Das andere Achtundsechzig - Christina Hodenberg - E-Book

Das andere Achtundsechzig E-Book

Christina Hodenberg

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Beschreibung

50 Jahre nach „1968“ ist es Zeit für einen frischen Blick auf die Ereignisse, die bis heute die Republik spalten. Anhand von erstmals ausgewerteten neuen Quellen erschüttert Christina von Hodenberg die alten Gewissheiten und zeigt das andere Achtundsechzig jenseits der immer wieder erzählten Legenden. In unserer Erinnerung ist Achtundsechzig eine Angelegenheit junger männlicher Studenten in Großstädten wie Berlin und Frankfurt. Im Hintergrund wirkt ein Generationenkonflikt, der sich aus dem Streit um die NS-Vergangenheit speist. Rudi Dutschke, der SDS und die Berliner Kommune I stehen im Mittelpunkt der Darstellung. Doch war das wirklich alles? In ihrem glänzend geschriebenen Buch zeigt Christina von Hodenberg, was an diesem Bild nicht stimmt und was es auslässt. Achtundsechzig war auch weiblich, es spielte ebenso abseits der großen Metropolen, die NS-Vergangenheit war nicht die zentrale Antriebskraft und die Eltern hatten viel mehr Verständnis für die Anliegen ihrer Kinder, als es im Rückblick scheint. Indem es das in den Blick nimmt, was sonst meist ausgeblendet wird, liefert dieses Buch die erste wahre Gesellschaftsgeschichte der Revolte von 1968.

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Seitenzahl: 417

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Christina von Hodenberg

Das andere Achtundsechzig

Gesellschaftsgeschichte einer Revolte

C.H.Beck

Zum Buch

In unserer Erinnerung ist Achtundsechzig eine Angelegenheit junger männlicher Studenten in Großstädten wie Berlin und Frankfurt. Im Hintergrund wirkt ein Generationenkonflikt, der sich aus dem Streit um die NS-Vergangenheit speist. Rudi Dutschke, der SDS und die Berliner Kommune I stehen im Mittelpunkt der Darstellung. Doch war das wirklich alles? Christina von Hodenberg zeigt, was an diesem Bild nicht stimmt und was es auslässt. Achtundsechzig war auch weiblich, es spielte ebenso abseits der großen Metropolen, die NS-Vergangenheit war nicht die zentrale Antriebskraft und die Eltern hatten viel mehr Verständnis für die Anliegen ihrer Kinder, als es im Rückblick scheint. In ihrem anschaulich geschriebenen, innovativen Buch weitet Christina von Hodenberg den Blick anhand von erstmals ausgewerteten neuen Quellen und zeigt das andere Achtundsechzig jenseits der immer wieder erzählten Legenden. Indem es das in den Blick nimmt, was sonst meist ausgeblendet wird, liefert dieses Buch die erste wahre Gesellschaftsgeschichte der Revolte von 1968.

Über die Autorin

Christina von Hodenberg ist Professorin für Europäische Geschichte an der Queen Mary University in London.

Inhalt

1  Einleitung: Stimmen aus dem Jenseits

2  Der Schah-Besuch in Bonn und Berlin

3  Von Kriegskindern und Nazieltern

4  Trau keinem über 60? Die Rolle der Alten

5  Achtundsechzig war weiblich

6  Wer zweimal mit derselben pennt: Varianten sexueller Befreiung

7  Epilog: Was bleibt von Achtundsechzig?

Dank

Nachtrag zur Quellengrundlage

Anmerkungen

1  Einleitung: Stimmen aus dem Jenseits

2  Der Schah-Besuch in Bonn und Berlin

3  Von Kriegskindern und Nazieltern

4  Trau keinem über 60? Die Rolle der Alten

5  Achtundsechzig war weiblich

6  Wer zweimal mit derselben pennt: Varianten sexueller Befreiung

7  Epilog: Was bleibt von Achtundsechzig?

Literaturverzeichnis

Archive

Interviews der Autorin

Gespräche geführt von Horst-Pierre Bothien, Stadtmuseum Bonn (SMB)

Videomaterial

Zeitungen

Literatur

Abkürzungsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Personenregister

1  Einleitung: Stimmen aus dem Jenseits

Es war an einem Tag im Februar, in Halle an der Saale, als ich Stimmen zu hören begann. Eine junge, weibliche Stimme sagte: «Was meinen Sie, wodurch unterscheidet sich die Jugend heute von der Jugend zu Ihrer Zeit damals?» Eine ältere Frauenstimme antwortete emphatisch: «Die sind nicht schlechter wie wir, die sind wirklich nicht schlechter wie wir waren! Nur wir Älteren müssten uns Mühe geben, die Jugend zu verstehen, und daran hapert es … Wir haben doch freie Meinungsäußerung, auch die Jugendlichen.» Ich hörte Schritte, ein Fenster wurde geöffnet, ein Bus fuhr lärmend vorbei. Dann begann die alte Stimme von ihrer Jugendzeit zu erzählen. Sie sei 1919 geboren und habe mit dem BDM Heimabende und Fahrten erlebt. «Da musste man drin sein, und das war ja eine staatliche gelenkte Jugend, wie sie jetzt drüben auch ist … Na ja, nun, es gab eben ein gewisses Stillschweigen … über Politik konnten Sie gar nicht sprechen, wenn Sie da anderer Meinung waren, da war schon Ebbe.» Dass die jungen Leute sich heutzutage für Politik interessierten, sei doch wunderbar. Ausführlich und hörbar erregt beschrieb die alte Stimme dann, wie erst ihr Vater und dann der Krieg ihre Berufswünsche vereitelt hätten. Sie habe Friseuse werden wollen oder Krankenschwester, und länger die Schule besuchen wollen. Stattdessen habe sie als Telefonistin anlernen müssen. Eine solche Bevormundung dürfe es heute nicht mehr geben! Ihr Sohn solle alle Chancen haben, «dass er eben einen ordentlichen Beruf lernt – kein Gammeln und kein Hippie, das auf keinen Fall». Zwar habe sie ihren Sohn schon mal wegen der «langen Mähne … ein bisschen ins Gebet genommen», damit er «ein bisschen manierlicher» ausschaue. Aber «wenn er morgen käme und sagen würde, ich bin Kommunist, ich finde das gut – ja, ich kann es doch nicht ändern, und ich glaube, das wird heute ein bisschen verkehrt gemacht.» Auch bei ihrer Tochter würde sie politisches Engagement sehr begrüßen: «Ich meine, es sind viel zu wenig Frauen in der Politik.»

Nun mischte sich die jüngere Stimme wieder ein und versuchte, das Gespräch auf Einstellungen zur Jugend zurückzulenken. Doch die ältere Stimme erklärte, fester als zuvor: «Wir haben ja genug mitgemacht im Leben, die Jahre 33 bis 45 – und wenn möglich, sollte man das der Jugend ja ersparen. Wir sind ja wohl – unser Volk hat viele Fehler gemacht und die sollten nie wieder passieren … und ich möchte nicht, dass unsere Jugend das einmal durchmacht, was mit den Juden geschehen ist. Sind doch auch Menschen, dass sie geschäftstüchtig sind, ist doch kein Fehler.»

