Das albanische Öl oder Mord auf der Straße des Nordens - Anila Wilms - E-Book

Das albanische Öl oder Mord auf der Straße des Nordens E-Book

Anila Wilms

0,0
15,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Zwei Amerikaner werden in den frühen zwanziger Jahren auf einer Brücke in den albanischen Bergen ermordet. Drei Hirten beobachten die Tat, ein deutscher Ingenieur transportiert die Toten auf seinem Lastwagen nach Tirana. Dort bricht hektische Aktivität aus: In den Cafés diskutieren die Journalisten über das Motiv des Mords, der US-Botschafter vermutet einen Anschlag konkurrierender Geheimdienste aus England oder Italien auf amerikanische Öl-Interessen. Der Polizeichef lässt die angeblichen Täter erschießen und ihre Leichen auf dem Markt in Tirana ausstellen, und während des Trauergottesdienstes für die toten Amerikaner kommt es zum showdown zwischen dem albanischen Kriegsminister und dem Bischof.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 226

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Anila Wilms

DAS ALBANISCHE ÖL

oder

MORD AUF DER STRASSE DES NORDENS

© 2012 by : TRANSIT Buchverlag

Postfach 121111, 10605 Berlin

www.transit-verlag.de

Umschlaggestaltung, unter Verwendung

einer Abbildung des Parlamentsgebäudes

in Tirana, 1928, © Robert Elsie,

und Layout: Gudrun Fröba

ISBN 978 3 88747 287 0

INHALT

Die Straße des Nordens

Der Mord

In der Hauptstadt

Die Journalisten

Gesandter Grant

Tirana berät die Katastrophe

»Holen Sie uns das albanische Öl!«

Im Kaffeehaus wird diskutiert

Kampf um das Erdöl

Der Mord und die Weltpolitik

Julius Grant fühlt sich herausgefordert

Adnan Bey

Der Kanun wird beschworen

Ein Heldentraum

Duell in der Kirche

Das Parlament tritt zusammen

Julius Grant berichtet nach Washington

Entsetzlicher Irrtum

Des Rätsels Lösung

Ausnahmezustand

Julius Grant droht mit Demission

Die Revolte bricht aus

Kein Öl

Abschiede

Jahre danach

Glossar

1

DIE STRASSE DES NORDENS

Über das nördliche Bergland wurden schon immer sonderbare Geschichten erzählt; passend zum recht eigentümlichen und widerspenstigen Charakter seiner Bewohner, wie man im Rest Albaniens fand. So wie jener Streit, der zu Beginn des Großen Krieges, als die österreichische Armee den Norden des Landes besetzt hatte, zwischen den Österreichern und den Bergländern ausbrach. Die Ersteren wollten die alte Karawanenstraße, die durch die Berge führte, zu einer Autostraße ausbauen, während Letztere sich dagegen sträubten. Im Kanun, dem alten Gesetz der Berge, hieß es: »Die Landstraße hat ihr festes Maß: eineinhalb Fahnenstangen. Sie muss so breit sein, dass das vollbepackte Pferd oder der Ochsenkarren sie passieren können.«

Und jetzt wollte jemand die Straße drei Mal so breit bauen!

»Wozu braucht ihr fünf Fahnenstangen?«, wollten die Stammesältesten wissen, jene, die über den Heiligen Kanun wachten. Die österreichische Delegation, damit betraut, das Bergvolk in dieser Sache umzustimmen, erklärte, dass die Autostraße für die Kriegsfahrzeuge benötigt würde. »Aber wenn unser Krieg vorbei ist und wir den Feind besiegt haben, wird euch die Straße mehr von allem bringen, ein besseres Leben.«

»Wir wollen nicht mehr von allem, und auch kein besseres Leben. Wir begnügen uns mit dem, was Gott uns gegeben hat«, hatten die Greise unbeeindruckt erwidert. Der Kanun sei in diesem Punkt unmissverständlich: Die Straße hat ihr festes Maß. Kein Gefährt, das größer und schneller war als ein Ochsenkarren, sollte über die Landstraße fahren dürfen. Denn wenn man den Weg öffnete, würde die Welt das Bergland überrollen wie eine Steinlawine im Frühjahr das Tal, und da es in der Welt mehr Böses als Gutes gäbe, wäre das sein Verderben.

