DAS ALBTRAUMSYSTEM - Adrian Urban - E-Book

DAS ALBTRAUMSYSTEM E-Book

Adrian Urban

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Beschreibung

Ram Collins erwacht auf einer einsamen Insel. Er kann sich nicht erinnern, wie er dorthin gekommen ist. Kurz darauf stellt er fest, dass die Welt um ihn herum aus seinen Träumen und Albträumen entsteht. Plötzlich taucht der geheimnisvolle Mio auf, der ihm aus der Zeitschleife heraushilft, und Ram macht sich auf die Suche nach seinen Freunden. Nachdem Ram Mirco und Violet befreit hat, erfahren die drei Freunde, dass Mio sie für seinen Kampf gegen eine künstliche Intelligenz gewinnen will, die die Menschheit bedroht. Als virtuelle Figuren sollen sie das entgleiste KI-System von innen bekämpfen, zusammen mit einem Außenteam aus der realen Welt. Doch die KI entwickelt sich zur Superintelligenz, und sie kennt keine Skrupel.

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Seitenzahl: 525

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Adrian Urban

Das Albtraumsystem

Ram Collins 2

AndroSF 203

Adrian Urban

DAS ALBTRAUMSYSTEM

Ram Collins 2

AndroSF 203

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.

© dieser Ausgabe: Februar 2025

p.machinery Michael Haitel

Titelbild: Hans Rodrian

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda

Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel

Herstellung: global:epropaganda

Verlag: p.machinery Michael Haitel

Norderweg 31, 25887 Winnert

www.pmachinery.de

für den Science Fiction Club Deutschland e. V., www.sfcd.eu

ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 437 3

ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 706 0

Was bisher geschah

Ramses »Ram« Collins ist ein dreißigjähriger Ire, der seit Langem in Berlin wohnt. Als Ram 2033 einen originalverpackten Cube – ein würfelförmiges Speichermodul – im Müll findet, stellt das sein gewohntes Leben auf den Kopf. Denn das Cube-Programm, einmal auf seinen implantierten Minicomputer geladen, ermöglicht es ihm, die Gedanken der Menschen in seiner Nähe zu hören.

Nach dem Sieg bei einem Pokerturnier, bei dem ihm seine neue Kraft zugutekommt, lernt Ram eine Gangsterbande kennen, die ihn als Strohmann für illegale Pokerspiele einsetzt und dafür großzügig belohnt. Doch sein Luxusleben endet jäh, als ihm der Gangsterboss befiehlt, als Spitzel zu arbeiten, um einen Feind in den eigenen Reihen der Lüge zu überführen. Ram weiß, dass er den Mann einem schrecklichen Schicksal ausliefert, und ihm ist klar, dass er so nicht weitermachen kann.

Bedauerlicherweise lässt sich die Gedankenlese-App nicht deinstallieren. Ram findet heraus, dass der Cube in der englischen Stadt Bristol produziert wurde, von einem Unternehmen namens Progressive Cybernetics (PC). Weitere Informationen erhält er nicht.

Er beschließt, die Firma zu suchen, in der Hoffnung, sie könne seine telepathischen Fähigkeiten löschen. Mit Mirco, einem IT-Nerd, der ihm bereits mehrmals geholfen hat, reist Ram nach Bristol. Während sie recherchieren, werden sie gute Freunde.

Doch was sie in Bristol erleben, stellt ihr gewohntes Realitätsempfinden zunehmend auf die Probe.

Bei einem Ausflug rettet Ram Violet, einer jungen Engländerin, die sich umbringen will, das Leben. Nachdem sich Violet erholt hat, suchen sie zu dritt nach der IT-Firma, während sie gleichzeitig von der Gangsterbande und von einer Antiterroreinheit gejagt werden. Als sie schließlich die Zentrale der IT-Firma entdecken und deren Geheimnisse ergründen, finden sie heraus, dass sie in einer Computersimulation leben.

Mithilfe eines Rechneralgorithmus entwickeln die drei Freunde Superkräfte. Plötzlich können sie Objekte mit Gedankenkraft manipulieren, einschließlich des menschlichen Willens. Zuletzt überwinden sie die Wirklichkeit und gelangen in eine Welt, die Progressive Cybernetics »Universum/Multiversum« genannt hat.

Schließlich finden sie heraus, dass ihre Realität mithilfe von Quantencomputern entstanden ist, die zahlreiche virtuelle Universen erschaffen haben.

Die Forscher von PC hoffen, in einer ihrer neuen Welten könnte ein wirksames Mittel gegen das »2100-Problem« entwickelt werden. Dieser Begriff steht für die Prognosen zahlreicher Computersimulationen, die ergeben haben, dass die menschliche Zivilisation um das Jahr 2100 herum dem Untergang geweiht ist. Mit unterschiedlichen Ursachen aber stets demselben Ergebnis: eine weltweite Apokalypse.

Irgendwann wird klar, dass das künstliche Universum, in dem die drei Freunde ihr Leben verbracht haben, entgleist ist, ohne seinen Zweck zu erfüllen. Der Fehler hätte eigentlich die sofortige Abschaltung des Programms zur Folge gehabt, wenn der leitende Wissenschaftler nicht von einer Kollegin überzeugt worden wäre, dieser Simulation eine letzte Gnadenfrist zu gewähren.

Offenbar existiert eine unbekannte Macht, die Ram, Violet und Mirco immer wieder aus Krisensituationen heraushilft.

Wer oder was das sein könnte, bleibt vorerst ein Rätsel.

Allein

Als Ram erwachte, war er so verwirrt, dass er weder hören noch sehen konnte und nicht einmal wusste, wie er hieß.

Doch dieser Nebel in seinem Gehirn verzog sich nach und nach.

In Rams Umgebung war es dunkel, feucht und ziemlich warm.

Wo, zur Hölle, bin ich?

Und eine weitere, mindestens ebenso drängende Frage schloss sich an.

Wie bin ich hierhergekommen?

Allmählich gewöhnten sich seine Augen an die schummrigen Lichtverhältnisse.

Er stellte fest, dass er in nassem Sand lag. Im Inneren einer Höhle.

Ram wälzte sich auf die rechte Seite. Aufzustehen und herumzulaufen schien ihm im Moment nicht ratsam zu sein, denn es bestand die Gefahr, dass er dem nicht gewachsen war.

Er blickte auf spitze Felsbrocken. In einer Richtung schien ein schlauchartiger Weg ins Freie zu führen.

Das hoffte Ram zumindest, denn dieser Teil der Höhle, vielleicht zehn Meter entfernt, wirkte ein bisschen heller als der Rest.

Die Felsen über ihm ließen vielleicht zwei Meter Platz nach oben.

Falls er sich irgendwann stark genug fühlte, seinen Körper in die Vertikale zu befördern, würde er sich trotz seiner Größe von gut einem Meter neunzig nicht einmal bücken müssen.

Doch noch war es nicht so weit. Ram beschloss, vorerst liegen zu bleiben und die Wartezeit zu nutzen, um sein Gedächtnis zu durchforsten. Nach Anhaltspunkten zu suchen, die ihm bei der Klärung der Frage helfen konnten, was ihn an diesen Ort gebracht hatte.

Was ist das letzte Erlebnis, an das ich mich erinnere?

Die Antwort war innere Schwärze.

Okay, das ist vielleicht im Moment etwas zu schwierig.

Nächster Versuch: Woran erinnere ich mich überhaupt?

Ich bin Ram Collins aus Dublin. Wohne aber seit vielen Jahren in Berlin, und zu meinem großen Bedauern denke und träume ich inzwischen meistens auf Deutsch. Mein Vater ist ein versoffener Schläger, dem sich meine Mutter immer untergeordnet hat. Bis zur Scheidung.

Was weiß ich noch? Es ist gerade Anfang Mai 2033. Am 17. November werde ich 31. Wenn ich zu viel Beamish Stout getrunken habe, macht mich das sentimental, und dann höre ich schrecklich kitschige Rocksongs aus dem späten 20. Jahrhundert. Ein Großteil von dem, was ich esse, hat sich irgendwann bewegt. Ich arbeite in einem widerlichen Pornoladen als Hardcore-Avatar, und die meisten Menschen gehen mir, wenn ich ehrlich bin, ziemlich am Arsch vorbei. Das, was mir mein AR-System und der Cyberport über die Welt erzählt, reicht mir vollkommen, also muss ich nicht mehr mit anderen Leuten kommunizieren als unbedingt nötig …

Stimmt, ich hab ein Cyberportimplantat im Hals! Und AR-Kontaktlinsen in den Augen. Das System findet gewiss ganz schnell heraus, wo ich mich befinde – vielleicht bekomme ich sogar ein paar Informationen über das, was passiert ist, bevor ich in dieser Höhle gelandet bin.

Das Augmented-Reality-System war anscheinend inaktiv. Andernfalls hätte Ram ein kleines eingeblendetes Stand-by-Kontrolllämpchen am unteren Rand seines Blickfelds gesehen.

Doch er musste ja nur den implantierten Minicomputer über die Sprachsteuerung aktivieren, indem er seinen persönlichen Zugangscode eingab.

Der Zugangscode … Was, zum Teufel, ist der verdammte Zugangscode?

Ram hatte nicht die allergeringste Erinnerung daran, was er sagen musste, um das AR-System in einen funktionsfähigen Zustand zu versetzen, und je vehementer er in seinem Gedächtnis herumwühlte, umso hartnäckiger entzog sich die Zahlen-Buchstaben-Kombination allen Bemühungen.

Schließlich musste er aufgeben. Eine Niederlage, die ihn wirklich ärgerte.

Nichts mehr da. Verfluchte Scheiße.

Moment mal. Ich weiß immerhin, dass heute ein Tag im Mai 2033 ist. Kurz nach Anfang des Monats. Was hab ich in dieser Zeit erlebt?

Plötzlich tauchte eine Bildfolge vor Rams innerem Auge auf.