Ich wunderte mich. Dass eine Hausfrau um die 50 Vorurteile gegen Juden hegte und lange Haare ablehnte, passte in mein Bild von Achtundsechzig – nicht aber die Selbstverständlichkeit, mit der sie die Studentenproteste und sogar Kommunisten verteidigte. Die Tür ging auf und meine zehnjährige Tochter steckte den Kopf herein. «Mama, mit wem redest Du denn da?» Ich drückte den Knopf am Tonbandgerät, einem acht Kilo schweren, antiken Brocken. Er sprang mit einem Knacken heraus und die Stimmen verstummten. Ich erklärte ihr, dass die Magnetspulen vor 50 Jahren mit Gesprächen bespielt worden seien. Dies hier seien die damals 49-jährige Frau Hahn und ihre junge Interviewerin, eine Studentin der Psychologie. Aber es gebe da noch mehr als 600 andere Tonbänder, ich hätte also noch viel zu tun. Damit vertröstete ich meine Tochter auf weitere Einzelheiten beim Abendessen. Frau Hahns Stimme kam zurück und erzählte, mit der eigenen Mutter, einer begeisterten Nationalsozialistin, sei sie politisch über Kreuz gewesen. «Aber einer hat es dem anderen nicht vorgeworfen. Einer hat den anderen akzeptiert.» Ich wechselte das Band und hörte als Nächstes die Stimmen zweier Männer, die sich aufgeregt über die Studentenproteste nach dem Schah-Besuch im Juni 1967 austauschten. Sie schienen sich weitgehend einig in ihrer Deutung der Geschehnisse. Die ältere Stimme sagte: «Aber diese Gewalttätigkeit, diese Demonstrationen, die man oft sieht von Studentenseite, die machen – also da sehe ich nicht klar – die machen mir etwas Kopfzerbrechen.» Auch die jüngere Stimme vermutete «eine gewisse Gefahr darin. Es sind einige doch ziemlich radikale darunter, teilweise auch hochintelligente Leute.» Der Alte betonte, «dass diese radikalen Gruppen den anderen immer weit überlegen sind … Mit einem Mut, mit einer Verbissenheit tun die diskutieren, und in ihrer Fanatik gehen sie von dem, was sie haben, nicht ab … Die geben nichts nach. Wie im Nationalsozialismus: nichts nachgeben.» Ja, pflichtete der Jüngere bei, «die wollen also tatsächlich provozieren … Ich sehe da eine ziemlich große Gefahr.» Wieder war ich von den Socken. Dass der alte Herr Jäger, ein 1905 geborener Handwerker, die Proteste ablehnen würde, hatte ich erwartet. Aber sein junger, gerade mal 27-jähriger Gesprächspartner?

Die Stimmen, die ich hörte, erschütterten mein Bild von Achtundsechzig. Ich begann, systematisch Interviews zu sammeln. Immer wieder lief das alte Tonbandgerät, Marke UHER Universal 5000, so heiß, dass ich es zwischendurch länger abschalten musste. Gespräche mit ehemaligen Schülern und Studenten der Zeit bescherten mir neue Überraschungen. Da war zum Beispiel der schüchterne 20-Jährige, der alles Militärische hasste und lange Haare verteidigte, zugleich aber vor allem am Geldverdienen interessiert war. Oder die Stimme von Ulrich Rosenbaum, 1968 Chefredakteur der Bonner Studentenzeitung akut. Auf sein Elternhaus angesprochen, berichtete er sofort, «dass auch meine Eltern eine Nazivergangenheit hatten». Aber dann fuhr er fort: «Also, das war für mich kein so großes Thema, obwohl ich auch Geschichte studiert habe. Ich habe das halt so akzeptiert, das Elternhaus, wie es war, und habe damit auch keine Probleme gehabt. Ich habe nur gesehen, dass ich meinen eigenen Weg gegangen bin. Und das Interessante ist, dass dann eben auch meine Eltern im Grunde, als ich 1969 in die SPD gegangen bin, plötzlich dann auch zu SPD-Wählern wurden. Insofern hat man dann auch auf diese Weise was bewirkt.» Auch diese Aussage schien mir im Widerspruch zu allem zu stehen, was ich über den Generationenkonflikt der späten Sechziger zu wissen glaubte. Warum nahm der junge Student einfach so hin, dass die Eltern Nazis gewesen waren? Und warum folgten ihm die Eltern auf seinem Weg nach links?[1]

Die Stimmen, die ich hörte, kamen aus dem Jenseits meiner vermeintlich gesicherten Kenntnisse von Achtundsechzig. Weder der junge Psychologe, der die linken Aktivisten kritisierte, noch der Student Ulrich Rosenbaum schienen umstandslos in die Kategorie der «Achtundsechziger» zu passen. Und konnte man Frau Hahn und Herrn Jäger zum Establishment zählen? Je mehr Stimmen ich hörte, desto mehr gewann ich den Eindruck, dass unsere Wahrnehmung von Achtundsechzig größtenteils auf visuellen Quellen beruht, auf Bildern und Filmen, die uns irreführen. Denn die Ikonen der Revolte sind dem Publikum eingebrannt: junge Männer mit wehendem Haar, untergehakt, im Dauerlauf, Plakate und Banner schwenkend. Rudi Dutschke, heftig gestikulierend, auf dem Podium eines überfüllten Hörsaals. Nackte Bewohner einer Berliner Kommune posieren im Wohnzimmer mit dem Rücken zum Fotografen. Die Aktionen eines kleinen Kerns einer jugendlichen, männlichen, intellektuellen, großstädtischen Elite sind in den Medien millionenfach, plakativ vervielfältigt worden. Ist es möglich, dass die immer wieder neu aufgelegten Fotos von damals uns zu liebgewonnenen Missverständnissen verleiten? Dass sie nur einen verschwindend kleinen Ausschnitt dessen zeigen, was die Revolte ausmachte – und zwar nur denjenigen Teil der Akteure, der die Massenmedien für sich gewann?

Diese Frage war der Anstoß, dieses Buch zu schreiben. Ich wollte meinen Ohren stärker trauen als meinen Augen und meinen Tonbändern mehr als den visuellen Ikonen der Revolte. Denn in den magnetisch gespeicherten Gesprächen der späten sechziger Jahre, die mein altes Gerät wieder zum Leben erweckte, äußern sich Leute aus allen Schichten der Gesellschaft. Die meisten sind wenig gebildet, und jeder zweite Befragte ist eine Frau. Zu mehr als 200 über 60-Jährigen kommen 89 Interviews mit Leuten im besten Alter zwischen Mitte 30 und Ende 50. Dazu treten neue und alte Gespräche mit 22 ehemaligen Studenten und Doktoranden. Meine Stimmen vom Band fangen damit die Haltungen dreier Generationen ein (der jungen, der mittleren und der alten), die die protestbewegte Zeit der späten Sechziger erlebten. Und während die Interviewten stets über Politik und ihre Einstellung zu den anderen Generationen sprachen, redeten sie mindestens ebenso viel über ihre Familien und privaten Lebensumstände.

Deswegen ist dieses Buch eine etwas andere Darstellung von Achtundsechzig, die die gesamte Gesellschaft ins Auge fasst. Viele Ereignisse und Akteure lassen sich wiedererkennen: der SDS und die Kommune 1, Rudi Dutschke und Benno Ohnesorg, der Schah-Besuch und die großen Demonstrationen, West-Berlin und Frankfurt. Sie kommen durchaus vor. Aber neben den medienwirksamen Zusammenstößen von Studenten mit Polizei, Professoren und Politikern werden die Gespräche in den Familien, die privaten Beziehungen zwischen den Generationen und Geschlechtern greifbar. Der Wandel der Lebensstile in der Tiefe der Gesellschaft, die Emanzipation der Frauen und die Befreiung der Sexualität sind ebenso wichtig wie die politischen Theorien der Neuen Linken und ihr Streben nach der sozialistischen Revolution. Vor allem aber werden hier die Menschen jenseits der dreißig, die Frauen, die Mittel- und Unterschichten, auch jene, die abseits der Großstadt wohnten, Gehör finden. Um die Rolle von Achtundsechzig für den geschichtlichen Wandel genauer zu bestimmen, konzentriere ich mich auf die Kernphase der Proteste in den Jahren 1966 bis 1969. Zwar waren die damaligen Geschehnisse auf vielfältige Weise in die «langen sechziger Jahre» von etwa 1957 bis 1973 eingebettet, aber für den politischen, kulturellen und sexuellen Wandel der Zeit hatten die Aufbrüche und Rebellionen der späten sechziger Jahre eine erkennbar herausgehobene Funktion.[2]