Und so schickten sie die Boten mit leeren Händen zurück. Aber die Österreicher, sonst bemüht, als Befreier und nicht als Besatzer aufzutreten, setzten sich diesmal darüber hinweg. Sie fragten nicht weiter, sondern machten sich einfach ans Werk. Alsbald kamen die Ingenieure mit ihren Baggern, Steinbrechern, Schrotern, Dampfwalzen und Teerfässern. Zwei Jahre lang dröhnten die Berge von den Sprengungen, die die Felsen zertrümmerten. Staub- und Dampfwolken trieben durch die Täler. Die so erweiterte Trasse wurde mit Kies und Teer bedeckt. Gegen Ende des Krieges erst war die Straße fertig gestellt und unter dem Namen »Straße des Nordens« in Betrieb genommen worden. Da brummte es in den Bergen vom schweren Kriegsgerät, das zur Front in den Süden rollte. Binnen kurzem aber änderte sich die Richtung.

Die vom Kriegsgott im Stich gelassenen Österreicher, nun von den siegreichen Franzosen und Italienern verfolgt, flohen Hals über Kopf in Richtung Norden. Auf dem Rückzug sprengten sie alle Brücken hinter sich. Und ganz zum Schluss gab es noch einen letzten Kampf und viele, viele Tote.

So war auch dieser brüllende, blutige Krieg, mit dem verdienten Namen »Der Große«, zu Ende gegangen. Die fremden Armeen zogen ab, Getümmel und Getöse legten sich, und die ewige Stille kehrte in die Berge zurück.

Aber dies sollte nicht das Ende der Geschichte sein, sondern nur der Beginn einer langen Kette dramatischer Geschehnisse, die das Land für viele Jahre erschüttern würden. Denn nach dem Krieg hatte sich die Welt von Grund auf verändert. Nicht mehr Istanbul, wie in den letzten fünfhundert Jahren, sondern Tirana, der bescheidene Marktflecken, wo man früher Honig und Ziegenkäse verkaufte, war jetzt die Hauptstadt.

Eines Tages waren die Gendarmen aus Tirana in den Bergen erschienen; sie hatten die Leute gezwungen, die beschädigten Brücken wiederaufzubauen. Noch nicht einmal die Österreicher hatten den Menschen hier Frondienste abverlangt, sondern sie mit vier Kronen am Tag entlohnt. Die neuen Behörden wollten nun eine Volkszählung, wollten die jungen Männer ohne Sold zur neuen Armee einziehen, sie erhoben hohe Steuern, sogar die säumigen aus der Kriegszeit, und sie versuchten, dem Bergland ihre Gerichtsbarkeit aufzudrängen. Sie hatten es auf den Heiligen Kanun abgesehen, sie benahmen sich genauso wie die fremden Besatzer von früher!

Von denen hatte man hier über die Jahrhunderte schon genug gesehen. Aus allen möglichen Himmelsrichtungen waren sie eingedrungen, mit allen möglichen Sprachen, Gebärden, Sitten und Gewändern. Ob sie von Ost nach West zogen, oder umgekehrt, ob sie unter dem Kreuz oder dem Halbmond kämpften oder gar mongolische Steppengötter verehrten, das Bergland hatte sich immer mit der Waffe in der Hand gegen Eindringlinge gewehrt.

Wenn sie dennoch sesshaft wurden, siedelten die Fremden immer nur in den Tälern. Das Herz des Berglandes berührten sie nie. Es gab Orte, da hatte noch nie ein fremder Soldat oder Beamter seinen Fuß hingesetzt. Und irgendwann hatten ohnehin alle wieder den Rückzug angetreten. Stets stieß das Bergland sie ab: die Osmanen, die Serben, die Österreicher. Am Ende blieben nur ihre Gräber zurück, die Gerippe ihrer Pferde, oder, wie nach dem letzten Krieg, ihre rostenden Wracks, die nun mit den Brombeersträuchern die Bergstraßen säumten.

Als die Gendarmen, Albaner wie sie, schließlich auch noch die Waffen einsammeln wollten, war das Maß voll.

Das Bergland kam in einer Großversammlung zusammen und beschloss, eine Warnung nach Tirana zu senden: Achtet unseren Kanun und unsere Freiheit, und wir bleiben Freunde. Tut ihr das nicht, sondern macht ihr weiter wie bisher, werden wir auch gegen euch Krieg führen, unerbittlich, wie einst gegen die Besatzer.

Doch Tirana blieb stur: Das neue Gesetz gelte für das ganze befreite und vereinte Land, auch und erst recht im Kanunland!

Gleich im nächsten Frühling hatte sich das Bergland in einem Aufstand erhoben. Tirana hatte die Aufständischen zu Volksfeinden erklärt und sie mit Feuer und Eisen in die Berge zurückgedrängt.