Er sah sich selbst dabei zu, wie er in seinem Moabiter Wohnzimmer saß und ein Cube-Modul auf den Tisch legte.

Den Speicherwürfel hatte er zuvor originalverpackt in einem Mülleimer gefunden, auf dem Heimweg von seinem ungeliebten Job bei FeelReal Erotix.

Im gesamten Netz gab es keinerlei Informationen über die Herstellerfirma. Das machte Ram noch neugieriger auf das installierte Programm, den Brain Reader.

Er wusste noch, dass er diese App auf den Cyberport übertragen wollte. Dann rissen seine Erinnerungen ab.

Es fühlte sich nicht so an, als sei er in diesem Augenblick von seiner Ledercouch in Berlin in eine sandige Felshöhle teleportiert worden. Ram hatte eher einen Filmriss, eine Amnesie, die alles umfasste, was danach geschehen war – mochten das nun Tage, Wochen oder Monate gewesen sein.

Ein totaler Blackout. Nichts zu machen. Zum Verrücktwerden. Bestimmt erklärt sich mein Aufenthaltsort durch das, was nach der Cube-Geschichte passiert ist … aber ich komme einfach nicht darauf. Nur eine große Leere.

Ram bemerkte, dass er ungewöhnlich stark schwitzte, und fragte sich, warum.

Er setzte sich aufrecht hin und umfasste die Oberschenkel mit den Händen. Dabei richtete er den Blick zum ersten Mal bewusst auf seinen Körper.

Die Kleidung, die er anhatte, überraschte ihn: Über dem Shirt trug er einen Sweater und eine Outdoorjacke. Seine Jeans steckte in Schnürstiefeln.

Das deckte sich kein bisschen mit seinen Erinnerungen an den Tag, an dem er den Cube im Abfall gefunden hatte. Ein strahlend sonniger Spätfrühlingsnachmittag, an dem es warm genug war, um mit T-Shirt und Sneakers herumzulaufen.

Und die Klamotten passten auch nicht zum feuchtheißen Binnenklima der Höhle, in der er gerade hockte.

Ram zog die Jacke aus und entledigte sich seines Sweaters. Selbst für das T-Shirt war es hier eigentlich zu warm. Aber er wollte sich nicht schutzlos fühlen, also behielt er Shirt, Jeans und Stiefel an.

Dann durchsuchte Ram die Taschen seiner Klamotten, um irgendetwas zu finden, das ihm helfen konnte, sich zu erinnern.

Doch er stellte fest, dass sich sein aktueller Besitz auf eine Packung Taschentücher beschränkte.

Ram fluchte. Die Höhlenwände verfeinerten die traditionellen Kraftausdrücke seiner irischen Heimat mit interessanten Halleffekten.

Als er sich beruhigt hatte, beschloss er, die Felshöhle zu verlassen. Ohnehin stieß ihr Unterhaltungswert – Felsen, nasser Sand, Schallverfremdung – an natürliche Grenzen.

Beim Aufrichten musste Ram sich kurz an der Steinwand abstützen, weil ihm schwindelig war, doch das Gefühl verschwand bald wieder.

Im nächsten Moment hatte er den Ausgang erreicht.

Der Anblick, der sich ihm bot, war erstaunlich.

Ein schier endloser Sandstrand. Meereswellen, die an der Küste brachen und Ram in unregelmäßigen Abständen mit salziger Gischt besprühten, sobald der tropisch warme Wind ein paar Tropfen in seine Richtung wehte.

Außer einem beruhigenden vielstimmigen Rauschen war nichts zu hören. Die fast unwirklich schöne Landschaft wurde von einem riesigen Vollmond erhellt, der dicht über dem Meereshorizont stand.

Dazu mehr Sterne, als Ram jemals am Himmel gesehen hatte. Und fremdere.

Das verschwommene Band der Milchstraße war ihm vertraut, doch die Konstellation der unzähligen Himmelskörper am Firmament keineswegs.

Vielleicht werden die lausigen drei oder vier Sternzeichen, die ich kenne, in dieser unglaublich klaren Nacht vom ganzen Rest überstrahlt, dachte er.

Oder ich bin irgendwie südlich des Äquators gelandet. Falls mich nicht irgendein Scotty auf einen fremden Planeten gebeamt hat … Aber das ist ziemlich unwahrscheinlich, weil dieser Planet dann einen Mond haben müsste, der unserem zum Verwechseln ähnlich sieht.

Ram drehte sich um.

Nur die nähere Umgebung der Höhle, die er verlassen hatte, bestand aus Felsgestein, das sich bis zu einer Höhe von vier oder fünf Metern auftürmte. Links und rechts vom Eingang wuchsen Baumfarne, Palmen und andere Gewächse, wie sie in den Gewächshäusern des Botanischen Gartens in Berlin standen, aus dem Boden.

Befand er sich auf einer Insel? Oder auf dem Festland, vielleicht irgendwo in den Tropen auf der Südhalbkugel? Er wusste es nicht.

Jetzt hörte Ram auch ein paar Geräusche, die vom Meeresrauschen überlagert worden waren. Insekten. Quakende Frösche. Undefinierbares Rascheln.

Er bewegte seine Augen langsam von links nach rechts. Plötzlich fiel sein Blick auf eine Struktur, vielleicht zwanzig Meter entfernt. Er zuckte heftig zusammen, denn er hatte nicht damit gerechnet, etwas Menschengemachtes zu sehen.

Ein Holzhaus. Neben ihm stand ein Mast mit einem großen Solarzellenmodul.

Ram entfuhr ein »Fuck …«, denn eigentlich hatte er gehofft, an diesem Traumstrand allein zu sein.

Auf der anderen Seite machte sich gerade sein leerer Magen bemerkbar, und er war ziemlich durstig. Bestimmt würde der Bewohner der Hütte die verfügbaren Vorräte mit ihm teilen, wenn Ram seine Notlage schilderte. Und ihm sagen, wo er sich befand.

Kurz darauf klopfte er an die Tür des Holzhäuschens. Erst zaghaft, dann stärker.

Keine Reaktion.

Ob er nicht besser morgen anklopfen sollte und sich stattdessen einen Schlafplatz am Strand suchen? Oder in der Höhle, wo er vor den Wellen geschützt war?

Aber er hatte inzwischen wirklich Durst. Der Besitzer der Hütte – oder die Familie, die darin wohnte – würde ihn schon nicht mit einer Pumpgun begrüßen.

Also rief er: »Hallo! Entschuldigung! Könnten Sie mir die Tür aufmachen? Ich bräuchte dringend Hilfe!«

Dann wiederholte er seine Bitte auf Englisch, begleitet von energischem Klopfen.

Nichts.

Und obwohl er davon ausging, dass das nicht den geringsten Sinn ergab, übersetzte er sein Anliegen anschließend auch noch ins Spanische.

Keinerlei Reaktion. Nichts kam aus dem Inneren des Häuschens.

Entweder der Besitzer ist stocktaub. Oder er liegt nach einem Schlaganfall im Koma – falls er überhaupt noch lebt. Oder die Hütte ist im Moment nicht bewohnt.

Ram tippte auf die letzte Möglichkeit, doch sein Körper schien auf die erste zu wetten, denn als er nach dem Metallknauf griff und die Holztür nach außen aufging, raste sein Puls.

Alles blieb still. Der Mond war von Palmen verdeckt, sodass Ram nicht von außen in das Häuschen hineingucken konnte.

Doch als er die Innenseite der Eingangstür abtastete, entdeckte er etwas, das an einem Haken hing.

Er griff danach, stellte fest, dass es sich um eine kleine LED-Taschenlampe aus Plastik handelte, und drückte den Powerschalter.

Nichts passierte.

Dann bemerkte er, dass die Leuchte auf einer Seite mit Solarzellen ausgestattet war und auf der anderen mit einer kleinen Handkurbel. Ein Überlebens-Tool.

Als er eine Weile an der Kurbel gedreht hatte, betätigte er den Schalter ein weiteres Mal, und ein weißer, intensiver Lichtstrahl erhellte die Nacht.

Ram blickte sich um. Außer ihm war niemand in der Hütte.

Allmählich beruhigte sich sein Herzschlag. Er richtete das Lämpchen nach links, fand einen Schalter an der Wand und drückte ihn.

Eine Deckenleuchte erhellte das Innere des Häuschens.

Ram knipste die LED-Leuchte aus. Nachdem er sie wieder an die Tür gehängt hatte, legte er das Sweatshirt und die Outdoorjacke über den Haken. Dann zog er Socken und Stiefel aus.

Der Raum, in dem er stand, wirkte so ordentlich und sauber wie eine kleine Ferienwohnung, die erst vor wenigen Minuten vom Dienstpersonal für den nächsten Gast hergerichtet worden war.

Auf dem Boden lag eine weiße Hartschaummatratze mit mehreren dünnen Decken und zwei Kopfkissen. Jede Zimmerwand hatte zwei unverglaste Fensterlöcher, die mit geschlossenen Fensterläden gesichert waren. Offenbar ließen sie sich nur von außen öffnen.

Auf der rechten Seite standen zwei Stühle an einem kleinen Holztisch, unter dem sich ein dicker, ziemlich großflächiger Bastteppich befand. Irgendjemand hatte die Tischplatte mit einem schwarzen Elektronikgerät, einer altmodischen Kaffeemaschine und einer Plastiktasche, die wie ein Kulturbeutel mit Körperpflegeutensilien aussah, bestückt.

Dieser Teil der Einrichtung beeindruckte Ram nicht sonderlich. Doch die integrierte Küche war überwältigend.

In der Mitte thronte eine riesige Kühlgefrierkombination, die einem ambitionierten Restaurant alle Ehre gemacht hätte und gerade vernehmlich brummte.

Links davon stand ein Induktionsherd mit Arbeitsplatte und Touchscreen. Er passte genauso wenig hierher wie der überdimensionierte Kühlschrank.

