Das Antiquariat der Träume - Lars Simon - E-Book
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Das Antiquariat der Träume E-Book

Lars Simon

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Beschreibung

Die Magie der Bücher – und der Liebe Im Spätsommer 1983 verliert Johan Andersson bei einem Schiffsunglück seine große Liebe Lina. Er bricht alle Brücken hinter sich ab und beginnt ein neues Leben als Antiquar und Cafébesitzer. Doch die Veränderungen in seinem Leben greifen weiter: Seit dem traumatischen Ereignis erscheinen Johan die Figuren seiner Lieblingsbücher leibhaftig. William von Baskerville, Pippi Langstrumpf und Sherlock Holmes bringen aber nicht nur Trost und Zerstreuung. Sie zwingen Johan auch zu einer Entscheidung: Will er ein neues Leben beginnen oder seine verloren geglaubte große Liebe finden? Ein geheimnisvoller Fremder bringt Johan schließlich auf die entscheidende Spur, denn Lina scheint nicht die gewesen zu sein, für die sie sich ausgegeben hat …

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Über das Buch

Spätsommer 1983 vor der schwedischen Küste. Johan Andersson verliert während eines Unwetters auf der Ostsee seine große Liebe Lina. Traumatisiert bricht er alle Brücken hinter sich ab und beginnt weit entfernt von Stockholm ein neues Leben als Antiquar und Betreiber eines Literaturcafés. Doch seit dem Schiffsunglück erscheinen Johan die Figuren seiner Lieblingsbücher leibhaftig – und drängen ihn zu einer Entscheidung: Will er vergessen oder die Wahrheit suchen? Und die scheint in ihm selbst und seinen Büchern verborgen zu sein. Ein geheimnisvoller Fremder bringt Johan schließlich auf die entscheidende Spur, als er ihm eine äußerst seltene und kostbare Erstausgabe anbietet, die eigentlich auf dem kalten Grund des Meeres liegen müsste.

 

 

 

 

Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten, Die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt.

Johann Wolfgang von Goethe, Faust

Prolog

Samstag, 24. September 1983

Träume brauchen keinen Schlaf. Sie können gut sein oder böse. Letztere lassen einen erstarren und oft darüber im Unklaren, ob man bereits erwacht ist.

Wie in einem solchen Albtraum gefangen, kam sich Johan Andersson vor. Noch immer ging ein starker Wind, wenngleich es kein Sturm mehr war wie noch vor einigen Stunden. Er saß auf einem Stapel feuchter Holzpaletten neben einer Lagerhalle am Hafen von Sundsvall. Sein Knöchel, den er sich beim Sprung von der Treppe unter Deck wohl verstaucht hatte, schmerzte. Er fror in seinen tropfnassen Kleidern, da nutzten auch die beiden Decken nichts, in die ihn zwei Sanitäter gehüllt hatten. Doch seltsamerweise störte sie ihn kaum, die Kälte. Vielleicht weil sich Johan Andersson wie in Trance fühlte, vielleicht weil Kälte dem Tod näherstand als dem Leben. Er nahm das ganze Chaos und die vielen weinenden und verwirrten Menschen um sich herum wie durch einen Schleier wahr. Wie sie an der Mole scheinbar ziellos umherliefen, manche begleitet von einem Arzt, einem Polizisten oder einem Feuerwehrmann.

»Eines der schlimmsten Schiffsunglücke im Bottnischen Meerbusen seit vielen Jahren«, hörte er einen Journalisten gegen den Wind in das fellbesetzte Mikrofon eines lokalen Nachrichtensenders brüllen. Er schien von der Situation in unangemessenem Maße begeistert zu sein. »Der Orkan Ornella, der über der Nordsee tobt und dort schon unzählige Schiffe versenkt hat, hat mit seinen Ausläufern nun auch bei uns zugeschlagen. Laut Behördenangaben sollen bei der Havarie der Fähre Leksand vierzig Personen verletzt und fünf Menschen ums Leben gekommen sein. Aber die Küstenwache gibt nicht auf, noch weitere Überlebende zu bergen, und ist mit einem Seenotrettungsschiff im Einsatz.«

Der Mann stand nur wenige Meter abseits des Geschehens und achtete darauf, dass sein Kameramann das Elend möglichst gut in den Kasten bekam, indem er ihn mehrere Einstellungen drehen und einen Schwenk über die Szene machen ließ.

