird viele Schritte brauchen. Wenn wir zum Beispiel jetzt hier im Hintergrund das Wasser rauschen hören. Das kenne ich seit meiner Kindheit, und das hat völlig sein Gesicht verändert. Es sieht ganz anders aus als früher, und die Brücke, die es hier gab, die 30–40 Jahre gestanden hat, da sieht man nur noch die Reste. Es sind viele kleine Schritte, natürlich an unendlich vielen Stellen. Ich bin optimistisch, dass es sehr schön werden kann, anders als vorher. Eben haben wir die Nachbarn getroffen, das gehört zu den Schritten ja auch mit dazu. Als wir hierherkamen, kannten wir kaum jemanden, und im letzten halben Jahr seit der Flut haben sich ganz, ganz viele Bekanntschaften neu entwickelt. Wir sind schrittweise aufeinander zugegangen, wir haben uns geholfen, und so entstehen eben Freundschaften, mehr Vertrautheit. Es wird alles neu gemischt. Zum Beispiel dachte ich jetzt gerade, die Nachbarn, die wir in dieser akuten Zeit kennengelernt haben, wo wir alle beschäftigt waren. Wir haben den Dreck aus den Häusern rausgeschafft, so schnell wie möglich, wir haben Container beladen in kürzester Zeit. Wir waren beschäftigt, wir waren nie in Ruhe. Und heute war eigentlich das erste Mal, dass wir mit denen in Ruhe ein paar Schritte gemeinsam spaziert sind, so zufällig. Und es gab nichts zu tun. Ich fand das jetzt richtig angenehm. Mal fünf Minuten oder zehn Minuten mit den beiden zu quatschen, so wie man das eigentlich macht, ist auch ein Stück Normalität.

Oder hier sehen wir noch eine Aufschwemmung, ein kleines Stückchen Plastik. Als wir das erste Mal hier waren, lagen hier Autos zerknautscht, Plastikfaser… Alleine, wenn wir uns hier umschauen, sehen wir schon, wieviel in diesen sechs Monaten passiert ist, was sich verändert hat, was wieder natürlicher geworden ist, und für mich ist das ja ein Zeichen oder viele Zeichen von Zuversicht. Hier, die Bogenschützen haben ihre Stände für die Zielscheiben schon wieder aufgebaut. Drumherum, um das Gelände kann man schon wieder erkennen, wie das Gras den Platz überwuchert und dass wahrscheinlich nächstes Jahr hier wieder geschossen werden kann. Das ist irgendwie schön!

Mit meinen Patienten sprechen wir über die einzelnen Schritte. Wir sind mehr im täglichen Handeln. Das Thema wird immer wieder zumindest gestreift, weil es ja auch Auswirkungen auf alles mögliche hat. Ich denke schon, es geht darum, auf der einen Seite wahrzunehmen, was passiert ist, schrittweise die damit verbundenen Gefühle an sich heranzulassen, aber auch das wieder Schritt-für-Schritt. Wenn ich jetzt von uns oder von mir selbst ausgehe, dann war das am Anfang so, dass wir alle funktioniert haben. Wir hatten kurzfristige Ziele, Keller leer zu bekommen und was weiß ich, alles Mögliche. Da war für Gefühle wenig Platz, sehr wenig Platz. Auch das verändert sich. Wenn ich jetzt zum Beispiel hier sehe, an der Brücke in Bodendorf, dieses große Mehrfamilienhaus, oder wie es hier die Böschung abgerissen hat, hier hängen immer noch die Gasleitung oder auch andere Leitungen frei in der Luft… Das ist schon mächtig. Oder der Baum, der am Ufer liegt. Das macht mich traurig. Vor drei Monaten hätte ich das nicht wahrgenommen, nicht so, wie ich es jetzt wahrnehme, weil gleichzeitig alles schon wieder so sauber ist, so aufgeräumt… Aber es ist ein neuer Raum entstanden für die eigenen Gefühle.

Ich kenne Bodendorf nicht ohne diese Tennisplätze. Die Tennisplätze waren immer da. Seit meiner Kindheit, ich bin im zweiten Schuljahr hierhergekommen, mit sieben Jahren. Da gab‘s diese Tennisplätze schon. Und jetzt ist nichts mehr vorhanden. Das ist schon krass, das ist schon richtig krass!

Die ganze Landschaft hat jetzt eine Großzügigkeit, aber auch etwas Ungeschütztes. Ich kann in die Gärten von den Häusern hineinschauen, die von dieser Stelle aus niemals einsehbar waren, weil sie von Bäumen verdeckt waren, von mehreren Baumreihen. Das hatte auch etwas Gemütliches, etwas Beschützendes.