Zwei Jahre später probten die Bergstämme erneut den großen Aufstand. Diesmal schlug der Staat mit unglaublicher Härte zurück, die Aufwiegler wurden gehenkt, ihre Dörfer in Schutt und Asche gelegt.

Seitdem lag das Bergland in Blutfehde mit dem Staat. Es dachte nicht daran, seinen Widerstand aufzugeben. Wer von den Anführern nicht gefasst wurde, hatte die Flucht ergriffen und streifte seitdem als Komitadschi, als Freischärler, in den Wäldern umher. Aber mit jener Schreckensmeldung von der Straße des Nordens hatte man trotz allem nicht gerechnet, weder in den Bergen, noch sonst irgendwo in Albanien. Nie hätte man jemandem, im Norden wie im Süden, im Bergland wie im Tiefland, eine solche Tat zugetraut; keinem Rebellen, keinem Gendarmen – nicht einmal dem mordgierigsten Banditen.

2

DER MORD

Die Drojabrücke war von den Bewohnern des nahen Dorfes Mamurras in Fronarbeit ausgebessert worden. Sie hatten hastig ein paar ungehobelte Balken über die von Minen gerissenen Löcher geworfen. Die Brücke war noch immer schlecht passierbar. Wiederholt machten Meldungen die Runde, wonach das Kind oder der Esel dieser oder jener Person in den Abgrund gestürzt sei. Im Sommer, wenn das Flussbett ausgetrocknet war, konnte man sich das Genick brechen; im Herbst, während der Regenzeit, oder im Frühling, wenn der Schnee auf den Bergen schmolz, bestand die Gefahr, von den wilden Fluten fortgerissen und geradewegs in die Adria gespült zu werden.

Etwas Unheilvolles haftete der Drojabrücke an. An diesem Ort hatte es schon immer gespukt. Die Sage erzählte von furchterregenden Wassernixen und anderen Wesen des Flusses und des Waldes, die Wanderer überfielen. Außerdem irrten nachts, seitdem eine französische Kompanie dort in die Luft gejagt worden war, die Geister der Toten mit schaurig widerhallenden Schreien umher. Eingetaucht in den dichten Eschenwald um Mamurras, hinter zwei scharfen Kurven liegend, blieb die Brücke sowohl dem Auge des aus dem Norden Kommenden wie auch dem Auge des in den Norden Reisenden bis zum Schluss verborgen. Ein gefundenes Fressen für Übeltäter und Wegelagerer. Reiter und Autofahrer, Pilger und Lasttiertreiber schlugen jedes Mal das Kreuz und schickten Stoßgebete zum Himmel, bevor sie sich über die Brücke wagten.

Am 6. April 1924, einem hellen Sonntagmorgen, drang über die Drojaschlucht neben dem gewohnten Rauschen des Wassers auch das Brummen eines Automobils bis in die Höhe zu den Schafställen. Die Schäfer horchten auf. Autos auf der Straße des Nordens waren eine Seltenheit, und meistens verhießen sie nichts Gutes. Als eine heftige Schießerei durch die Schlucht hallte, erstarrten ihnen die Hände an den Hirtenstäben. Denn seit dem letzten Waffenstillstand herrschte gespannte Ruhe in den Bergen. Man richtete die niedergebrannten Dächer wieder her und leckte sich die Wunden wie der Bär in seiner Höhle.

Was war jetzt schon wieder passiert? Ein Hinterhalt auf der Brücke? Hatte man auf ein amtliches Fahrzeug geschossen? Wer war es diesmal? Waren es Räuber? Waren es Rebellen? War es vielleicht jemand, der für die tote Familie und die verkohlte Ernte Rache nahm, jemand, der außer seinem Verstand nichts mehr zu verlieren hatte? Schüsse auf der Straße des Nordens − das konnte nur das Werk des Teufels sein.

Als die Schießerei schließlich endete, rannten die Hirten den Pfad hinunter. Keuchend stoppten sie bei den Hanfbüschen, der Stelle, von der aus man das steile Flussufer und die halbzerstörte Brücke gut ausspähen konnte.

Ein Auto mit geöffneten Türen stand mitten auf der Brücke; davor ein Hindernis aus aneinandergereihten großen Steinen. Zwei Menschen saßen im Wagen; der eine hing über dem Lenkrad, der andere war auf dem hinteren Sitz zusammengesunken. Ein Dritter lag bäuchlings wenige Schritte vom Wagen entfernt. Alle drei waren blutüberströmt.