Diejenigen Protagonisten, die wir heute landläufig als Achtundsechziger verstehen – eine kleine studentische Elite in den Hochburgen der Protestbewegung, die damals nicht mehr als ein paar tausend zählte[3] –, werden nur in manchen Szenen des hier entfalteten Dramas Hauptrollen spielen. In anderen Szenen tauchen sie als Nebendarsteller oder Betrachter auf. Das mag Verwunderung auslösen. Denn in den fünf Jahrzehnten seit 1968 hat sich in Deutschland eine klassische Erzählung etabliert, die mit nur leichten Variationen immergleich durch die Feuilletonspalten, Talkshows, Bestseller und Fachbücher geistert. Angelehnt an die Fernseh- und Illustriertenberichte der Jahre 1967 bis 1969 sind Rudi Dutschke, die Kommune 1 und der sozialistische Studentenverband SDS zu den Stars der Handlung geworden. Schon die zeitgenössischen Massenmedien schenkten gerade den Protesten in West-Berlin, sei es an der Freien Universität oder in den ersten Kommunen, «unverhältnismäßig starke Aufmerksamkeit». Die Reportagen in BILD, Stern, Spiegel, Quick und den öffentlich-rechtlichen Fernsehkanälen lehnten sich an bereits zuvor etablierte, nordamerikanische Muster der Berichterstattung an. Sit-ins, langhaarige Studenten, prügelnde Polizisten flimmerten über die Bildschirme und dominierten die Fotostrecken in den Illustrierten.[4] In diesem Kielwasser folgte eine westdeutsche Geschichtsschreibung, die sich ebenso stark auf die Großstädte Berlin und Frankfurt und die linken Studenten an den Universitäten fixierte. Getragen von Zeitzeugen, die ehemals selbst Aktivisten gewesen waren, schrieben Politologen und Historiker eine Saga von Achtundsechzig fort, in der junge männliche Studenten zu Standartenträgern des Wandels wurden. Zum vierzigjährigen Jubiläum der Revolte im Jahr 2008 erschienen Dutzende entsprechender Darstellungen, in denen Berliner Barrikaden und Frankfurter Demonstrationen, Auseinandersetzungen in Hörsälen und der Ideenwettstreit der Linken erneut im Mittelpunkt standen.[5] Selbst abwägende Beiträge der jüngsten Zeit, die das westdeutsche Achtundsechzig eher als Kulturrevolution oder massenmediales Spektakel statt als politische Rebellion verstehen, bleiben dem Tunnelblick auf SDS, Studenten und Berlin fast immer treu.[6] Doch ist dies eine Verengung und Verzerrung des Blicks. Die dabei aufgesetzte Brille lässt einzelne, kleinere Teile des Angeschauten übermäßig stark hervortreten, während alles andere verschwimmt und die Konturen bis zur Unkenntlichkeit verwischen.

Die Brille, durch die wir Achtundsechzig zu sehen gelernt haben, ist bildungsbürgerlich geschliffen. Und dass gerade Historiker ihre Gegenstände gern durch die bildungsbürgerliche Brille betrachten, ist beileibe kein neues Phänomen. Die tiefe Bindung an das Bildungsbürgertum hat in der Geschichtsschreibung immer wieder dazu geführt, dass die schriftlichen Zeugnisse einer männlichen, gebildeten Elite die Deutung des Geschehenen dominieren. Die klassischen, leicht zugänglichen Quellen geben vor allem Debatten zwischen wortgewandten, fast ausnahmslos männlichen Bildungsbürgern wieder. Ob Ministerialakten oder Spiegel-Artikel, Parlamentsdebatten oder Parteiprogramme, schöngeistige Romane oder Autobiographien – die hochgebildeten Männer beherrschen unsere Perspektive auf die Vergangenheit. Wie leicht dies dazu führen kann, die gesamtgesellschaftliche Bedeutung von Zäsuren zu verkennen, zeigt die Wahrnehmung von «1914». Jahrzehntelang war unsere Vorstellung des Ersten Weltkriegs vom Blick auf die akademische männliche Jugend geprägt, über deren enthusiastische Kriegsbegeisterung die Tagespresse damals wortreich geschwärmt hatte. Die Beschwörung des «Augusterlebnisses» der Freiwilligen und der «Ideen von 1914» entpuppte sich erst dann als irreführend, als Historiker in den neunziger Jahren neue Quellen hinzuzogen, die die ganz anders ausfallende Reaktion der ländlichen Bevölkerung und der Arbeiter auf den Kriegsausbruch erschlossen. Viel häufiger als gedacht war der Krieg auf Skepsis, Abwarten und Besorgnis getroffen.[7]

Um das andere Achtundsechzig jenseits der bildungsbürgerlichen Fixierung zu entdecken, nutze ich also neue Quellen, die die Stimmen der anderen – der weniger Gebildeten, der Frauen und der Älteren – privilegieren. Zudem wende ich einige Kunstgriffe an. Ich gewichte die Sphäre des Privaten ebenso stark wie die der Politik. Und ich blicke auf ein kleinstädtisches Gegenbeispiel, um dem Aufmerksamkeitssog der Großstädte Berlin und Frankfurt entgegenzuwirken.

Denn Achtundsechzig spielte fast überall in Westdeutschland. An sämtlichen Provinzuniversitäten gab es damals heiße Wahlkämpfe für die Studentenparlamente, eine Vielzahl aktiver Studentenverbände, Trauerkundgebungen für Benno Ohnesorg und hochschulpolitische Demonstrationen.[8] Mein Beispiel ist Bonn – zum einen, weil die Stimmen auf meinen Tonbändern aus Bonn stammen (dazu gleich mehr). Zum anderen war Bonn aber auch Hauptstadt der Bundesrepublik. Der gewollt provisorische Charakter als Hauptstadt des westdeutschen Teils einer gespaltenen Nation führte zu einer ungewöhnlichen Mischung aus kleinstädtischem Horizont und Weltpolitik. Im rheinischen «Bundesdorf» prallten täglich Welten aufeinander. In den Spalten des General-Anzeigers für Bonn und Umgegend wurde über neunzigste Geburtstage, goldene Hochzeiten und nächtens krähende Hähne ebenso breit berichtet wie über glanzvolle Staatsbesuche umstrittener Diktatoren oder riesige Protestzüge der außerparlamentarischen Opposition. Mit der kulturellen Elite, der Medienkonzentration und den Verkehrsverbindungen West-Berlins, Frankfurts oder Hamburgs konnte Bonn nicht mithalten. Aber der nicht abreißende Reigen von Staatsbesuchern und Demonstrationsmärschen sowie das ungewöhnlich reichhaltige Kulturprogramm und die Präsenz zahlreicher Politiker, Lobbyisten und ausländischer Gesandter trugen die hohe Politik in den Alltag. Ein Viertel der 280.000 Einwohner waren Bundesbedienstete, Diplomaten und Journalisten; weitere 25.000 waren Studenten. Bundespolitische Skandale, wie beispielsweise um die braune Vergangenheit des Bundespräsidenten Heinrich Lübke, schlugen sich an der Bonner Universität in Zusammenstößen zwischen Studenten und Polizei nieder, die an Radikalität West-Berliner Verhältnissen kaum nachstanden. Wer in und um Bonn lebte, ob Studentin oder Arbeiter, Hausfrau oder Rentner, konnte der Politik nur schwer entfliehen.[9]