Johan Andersson wandte den Blick ab, schlang die Decken enger um sich und griff mit einem dankbaren Kopfnicken nach dem heißen Tee, den ihm eine junge Frau in diesem Augenblick reichte. Sicher war sie von irgendeiner kirchlichen Organisation und im Namen des Herrn unterwegs. So sah sie zumindest aus. Sie lächelte Mut spendend, ehe sie sich mit ihren Bechern und der Kanne gleich zum nächsten Frierenden aufmachte.

Und als ihm das heiße Getränk die Kehle hinunterrann und ihn schließlich von innen her wärmte, da schien es ihm plötzlich, als würde ihm mit jedem Schluck bewusster, was das alles für ihn und sein Leben bedeutete. Ihm war, als würde diese Wärme ihn aus seinem apathischen Dämmerzustand zurückholen, als würde sich sein Traum auf gnadenlose Weise Bild für Bild mit der Wirklichkeit überzeichnen.

Wie lange konnte man in zehn Grad kaltem Wasser überleben? Selbst mit Schwimmweste wahrscheinlich höchstens eine Stunde, maximal zwei. Das Unglück hatte sich vor über zwei Stunden ereignet. Es gab keine Chance mehr. Sie war verschwunden. Untergegangen. Tot. Sie würde nicht wiederkommen. Er wusste es. Viele waren gerettet worden. Das Schiff der Küstenwache hatte einige Menschen aus dem eisigen Wasser ziehen können, manche sogar noch bevor die Leksand unterging. Lina war nicht unter ihnen gewesen. Jetzt waren sie wieder hinausgefahren. Aber wohl bloß, um die Gemüter der Angehörigen zu beruhigen.

Warum nur war sie auf ihre Kajüte gegangen, so kurz vor dem Zusammenstoß, und nicht bei ihm geblieben? Als er sie gesucht hatte, war es schon zu spät gewesen. Sie hatte angekündigt, dass sie ihm nach dem gemeinsamen Abendessen etwas gestehen müsse. Das Schicksal war manchmal zutiefst respektlos. Er hätte bei ihr bleiben sollen. Vielleicht hätte er sie retten können.

»Hej, ich bin Lina, Fotografin aus Göteborg. Ist der Platz hier noch frei?« So hatte sie sich vorgestellt, kurz bevor sie sich auf den einzigen freien Fensterplatz im Bordrestaurant neben ihn gesetzt hatte. Vor ein paar Tagen erst war das gewesen, gleich zu Beginn ihrer Ostseekreuzfahrt. Doch jetzt kam es ihm vor, als wäre es bereits Jahre her. Möglicherweise lag es daran, dass er schon bei dieser ersten Begegnung gewusst hatte, dass sie füreinander bestimmt waren. Er dachte an ihr Lächeln, ihren Duft, ihre Haut, ihre schulterlangen blonden Haare. Und nun war alles vorbei. Alles. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Nichts war ihm geblieben von ihr. Nicht einmal die »Singoalla«. Wie stolz sie gewesen war, als sie ihm das Buch vor wenigen Stunden geschenkt hatte. Konnte das wirklich erst vor so kurzer Zeit gewesen sein? Sie habe es während ihres gemeinsamen Landgangs in Umeå zufällig in einem verborgenen Antiquariat entdeckt. Der Verkäufer sei ein merkwürdiger Kauz gewesen, hatte Lina lachend berichtet, mit dichtem grauem Haar, einem wilden Bart, funkelnden Augen in einem faltigen Gesicht und dazu einer Nase, die so groß war, dass sie beinahe unecht wirkte.

Die seltene und kostbare Erstausgabe von Viktor Rydbergs Klassiker aus dem Jahre 1857 war in grünes Leinen gebunden, auf dem Umschlag mit einem goldenen Prägedruck veredelt und im Innenteil mit vielen Schwarz-Weiß-Illustrationen ausgestattet worden. Doch das Unglaublichste war, dass Viktor Rydberg sein Werk persönlich signiert hatte; das Buch war ein echter Schatz.

Es hatte Johan zutiefst gerührt. Er hatte Lina lediglich ein einziges Mal davon erzählt, dass er nicht nur die moderne Literatur wie die Werke von Umberto Eco und Klassiker wie die von Hermann Hesse schätzte, sondern auch der schwedischen Romantik verfallen war, zu der eben auch die Romane von Viktor Rydberg zählten. Und dann dieses Geschenk! Doch bei aller Freude hatte er sie auch gescholten, weil sie so viel Geld ausgegeben hatte. Denn ein solches Buch musste ein kleines Vermögen gekostet haben. Lina hingegen hatte lediglich geschmunzelt und behauptet, dass sie das Buch unverhältnismäßig günstig erstanden habe, vermutlich rühre der Preisnachlass von einer durchaus nennenswerten Beschädigung auf dem sonst makellosen Einband her. Es handelte sich um einen oberflächlichen, sichelförmigen Riss in der Mitte, der aussah wie ein Lächeln.