»Sie … sie haben sie durchlöchert«, stotterte einer der Hirten, der Jüngste von ihnen, und spie auf die Hanfblätter.

Die anderen zwei standen wie entgeistert da.

»Sind das Fremde?«, fragte der Jüngste und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund.

»Die Nixe soll dich zerfetzen«, fluchte der Älteste. »Was redest du da? Wir haben Frieden, der Krieg ist vorbei.«

Eine Weile verharrten sie regungslos, den Blick stur auf die Brücke geheftet.

»Sind das die Österreicher?«, fragte der Jüngste wieder.

»Unsinn, die Österreicher sind lange weg«, knurrte der Älteste. Der andere blieb stumm.

»Seine Schuhe sind gut«, bemerkte der Jüngste. »Seht mal!«

Er zeigte auf den Mann, der auf der Brücke lag.

»Ich habe keine Schuhe, ihr schon.« Sein Blick wanderte zwischen seinen Opanken und den Schuhen des Mannes auf der Brücke hin und her. »Soll ich mir die holen? Er wird sie nicht mehr brauchen.«

»Halt das Maul«, fauchte ihn der Älteste an.

Von fern war ein vertrautes Motorengeräusch zu vernehmen. Es war das Auto der Deutschen, die oben im Wald ein Sägewerk betrieben. Wahrscheinlich hatten auch sie die Schießerei gehört und kamen, um nachzusehen, was los war.

»Lasst uns abhauen«, sagte der Älteste und richtete sich auf. »Wir gehören zu unseren Schafen. Bloß weg von hier!«

Die beiden Ältesten machten sich auf den Weg. Der Jüngste aber blieb wie angewurzelt stehen, die heiß begehrten Schuhe nicht aus den Augen lassend. Es blieben noch ein paar Minuten, bis das Auto der Deutschen um die Kurve biegen würde. Sollte er vielleicht doch … ganz schnell … oder lieber nicht…

3

IN DER HAUPTSTADT

Es war gegen drei Uhr nachmittags, als der Kleinlaster der deutschen Firma in der Hauptstadt Tirana eintraf. Alle hier kannten ihn, aber heute raste er und hupte sich den Weg durch die Gassen. Von seiner Ladefläche tröpfelte eine rote Flüssigkeit, die man mit Blut verwechseln könnte. Ganz Tirana, vom Tor des Schwarzen Raben bis zum Alten Basar, lief neugierig auf die Straße: die vom Mehlstaub weißen Brot- und Baklavabäcker, die Schmiede mit ihren ledernen Schürzen, die Schuster, ihre Hämmer in den Händen, die Bettenmacher mit Federn und Baumwollflocken in den Haaren, die Töpfermeister mit von Lehm triefenden Fingern, die Uhrmacher, noch immer die Lupe im Auge.

Der Lastwagen hielt auf dem kleinen Platz vor dem Stadtkrankenhaus, und bald sahen sich die Menschen in ihrem Verdacht bestätigt: Es handelte sich also doch um Blut! Die Pfleger kamen mit den Bahren angerannt. Zwei leblose Körper wurden von der Ladefläche herunter gehoben. Es waren die beiden Fremden, die man am Tag zuvor im Basar gesehen hatte. Ein Dritter, den die Pfleger behutsam auf die Bahre legten, schien noch zu leben. Es war, wie sich beim näheren Hinschauen herausstellte, Dod Kakarriqi, der einheimische Fahrer, mit dem die zwei Fremden an eben diesem Morgen in Richtung Norden aufgebrochen waren. Auf der Drojabrücke, beim Dorf Mamurras, sollen sie überfallen worden sein, und dort hatte sie der deutsche Forstingenieur gefunden, auf seinen Laster geladen und hierher gefahren.

Die Frage, wo die Fremden tags zuvor abgestiegen waren, beantwortete ein Laufbursche vom Hotel International, dort hätten die beiden übernachtet. Sogleich wurde der junge Mann mit Fragen überschüttet: Wer waren sie? Woher kamen sie? Aber das wusste auch er nicht.

Es war der Eigentümer des renommierten Hotels selbst, der nun zum Krankenhaus eilte und laut verkündete, die zwei Ermordeten wären Amerikaner.