Auf der rechten Seite sah Ram ein Holzregal mit Küchenutensilien, Geschirr und Nahrungsmittelvorräten: Reis, Nudeln, Kartoffeln, Zwiebeln, Speiseöle, Gewürze, Kaffee.

Daneben vielleicht ein Dutzend aufgestapelte Getränkekisten. Französisches Mineralwasser – und Beamish Stout.

Rams Lieblingsbier.

Eine Sorte, die eigentlich nur in Irland und Britannien halbwegs bekannt war. Irisches Bier in den Tropen? Und dann noch zufällig das, das er am liebsten mochte?

Unglaublich, dachte Ram. Irgendjemand muss gewusst haben, dass ich hier auftauchen werde …

Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken, aber sein Durst war stärker.

Ich könnte erst mal ein oder zwei Flaschen Mineralwasser trinken.

Oder ich gehe gleich zum Bier über.

Das enthält ungefähr 95 Prozent Wasser. Hilft also auch gegen Austrocknung. Und es knallt einfach besser als der blöde Sprudel.

Als er die Kühlschranktür öffnete, um ein paar Flaschen Beamish hineinzustellen, sah Ram, dass er mit frischem Obst, Gemüse, Eiern, Speck und Käse bestückt war.

Drei Biere später ließ er sich beschwipst auf die Matratze fallen.

Alkohol, fand er, war ein hervorragendes Mittel, um nicht allzu viel nachzudenken.

Nach wenigen traumlosen Stunden wurde Ram von Vogelrufen und vom Sonnenlicht geweckt, das durch die angelehnte Tür in das Häuschen schien.

Es dauerte eine Weile, bis er realisierte, dass er wirklich an einer tropischen Meeresküste gestrandet war und nicht in einer halluzinatorischen Fantasie festhing.

Ram war immer noch nicht klar, was er während seiner Gedächtnislücke erlebt hatte. Was war passiert in der Zeit zwischen dem Aufenthalt in seinem Moabiter Wohnzimmer und dem Aufwachen in der unbekannten Felshöhle?

Aber wenigstens, sagte er zu sich selbst, schaffe ich es problemlos, mich an das zu erinnern, was danach geschehen ist.

Obwohl er wenig geschlafen und eine ganze Menge Bier getrunken hatte, fühlte sich Ram körperlich relativ fit. Nur der schale Geschmack in seinem Mund störte ihn.

Er erinnerte sich an den Plastikbeutel auf dem Tisch und erhob sich von der Matratze, um ihn zu öffnen.

Zahnputzzeug, ein Elektrorasierer mit Dreipolstecker, mehrere Seifenstücke, Shampoo, Sonnenmilch, Handspiegel und Nagelknipser.

Alles war unbenutzt. Ram fragte sich erneut, ob jemand damit gerechnet hatte, dass er in diesem Häuschen Zuflucht suchen würde.

Doch als er bemerkte, dass er die Frage nicht beantworten konnte, konzentrierte er sich auf das Nächstliegende: die morgendliche Mundpflege.

Wasser, überlegte Ram, wäre diesem Anliegen dienlich. Meerwasser, da war er ziemlich sicher, kam nicht infrage. Fließendes Süßwasser gab es hier nicht.

Und den Sprudel für das Zähneputzen verschwenden wollte er auch nicht. Vielleicht gab es ja in der Umgebung eine Quelle oder einen Bach.

Er griff sich Zahnputzzeug, Seife und Haarwaschmittel und ging ins Freie.

Die Düfte und Geräusche, die er noch intensiver wahrnahm als in der Nacht zuvor, überwältigten ihn.

Rams Umgebung war jetzt ein Farbenmeer.

Fast alle Sträucher und Pflanzen blühten. In den Kronen der Kokospalmen flogen Papageien mit quietschbunten Federn. Der Himmel war tiefblau, und vor Rams Füßen huschte eine rotgrüne Echse durch den Sand. Alles so perfekt wie auf dem Plakat eines Touristikunternehmens.

Während Ram um das Häuschen herumging, unterzog er den Mast auf der linken Seite der Hütte einer kurzen Inspektion.

Er erinnerte sehr an ein fotovoltaisches Minikraftwerk. Solche Geräte gab es auch in Berlin, ausgestattet mit Hochleistungssolarzellen, Stromwandler, Speicherbatterie und einer automatisierten Computersteuerung.

Auf seinem Weg öffnete Ram ein paar Fensterläden, die er mit Metallhaken befestigte.

Als er die Rückwand des Häuschens erreicht hatte, murmelte er »Das ist ja ultracool …«, denn hinter der Hütte befand sich eine Handpumpe. In zwei Meter Höhe war ein Kunststofftank mit einem Absperrhahn befestigt, den man mit der Pumpe befüllen konnte. Wahrscheinlich kam das Wasser aus einer unterirdischen Quelle.

Ein artesischer Brunnen, der gleichzeitig als Flüssigkeitsspender und als Dusche diente. Daneben standen mehrere leere Kanister, eine Plastikwanne, gefüllt mit einer Flasche Waschmittel und ein altertümliches Waschbrett.

Ram fand es nicht sehr attraktiv, seine Klamotten auf einem Metallbrett zu säubern. Doch ihm gefiel, dass an diesem Ort an alles gedacht worden war, was ihm ein autarkes Leben ermöglichte.

Dann bemerkte er, dass sich hinter den Palmen, ein paar Meter entfernt, ein Holzschuppen versteckte.

Er öffnete die Tür.

Der Raum beherbergte eine große Mülltonne und ein ausgesprochen sauberes Plumpsklo. Und neben dem Abortloch stand nicht nur ein Eimer zum Nachspülen, sondern auch zahlreiche Toilettenpapierrollen, die in Plastikfolie eingeschweißt waren.

Krass, dachte Ram. Dieser Urlaub ist wirklich all inclusive.

Nur mit dem kleinen Schönheitsfehler, dass er sich nicht daran erinnern konnte, eine Urlaubsreise gebucht zu haben.

Unter der Dusche gelang es ihm ein weiteres Mal, die Frage, wie er an diesen Ort gekommen war, erfolgreich aus dem Bewusstsein zu verdrängen.

Als er sich rundum sauber fühlte, drehte Ram den Hahn zu und sonnte sich, um sich zu trocknen. Dann putzte er seine Zähne, pinkelte und ging zurück in die Hütte, um aus Eiern, Tomaten, Zwiebeln und Speck ein herzhaftes Frühstück zuzubereiten.

Während er den Kühlschrank etwas intensiver durchforstete, stellte er erfreut fest, dass das Tiefkühlfach randvoll war mit Fleischwaren aller Art: Hähnchenbrust, Schweinekotelett, Lammfilet … Ram entdeckte sogar einige Wildspezialitäten wie Hirsch und Fasan.

Er überlegte kurz, ob er sich anstelle des geplanten Rühreis gleich an den Hirschsteaks vergreifen sollte. Doch dann dachte er an die unvermeidliche Auftauzeit, legte zwei Wildfleischpackungen auf die Arbeitsplatte neben dem Herd und verschob das Vergnügen auf später.

Denn Zeit hatte er im Überfluss.

Nach einer halben Stunde setzte sich Ram an den Tisch. Eine dampfende Kaffeetasse stand neben einer Portion Rührei, die selbst für einen Mann mit seiner Statur recht üppig war. Die antiquierte Kaffeemaschine hatte auf Anhieb funktioniert. Ram fragte sich, wofür das schwarze Elektronikgerät gut sein mochte. Ebenso wie die Kaffeemaschine war es über einen amerikanischen Dreipolstecker mit einer Steckdose an der Wand des Häuschens verbunden.

Der Apparat besaß offenbar nur ein einziges Bedienelement, einen Drehknopf. Kein Display, keine Anzeigen, kein sichtbares Mikrofon für eine Sprachsteuerung.

Er drehte den Knopf im Uhrzeigersinn. Erst ertönte ein mechanisches Knacken, dann erklang Musik.

»Short People«, ein Hit von Randy Newman aus den 1970er-Jahren, der kurzgewachsenen Menschen auf sarkastische Weise das Existenzrecht absprach.

Ram dachte an seine Körperlänge von 191 Zentimetern, grinste und begann zu essen.

Offenbar hatte er den Lautstärkeregler entdeckt.

Vielleicht finde ich ja einen Sender, der meine alten Lieblingssongs spielt …

Womöglich senden sie sogar in einer Sprache, die ich verstehe. Und ab und zu Nachrichten zu hören wäre auch nicht schlecht.

Obwohl es schon ein bisschen seltsam ist, dass sich die Frequenz nicht wechseln lässt. Anscheinend gibt es bloß diesen Lautstärkedrehknopf.

Er beschloss, die Radiofrage auf die Liste der ungelösten Geheimnisse zu setzen, die mit diesem Ort verbunden waren, und die Bearbeitung der Liste auf später zu verschieben.

Ram wollte sich auf die angenehmen Aspekte seines Lebens konzentrieren. Im Moment gehörten dazu Musik, Kaffee, Rühreier, Tomaten, Zwiebeln und Speck.

Und draußen warteten bereits Sonne, Sand und Meer auf ihn.

Als Ram aß, bemerkte er, dass der Sender, den er empfing, auf Nachrichten oder Moderationsansagen verzichtete. Ein Song reihte sich an den anderen, ohne längere Unterbrechungen.

Möglicherweise, überlegte er, ist es ein automatisiertes Programm, mit dem sie sich einen Großteil der Produktionskosten sparen. Oder eine Satellitenübertragung aus dem Netz.

Die Musik war nach wie vor angenehm – eine Mischung aus Classic Rock, Folk und Progrock –, und als Ram ein bisschen darüber nachdachte, stellte er fest, dass er die üblichen Schreckensmeldungen aus aller Welt nicht vermisste.