Die Abwanderung in die Provinz ist ein Weg, der bildungsbürgerlichen Perspektive zu entgehen. Ein anderer ist die bewusste Absage an das beliebte Deutungsmuster der «politischen Generationen». Denn in großen Teilen der Geschichtsschreibung hat sich ein Denken durchgesetzt, das in den Unruhen der sechziger Jahre ein geistiges Ringen zweier politischer Generationen erkennt: Die sogenannten «Achtundsechziger» forderten ihre Vorgängergeneration, die «Fünfundvierziger», heraus. Die Fünfundvierziger, um 1968 etwa Mitte 30 bis 50 Jahre alt, hatten das nationalsozialistische Deutschland nur als Kinder und Teenager erlebt und waren – weil unbelastet – als junge Erwachsene rasch in verantwortliche Positionen in Politik, Medien und Universitäten aufgerückt. Das Kriegsende 1945 wurde zum Wendepunkt ihres Lebens, das viele von ihnen fortan der Westernisierung und inneren Demokratisierung der Bundesrepublik widmeten. Zu dieser Gruppe werden Persönlichkeiten wie Helmut Kohl, Rudolf Augstein, Ralf Dahrendorf, Jürgen Habermas, Joachim Fest oder Hans-Ulrich Wehler gerechnet. Manche Historiker feiern die Fünfundvierziger, und eben nicht die studentischen Achtundsechziger, als Vorreiter einer langfristigen Liberalisierung Westdeutschlands. So wird Geschichte zum Duell der politischen Generationen.[10]

Achtundsechzig als Kampf zwischen politischen Generationen zu begreifen, heißt jedoch erneut, sich nur männlichen Intellektuellen zu widmen.[11] Denn der erz-bildungsbürgerlichen Herkunft des Denkmusters der politischen Generation, 1928 von Karl Mannheim erfunden, ist nicht zu entkommen. In Mannheims Konzept geht es um Männer, die an der Front oder in Jugendverbänden politisch sozialisiert worden sind; um Bildungsbürger, die einen politischen Gestaltungswillen im Kampf gegen andere durchsetzen wollen. Sich als Angehöriger einer politischen Generation darzustellen, ist deshalb auch heute noch ein typisch männliches Unterfangen. Die Lebenserfahrungen und -ziele von Frauen passen einfach nicht in dieses Schema. Weibliche politische Generationen zu denken, fällt uns schwer.[12] Deswegen war es mir nicht gelungen, die Stimme von Frau Hahn, aber auch andere weibliche und nicht-bürgerliche Stimmen in die bekannten Muster von Achtundsechzig einzuordnen. Die Leute auf meinen Tonbändern sprachen eine andere Sprache. Selbst wenn sie direkt danach gefragt wurden, redeten sie nur ungern über Ideologien, politische Ziele und Dispute. Bei ihnen ging es eher um alltägliche Reibereien, private Beziehungen, Geld und Gefühle. Sie stellten sich weniger als Teil einer politischen Generation dar denn als Glied einer familiären Generationenabfolge von Großeltern, Eltern und Kindern.

Auch mit dem Begriff der familiären Generationen wird in heutigen Darstellungen von Achtundsechzig gerne gearbeitet. Das gängige Argumentationsmuster lautet, dass die protestierenden Studenten die Kinder von nazifizierten Eltern gewesen seien. Weiterhin wird spekuliert, dass die jungen Rebellen in den Familien Vorwürfe gegen ihre verstrickten, schweigenden Eltern erhoben. Tiefe private Zerwürfnisse zwischen Alt und Jung seien die Folge gewesen.[13] Oft wird zudem das überaus beliebte Bild des Vater-Sohn-Konflikts als Chiffre für Achtundsechzig bemüht. Dann ist vom Bewusstsein der Jugend um die «Untat der Väter», vom Generationskonflikt über «die Schuld der Väter» und vom Angriff der Jungen auf die «schweigenden Patriarchen» der «NS-Funktionsgeneration» die Rede.[14] Solche steilen Thesen sind erstens kaum belegt (sieht man von Einzelfällen ab) und vermischen zweitens unzulässig familiäre und politische Generationen. Dieses Buch wird Achtundsechzig daher nicht im Vorhinein als Generationenkonflikt begreifen, sondern die Auseinandersetzungen der Zeit unvoreingenommen zu ergründen versuchen. Wenn man sich stritt, dann worüber? Wie häufig ging es um die nationalsozialistische Vergangenheit? Und wer entzweite sich mit wem – Kinder mit Eltern oder möglicherweise Großeltern? Entzündeten sich Spannungen zwischen Söhnen, Vätern und Großvätern – oder vielleicht eher zwischen Töchtern, Müttern und Großmüttern, deren Geschlechterrollen damals ungleich stärker auseinanderklafften als die der Männer? Was herrschte am Abendbrottisch: Harmonie, Schweigen oder Konflikt?

Das Stichwort Abendbrottisch führt uns zurück zu jenem Wintertag, an dem meine Tochter mich aus dem Reich der magnetisch konservierten Stimmen in die Realität zurückgeholt hatte. Beim Abendessen forderte sie die versprochenen Details über die 600 Tonbandschachteln in meinem Arbeitszimmer ein. Ich versuchte eine Erklärung. Die Gespräche waren Teil eines 1965 begonnenen wissenschaftlichen Großprojektes, der sogenannten BOLSA oder «Bonner Längsschnittstudie des Alters». 222 alte Leute fuhren damals in regelmäßigen Abständen aus dem Rheinland, Ruhrgebiet und Rhein-Main-Gebiet nach Bonn, um sich im Psychologischen Institut der Bonner Universität interviewen zu lassen. Sie waren kleine Angestellte und Kaufleute, Facharbeiter, Handwerker und Hausfrauen. An der Bonner Universität arbeitete eine rasch wachsende Gruppe von Wissenschaftlern um Professor Hans Thomae und seine Habilitandin Ursula Lehr, die erforschen wollten, wie sich die menschliche Persönlichkeit im Alter veränderte. Altersforschung war noch ein ganz neues Feld; die Bonner Psychologen waren die ersten deutschen Gerontologen.[15] Sie hatten von der VolkswagenStiftung mehrere Millionen eingeworben, um die Untersuchungsteilnehmer zwei Jahrzehnte lang, alle paar Jahre erneut, befragen zu können. Und so kam es, dass die Verkäuferin aus Weiden, die Putzfrau aus Mannheim und die Friseuse aus Frankfurt stundenlang von ihrer Lebensgeschichte und allen Aspekten ihres gegenwärtigen Lebens erzählten und dabei auf Band festgehalten wurden, ebenso wie der Chemiearbeiter aus Kelsterbach, der Bergmann aus Oberhausen und der Polizist aus Wuppertal.

Nun mischte sich mein 13-jähriger Sohn ein. Wer habe die Leute denn ausgesucht und wie, wollte er wissen. Das sei doch nicht repräsentativ, erklärte er, der gerade in seinem naturwissenschaftlichen Gymnasium, Klasse 8, über statistische Grundbegriffe informiert worden war. Ich versuchte geltend zu machen, dass sich die damaligen Psychologen als harte Wissenschaftler verstanden hätten. Sie hätten ein weitgehend repräsentatives Sample rekrutiert, in dem Männer und Frauen gleich stark vertreten waren und die gebildete Oberschicht nur drei Prozent der Befragten ausmachte. Außerdem hätten sie auf die neueste Technologie der Zeit gesetzt: auf Aufnahmen der Gespräche mit Magnettonband und anschließende Auswertung mit den Computern des noch im Aufbau begriffenen universitären Rechenzentrums. Tausende von Interviewstunden seien in Kodes verschlüsselt worden, die verschiedene Seelenzustände oder Grade persönlicher Nähe in Zahlen übertrugen und statistisch berechenbar machen sollten.[16] Hierauf erntete ich aber bei beiden Kindern nur Augenrollen, eine kürzlich perfektionierte Körpertechnik. Ich versuchte daher, ihre Aufmerksamkeit durch einen Appell an die Kreativität zu fesseln. Vielleicht könnten sie mir bei einem Darstellungsproblem helfen? Es helfe nichts, wenn ich meine Tonbandstimmen bei jedem erneuten Auftritt als «jene Probanden, die an der Bonner Längsschnittstudie des Alters teilnahmen» bezeichnen müsste. Ich bräuchte dringend eine Abkürzung, sonst würde ich in die Verzweiflung getrieben. Meine Tochter quittierte diese läppische Taktik mit erneutem Augenrollen, aber schlug statt «jener Probanden, die an der Bonner Längsschnittstudie des Alters teilnahmen» vor: «Bolsaner» und «Bolser». Mein Sohn plädierte erst für «Bolsacs», bevor wir uns auf «Bolsianer» einigten. Auf dieses abendliche Gespräch im Februar 2015 geht es zurück, wenn in diesem Buch immer wieder von «Bolsianern» die Rede sein wird. Denn die 222 Probanden der Studie werden meine Kronzeugen für die Rolle der alten, bis 1908 geborenen Generation in den späten sechziger Jahren sein. Ihnen zur Seite stehen zwei weitere Gruppen von Stimmen.