Diese Kunde versetzte die Menschenmenge in unbeschreibliche Aufregung. Tirana war von einer zur anderen Minute nicht mehr wieder zu erkennen. Die sonst so ruhigen und arbeitsamen Menschen verließen ihre Werkstätten und bevölkerten am helllichten Tag die ungewöhnlichsten Orte; sie waren vor dem Leichenschauhaus, vor dem Hotel International und dem Continental, vor dem Außenministerium, vor dem Bami Friedhof, am Botanischen Garten, in den Kirchen und Moscheen zu finden. Betend und murmelnd brachten sie Gaben und entzündeten Kerzen.

Die größte Verwirrung und Ratlosigkeit herrschte im Regierungsviertel. Beamte und Soldaten rannten zwischen Büro- oder Kasernengebäuden hin und her, in wildem Durcheinander, angetrieben von widersprüchlichen Befehlen und dem Geschrei ihrer Vorgesetzten. Hohe Funktionäre eilten zur amerikanischen Gesandtschaft. Mühsam bahnten sich die Gespanne der Staatskarossen den Weg durch die Menge, die sich vor dem Gesandtschaftsgebäude eingefunden hatte.

Ein Anschlag auf zwei Amerikaner – alle wussten, was das bedeutete. Den Menschen war der Schreck in die Glieder gefahren, sie drängten sich aneinander wie Schafe im Unwetter. Und wieder einmal kam das Unheil aus den Bergen. Nur, dieses Mal war es noch schwerer zu begreifen.

Die Heldengeschichten und der Kanun, das uralte Gesetz der Berge waren so legendär, dass man selbst in Tirana für ihren Widerstand ein gewisses Verständnis aufbrachte. Aber das, was an diesem Tag passiert war, stand im krassen Gegensatz zum Geist des Kanun. Es galt in Albanien als das schwerste aller Verbrechen und die größte aller Schändlichkeiten, einem Fremden die Gastfreundschaft zu versagen. Und für die Menschen in den Bergen galt nicht nur, dass der Gast unantastbar ist – ihnen war der Gast heilig. Der Kanun besagte: »Das Haus gehört Gott und dem Gast.« Hatte der Hass auf Tirana das Bergvolk so blind gemacht, dass es seine heiligsten Gesetze brach?

Misstrauisch beobachteten die alteingesessenen Stadtbewohner diejenigen, die in den letzten Jahren aus den Bergen nach Tirana gezogen waren. Es gab nicht viele von ihnen – sie verdingten sich meist als Wachen oder Leibwächter. Selbst wenn sie nicht ihre auffälligen Trachten, sondern normale Stadtkleidung trugen, erkannte man sie auf Anhieb an ihren langen, sehnigen Beinen, den hellrötlichen Haaren und dem furchtlosen, leeren Blick. Ihr Gang war aufrecht und stolz.

Da sie überwiegend Katholiken waren, fanden sie sich an diesem Tag in der Franziskaner-Kirche ein, wo Pater Serafin mit von Sorgen zerfurchter Stirn jeden Einzelnen persönlich begrüßte. Manche gingen auf wackligen Knien, als würden sie gleich stolpern, andere seitlich geknickt, wie Bäume, die von der Axt getroffen waren, andere gekrümmt und mit verzerrten Gesichtern, als hätten sie schlimme Bauchschmerzen.

Konnten diese Leute Verräter sein?

In der Zwischenzeit hatten mehrere Fahrzeuge mit Soldaten und Gendarmen in größter Hast die Kasernen verlassen. Mancher Bergbewohner stand am Straßenrand und sah der Autokolonne, die in Richtung Norden zog, tief besorgt nach.

4

DIE JOURNALISTEN

Mit der Unruhe und Ratlosigkeit der Menge wuchs auch die Nervosität der Journalisten, die nach Material für ihre Artikel in den morgigen Zeitungen suchten. So sehr sie auch gehofft hatten, auf fette Beute zu stoßen, ganze Seiten mit schaurigen Enthüllungen und verblüffenden Details füllen zu können, so enttäuscht waren sie schließlich von der Aussicht, sich mit ein paar mageren Zeilen begnügen zu müssen.

Ins Leichenschauhaus, das von Gendarmen bewacht wurde, ließ man sie gar nicht erst vor, noch nicht einmal den Redakteur der Kreshnik, der Neffe eines Vizeministers war und behauptete, mit dem Totengräber verwandt zu sein. Aber immerhin verdankten sie ihm den Zutritt zum schwer verwundeten Fahrer des Unglücksautos. Da durften sie nun mit eigenen Augen sehen, was sich bereits in der Stadt herumgesprochen hatte: Dod Kakarriqi lag im Koma. Es war ein wunderliches Koma, er lag da mit offenem Mund und starrte an die Decke. Der Arzt erklärte, er könne vielleicht sehen und hören, aber nicht sprechen, der Unglückselige warte nur noch auf den Tod, und die Wahrheit würde, wohl für immer, in seinem zertrümmerten Schädel bleiben. Deprimiert und entmutigt verließen die Journalisten das Krankenhaus und machten sich auf ins Café Bristol, im Stadtteil Abdullah Bey.