Nach dem Frühstück holte er eine Spülmittelflasche aus der Küche und wusch das Geschirr unter der Wasserpumpe.

Als er fertig war, erinnerte sich Ram an die Sonnenmilch in dem Kulturbeutel auf dem Tisch. Er ging zur Hütte zurück, zog T-Shirt, Jeans und Boxershorts aus und cremte sich von Kopf bis Fuß ein.

Eigentlich schade, dachte er, dass ich keine Sonnenbrille und keinen Hut dabeihabe …Wenn schon ein unverhoffter Strandurlaub, dann mit allem Drum und Dran.

Sein Blick streifte die Tür. Ram zuckte zusammen.

Neben der kleinen Not-LED-Lampe hing ein weißer Strohhut an einem Haken, und am Hutband steckte eine schicke Sonnenbrille mit eckigen Gläsern.

Da stimmt was nicht. Diese Sachen waren doch vorhin nicht da – oder hab ich die ganze Zeit an ihnen vorbeigeguckt?

Unwahrscheinlich … aber bis gestern Nacht konnte ich mir auch nicht vorstellen, dass ich irgendwann in einer tropischen Felshöhle aufwachen würde, ohne mich zu erinnern, was vorher passiert ist.

Er ging zur Tür, nahm Hut und Brille vom Haken und verließ die Hütte. Am Strand ließ er sich von den Meereswellen umspülen, patschte mit den Armen ins Wasser und kreischte dabei wie ein zwölfjähriger Junge im Freibad.

Nachdem er dreimal ausgiebig schwimmen gegangen war und den Rest des Vormittags dösend im Sand verbracht hatte, beschloss Ram, dass es jetzt genug war mit Baden, Sonnen und Pauschalurlaub.

Schließlich gab es hier eine Menge zu entdecken.

Zeit für eine kleine Wanderung. Ach was: eine Expedition …

Wenn er sich an der Küstenlinie orientierte und darauf achtete, immer genug Energiereserven für den Rückweg zu haben, konnte Ram eigentlich nichts zustoßen.

Vielleicht finde ich ja eine zweite Strandhütte – oder gleich ein ganzes Dorf. Wieso sollte mein Häuschen hier die einzige menschliche Behausung sein …

Er bemerkte, dass er eben mein Häuschen gedacht hatte, und lächelte.

Mein Haus, mein Strand, mein Grundstück mit Blick aufs Meer – da fehlt nur noch mein Boot.

Das ist übrigens eine gute Idee, sagte sich Ram im Stillen. Nach einem Bootssteg würde er ebenfalls Ausschau halten.

In der Hütte zog er T-Shirt und Boxershorts an. Dann krempelte er sich die Socken über die Füße, zog die Jeans über die Boxershorts und stieg in seine Schnürstiefel.

Sicher ist sicher. Außerdem bekomme ich sonst einen Sonnenbrand. Keine Sonnenmilch schützt einen dauerhaft vor der UV-Strahlung.

Er nahm Mineralwasser aus dem Kühlschrank. Als er im Vorratsregal herumkramte, fand er sogar eine weiße Umhängetasche aus Leinen, in der er die Flasche transportieren konnte.

Nachdem er den Strohhut und die Sonnenbrille aufgesetzt hatte, verließ er das Häuschen.

Gehe ich jetzt besser links oder rechts den Strand entlang? Eigentlich egal. Gut, dann nach links.

Es dauerte nicht allzu lange, bis er wieder am Hüttentisch saß. Erschöpft und desillusioniert.

Seine durchgeschwitzten Socken hatte er ebenso wie die Jeans hinter dem Häuschen in den Wäschezuber gelegt. Zum Saubermachen fehlte ihm im Moment die Energie.

Auch das Nachmittagsbier aus dem Kühlschrank, das geöffnet vor ihm auf dem Holztisch stand, half nicht.

Da er keine Uhr besaß, wusste er nicht, wie viel Zeit vergangen war, bis er das Häuschen mit dem Solarmast auf der linken Seite des Strands erspäht hatte. Doch mehr als ein oder zwei Stunden konnten es nicht gewesen sein.

Ram nahm die Flasche vom Tisch und trank einen großen Schluck.

Auch wenn ihm das Beamish Stout gerade nicht besonders zusagte – wirken würde es auf jeden Fall. Zumindest, wenn er weitere Biere nachschob, und genau das hatte er vor.

Es führte kein Weg an der Erkenntnis vorbei, dass er auf einer kleinen Insel gestrandet war. Einer schönen, aber einsamen, unberührten Insel. Unbewohnt vom Strand bis zum Zentrum, das er auf kleinen Fußmärschen erkundet hatte.

Es gab kein weiteres Häuschen, und erst recht kein Dorf. Nicht einmal einen alten verrotteten Bootssteg.

Dafür war Ram drei Kolibris begegnet, die in allen Regenbogenfarben schillerten und Nektar aus Orchideen schlürften.

Während er weitertrank, dachte Ram an die unansehnlichen Tauben in Berlin.

Für diese dreckige Stadt mit all ihren Bewohnern, tierischen und menschlichen, hätte er seine Tropeninsel eingetauscht, ohne mit der Wimper zu zucken.

Nicht weil er gerade unbedingt Gesellschaft brauchte. Ram war die meiste Zeit seines Lebens allein gewesen.

Sondern weil er wahrscheinlich keine Chance hatte, dieses Kolibriparadies zu verlassen. Und die Vorstellung, nie wieder einem anderen Menschen zu begegnen, bis er irgendwann sterben würde, war auch für Ram unerträglich.

Die beiden Hirschsteaks mit Kartoffeln und Preiselbeeren aus dem Gläschen hatte er eher mechanisch in sich reingeschaufelt, als das Essen wirklich zu genießen. Immerhin war Ram nach vier Beamish Stout betäubt genug, um die Frustration nicht mehr zu spüren.

Ich sollte endlich ernsthaft darüber nachdenken, wer mich an diesen gottverlassenen Ort gebracht hat.

Ram erhob sich von seinem Stuhl. Er holte ein weiteres Bier aus dem Kühlschrank, setzte sich wieder an den Holztisch und trank weiter.

Vielleicht bin ich von Verbrechern entführt worden, die Kohle erpressen wollen.

Doch wenn er ehrlich zu sich war, gab es nicht allzu viele Menschen, die für ihn gezahlt hätten. Höchstens seine Mutter, aber die badete nicht unbedingt in einem Geldspeicher.

Außerdem ist ein Teil meiner Erinnerungen verschwunden. Das schafft kein Krimineller und auch keine Gang. Oder?

Einen bestimmten Zeitraum im Gedächtnis zu löschen, traute Ram eigentlich eher einem Geheimdienst oder einer Gruppe von skrupellosen Wissenschaftlern zu.

Für jeden Menschen, der nicht paranoid ist, hört sich das alles vollkommen absurd an. Aber normalere Erklärungen fallen mir nicht ein.

Geheimdienste … In einigen Thrillern löscht ein Dienst Erinnerungen eines Special Agents, um sensible Informationen zu schützen. Oder um die wahre Identität des Betroffenen zu verschleiern. Manchmal fand der Agent sogar heraus, dass er diese Löschung selbst in Auftrag gegeben hatte.

Aber ich bin kein Jason Bourne. Oder bin ich doch so ein Typ, ohne es zu wissen? Weil ich es vor mir verberge? Verdammter Mist …

Allerdings deutete nichts darauf hin, dass Ram als Agent ausgebildet worden war.

Und wieso sollte mich ein Nachrichtendienst, der meine Erinnerungen vernichtet, mit meinem Lieblingsbier versorgen? Und mit Hirschsteaks? Oder würde ich mich selbst so verhalten, wenn ich für die Löschung verantwortlich wäre? Erst mein Gedächtnis zerstören und dann einen Haufen Lebensmittelvorräte anlegen, die mich an mein früheres Leben und an meine Vorlieben erinnern …

Diese Theorie ergab keinen Sinn.

Ram dachte über die andere Alternative nach, die ihm eingefallen war: Eine Gruppe skrupelloser Wissenschaftler, die an ihm herumforschten.

Das hörte sich schon plausibler an.

Vielleicht bin ich Teil eines Experiments. »Was geschieht mit einem Menschen, der längere Zeit auf sich allein gestellt ist?« Versorgt mit allem, was er zum Überleben braucht, aber ohne soziale Kontakte, ohne Computer, Telefon oder ein funktionsfähiges AR-System – und ohne jede Erinnerung an das, was ihn an den Ort der Einsamkeit gebracht hat …

Könnte sein. Aber wenn das stimmt, habe ich mich wahrscheinlich freiwillig für diesen Versuch gemeldet. Bestimmt aus finanziellen Gründen. Und die Forscher müssten mich von der Insel retten, wenn das Experiment vorbei ist. Hm … Seit ich hier angekommen bin, steht ein zweiter Stuhl am Tisch. Das könnte bedeuten, dass irgendwann jemand auftaucht und sich draufsetzt.

Dieser Gedanke tröstete Ram ein bisschen, und er fand ihn recht realistisch. Paranoid, aber Teil einer Wirklichkeit, die er kannte.

Ich darf auf keinen Fall durchdrehen.Und ich sollte mich auch nicht daran gewöhnen, schon am Nachmittag besoffen zu sein.

Er trank die Flasche aus und beschloss, dass es für heute reichte.

Dann machte er das Radio an. Gerade lief ein alter Song von Colosseum: »Theme for an Imaginary Western.«

Zu pathetisch, zu melancholisch. Ram schaltete das Gerät wieder aus.

Was, fragte er sich, kann ich in der nächsten Zeit tun? Abgesehen natürlich von Fressen, Saufen und Musikhören.

Nicht allzu viel.

Im Meer schwimmen. In der Sonne brutzeln. Jeden verfluchten Quadratmeter dieser Scheißinsel erkunden. Nachdenken.