Der Zufall wollte es, dass sich damals eine zweite, kleinere Forschergruppe am Bonner Lehrstuhl Hans Thomaes mit dem Generationenkonflikt beschäftigte. Ein Team um die Doktorandin Helga Merker befragte zwischen Mai 1967 und August 1968 Frauen und Männer «im mittleren Erwachsenenalter» nach ihrer Meinung zur «heutigen Jugend» und zum Wandel der Erziehungsnormen. Insgesamt 180 Leute aus dem Köln-Bonner Raum, alle Jahrgang 1909 bis 1934, sprachen hier von ihrer eigenen Jugend und verglichen diese mit der Jugend der sechziger Jahre. Erneut wurden vor allem Mittel- und Unterschichtsangehörige mit Volksschulabschluss ausgewählt. Viele der Interviewten kamen ins Erzählen und redeten ausführlich über Studentenproteste, Miniröcke und Beatmusik, aber auch über ihre Zeit als Hitlerjungen und Flakhelfer, Reichsarbeitsmaiden und Soldatenbräute.[17]

Um neben der alten und der mittleren Generation die Stimmen der Jungen nicht zu kurz kommen zu lassen, ergänze ich diese Quellen um Gespräche mit der studentischen Jugend. Aus Beständen des Bonner Stadtmuseums stammen 16 Interviews mit Bonner Studenten, die sich in den Jahren 1967 und 1968 politisch engagiert hatten. Der Museumsmitarbeiter Horst-Pierre Bothien führte diese Gespräche in den Jahren 2005/06 zur Vorbereitung einer Ausstellung zu Achtundsechzig. Dabei interessierte sich der Interviewer besonders für «die Aufklärungsarbeit der Studenten über die NS-Zeit der Uni» und weniger für andere Aspekte wie etwa den Umgang mit Sexualität oder die Emanzipation von Frauen.[18] Zum Ausgleich arrangierte ich gezielt weitere Gespräche mit Frauen, die damals Studentinnen oder Doktorandinnen gewesen waren. Ich befragte auch die Versuchsleiter aus dem Bolsa-Team, sofern dies möglich war. Schließlich zog ich gedruckte und verfilmte Interviews mit Zeitzeuginnen heran.[19] Die methodischen Herausforderungen, die solche «oral history»-Quellen an Historiker stellen, sind in allen Fällen ähnlich.[20]

Auf diese Weise erschließt dieses Buch eine Begegnung der Generationen in den Jahren um 1968 auf drei Ebenen. Junge Psychologen treffen im Bonner Psychologischen Institut mit Versuchsteilnehmern der mittleren und alten Generation zusammen. Junge Leute, Eltern und Großeltern berichten von ihren Auseinandersetzungen mit Angehörigen der jeweils anderen Generationen auf der Straße, bei der Arbeit und in der Familie. Nicht zuletzt spielt sich an den Universitäten und auf den Straßen, sei es Bonns oder West-Berlins, eine öffentliche Konfrontation rebellischer Studenten mit dem «Establishment» ab. Die drei Ebenen der Generationenbegegnung verschränken sich ineinander und berühren sich häufig, ja sie sind ohne einander nicht zu verstehen. Es gilt, das Private und Politische zusammenzudenken und über die Bildungsbürger hinauszugreifen, um die Bedeutung von Achtundsechzig für die deutsche Geschichte zu ergründen. Dabei wird mir zugutekommen, so hoffe ich zumindest, dass ich nicht aus der Position der Zeitzeugin schreibe. Zum Zeitpunkt der Revolte war ich ein Kleinkind; meine Eltern hatten die Universität schon lange verlassen und wurden von den Protesten kaum berührt. Auch deshalb geht es mir nicht mehr darum, das Ereignis Achtundsechzig romantisch zu verklären, es zu verteufeln oder ihm die historische Bedeutung abzusprechen. Ziel dieses Buches ist, das von den Zeitzeugen gewobene Netz der Mythen zu verlassen und mithilfe neuer Quellen und neuer Perspektiven qualitativ andere Erkenntnisse über die gesellschaftlichen Wurzeln und Wirkungen von Achtundsechzig zu gewinnen.

2  Der Schah-Besuch in Bonn und Berlin

Montag, der 29. Mai 1967, war ein schwülwarmer Frühlingstag. Götz und Hedwig Langbein, 72 und 68 Jahre alt, saßen auf einer Bank im Bonner Hofgarten und genossen die Mittagssonne. Am Hofgarten, im Zentrum Bonns, stand das Hauptgebäude der Universität. Das Ehepaar Langbein war um 14 Uhr zu einem Termin in das nahe gelegene Institut für Psychologie geladen; bis dahin erholte es sich von den Strapazen der Anreise aus Frankfurt. Frau Langbein freute sich an den grünen, sonnendurchleuchteten Bäumen und hing ihren Gedanken nach. Herr Langbein, ein pensionierter Bankangestellter, war leidenschaftlicher Zeitungsleser. Er hatte sich am Bahnhof den General-Anzeiger für Bonn und Umgegend gekauft, der an diesem Montag vom glanzvollen Staatsbesuch des persischen Schahs am Wochenende berichtete. «Staatsbesuch des Jahres bei Kaiserwetter – Herrscherpaar vom Pfauenthron hielt Protokoll und Polizei in Atem – Maiglöckchen aus Kinderhand – Kaiserin Farah trug Kronjuwelen – Kaiserliche Gaben: zwei Teppiche», lasen die Langbeins. «Tausende und aber Tausende von Menschen» hatten die Bonner Straßen gesäumt, «um das wohl populärste Kaiserpaar der Welt zu sehen», «Schah Reza Pahlevi und seine märchenfeenhafte Frau Farah Diba». Aber sie lasen auch, dass sich leichte Misstöne in die Feierlichkeiten gemischt hatten: «Pfeiftöne störten Kranzniederlegung – Schah reagierte nicht auf Sprechchöre – Demonstrant mit ausgekugeltem Arm – Schah-Gegner hinter Zeitungsmasken».[1]

Fünf Tage vor den schweren Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Polizei in West-Berlin, bei denen der Student Benno Ohnesorg sein Leben verlor, fünf Tage also vor dem Schlüsselereignis des studentischen Achtundsechzig, war der Schah in weißer Galauniform von Bonn aus nach Schloss Brühl chauffiert worden. Dort wurde er von Bundespräsident Heinrich Lübke empfangen. Zudem hatte der Staatsgast im Hofgarten einen Kranz niedergelegt, vor dem dortigen «Denkmal für die Opfer der Kriege und der Gewaltherrschaft». Frau Langbein bemerkte, dass das bronzene Ehrenmal noch immer von mehreren Polizisten bewacht wurde.[2] Trotz ihrer arthrosegeschädigten Gelenke schlenderte sie auf die südliche Seite des Hofgartens, um den Kranz des Schahs zu betrachten. Schließlich war es kurz vor zwei. Die Langbeins zupften Anzug und Kostüm zurecht und machten sich auf den Weg ins Institut. Beide hatten sich in Schale geworfen. Die etwas füllige Frau Langbein hatte eine goldene Brosche ans Revers ihres schwarzen Blazers geheftet. Der weißhaarige Herr Langbein erschien in Nadelstreifen mit weißem Hemd und dunklem Schlips. Das Ehepaar wusste, was sie im Institut erwartete. Sie reisten selten, aber in Bonn waren sie schon zum dritten Mal. Sie würden von einer Riege junger Diplom-Psychologen begrüßt werden. Noch fragten sie sich, welcher Versuchsleiter ihnen wohl diesmal zugeteilt werden würde; es galt, eine Woche voller Befragungen und psychologischer Tests durchzustehen.