Hier sollte, so das Gerücht, der Krämer Cen Kaceli zu finden sein, der Besitzer jenes Automobils, das die Amerikaner am Morgen gemietet hatten.

Das Kaffeehaus lag ebenerdig, ein einziger total verqualmter Raum mit kleinen runden Tischen und Hockern und blinden, schmutzigen Fensterscheiben. Es war das älteste und bekannteste Café Tiranas – das Bristol hatte es gegeben, schon lange bevor die schicken und modernen Cafés in der Stadt Einzug gehalten hatten. Allein der Name Bristol war neu, schließlich musste man mit den Konkurrenten International und Continental Schritt halten.

Die Journalisten hofften, dass Cen, obwohl als maulfaul bekannt, mit den Amerikanern gesprochen hatte, wenigstens ein paar Sätze hinsichtlich der Route und der Bezahlung, und dass er vielleicht sagen konnte, was das für Leute waren und was sie auf der Straße des Nordens zu suchen hatten. Doch Cen antwortete nicht. Er schien sie gar nicht zu hören. Seine Kumpel, ebenfalls Stammgäste des Cafés Bristol, mischten sich ein: Vor einem Jahr habe er den geerbten Weinberg verkauft und sich den Fiat angeschafft, weil er sich davon besseres Geld erhoffte. Jetzt war das Auto Schrott, der Weinberg verloren, und seine Kinder würden verhungern müssen.

Bevor die Reporter sich enttäuscht erneut auf den Weg machten, mussten sie auch noch den Spott von Keno Efendi, der in ganz Tirana für seine sarkastischen Kommentare bekannt war, über sich ergehen lassen: »Wie soll euch Nimmersatte dieses kleine Nest von zwanzigtausend Seelen denn auch durchfüttern?«

Nun wurde das Hotel International, wo die beiden Unglücklichen Amerikaner die Nacht verbracht hatten, aufgesucht. Von den Hotelangestellten konnte in Erfahrung gebracht werden, dass die jungen Gäste, kaum angekommen, wieder in die Stadt aufgebrochen seien und erst spät zum Abendessen mit dem Sekretär der amerikanischen Gesandtschaft ins hoteleigene Restaurant zurückgekehrt wären. Fröhliche, freundliche Burschen seien es gewesen, die zudem großzügiges Trinkgeld gegeben hätten. Mehr wussten sie nicht. Mehr wüsste aber bestimmt besagter Diplomat. Und dann gebe es noch diesen jungen Albaner, der als Einziger in ganz Tirana wirklich über alles Bescheid wissen müsste, da er die beiden Amerikaner stets begleitet hatte. Nur habe er sich leider in seinem Hotelzimmer eingeschlossen. Sein Name sei Nini Komneni, er stammte aus Korça und war später in die Vereinigten Staaten emigriert. Zusammen mit den zwei Amerikanern sei er in Durrës vom Schiff gestiegen. Die Drei wären dann den ganzen Samstagnachmittag unzertrennlich gewesen, bis die zwei Amerikaner am nächsten Morgen Richtung Norden abgereist seien.

So heftig nun die Reporter auch gegen die Zimmertür hämmerten, laut riefen, das Fenster mit Steinchen bewarfen, innen regte sich nichts, der junge Mann gab kein Lebenszeichen von sich. Als sie schließlich eine Leiter holten, um einen Blick durch die Scheiben in das Zimmer im ersten Stock werfen zu können, stürmte der Hotelbesitzer mit der Schrotflinte herbei und verjagte sie, laut schimpfend und fluchend. Noch lange, nachdem sie das Weite gesucht hatten, fuchtelte der Mann mit der Waffe herum und wetterte gegen diese Schnüffler und Plagegeister. Schließlich brach er jammernd zusammen, weil der Ruf seines Hotels in Amerika nun endgültig ruiniert sei.

Dann machte sich die Meute zum Taxifahrer auf, der die drei Männer vom Hafen in Durrës nach Tirana kutschiert hatte. Obwohl eine echte Plaudertasche, wusste er leider Gottes nichts zu berichten, weil er dummerweise kein Englisch konnte, nur ein paar Brocken Serbisch, die er von einem bosnischen Bauern erlernt hatte, als er mit dem zusammen einst im Hafen von Ragusa als Lastenträger arbeitete.