Und darauf hoffen, dass es sich nicht endlos hinzieht, bis »Freitag« zu Besuch kommt und mich hier rausholt.

Noch besser wäre natürlich eine Freya …

Ach, egal. Hauptsache, irgendjemand. Und zwar bald.

Den Sonnenuntergang verbrachte Ram am Strand.

Während der Feuerball langsam im Meer versank, sah er am Horizont einen Vogelschwarm, der von links kam und ein großes Victoryzeichen bildete, bevor er ins Abendrot verschwand.

Vielleicht ist das ein gutes Omen, dachte er.

Bullshit. Meine Lage muss wirklich ganz schön verzweifelt sein, wenn ich die Natur nach irgendwelchen Zeichen und Wundern absuche.

Bloß nicht durchdrehen

Am dritten Tag seines unfreiwilligen Inselurlaubs ging Ram zweimal in Ufernähe schwimmen, um nicht in gefährliche Meeresströmungen zu geraten. Dieses Mal verzichtete er darauf, mit den Händen auf die Wellen zu schlagen oder zu kreischen wie ein Zwölfjähriger im Freibad.

Lustlos verzehrte er drei Lammfilets aus der Tiefkühltruhe, die er mit Zucchini- und Paprikascheiben in der Pfanne gebraten hatte. Das war schnell gegangen, und es hatte nicht allzu viel Aufmerksamkeit von ihm verlangt.

Beim Essen nervte ihn die Radiomusik, weil sie ihn emotional berührte. Also schaltete er das Gerät aus und hörte sich stattdessen beim Kauen zu.

Als er nach dem Abwasch wieder in der Hütte war, spürte Ram, wie sein Körper alle Kraft verlor. Er legte sich auf die Matratze, wälzte sich eine Weile hin und her und schlief schließlich ein. Ohne Alkohol, aber mit einem dumpfen Gefühl im Schädel.

Irgendwann, es mussten ein paar Stunden vergangen sein, erwachte er. Die Dumpfheit hatte sich in stechende Kopfschmerzen verwandelt.

Ram stöhnte.

Ich darf auf keinen Fall so weitermachen, dachte er. Wenn ich mich kaum bewege und jeden Nachmittag im Bett liege, ist das Kopfweh irgendwann mein geringstes Problem. Denn dann kommt eine ausgewachsene Depression auf mich zu, und das ist nicht spaßig.

Er beschloss, in Zukunft jeden Tag mehrereStunden zu wandern. Ob den Strand entlang oder querfeldein, spielte keine Rolle, denn die Insel war so klein, dass er problemlos zu seinem Häuschen zurückfinden konnte.

Außerdem musste er auf Musik verzichten. Musik erhöhte das Risiko, dass er sich in sentimentale Stimmungen hineinsteigerte und dadurch seine emotionale Stabilität gefährdete.

Alles zu tun, um nicht durchzudrehen, hatte Priorität für den Zeitraum, bis man ihn von dieser Insel rettete. Falls man ihn retten würde.

Ram holte ein weiteres Beamish Stout aus dem Kühlschrank. Zwei Flaschen pro Tag, dachte er, sind bestimmt nicht zu viel für mich, aber dabei sollte es dann auch bleiben. Zumal ich nicht weiß, wie lange die Vorräte reichen sollen.

Er ging zum Strand, steckte die Bierflasche in den Sand und machte ein paar Liegestütze. Dann setzte sich hin, um zu trinken und den Sonnenuntergang zu beobachten.

Das könnte ich morgen wiederholen. Und danach auch. Die Abenddämmerung dauert hier sowieso nur ein paar Minuten, und der Anblick ist wirklich grandios.

Als die Sonne zur Hälfte im Meer versunken war, erschien ein Vogelschwarm am Horizont.

Er kam von links und bildete ein großes Victoryzeichen, bevor er im Abendrot verschwand.

Merkwürdig. Das sieht genauso aus wie gestern.

Der gleiche Zeitraum. Die gleiche Abfolge der Ereignisse.

Und das gleiche V. V wie Victory.

Als ob es eine Filmsequenz wäre, die der Regisseur mehrfach in die Handlung einbaut.

Ram hatte keine Ahnung, was das bedeuten sollte, doch es beunruhigte ihn.

Irgendwas stimmt hier nicht.

Er überlegte.

Dieser Gedanke war ihm kürzlich schon einmal durch den Kopf gegangen. Aber wann und wo?

Natürlich! Der Strohhut und die Sonnenbrille.

Sie waren erst am Türhaken aufgetaucht, als Ram sich einen Sonnenschutz gewünscht hatte.

Blödsinn, korrigierte er sich. Ich muss sie vorher übersehen haben.

Und die Vögel?

Ram wusste, dass viele Arten die V-Formation nutzten. Außerdem gab es zahllose Vogelschwärme, erst recht in den Tropen.

Bestimmt ist das, was ich eben gesehen habe, reine Einbildung. Das war Zufall und sonst gar nichts.

In den nächsten Wochen hielt sich Ram an seine guten Vorsätze.

Er ging jeden Vormittag mehrere Stunden spazieren, kreuz und quer über die ganze Insel.

Das Innere unterschied sich kaum vom Küstenbereich, abgesehen davon, dass es einige Meter höher lag.

Palmen, Sträucher, Schlingpflanzen, Blüten in allen Farben. Dazu etliche Vogelarten, Reptilien und Insekten.

Um nachmittags nicht im Nichtstun zu versacken, kraulte er so lange in Strandnähe durchs Meer, bis er erschöpft war.

Nach dem Auspowern hatte er sich, wie er fand, die beiden Biere redlich verdient. Und zu seinem Erstaunen gelang es ihm, bei dieser Dosis zu bleiben.

Ein weiterer Fixpunkt seines Insellebens war der abendliche Sonnenuntergang. Doch dieses Ritual wurde für Ram immer seltsamer.

Denn die Abfolge der Ereignisse wiederholte sich tatsächlich.

Sobald die ewig rote, von ein paar kleinen Schönwetterwolken umringte Sonne halb im Meer versunken war, tauchte auf der linken Seite der Vogelschwarm auf. Er formte sich am Himmel zu einem großen V und verschwand wieder.

Je öfter das geschah, und es geschah jeden Abend, desto weniger zweifelte Ram an seinen Beobachtungen.

Doch sein Verhältnis zur Realität veränderte sich.

Auf einem seiner Spaziergänge bemerkte Ram, dass er vor sich hinredete.

Er wusste nicht, ob er schon eine ganze Weile Selbstgespräche führte, und fragte sich, ob das ein klares Warnsignal war: das Reden – und dass er nicht wusste, wie lange er dies bereits getan hatte.

»Ach was«, beruhigte er sich, »auch wenn ich irgendwann anfange, mit den Tieren auf der Insel zu sprechen, muss ich mir keine Sorgen um meine geistige Gesundheit machen. Erst wenn sie mir antworten, wäre ich im Eimer. Außer natürlich, es ist zufällig ein Papagei, der meine Worte nachplappert.«

Er lachte und stellte überrascht fest, dass das zum ersten Mal geschah, seit er in der Höhle aufgewacht war.

Offenbar taten ihm seine Selbstgespräche gut.

Bald darauf redete Ram mit allen Tieren, denen er bei seinen vormittäglichen Wanderungen begegnete. Mit Vögeln, Geckos, Leguanen, Insekten.

Manchmal ertappte er sich sogar dabei, wie er mit Pflanzen sprach, und immer häufiger kommentierte er hörbar seine Umgebung.

Das half ihm, sich ein bisschen weniger einsam zu fühlen, und alles, was diesem Ziel diente, hatte seine Berechtigung.

Doch eines Tages bemerkte Ram, dass er am Tisch des Strandhäuschens saß und seine zweite Bierflasche darüber informierte, dass Beamish Stout die leckerste Sorte überhaupt war.

Dass er mit einer halb vollen Flasche sprach, traf ihn wie ein Schlag, und er verstummte abrupt.

Bin ich wirklich so am Ende, dass ich meinem Bier Komplimente machen muss?

Auf diese Frage gab es, wenn er ehrlich zu sich war, nur eine Antwort.

Offensichtlich.

In diesem Moment schwand seine Zuversicht, ihn könne irgendwann jemand aus seiner misslichen Lage befreien.

Ich kann hier herumspazieren und vor mich hinfaseln, oder ich bleibe in dieser gottverdammten Hütteund starre Löcher in die Decke – das macht nicht den geringsten Unterschied. Jeden Abend sehe ich den gleichen beschissenen Vogelschwarm am Himmel. Wahrscheinlich scheint auch jede Nacht der gleiche verfickte Vollmond. Das ist kein Experiment, sondern ein Computerspiel … und ich hänge in einer verdammten Endlosschleife fest.

Das Stichwort Endlosschleife führte Ram zu einer niederschmetternden Einsicht.

Falls ich wirklich in der Schleife eines Computerspiels feststecke, kann es niemanden geben, der mich von der Insel rettet, denn das würde ja eine Änderung des Programms voraussetzen. Wenn sich alles, was hier passiert, innerhalb von vierundzwanzig Stunden wiederholt, dann wird das ewig so weitergehen. Und ich selbst existiere auch nur in einem Spiel. Fuck. Motherfuck …

Kein Freitag. Auch keine Freya.

Nicht mal ein räudiger Hund würde ihn besuchen. Heute nicht, morgen nicht, und auch nicht in fünfzig Jahren.

Ram war zur Einsamkeit verdammt.

Sobald er die Lebensmittelvorräte aufgebraucht hatte, musste er fischen gehen. Oder jagen, wahrscheinlich mit Fallen.

Außer die Lebensmittel im Regal und im Kühlschrank füllten sich täglich von selbst wieder auf. Ram hatte nicht darauf geachtet.

Doch diese Frage war zweitrangig, wenn er sie mit der entscheidenden Erkenntnis verglich: dass er den Rest seines Lebens ohne jeden kommunikativen Austausch verbringen würde.