Während sich im Empfangsraum des Psychologischen Instituts nach und nach neun betagte Damen und Herren einfanden – sie kamen in dieser Woche aus Frankfurt, Heidelberg, Kelsterbach, Darmstadt und Friesenheim und waren zwischen 64 und 76 Jahre alt –, entfaltete sich vor dem Institutsgebäude eine andersgeartete Begegnung von Jung und Alt. Drei persische Studenten näherten sich dem Ehrenmal. Sie trugen einen grünen Kranz mit weißer Schleife und der Aufschrift «Für die Opfer des Schah-Regimes: Konföderation iranischer Studenten», den sie neben dem Kranz des Schahs ablegen wollten. Etwa 100 Bonner Studenten, meist junge Männer in Anzug und Schlips, folgten dieser Vorhut. Doch die Polizei holte Verstärkung. 200 Polizeibeamte versperrten fast augenblicklich den Weg zum Denkmal und zwangen die drei Kranzträger, ihr Gebinde vor den Füßen einer Kette von Bereitschaftspolizisten niederzulegen. Der Einsatzleiter erklärte den Demonstranten, ihr Tun stelle eine «Beleidigung des Schahs» dar und sei daher «rechtswidrig». Weil die Studenten sich aber weigerten, den Platz vor dem Ehrenmal zu verlassen, kesselte die Polizei nun sie sowie einige Unbeteiligte stundenlang ein. Als zwei weitere Studenten, Helmut Böttiger und René Herrmann, «mit einem Kranz aus Dornen und Stacheldraht» auftauchten, der «Den Opfern der Schah-Tyrannei» gewidmet war, wurden auch sie in den Kordon aufgenommen. Vor den Augen zahlreicher Passanten wurden schließlich 61 junge Leute verhaftet und zu Verhören ins nahe Polizeipräsidium gefahren. Zu den Festgenommenen gehörten 58 deutsche Studenten, darunter drei Referenten des Bonner Allgemeinen Studentenausschusses (AStA) und der Chefredakteur der Bonner Studentenzeitung akut, sowie die drei Iraner. Erst am späten Nachmittag durften alle wieder gehen, nachdem Kommilitonen vor der Wache in Sprechchören ihre Freilassung gefordert hatten.[3]

Die panische Reaktion der Bonner Polizei auf die Gegendemonstranten sollte in der Folge heiße Diskussionen auslösen. Während sich der Schah mit Handschlag beim Bonner Polizeipräsidenten für die hervorragenden Sicherheitseskorten bedankte, stellten 13 Studenten gegen den Einsatzleiter Strafantrag und bezeichneten die Einkesselung als «Willkürmaßnahme». Der Allgemeine Studentenausschuss protestierte «in schärfster Form gegen das groteske (200 Polizisten gegen 50 Passanten), unverständliche und angesichts der zweifelhaften Rechtslage nicht zu rechtfertigende Verhalten der Polizei». Müssten nicht «auch in der ‹Ausnahmesituation› eines Staatsbesuchs die politischen Grundrechte aller Bürger in jeder Hinsicht respektiert werden»? Und warum sei dem Fotografen der Studentenzeitung der Film aus der Kamera gerissen worden, wo doch «die Polizei die Studenten sonst bei allen Veranstaltungen zu photographieren pflegt»?[4] Immerhin war der Staatsgast samt Entourage an diesem Montagnachmittag gar nicht im Hofgarten gewesen. Das Herrscherpaar hatte gerade mit einem Rheindampfer am Ufer unterhalb der Beethovenhalle zu einer «kaiserlichen Kaffeefahrt» abgelegt, bejubelt von Tausenden «ausgesprochen monarchenfreundlich» gesinnten Zuschauern. So kam es, dass in Bonn schon am Tag vor dem Tode Benno Ohnesorgs, lange vor den Berliner Demonstrationen, ein studentischer Protestmarsch gegen Übergriffe der Polizei stattfand. «Bonn hat Gäste – die Polizei haut feste», stand auf den Plakaten der etwa 1200 Demonstranten, und: «Leben wir in einer Polizeistadt?»[5]

Bonner Studenten demonstrieren am 1. Juni 1967 gegen den Polizeieinsatz

Die zweite, etwas andere Spielart der Begegnung zwischen den Generationen, die in dieser Woche im Bonner Hofgarten stattfand, war die semi-private Begegnung junger Doktoranden mit den sogenannten «Altersgästen» des Psychologischen Instituts. Jung und Alt sollten sich eine Woche lang in Einzelgesprächen gegenübersitzen, während das Tonband ihre Gespräche für die Ewigkeit festhielt. Die Wissenschaftler wollten im Rahmen der vom Volkswagenwerk geförderten Längsschnittstudie mehr darüber herausfinden, wie der Altersprozess das psychologische, soziale und körperliche Befinden betagter Bürger beeinflusste. Mit den Ergebnissen wollten sich die Leiter des Forschungsteams, Hans Thomae und Ursula Lehr, in die öffentliche Debatte über den Umgang der westdeutschen Gesellschaft mit der wachsenden Gruppe der Rentner einschalten.[6]

Doch zunächst einmal saß man in zwangloser Runde beim Kaffee zusammen, um den Ablauf der Woche zu besprechen. Acht junge Psychologen hatten die bejahrten Damen und Herren freundlich begrüßt und jedem von ihnen ein großzügiges Taschengeld ausgezahlt. Die Atmosphäre war formell, aber herzlich. Die Bolsianer hatten sich «schick gemacht, und kamen mit Jackett und so weiter rein», erinnerte sich der Versuchsleiter Norbert Erlemeier. Mit 31 Jahren war Erlemeier einer der ältesten Interviewer. Er hatte erst vor Kurzem sein Studium abgeschlossen, nachdem er als Schlosser in einer Essener Zeche gearbeitet und das Abitur im zweiten Bildungsweg abgelegt hatte. Wie immer im Dienst trug er Anzug und Krawatte und bemühte sich, «nicht so ganz lässig rumzusitzen». Er unterhielt sich mit Maria Wellhöfer, die er diese Woche befragen würde. Die verwitwete Buchhalterin war ihm schon vom letzten Jahr her vertraut. Norbert Erlemeier versicherte Frau Wellhöfer, die Woche in Bonn solle «wirklich ein kleiner Urlaub» und «eine sehr schöne Woche» für sie werden. Zwar war das Untersuchungsprogramm dicht gedrängt – zu drei mehrstündigen Einzelgesprächen traten eine ärztliche Untersuchung, ein Intelligenztest, ein Reaktionstest, Fragebögen über Einstellungen, Handschriftanalysen und mehrere projektive Tests, die die Fantasiewelt erschließen sollten. Diesmal würden die Versuchsleiter ihre Probanden auch erstmals mit einer Batterie von Fragen über die «Jugend von heute» konfrontieren. Aber all diese Anstrengungen sollten am Donnerstagnachmittag mit einem gemeinsamen Ausflug ins Ahrtal belohnt werden. Hier wanderte man ein wenig, kehrte ein und trank Portugieser Roten, ja schwang sogar das Tanzbein; kurz, es sollte «ein kleiner gesellschaftlicher Höhepunkt» werden.[7]