Schließlich entdeckten sie im Café des International den deutschen Ingenieur, der die Toten nach Tirana gebracht hatte. Er saß stumm vor mehreren leeren Gläsern. Die Reporter umringten ihn, doch der Deutsche hatte leider so viel Bier in sich hineingeschüttet, dass er nur noch mit gelalltem Singsang antwortete. Als man Herrn Maluka, einen in Wien diplomierten Anwalt, der zufällig seinen Kaffee am Nachbartisch trank, bat zu übersetzen, errötete der Anwalt und erklärte verlegen, dass es sich um einen unanständigen Text über liederliche Weiber handele, der aber auch rein gar nichts mit dem Mord auf der Straße des Nordens zu tun habe.

In diesem Augenblick entfuhr dem Deutschen ein kehliger Schrei, und er begann abermals zu singen. Diesmal wiederholte Herr Maluka seine Worte aufs Genaueste, schrieb sie sogar auf einen Zettel:

Krieg! Krieg!

Großer Sieg!

Sieg in Albanien und Sieg in Flandern!

Und es starben die andern, die andern, die andern…

Auch diesmal, erklärte der Anwalt, ginge es zwar ums Sterben, aber nicht um den Mord auf der Straße des Nordens.

Etwas Glück hatten die Reporter dann aber doch noch: Freiwillig rückte der Hotelpförtner mit dem Gästebuch heraus, in das die beiden Unglücklichen ihre Namen und Adressen eingetragen hatten.

Das Wenige, was sie herausgefunden hatten, konnte man am folgenden Tag, einem Montag, in allen Zeitungen lesen, es waren überall die gleichen, dürftigen Zeilen. In der Hauptstadt Heute zum Beispiel stand: »Gestern, am Sonntag, den 6. April 1924, um zehn Uhr dreißig fränkische Zeit, auf der Straße des Nordens, drei Stunden von Tirana entfernt, auf der Drojabrücke in der Nähe des Dorfes Mamurras, sind zwei Amerikaner namens Dan E. Marvin und Gregory C. De-Burgh ermordet worden. Ein deutscher Ingenieur, Dr. Weinkeller von der Holzverwertungsgesellschaft INAG mbH, fand die Toten und beförderte sie nach Tirana. Zur Stunde befinden sich deren Leichname im Leichenschauhaus. Die Opfer waren vorgestern, am Samstag, am Hafen von Durrës mit dem Dampfer der Linie Korfu-Venedig in Begleitung unseres Landsmanns Nini Komneni eingetroffen. Gestern, am Sonntag, sind sie frühmorgens mit dem Automobil des Krämers Cen Kaceli über die Straße des Nordens gefahren. In Mamurras, auf der Drojabrücke, sind sie in einen Hinterhalt geraten und erschossen worden. Ihr Fahrer Dod Kakarriqi liegt schwer verwundet und nicht vernehmungsfähig im städtischen Krankenhaus. Ein großes Aufgebot von Soldaten und Gendarmen ist in Mamurras unterwegs, ferner der Staatsanwalt, der Chefermittler, der Unterpräfekt von Tirana, die Kreis- und Bezirkskommandanten der Gendarmerie von Tirana und der Präfekt von Durrës. Das Alter der beiden Unglücksseligen wird auf etwa fünfundzwanzig Jahre geschätzt. Das Volk Tiranas und ganz Albaniens ist von tiefer Trauer erfüllt.«

5

GESANDTER GRANT

Julius G. Grant, seit dem Frühjahr 1923 Gesandter der Vereinigten Staaten von Amerika in Tirana, verschloss die Tür hinter den letzten Besuchern. Wo habe ich meine Havannas gelassen?, schoss es ihm durch den Kopf. Er dachte eine Weile nach. Hatte er sie weggegeben? Er ging zu den Wirtschaftsräumen neben der Küche. Dort stand das Regal, wo die offiziellen Geschenke aufbewahrt wurden. Und dort warteten auch die Tabakwaren nur darauf, weiter verschenkt zu werden, denn er selbst war eigentlich kein Raucher, und in seinem Salon wurde auch nicht geraucht. Doch heute war das anders.