Das fühlte sich an wie ein Tritt in den Magen.

Rams Sehnsucht nach einer menschlichen Stimme, die nicht seine eigene war, zog ihm das Herz so schmerzhaft zusammen, dass er beschloss, einen seiner guten Vorsätze über Bord zu werfen.

Er schaltete das Radio ein.

Es spielte »Theme for an Imaginary Western« von Colosseum.

Schon wieder.

Offenbar hing auch das Musikprogramm in einer Endlosschleife fest.

Ram schluchzte. Nicht weil ihn der Song so berührte, sondern weil er ein weiterer Beweis dafür war, dass sich nichts verändern würde. Niemals.

Tränen rannen ihm übers Gesicht, Arme und Brustkorb zogen sich krampfhaft zusammen, und die Verzweiflung ging so tief, dass er befürchtete, in ihr zu versinken.

Irgendwann versiegten seine Tränen, doch die Traurigkeit blieb.

Ram hatte nicht einmal Lust, die Bierflasche auszutrinken. Das war sehr ungewöhnlich für ihn.

Und er entschied sich, auf das gruselige Abendritual mit dem Kitschpostkartensonnenuntergang und dem Victory-Vogelschwarm zu verzichten. Weil es ihm nicht guttat und weil er viel zu erschöpft war, um das Häuschen zu verlassen.

Ram schaltete das Radio aus und stand auf. Er fühlte sich kraftlos und musste sich anstrengen, um die wenigen Meter zwischen Tisch und Matratze unfallfrei zurückzulegen.

Dann zog er die Decke über den Kopf.

Schlafen, dachte er. Nur schlafen. So lange wie möglich.

Je weniger Zeit er im Wachzustand verbrachte, desto weniger Zeit blieb ihm, um über seine ausweglose Situation nachzudenken.

Er hoffte, dass er sich nicht an seine Träume erinnern würde. Und kurz bevor er einschlief, stellte er fest, dass das so ziemlich die einzige Hoffnung war, die er noch hatte.

Rams Träume waren bis zur Unkenntlichkeit verblasst, wenn er aufwachte. Andere positive Aspekte gab es in den nächsten Tagen nicht.

Er aß nichts mehr.

Er trank kein Wasser und keinen Kaffee mehr, nur noch Bier.

Er vernachlässigte die Körperpflege, verzichtete aufs Zähneputzen, aufs Duschen und darauf, seine Nägel zu schneiden.

Er verließ die Matratze nur noch, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Zum Pinkeln und zum Bierholen.

Je länger Ram versuchte, seine Gefühle zu ignorieren, je mehr er schlief, um möglichst selten wach zu sein, umso schlechter ging es ihm.

Kopfschmerzen. Sodbrennen. Ein widerlicher Geschmack im Mund. Tage und Nächte ohne Tag-Nacht-Rhythmus, die ihn immer müder und erschöpfter machten. Trotzdem wollte das Nachdenken einfach nicht aufhören.

Und es waren keine schönen Gedanken, die Ram durch den Kopf gingen.

Genau das, was ich hier erlebe, hab ich eigentlich immer meinem Vater gewünscht … Totale Einsamkeit, Saufen, um nicht über das eigene verpfuschte Leben nachzudenken, und gleichzeitig wissen, dass man längst in einem schwarzen Loch gelandet ist und nie wieder herauskommt. Wahrscheinlich bin ich gar nicht so weit weg von Dad – abgesehen davon, dass ich keine Frauen schlage. Mein Leben ist ja nicht unbedingt erfolgreicher verlaufen als seins. Studium abgebrochen, keine Ausbildung gemacht, tausend dämliche Jobs, und als Krönung eine Karriere als Porno-Avatar. Ab und zu eine Freundin, die mir nichts bedeutet, ansonsten Musikhören, Serien gucken und Games spielen, um die Zeit totzuschlagen … Keine Freunde außer Ewan und Phil in Irland – aber wozu braucht man schon Freunde, wenn man immer über einen ordentlichen Beamish-Stout-Vorrat verfügt.

Ram trank die Flasche aus, hob die durchgeschwitzte Decke hoch, um sie auf die trockenere Seite zu drehen, und fuhr mit seinen Vorwürfen fort, bis er einschlief.

Während in seinem Schädel schmerzvolle Gedanken miteinander rangen, stellte Ram fest, dass es so nicht weiterging.

Sein Leben war definitiv kein Leben mehr, und wenn das Totsaufen ebenso wenig funktionierte wie das Totschlafen, musste er etwas anderes tun.

Beim Aufstehen stützte er sich an der Holzwand ab, um nicht zu stürzen. Mühevoll gelang es ihm, die Tür zu öffnen und das Häuschen zu verlassen.

Die Papageien über den Palmenkronen kreischten.

Ram ging um die Hütte herum und schaffte es gerade noch, sich am Solarzellenmast festzuhalten, bevor er kotzte, wie er noch nie gekotzt hatte.

Es war ein Gefühl, als würde sich sein Magen nach außen stülpen und den ganzen Alkohol, den er in vierzehn Jahren gesoffen hatte, mit einem Mal loswerden.

Als Ram am Strand stand, ging gerade die Sonne unter. Ein warmer Wind wehte, aber die Wärme erreichte ihn nicht.

Wenn ich mir in dieser beschissenen Computerspielwelt die Seele aus dem Leib kotzen kann, kann ich genauso gut im Meer ertrinken.

Der kurze Weg zum Wasser kam ihm sehr weit vor.

Kurz vor der Stelle, wo die ersten Wellen die Insel erreichten, sank er auf die Knie, faltete die Hände und betete, zum ersten Mal seit einer Ewigkeit. Nackt, im nassen Sand und mit Blick auf das Abendrot.

»Gott, wenn es dich wirklich gibt, dann hast du mich offenbar in die Hölle geschickt. Ich bin keiner, der sich immer an deine Gebote hält … wenn ich darüber nachdenke, dann hab ich wahrscheinlich so gut wie alles getan, wovor uns der Pfarrer im Religionsunterricht gewarnt hat. Ich bin kein besonders mitfühlender Mensch, und ich fluche ständig. Seit meiner Pubertät. Und natürlich trinke ich zu viel. Vielleicht hab ich nie was aus meinem Leben gemacht, vielleicht hab ich’s sogar weggeworfen – aber warum musste es gleich diese Paradieshölle sein? Entweder bin ich Teil eines Experiments, das nie zu Ende geht, oder ich hänge in einem Computerspiel fest, bei dem es nur ein einziges verdammtes Level gibt. Du hast mich zum ewigen Alleinsein verurteilt, und es ist grauenhaft, so allein zu sein.«

Rams Stimme wurde lauter und aggressiver.

»Bestimmt ergibt das aus deiner Perspektive irgendeinen höheren Sinn, aber aus meiner Perspektive zeigst du damit eigentlich nur, dass du ein rachsüchtiges, psychopathisches Arschloch bist. Ich gebe dir trotzdem noch eine Chance. Du kannst mir beweisen, dass du einen letzten Funken Anstand hast, wenn du mich jetzt sterben lässt. Ich gehe ins Meer, saufe Salzwasser, und du lässt mich krepieren. Das ist der Deal. Danach kannst du mich meinetwegen gerne zum Teufel schicken … ich vermute mal, das machst du mit allen Menschen, die du hasst. Aber verschone mich mit der totalen Einsamkeit. Die kenne ich schon. Und sorry für die Beleidigungen, aber ich fühle mich wirklich scheiße. Amen.«

Es dauerte eine ganze Weile, bis es Ram gelang, sich aufzurichten, weil sein Kreislauf dagegen protestierte.

Spielt keine Rolle, denkt er. Sowieso gleich alles vorbei.

Wenigstens werde ich noch mal richtig sauber, bevor ich den Löffel abgebe. Okay, wenn mich die Wellen irgendwann an den Strand spülen, bin ich wahrscheinlich nicht mehr ganz so attraktiv, aber das ist mir scheißegal.

Ram sah keinen Sinn mehr darin, weiterzudenken.

Er ging langsam auf den Ozean zu. Während die Wellen seine Beine umspülten, schnürte ihm die Traurigkeit die Luft ab.

Ram wollte schreien, doch ihm fehlte die Kraft dazu. Stattdessen kniff er die Augen zusammen und ballte die Hände zu Fäusten.

Als er bis zum Brustkorb im Wasser stand, lockerten sich seine Armmuskeln, und Ram öffnete die Augen.

Die Sonne versank gerade im Meer.

Mein letzter Loop-Sonnenuntergang. Und mein letzter Loop-Vogelschwarm.

In diesem Moment tauchten die Vögel auf, die in wenigen Sekunden ein V bilden würden. So wie immer.

Der Schwarm kam von links und flog über den roten Abendhimmel.

Wie immer.

Und formierte sich zu einem W.

Ram traut seinen Augen nicht.

Tatsächlich. Ein W.

Im nächsten Moment teilte es sich in zwei V-Schwarm-Hälften, die am Horizont verschwanden.

Ram flüsterte »Wooow …«

Dann schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf.

Wenn das hier ein Computerspiel ist, bin ich jetzt auf Level 2.

Auch die Wolken hatten sich verändert.

Es waren nicht mehr die rot schimmernden Schönwetterboten, so wie an den anderen Abenden, die er im Freien verbracht hatte, sondern große dunkelgraue Haufen, die an mitteleuropäische Gewitterwolken erinnerten.

Und als Ram im Meer stand, als die letzten Sonnenstrahlen allmählich verblassten, berührte ihn etwas im Innersten.

Ein Gefühl, das so tief ging, dass es nicht nur jeden Gedanken an Suizid augenblicklich verschwinden ließ. Alles, was ihn in den letzten Tagen und Wochen so unendlich bedrückt und beschwert hatte, war von einem Moment auf den anderen wie weggeblasen.