Im Warteraum des Instituts, von links: Maria Renner (von hinten), Karl-Georg Tismer, Heribert Simons, Reinhard Schmitz-Scherzer, Probandin, Ingrid Tismer-Puschner, Probanden

Die Stimmung der Untersuchungsteilnehmer war gehoben. Das Ehepaar Langbein begrüßte lautstark die Tödtmanns, mit denen man verschwägert war. Beide Paare freuten sich zudem, die Witwe Wellhöfer wiederzusehen, die sie vom letzten Versuchsdurchgang kannten. Sowohl Götz als auch Hedwig Langbein waren wieder ihren angestammten Interviewern, Karl-Georg Tismer und Maria Renner, zugeteilt worden. Das Gespräch drehte sich ums Reisen. Frau Wellhöfer erzählte von ihrem Ausflug nach Passau und Österreich. Sie habe «so ne kleine Wallfahrtskirche» auf dem Berg besucht, wo sogar der Pfarrer im Gasthaus bedient habe. «Und die haben hinter dem Altar – also da kann man rundrum gehen – da haben sie die Krücken dort hingehangen, die sie nicht mehr brauchten und dann Schuhe, die die Verkürzungen regulieren sollten von dem Bein, gell. Und so alle möglichen Danksagungen in Bildern.» Herr Langbein berichtete darauf stolz von seiner Reise nach Florenz im Frühjahr, die ihm «viel geistige Anregung gegeben» habe. «Sehr interessant, aber auch sehr strapaziös», betonte er. Der 73-jährige Herr Tödtmann bemerkte dagegen etwas spitz, er reise nicht gern, vor allem nicht ins Ausland. Den Urlaub in Wildbad habe er nur seiner Frau zuliebe mitgemacht, denn die habe ein Hüftleiden. Überhaupt sei er ja noch beruflich tätig (als Verkäufer) und damit unabkömmlich. Neben ihm saß sein Interviewer, der 29-jährige Doktorand Reinhard Schmitz-Scherzer, lächelte dünn und dachte sich sein Teil. In seinen Augen hatte Herr Tödtmann die «Flucht in die Arbeit» gewählt, um seinen Problemen auszuweichen, und zelebrierte nun den «Status Quo». Auch der junge Diplompsychologe Karl-Georg Tismer hielt sich zurück, als Herr Langbein nun argumentierte, man könne sich auf seine alten Tage ja nicht nur mit «Alltäglichkeiten» beschäftigen und vom Fernsehen «berieseln» lassen. Seine Italienreise etwa sei doch etwas Produktives gewesen; er habe sich über die Etrusker und Tarquinier und die oströmische Vergangenheit informiert. Ohne es Herrn Langbein je zu sagen, hielt Herr Tismer ihn für einen überkorrekten Pedanten, der eigentlich nach Ruhe und Alltäglichkeit strebte, aber glaubte, für das Bonner Institut ein «bestimmtes Image … bieten zu müssen».[8]

Das Gespräch verstummte, als Professor Hans Thomae die Tür aufstieß und in den weiß gestrichenen, modern eingerichteten Aufenthaltsraum eilte. Freundlich lächelnd begrüßte der 51-jährige Leiter der Studie jeden einzelnen Gast mit Handschlag und erkundigte sich nach dem Befinden. Trotz des dunklen Anzugs mit weißem Hemd und Krawatte wirkte der Psychologieprofessor noch recht jung. Seine Mitarbeiter schienen zu ihm aufzublicken. Thomae richtete auch einige kurze Worte an sein Untersuchungsteam: Er bitte sie alle, sich heute nach Feierabend im «Bären» einzufinden; er habe etwas Wichtiges mitzuteilen. Sodann entschuldigte er sich bei der Runde, er müsse jetzt leider seine morgige Vorlesung zur Entwicklungspsychologie vorbereiten. Er wünsche jedoch gutes Gelingen bei den «Explorationen» (so bezeichnete das Bolsa-Team die individuellen Befragungen) und freue sich, alle beim gemeinsamen Ausflug am Donnerstag wiederzusehen.

Nachdem sich die Tür geschlossen hatte, erklärte Frau Renner allen Studienteilnehmern den Wochenfahrplan und beantwortete noch einige Fragen zu Ausflugsmöglichkeiten und der nahe gelegenen Dampferanlegestelle. Daraufhin vertagte man sich auf morgen. Die Langbeins und die anderen sieben Gäste spazierten, angeregt plaudernd, die wenigen Minuten zum Hotel Löhndorf an der Stockenstraße 6. Sie freuten sich auf die kommenden Tage am Institut, obwohl manche der ihnen bevorstehenden Untersuchungen, wie der Intelligenztest und der Reaktionstest, anstrengend waren. Warum die Bolsianer so gern nach Bonn kamen, lässt ein Gedicht des pensionierten Ingenieurs Schubert erahnen. Albert Schubert war ein rundlicher, kleiner Mann mit dunkler Brille, Schnurrbart, Glatze und Schiebermütze, der die anderen gern «laut und lustig» mit Witzen und Dönekes unterhielt. Nach seinem Besuch im Sommer 1967 widmete er Professor Thomae und seinen Mitarbeitern die folgenden Zeilen:

Wenn die Jugend längst vorbei,

kommt das Alter schnell herbei. …

Hast hinter Dir die Müh und Plage

Und freust Dich auf die ruhigen Tage

Und denkst – das wird sehr angenehm –

Dann wirst Du plötzlich zum Problem!

Du wirst, eh Du hinweggerafft,

Ein Objekt der Wissenschaft! …

Was in der Jugend Du geträumt,

Hat das Schicksal weggeräumt!

Was die Zukunft Dir noch bringt,

Kein Vöglein in den Ästen singt!

Doch der Direktor von VauWe

Steckt seinen Finger in die Höh –

Und stiftet Geld, um zu erkunden,

Was gegen Unbill könnt erfunden!

Die Hilfe, die er dort ersonn,

Bringt ein Professor – jetzt in Bonn!

Er ruft die Alten zu sich hin,

Um zu erforschen deren Sinn.

Von Ärzten und den Psychologen,

Wird gefragt, getestet und gewogen.

Viel Fragen, oft sehr hintergründig

Sind für die Forschung oft auch fündig. …

Zuvörderst aber mit Bedacht

Wird die Kasse klar gemacht.

Ein jeder hat ein Freiquartier

Und Geld für Kost und auch Pläsir.

Der Gast wird allen vorgestellt

Und einem Fachmann zugesellt. …

Was Du denkst – es sei was immer,

Wird offenbart im Besprechungszimmer.

Mit Karten und mit vielen Bildern

Wird man die Empfindung filtern. …

So ähnlich gibts noch vielerlei –

Und das Tonband surrt dabei.

Ins andre Zimmer darfst Du gehen,

Wo schöne Apparate stehen. …

Da blinken Lichter, grün, weiß, rot

Die gleichzuschalten tut oft not.

Das Tempo steigert sich zur Eile –

Und das ermüdet nach ner Weile. …

Und so gibts für viele Fälle

Apparate und Gestelle.

Glaub nur nicht, Du wirst gefoppt:

Denn die Zeit – sie wird gestoppt.

Du warst Gast im Institut

Und erlebst, was sich hier tut.

Man frägt viel mit Psycho-Tricks

Teils von vorn, teils hinterrücks.

Nach fünf Tagen der Befragung

Geht zu End die Bonner Tagung.