Wenn ich jetzt nach rechts reinschaue, da ist eine Riesenebene und die Fläche hat für mich weiter eine Großzügigkeit. Es ist beides da, und es wird sich auch wieder verändern. Aber ein Stück von der Großzügigkeit wird bleiben, da bin ich mir sicher, und das tut Bodendorf und den Menschen hier auch gut, das hat etwas gefehlt. Großzügigkeit, unkonventioneller miteinander umgehen, weniger Erwartungen haben, vorbehaltslos anderen helfen, solidarisch miteinander sein, ohne zu fragen, welche Religion, welche Hautfarbe, was weiß ich, sondern einfach da nachzuschauen, wer braucht gerade Hilfe.

Das war für mich sehr beeindruckend, dass auch viele, viele Menschen von der anderen Dorfseite, die nicht betroffen waren, ohne dass sie gefragt wurden, einfach mitgeholfen haben. Wir kommen morgens an unser Haus, das war am 16. Juli, also einen Tag nach der Flut. Dann waren wir hier um halb zehn, und sehen, dass die Feuerwehr schon unseren Keller leergepumpt hatte. Wir hatten nicht damit gerechnet. Wir haben keinen Auftrag gegeben, war einfach so passiert.

Ich habe hier in der Nähe im Krankenhaus gearbeitet und wenn ich Dienst hatte, da bin ich natürlich nervös geworden, wenn ich einen Krankenwagen gehört habe, weil ich wusste, eine halbe Stunde später habe ich dann wahrscheinlich was damit zu tun. Dadurch bin ich abgehärtet oder vielleicht auch dadurch, dass ich jetzt nur therapeutisch arbeite und weiß, das betrifft mich nicht mehr unmittelbar. Deshalb machen mir diese Geräusche, wie das Martinshorn, gar nichts aus. Was sich verändert hat, das habe ich gemerkt, aber auch nicht auf bedrohliche Art und Weise, wenn ich Hubschrauber höre. Das macht mir so ein komisches Gefühl, das vorher nicht da war, so ein mulmiges Gefühl, weil hier in den ersten Wochen, viele Hubschrauber das Ahr hochgeflogen sind und speziell hier im Mündungsgebiet. Sie haben nach Menschen gesucht, nach Toten gesucht, waren ja viele Leute vermisst. Das war schon ein komisches Gefühl zu wissen, jetzt wird von oben geschaut …Wir leben in dem Gebiet halt …Wir dachten immer, wir sind sicher, wir sind weit genug weg von der Ahr, 500–600 Meter, und plötzlich war der Fluss 800 Meter breit hier in Bodendorf. Das war unvorstellbar. Das ist auch das Wort, was ich am häufigsten gehört habe, in den ersten Tagen danach. Unfassbar, das ist alles unfassbar! Was hier passiert ist, konnten wir alle nicht fassen. Das war jenseits unserer Vorstellungskraft.

Über die Brücke haben wir alle gelacht, als sie gebaut wurde. So eine breite Brücke in das kleine Bodendorf, aus Beton. Das erschien uns gegenüber dem, was da vorher stand, vielleicht 35 Jahre, als komplett überdimensioniert! Diese Brücke war zum Beispiel für Sinzig die einzige Möglichkeit nach Bonn zu kommen, die Autobahn war gesperrt. Es gab keine andere Möglichkeit in Sinzig. Die Brücke war zur Hälfte zusammengefallen, die andere Hälfte aus Sicherheitsgründen gesperrt, und der ganze Verkehr lief über diese Bodendorfer Brücke.

Eigentlich eine tolle Geschichte.

Vor sieben Monaten, als mein Bruder im Sommer hier war, habe ich zu ihm gesagt, ja, ist schon ganz schön tot hier, und ich meinte damit verdammt ruhig hier. Und vier Wochen später fuhren nur noch Baufahrzeuge und ganz viel Verkehr durch Bodendorf und so weiter. Es hatte sich alles gedreht und alles verändert, was ich niemals für möglich gehalten hätte, in der Form.

Im Februar, da gab es einen Tag in diesem Jahr, es war sehr kalt, es hatte gefroren und es war angekündigt für den nächsten Tag, dass es warm werden sollte. Ich war mit dem Fabio an der Ahr. Das Besondere war, dass Wasser an Gräsern und Bäumen heruntergetropft und gefroren war, also sehr, sehr schöne Eisgebilde, und ich habe zum Fabio gesagt, komm, wir holen jetzt die Kameras und wir fotografieren das, weil morgen das alles weggeschmolzen ist. Wir haben wunderbare Bilder gemacht, und ich habe gesagt: So etwas habe ich in meiner ganzen Kindheit hier nicht erlebt. Das war wunder, wunderschön! Und jetzt stehen wir hier an der Stelle, wo wir die besten Bilder gemacht haben, und es gibt nicht nur diese Eiskristalle nicht mehr, sondern es gibt die ganze Landschaft nicht mehr. Hier stehen noch einzelne Bäume, aber das ganze Gestrüpp, durch das wir durchmussten, die ganzen Gräser, also das, was wir damals fotografiert haben, ist nicht mehr existent. Die Ahr hat sich an dieser Stelle vom Flussbett her ungefähr aufs Doppelte verbreitet und ist viel tiefer eingeschnitten. Also das Flussbett ist tiefer geworden, die ganze Landschaft hat sich verändert, innerhalb von acht Monaten. Das ist schon sehr, sehr besonders und irgendwie auch bewegend für mich.