Seine Kopfschmerzen. Das Schwächegefühl. Die Grübeleien. Die Antriebslosigkeit und die bodenlose Verzweiflung. So als ob jemand einen verborgenen Knopf betätigt und ihn eingeschaltet hätte.

Ram richtete seinen Blick nach oben.

»Danke, lieber Gott, danke! Jetzt weiß ich, dass es dich wirklich gibt. Und dass ich nicht verloren bin.«

Während sich der Himmel verdunkelte und die ersten Sterne auftauchten, bekam das Meer etwas Erhabenes. Die kleinen rhythmischen Variationen der Wellen, die ihn umspülten, das vielstimmige Rauschen des Wassers, die Schreie der Papageien: Alle Sinneseindrücke hatten eine unglaubliche Intensität.

Wo keine Wolken waren, funkelten mehr und mehr Sterne, und der Mond tauchte am Horizont auf.

Ram verfolgte dieses Schauspiel eine ganze Weile, und als schließlich die ganze blasse Scheibe am Himmel stand, sah er, dass sich auch hier etwas getan hatte: Es war nicht mehr Vollmond.

Der Mond nahm ab.

Offenbar hatte Gott sein Gebet tatsächlich erhört und etwas verändert.

Die Außenwelt ebenso wie Rams Innenwelt.

Dann wird er mich auch von der Insel retten. Es ist bloß eine Prüfung.

Gott wird mich retten …

Er wiederholte den Gedanken einige Male und stellte dabei fest, dass er sich gut anfühlte.

Gut und richtig.

Um seine neue Gewissheit symbolisch zu bekräftigen, hielt Ram die Luft an und tauchte im Meer unter.

Kurz darauf kam er wieder hoch. Wusch sich den Mund mit Salzwasser aus, um den Geschmack von Erbrochenem loszuwerden.

Dann lächelte er, zum ersten Mal seit einer halben Ewigkeit, und er konnte gar nicht mehr damit aufhören.

Wiedergeboren, dachte Ram. Ich bin wiedergeboren.

Schließlich ging er an Land und stand noch eine Zeit lang am Strand, um sich vom Tropenwind trocknen zu lassen.

Die ganze Insel war wie verzaubert. Ein Leuchten hatte sich über den Strand gelegt, der Sand erstrahlte im Mondlicht, und die Palmen wiegten sich im Wind wie in Zeitlupe.

Ram drehte sich um und blickte noch einmal aufs Meer hinaus. Dabei nahm er eine ungewöhnliche Bewegung wahr.

Es war eine Krabbe, wahrscheinlich von einer Welle angeschwemmt, die gerade ans Ufer kroch. Im Seitwärtsgang.

Als sie auf Ram zu krabbelte, wirkte ihre linke Schere unnatürlich groß.

Sie blieb zwei oder drei Meter von ihm entfernt stehen.

Ram winkte ihr zu. »Hallo Krabbe!«

Und die Krabbe winkte zurück. Mit der Schere, die um so vieles größer war als die andere.

Ram lief es heiß und kalt den Rücken hinunter.

Offenbar hatte das bizarre Krustentier inzwischen seine To-do-Liste abgearbeitet, denn es drehte sich um hundertachtzig Grad und kroch ins Meer zurück.

Unglaublich, dachte Ram. Ich bin ein Krabbenflüsterer.

Da er nun wusste, dass Gott ihm die Insel zum Geschenk gemacht hatte, beschloss Ram, sich dieses Geschenks als würdig zu erweisen.

Er putzte sich die Zähne und duschte ausgiebig. Dann rasierte er seinen Bart ab, räumte die leeren Bierflaschen weg und spülte ab. Seine Klamotten und das Bettzeug säuberte er hinter der Hütte mit dem Waschbrett.

Als Ram schließlich am Tisch saß, vor sich ein dampfendes Rindersteak mit Reis und gebratenen Auberginen, fühlte er sich zum ersten Mal rundum glücklich, seit er in der Felshöhle erwacht war.

So glücklich, dass er sich vornahm, ab jetzt kein Bier mehr zu trinken, sondern Wasser und Kaffee.

So lange, bis Gott ihm gestatten würde, dieses Paradies zu verlassen.

Dass Ram in der Nacht nach seiner Wiedergeburt im Ozean erst sehr spät einschlafen konnte, weil ihm unzählige Gedanken und Bilder durch den Kopf gingen, störte ihn nicht. Das außergewöhnliche Hochgefühl vom Abend war immer noch da, und er genoss es, auf der Matratze zu liegen und rundum zufrieden zu sein.

Ohnehin hatte er in den letzten Tagen und Wochen mehr Zeit im Schlaf- als im Wachzustand verbracht. Ein paar Ruhestunden weniger spielten keine Rolle.

Und als er schließlich weg döste, gelangte er in eine Traumwelt.

Ram stand auf der Pritsche eines grauen Lkws, der im Schritttempo durch eine riesige Menschenmenge fuhr.

Alle Leute, deren Gesichter er sehen konnte, schienen ihn anzustarren. Ihre Blicke empfand er als feindselig.

Jetzt bemerkte Ram, dass seine Arme mit Handschellen auf den Rücken gefesselt waren. Links und rechts von ihm hatten sich Männer mit Schnellfeuergewehren postiert.

Er wusste nicht, ob diese Typen zu einer Armee oder zu einer Polizeieinheit gehörten, aber er war zweifellos ihr Gefangener.

Die Wachen trugen schwarze Kampfuniformen ohne Abzeichen, und ihre Gesichter wirkten so fremd, so unmenschlich, dass Ram fliehen wollte. Irgendwohin.

Dann erinnerte er sich daran, welches Verbrechens man ihn beschuldigte.

Er hatte den Menschen die Wahrheit gesagt. Die Wahrheit über die Realität, in der sie lebten. Dass nichts davon stimmte, dass alles bloß Illusion war.

Diese Wahrheit auszusprechen stand unter Strafe. Und die Leute, die er über die scheinbare Wirklichkeit aufgeklärt hatte, umringten ihn gerade.

Ram hörte ganz deutlich, wie ein Mann rief: »Hängt ihn auf! Collins an den Galgen!«

Ein anderer widersprach. »Aufhängen ist viel zu gut für den Verräter. Man sollte ihn langsam zu Tode foltern.«

Eine ältere Frau mit wutverzerrtem Gesicht hatte sich durch die Menge gedrängt und versuchte jetzt, ihn am Bein zu packen.

Ram wich unwillkürlich einige Zentimeter zurück.

Die wollen mich lynchen. Verfluchte Scheiße …

Der Wachposten auf der rechten Seite der Pritsche hielt seine Waffe hoch, ballerte in die Luft und brüllte: »Zurückbleiben! Wer den Gefangenen berührt, wird sofort erschossen!«

Das schien zu wirken, denn die Frau zog ihre Hände zurück. Doch bevor sie den Umkreis des Lasters verließ, spuckte sie in Rams Richtung.

Sie traf ihn nicht, aber ihr offensichtliches Ziel, ihn zu demütigen, erreichte sie.

Ram musste herausfinden, was die Wachposten mit ihm vorhatten.

Er wandte sich an den Mann, der links von ihm stand.

»Wo bringen Sie mich hin?«

Der Bewacher schwieg und blickte starr geradeaus.

Ram vermutete, dass er hier als Unperson galt, mit der man nicht sprach, aber dann kam doch eine Antwort.

»Sie werden vollständig gelöscht«, sagte der Mann, ohne ihn anzusehen.

Ram spürte, wie kalte Panik über seinen Rücken kroch.

Gelöscht … Die wollen meine Lebenserinnerungen ausradieren – und das können sie auch, denn einen bestimmten Zeitraum haben sie ja schon aus meinem Gedächtnis entfernt.

Fuck. Und ich kann nichts dagegen tun.

Der Lkw fuhr gerade auf ein riesiges Stahltor zu, das von einem Betonwall mit Stacheldrahtrollen begrenzt wurde.

Ram hatte das schreckliche Gefühl, dass er für immer hinter diesen Mauern verschwinden würde.

Oder das, was dann noch von ihm übrig war.

Nachdem die Wachen auf der Pritsche den Menschen, die vor dem Tor standen, mit gebieterischen Gesten klargemacht hatten, dass sie die Einfahrt freigeben sollen, öffnete sich der Zugang automatisch.

In dem Moment, in dem der Transporter auf das abgeschirmte Gelände fuhr, stellte Ram fest, dass er sich geirrt hatte.

Dass er durchaus etwas gegen seine Verhaftung und die geplante neurologische Neuprogrammierung unternehmen konnte.

Er musste nur seine Superkräfte einsetzen. Türen und Schlösser mit der Kraft des Bewusstseins manipulieren, die Gedanken der Männer mit den Waffen lesen, den Wachen seinen Willen aufzwingen …

Doch Ram fand diese Spezialfähigkeiten nicht. Er konzentrierte sich auf alles, was in ihm war. Dann auf das, was er um sich herum wahrnahm.

Vergeblich.

Als sich das Stahltor hinter dem Pritschenwagen schloss, wusste er, dass er verloren hatte, dass er endgültig aufgeben musste – und erwachte.

Ram schnaufte heftig. Es dauerte eine Weile, bis er begriff, wo er war.

Dann schloss er seine Augen noch einmal, um seinen Traum möglichst gut in Erinnerung zu behalten. Könnte wichtig sein, dachte er. Ich glaube, diese Horrorgeschichte will mir etwas sagen. Auch wenn ich nicht weiß, was.

Nachdem er seinen Albtraum noch einmal durchgegangen war, öffnete er die Augen und wälzte sich auf die rechte Seite.

Die Morgensonne fiel durch die offene Hüttentür.

Ram zuckte zusammen.

Vor seiner Matratze, vielleicht vierzig Zentimeter entfernt, stand eine Schildkröte und glotzte ihn an.