Da war sie, die Schachtel mit den kubanischen Zigarren Romeo y Julieta, »with compliments« vom Kollegen Fletcher aus Rom. Er nahm eine, kappte die Spitze mit einem großen Küchenmesser und entzündete sie mit ungeübten Fingern. Mit der Zigarre in der Hand kehrte er in den leeren Salon zurück. Die Kondolenzgäste waren gegangen, aber so wie die Spuren ihrer Schuhe auf den Bodenfliesen zurückgeblieben waren, hallte das Echo ihrer Stimmen in seinem Kopf wider. Grant sog kräftig an der Zigarre und schüttelte sich vor Husten. Vielleicht sollte er mit dem Bericht anfangen. Der weiße Bogen würde ihn dazu zwingen, klare Gedanken zu fassen.

Er verließ den Salon und nahm die Treppe zu seinem Büro im oberen Stockwerk. Dort, auf dem Tisch lag noch das Papier, an dem er am Nachmittag gearbeitet hatte, als sein Sekretär Tyler in den Raum geplatzt war: »DeBurgh und Marvin sind umgebracht worden!«

»Umgebracht? Wer wurde umgebracht?«

Völlig außer sich hatte Tyler die Namen wiederholt. Doch Grant kannte diese Personen nicht.

»Weshalb diese Aufregung, Tyler?« Stotternd erzählte Tyler, dass er die beiden am Vorabend im International getroffen hatte. »DeBurgh ist der Sohn eines kalifornischen Senators.«

»Wann wurden sie getötet? Heute morgen? Auf der Straße des Nordens? Wer hat das getan?«

»Keine Ahnung, Räuber vielleicht, man weiss es noch nicht.«

Grant schob den unfertigen Bericht zur Seite. Er musste sich jetzt auf die aktuellen Ereignisse konzentrieren. Er nahm ein neues Blatt Papier. Doch durch seinen Kopf tobten Eindrücke und Gesichter wie ein Orkan. Es war noch zu früh, einen klaren Gedanken zu fassen.

Nur kurz, nachdem bekannt geworden war, dass zwei Amerikaner ermordet worden waren, hatte der Besucherstrom eingesetzt. Einer nach dem anderen waren die albanischen Freunde und diplomatischen Kollegen herbeigeeilt und hatten mit sorgenvollen Mienen etwas von »nationaler Katastrophe« und »Attacke auf die westliche Zivilisation« gemurmelt. Beinahe hätte er gefragt: Leute, übertreibt ihr da nicht etwas?

Aber dann hatte er einen Blick aus den Fenstern des oberen Stockwerks geworfen und die Menge gesehen, wie sie zusammenkam, zu Hunderten, zu Tausenden. Und erst in diesem Moment wurde ihm die Bedeutung des Geschehens bewusst: Albaner hatten zwei Amerikaner ermordet.

Albanien hatte ihn zu Beginn seiner Dienstzeit mit größten Ehren empfangen und war ihm mit höchstem Respekt begegnet. Nicht einmal in seinem Elternhaus hatte er sich behüteter und geschützter gefühlt als hier in Tirana. Selbst inmitten der politischen Unruhen und während der ständigen Gefahr von Rebellion war er jeden Morgen auf den Hügeln rund um die Stadt unterwegs gewesen, war ausgeritten und jagen gegangen. Ohne auch nur einen Anflug von Furcht.

Und heute…?

Sollte das alles ein falsches Sicherheitsgefühl gewesen sein? Und die Geschichten von der albanischen Gastfreundschaft, die man ihm erzählte, gleich am Tag seiner Ankunft in Tirana vor einem Jahr, sollte das alles eine Legende gewesen sein?

Grant rieb sich die vom Zigarrenrauch gereizten Augen. Und alle diese Menschen vor seinem Haus. Als er sie gesehen hatte, wie sie stumm und verstört da standen, wollte er sie am liebsten fragen: Was macht ihr hier? Was wollt ihr von mir?

Er nahm einen tiefen Zug aus der Zigarre. Ihm wurde schwindlig. Er hielt die Zigarre noch eine Weile zwischen den Fingern. Dann, mit einer ruckartigen Bewegung, warf er sie in eine Vase neben der Tür und verließ sein Arbeitszimmer. Er begann, den Flur auf und ab zu schreiten. Es war ihm unmöglich zu schlafen, und er war sicher, dass er die ganze Nacht so verbringen würde.

6

TIRANA BERÄT DIE KATASTROPHE

Bereits für den nächsten Tag, Montag, den 7. April 1924 um 10 Uhr, wurde eine außerordentliche Versammlung der Volksvertreter einberufen. Seit den frühen Stunden schon strömte das Volk Tiranas vor dem Parlament zusammen.