Ich weiß, dass viele die Ahr heute als bedrohlich empfinden. Für mich ist das nicht so.

Ich habe so viele schöne positive Kindheitserlebnisse an diesem Fluss, wir haben im Sommer so viel gespielt, so viel Spaß gehabt, dass dieses Vertrauen unerschütterlich ist. Es ist so etwas Schlimmes passiert, natürlich wird es irgendwann wieder passieren, aber ich habe keine Angst vor dem Fluss. Mein Vertrauen ist unerschütterlich.

Martin Dietrich,Bad Bodendorf

Wir haben glücklicherweise eine Zisterne im Garten. Da habe ich den Kopf drunter gehalten, habe mich notdürftig gewaschen, habe dann Hemd und Fliege angezogen und bin dann zur Hochzeit gefahren. Und ich habe gedacht, wenn ich jetzt hier so durch die Gegend fahre, dann denken die Leute: Der spinnt, wo will der denn jetzt hin?

Stephan Neuhaus-KiefelHeppingen

„Was ich sah, erinnerte mich an Gewalt, die ich selbst erfahren habe“

Stephan Neuhaus-Kiefel

Stephan Neuhaus-Kiefel ist ein Freund der Familie aus Heppingen. Er ist Trauer- und Hochzeitsredner und war zum Zeitpunkt der Flut ehrenamtlicher Priester in der Alt-Katholischen Kirche. Ich dachte: Vielleicht war Stephan von uns allen am besten auf das vorbereitet, was passiert ist, weil er sich mit dem Tod auskennt. Als wir miteinander sprachen, meinte er mit einem Kloß im Hals: „Da kann ich gleich sagen: Falsch gedacht, liebe Diana!“

Als ich an die Ahr kam, war ich 25 Jahre alt. Mein erster Schritt hier war hinaus aus dem Zug am Ahrweiler Bahnhof. In Lantershofen habe ich angefangen, Theologie zu studieren. In dieser Zeit habe ich beim Theaterspielen meine jetzige Frau Heike kennen gelernt. Wir sind zusammengeblieben, haben drei Jahre später geheiratet und sind deswegen auch hier an der Ahr geblieben. Heike ist eben ein Mädchen von der Ahr.

Wir waren in der Nacht zuhause in Heppingen, am Rand der Weinberge. Nachmittags war ich als Trauerredner bei einer Beerdigung in Refrath und meinte vor der Abfahrt zu Heike, ich sei mal gespannt, ob ich da gut hin- und zurückkommen würde.

Es hat so wahnsinnig geregnet und ich bin normalerweise überhaupt kein Angsthase beim Autofahren. Aber diesmal habe ich mir große Sorgen gemacht. Auf dem Rückweg habe ich noch eine gute Freundin in Refrath besucht und bin dann irgendwann unruhig geworden.

Für die Fahrt, die normalerweise 50 Minuten dauert, brauche ich zweieinhalb Stunden. Zuhause haben wir erst einmal gekocht. Und wie ich manchmal so bin, mit meinem ganz eigenen Humor, haben wir irgendetwas mit Fleisch gekocht, und ich meinte mit Blick auf den Regen: „Na ja, das mit dem Wetter, das ist alles das Fleisch! So nach dem Motto, das sei der Klimawandel! Da müssen wir was machen!“

Es ist für mich, ehrlich gesagt, schwierig, das alles so zu rekonstruieren, aber ich glaube, irgendwann kam eine WhatsApp-Nachricht auf das Handy von Heike, dass jemand aus unserer Familie mit seiner Freundin im Haus in Mayschoß vom Wasser eingeschlossen sei. Irgendwann ist der Kontakt dann abgebrochen.

Dann kam wieder eine Nachricht: „Wir sind gerade auf dem Weg zum Dachboden. Wir hoffen, dass es reicht.“ Und dann ist die Verbindung wieder abgebrochen. Zu diesem Zeitpunkt war ich aber schon im Bett. Heute frage ich mich, ob ich da schon etwas verdrängen wolle oder einfach nicht als so bedrohlich eingeschätzt habe.

Und plötzlich war auf der Straße dieser Tumult. Die Leute hier aus Heppingen haben damit begonnen, ihre Autos in Sicherheit zu bringen, da wir an einem Hang wohnen, wo das Wasser nicht hinkommen konnte.