Das Tier war erstaunlich groß. Es hatte einen faltigen Hals und einen starren Blick.

Diese Schildkröte sieht uralt aus. Absolut unglaublich …

»Hallo«, sagte Ram leise.

Keine Reaktion. Das Tier starrte ihn immer noch an und bewegte sich nicht.

Minuten vergingen, bis Ram sich traute, langsam die Hand auszustrecken und die Schildkröte am Panzer anzufassen.

Das Reptil öffnete sein Maul wie in Zeitlupe.

Ram ließ den Panzer los und zog seine Hand wieder zurück.

Will sie mich jetzt beißen?

Nein. Sie gähnt bloß.

In diesem Moment hatte Ram den Eindruck, dass ihm das Tier etwas mitteilen wollte.

Er konzentrierte sich darauf, diese Botschaft zu empfangen.

Dann gab er auf.

Keine Chance. Es funktioniert nicht. Aber es fühlt sich so an, als ob nur noch ein kleines bisschen fehlt …

Nachdem sie sich einige Minuten angeglotzt hatten, schien die Neugier der Schildkröte befriedigt zu sein. Sie drehte sich um und stapfte gemächlich zur offenen Hüttentür. Schließlich verschwand sie ins Freie.

Ram lag immer noch auf dem Bett. Der Glanz der Morgensonne tauchte den Raum in ein magisches Licht. Alle Gegenstände, auf die Rams Blick fiel, funkelten und pulsierten. Sie schienen lebendig zu werden und miteinander zu sprechen.

Auf dem Weg zur Außendusche verlief Ram sich zweimal, obwohl es nur ein paar Meter waren, die er eigentlich in- und auswendig kannte.

Dabei unterhielt er sich ausführlich mit allem, was ihm begegnete. Ram war fest davon überzeugt, dass ihm die beseelte Welt irgendwann eine Antwort geben würde.

Und als er dann unter der Kanisterdusche stand, sang er ein irisches Sauflied. Aus vollem Halse.

Zwei Minuten später war er wieder in der Hütte.

Dort fand er T-Shirt und Boxershorts, die er irgendwann zum Trocknen über die Stühle gehängt hatte.

Ram zog sich an. Etwas sagte ihm, dass er sich heute vollständig ankleiden sollte.

Nachdem er die Kaffeemaschine angeschaltet hatte, ging er in die Küche.

Auch das, was er im Kühlschrank und im Vorratsregal vorfand, sah jetzt ganz anders aus. Die Lebensmittel strahlten und pulsierten genauso intensiv wie alles andere, was Ram umgab.

Er schälte ein paar Kartoffeln, putzte Gemüse und zerkleinerte schließlich alles auf einem Schneidebrett.

Und als die Bratkartoffeln zusammen mit einer Handvoll Speckwürfel in der Pfanne auf dem Herd brutzelten, begriff Ram, was ihm die Krabbe, der Traum und die Schildkröte sagen wollten.

Es war die Antwort auf die Frage nach seiner Existenz. Eine denkbar einfache Antwort.

Es spielt überhaupt keine Rolle, ob mich Gott einer Prüfung unterzieht oder nicht, denn ich bin in dieser Welt Gott. Ich trinke Kaffee und Beamish, also finde ich in der Hütte Kaffeepulver und irisches Bier. Ich wünsche mir einen Sonnenschutz für meinen Kopf – fünf Sekunden später hängt ein Hut mit einer Sonnenbrille an der Tür. Ich sehne mich nach Veränderung, und der immergleiche Vogelschwarm wechselt das Aussehen. Und wenn ich mich einsam fühle, reden Krabben und Schildkröten mit mir.

Diese Insel wird von meinem Bewusstsein kontrolliert. Vielleicht hab ich sie sogar selbst erschaffen.

Als das Essen fertig war, schaufelte Ram einen Riesenhaufen Bratkartoffeln aus der Pfanne auf einen großen Teller.

Er überlegte, wie er seine Theorie beweisen konnte.

»Ganz einfach«, sagt er zu der dampfenden Frühstücksportion. »Durch dreiste Forderungen. Ich wünsche mir eine hübsche Frau. Als Inselgott steht mir das zu.«

Ram stellte sein Frühstück auf ein Tablett und ging zum Tisch.

Da bewegte sich doch was! Er zuckte zusammen. Fast wäre ihm sein Essen heruntergefallen.

Am Tisch, auf dem zweiten Stuhl, den er nie benutzt hatte, saß jemand.

Ein gut aussehendes, rothaariges Mädchen in einem leuchtend blauen Kleid. Es sah ihn an und lächelte.

»Good morning, my love.«

Offenbar sprach die junge Frau Englisch. Sie kannte ihn, und sie schien ihn zu mögen.

Das Mädchen löste etwas in ihm aus, aber es fühlte sich nicht wie eine echte Erinnerung an. Eher wie ein Déjà-vu.

Obwohl er zitterte, gelangte Ram zum Hüttentisch und stellte das Geschirr ab.

Er setzte sich auf seinen Stuhl und versuchte, zu lächeln.

»Hello.«

Dann fiel ihm ein, dass ein guter Gastgeber auch einem herbeigezauberten Besuch etwas anbieten musste.

»Möchtest du mit mir frühstücken?«

Ram deutete erst auf seinen Teller, dann auf den Herd. »Es ist noch genug da von dem Zeug.«

»Nein, danke, Ram«, sagte die junge Frau. »Ich hab keinen Hunger. Außerdem bin ich Vegetarierin, wie du weißt.«

»Äh, was … Oder willst du etwas trinken? Kaffee, Wasser … oder vielleicht ein Bier?«

Mist, dachte Ram, das war die falsche Frage.Sie sieht wirklich nicht aus wie ein Mädchen, das morgens schon das erste Bier aufmacht.

Die junge Frau verzog das Gesicht.

»Ein Bier? Nein. Sag mal, weißt du nicht mehr, wer ich bin?«

Ram zögerte. Dann beschloss er, ehrlich zu sein.

»Nein, das hab ich offenbar vergessen.«

»Soll das ein Witz sein? Violet«, sagte das Mädchen mit Nachdruck. »Violet Hooper aus Bristol. Wir sind Freunde. Du hast mir das Leben gerettet.«

»Jetzt rettest du meines.«

»Kannst du dich wirklich an gar nichts erinnern?«

Ram wich ihrem Blick aus.

»Tut mir leid.«

»Spinnst du?«, fragte Violet empört. »Das kann doch nicht wahr sein! Du spielst mir doch was vor.«

Ram schüttelte den Kopf.

»Nein. Seit ich hier lebe, leide ich unter Gedächtnisverlust. Leider.«

»Schade«, murmelte Violet. »Ich träume von dir, und du bist gar nicht da. Zumindest nicht als der Ram, dem ich etwas bedeute …«

»Glaubst du, dass das ein Traum ist?«

»Gerade hab ich im Pflegeheim auf dem Klappbett für den Nachtdienst geschlafen. Natürlich ist das ein Traum. Einer, von dem man weiß, dass man träumt.«

Ich darf ihr das auf keinen Fall ausreden, dachte Ram. Wenn sie erfährt, dass ich Gott bin und sie einfach herbefohlen habe, bekommt sie den Schock ihres Lebens.

Also sagte er nur: »Ein Teil meiner Erinnerungen wurde gelöscht. Keine Ahnung, ob’s dabei um ein paar Tage geht oder um Jahre, aber diese Erinnerungen sind nicht mehr da.«

»Scheiße, das waren doch bestimmt die Leute von Progressive Cybernetix?«

Progressive Cybernetix? Was meint sie damit?

Ram zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung.«

Violet nickte.

»Natürlich, woher solltest du das wissen. Wenn die PC-Typen dein Gedächtnis gelöscht haben, wären sie bescheuert, wenn sie dir ausgerechnet die Erinnerungen lassen würden, bei denen es um die Firma geht …«

Ram seufzte. Er war total verwirrt.

»Es ist ja nett, dass du mir das alles erzählst, aber …«

»Aber du verstehst kein Wort.«

»Nicht wirklich.«

»Wir haben ein paar Tage miteinander verbracht, die mir sehr wichtig waren, und du weißt von nichts. Demenz mit Anfang dreißig. Was für ein bescheuerter Traum …«

Ram machte eine entschuldigende Geste.

»Sorry, Violet. Ich finde das auch zum Kotzen, aber ich habe mir die Erinnerungslücken nicht ausgesucht. Auf jeden Fall ist es schön, dass du hier bist.«

»Ach, Ram.« Violet seufzte. »Es hat mich geschockt, dass du dich nicht mehr an mich erinnerst, aber ich sehe ja, dass du dir Mühe gibst, nett zu sein. Mach dir nicht zu viele Gedanken deswegen. Wo sind wir hier eigentlich?«

»Auf einer tropischen Insel. Wahrscheinlich irgendwo in der Südsee – obwohl ich bezweifle, dass da Kolibris herumfliegen wie hier. Papageien und Schildkröten gibt’s auch, aber keine anderen Menschen. Und einen schönen weißen Sandstrand.«

»Das klingt romantisch.«

»Echt?«

»Echt. Zeigst du mir den Strand, wenn du gegessen hast?«

»Mit dem größten Vergnügen.«

»Aber ich kriege schnell einen Sonnenbrand.«

»Es ist Sonnenmilch in der Hütte. Mit Lichtschutzfaktor vierzig.«

»Umso besser.« Violet lächelte. »Man weiß nie, ob man im Traum einen Sonnenbrand bekommen kann.«

Ram nickte. »Ich bin sicher, dass meine Traumsonnencreme deine Haut hervorragend vor den geträumten UV-Strahlen beschützen wird.«

Bald lagen sie nebeneinander im Sand in der Morgensonne. Auf der Seite, den Kopf auf den Arm gestützt.

»Willst du, dass ich dir erzähle, was wir zusammen erlebt haben?«, fragte Violet.