Doch zum Abschluss und zum Lohne

Fährt Frau Doktor mit dem Sohne

Und den Alten in dem Buss

In die Umgebung – Gott zum Gruss![9]

Für die Studienteilnehmer war das Bewusstsein, der Wissenschaft zu dienen, durchaus erhebend. Man genoss die persönliche Wertschätzung, die das Institutsteam jedem vermittelte. Was auch immer einen beschäftigen mochte, hier wurde zugehört und für wichtig befunden. So ermüdend das Testprogramm war, die höchstpersönliche Teilnahme von Herrn Professor und Frau Doktor (zuweilen mit ihren Kindern) am Donnerstagsausflug machte es wieder wett. Und nicht zuletzt freute man sich über ein reichliches Tagegeld, ein komfortables Hotel und die Abwechslung vom Rentneralltag, die die Reise nach Bonn und der Einblick in die universitäre Welt boten. Nach der Untersuchungswoche kehrten die meisten «sehr begeistert» nach Hause zurück. Die Leiterin eines Altenheims, das mehrere Bewohner zur Bolsa entsandte, schrieb: «Alle waren begeistert. Sprechen heute noch darüber voll Freude. Die ganze Atmosphäre, die ihnen dargebrachte Freundlichkeit, alles, besonders die interessanten Fragen hat diese Begeisterung ausgelöst.»[10]

Im Bonner Forschungsteam fanden alte Menschen, die oft auf kein Interesse mehr rechneten, offene Ohren und scheinbar hochinteressierte Zuhörer. Das motivierte, und so blieb die Rate der Drop-outs langfristig gering.[11] Herr Schubert sprach den Doktoranden Schmitz-Scherzer als seinen «lieben Beichtvater» an, der ja sicherlich mithilfe der Tonbänder eine «analytische Durchleuchtung des Opfers» vornehmen werde. Und doch habe er, Schubert, sich «gefreut …, tiefschürfende Gespräche zu führen». Das Ehepaar Liebig aus Mannheim schwärmte «vom strahlenden Stern Bonn», der ihre alten Tage erhelle, und davon, wie gern sie in die «Intrigienmetropole» [sic], also die Regierungsstadt, kämen. Herr Liebig, ein Handwerker mit magerer Rente, hatte eine enge Bindung an Herrn Tismer entwickelt, den er «mein gestrenger und gründlicher Seelenforscher und Zerkleinerer» nannte. Launig schrieb er im Weihnachtsbrief 1968: «Sehr geehrter Herr Prof. Thomae, verehrte, liebe Frau Dr. Lehr mitsamt dem Stab u. allen hübschen Stäbchen, den netten, lieben Menschen, mit denen wir es vor 1 ½ Jahren zu tun hatten, und die wir im Sommer wieder gesund u. studienbeflissen zu sehen hoffen, sofern Sie nicht bei Protestaktionen ums Leben gekommen sind (…) Verzeihung für diese lange, aber herzliche Anrede eines Vertreters d. außerparlamentarischen Opposition gemäßigter Art, kurz eines kleinen Mannes von der Straße, der nur an einer Stelle zu Wort kommt u. sogar liebreich dazu aufgefordert wird. Diese Stelle ist die Uni Bonn, Psy. Institut.»[12] Hier sprachen Menschen, die sonst nur selten nach ihrer Meinung gefragt wurden.

Norbert Erlemeier interviewt eine Probandin; auf dem Tisch das Tonbandgerät

Den Mitarbeitern Thomaes war bewusst, wie wichtig die Bolsa für das Selbstwertgefühl vieler Probanden war. Gleichwohl waren sie darauf bedacht, professionelle Distanz zu wahren und die langen Stunden geduldigen Zuhörens in statistisch verwertbare Ergebnisse zu verwandeln. Alle Interviewer hatten bei Hans Thomae oder Ursula Lehr studiert und in Seminaren die «explorative Methode» trainiert. Dabei ging es darum, das Vertrauen der Befragten zu gewinnen und den freien Redefluss zu fördern, jedoch zentrale Punkte einer vorgegebenen Liste abzuarbeiten. Georg Rudinger, damals 25-jähriger Doktorand, beschrieb «diese Gratwanderung» so: «In der Exploration war es ja so, also so hab ich das zumindest gelernt, es war ja jetzt keine Empathiegeschichte, dass man mit den Leuten zusammen geweint hat. Es ging ja darum, einen bestimmten Fragenkatalog abzuarbeiten, es war ja schon halbstandardisiert … Wir kamen auch ins Plaudern, trotzdem wollte ich zu jeder Frage eine Antwort haben.» Als Versuchsleiter durfte man nur begrenzt Gefühle zeigen – Rudinger nannte dies «I robot» –, um nicht bestimmte Inhalte des Erzählten zu bestärken.[13] In ihrer Ausbildung hatten die Bolsa-Mitarbeiter «gelernt, offene Fragen zu stellen» und Suggestivfragen zu vermeiden. Wertfreie Formulierungen wie «Und was gab es noch?» waren ideal. Auf den Tonbändern tauchen immer wieder «hm» und «ach ja» als klassische Reaktionen der Interviewer auf die Erzählungen der Probanden auf.[14]

Thomaes erklärtes Ziel war es, das Forschungsdesign nach dem Vorbild amerikanischer Studien so offen und umfassend anzulegen, dass das so produzierte Material noch für «die Gerontologen der Jahre 2020 bis 2050» wertvoll sein würde. Obwohl die Psychologie der sechziger und siebziger Jahre wenig von «weichen» Fallgeschichten hielt und eher auf «harte» statistische Analysen setzte, betonte das Bonner Team weiterhin den Wert des biographischen Ansatzes. Deshalb bewahrte man, neben den 2529 kodierten Variablen, auch die Rohmaterialien der Studie – Tonbandaufzeichnungen und Versuchsleitermitschriften – auf.[15] Man strebte nach der Quadratur des Kreises. Die hohe Zahl und repräsentative Auswahl der Interviewten sowie die strenge statistische Methodik sollten da Objektivität und Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse gewährleisten, wo es um höchst individuelles Erleben und Verhalten ging. Sowohl die Kategorien, in denen kodiert wurde, als auch die Gesprächsleitfäden der verschiedenen Bolsa-Durchgänge lehnten sich wesentlich an Thomaes Philosophie an.

Hauptsächlich ging es Hans Thomae darum, die Ausformung und lebenslange Entwicklung der Persönlichkeit zu erklären. Er verstand menschliches Verhalten als von «Daseinsthemen» und «Daseinstechniken» geprägt. Dabei waren «Daseinsthemen» langfristig verfestigte Leitmotive individueller Biographien und «Daseinstechniken» typische Reaktionsformen, mit denen belastende Situationen bewältigt werden konnten (etwa «Bitten um Hilfe» oder «Aggression»).[16] Die Bolsa war auf den Nachweis angelegt, dass Alterungssprozesse individuell verschieden abliefen und weniger biologisch determiniert als historisch und sozial bedingt waren. In der Art und Weise, wie alte Menschen alltäglichen Herausforderungen begegneten, sah Thomae eine Antriebskraft des lebenslangen Prozesses der Persönlichkeitsentwicklung.[17] Sowohl er als auch seine Schülerin Ursula Lehr wandten sich gegen die «Defizit-These» – die damals dominante Vorstellung, dass Altern im Wesentlichen kontinuierlichen Abbau und Verlust bedeute. Zudem argumentierten sie gegen die Idee des «disengagement», die das Alter als eine Lebensphase verstand, während der man sich zunehmend von sozialen Bindungen und Verpflichtungen zurückzog. Anhand der Bolsa entwickelten die Bonner ihre eigene Theorie, nach der geglücktes Altern ein hohes Maß an sozialer Aktivität und sozialer Kompetenz voraussetze.[18]