Johan hätte widersprechen können, denn er wusste, dass so ein kleiner Makel angesichts der übrigen Eigenschaften dieser antiquarischen Kostbarkeit preislich wohl kaum ins Gewicht fallen dürfte. Er kannte sich mit Büchern gut aus, da er als Geschäftsführer in einem Stockholmer Verlag tätig war und außerdem schon seit Jahren leidenschaftlich alte Bücher sammelte. Doch in diesem glücklichen Moment hatte er geschwiegen, denn im Prinzip war es vollkommen unwichtig. Das Einzige, was zählte, war Lina, und dafür, dass sie ihm ein solches Geschenk machte, liebte er sie nur noch mehr. Er schloss die Augen, sog ihren Duft ein, spürte sie, küsste sie …

Ein Signalhorn riss ihn unsanft aus dem Traum von seiner verlorenen Zukunft. Johan blickte auf. In die kalte Gegenwart – das Rettungsboot kehrte zurück. Das Buch und Lina waren verloren, genau wie seine Liebe. Der Reporter der Lokalnachrichten, der wenige Schritte von Johan entfernt stand, ließ seinen Interviewpartner, einen offensichtlich ermatteten und nun auch verdutzten Feuerwehrmann, einfach stehen und rannte durch die immer noch teils heftigen Böen zur Anlegestelle hinüber, seinen Kameramann und den Tontechniker im Schlepptau. Wahrscheinlich hegte er die Hoffnung auf weitere emotional mitreißende Bilder. Doch er wurde enttäuscht. Der Kapitän unterstrich sein Kopfschütteln mit eindeutigen Handzeichen in Richtung der am Kai ausharrenden Sanitäter und Polizisten. Die Rettungsmannschaft hatte niemanden mehr gefunden.

Was hatte ihm Lina noch Wichtiges sagen wollen? Sie hatte es ihm angekündigt und dabei kein glückliches Gesicht gemacht. Johan zermarterte sich den Kopf.

Er wünschte sich seinen Traum zurück. Eine Träne lief ihm die Wange hinab.

»Herr Andersson?«, hörte er eine Stimme hinter sich. »Wir haben jetzt einen Krankenwagen für Sie und können Sie in die Klinik fahren. Kommen Sie, bitte?«

Johan erhob sich von seinem Palettenstapel und drehte sich um. Vor ihm standen dieselben Rettungssanitäter, die ihm auch die Decken gereicht hatten. Er nickte und folgte den beiden Männern hinüber zum Wagen.

Manchmal war es schwieriger, weiterzuleben, als zu sterben.

Alles würde sich ändern, einfach alles.

I. Teil

1. Die Kraniche kommen zu spät

Hedekas – Samstag, 2. Mai 1987

Es würde hoffentlich nicht mehr lange dauern, bis die Kraniche zurückkehrten. Sie kamen für gewöhnlich immer im April. Und sobald sich der Nebel, der vom nahen Lersjön aufstieg, früh am Morgen zu lichten begann, um sich auf die kargen Felder zu legen, begannen sie zu schreien und ihre einbeinigen Balztänze aufzuführen. Auch wenn dem Kranich in vielen Kulturen eine positive Bedeutung zugeschrieben wurde – unter anderem galt er als Symbol für Klugheit und Wachsamkeit –, wirkten seine Tänze nicht ernsthaft oder erotisch, sondern eher rührend und bemüht. Dass er damit ein Weibchen zur Paarung überreden konnte, schien schwer vorstellbar. Aber da seine Spezies noch nicht ausgestorben war, musste das bisher ja einigermaßen geklappt haben. Früher oder später fand so gut wie jeder dieser hochgewachsenen, schlanken Vögel einen Partner, mit dem er oft ein Leben lang zusammenblieb. Ob das ausschließlich schön oder auch ein wenig traurig war, lag im Auge des Betrachters.

Es klopfte.

Johan Andersson sah auf seine Armbanduhr und drehte sich vom Küchenfenster weg, durch das er über die Weide hinüber zum Ufer des Lersjöns geblickt hatte. Dorthin, wo die fünf alten, blattlosen Eichen standen und Wache hielten, als ob sie nach all den Jahrhunderten so leicht nichts aus der Ruhe bringen würde.

Vor der Haustür stand Agnes Eklöv mit gerötetem Gesicht und einem großen Weidenkorb in der Hand, pünktlich wie immer. Sie musterte Johan mit der ihr eigenen Strenge.

»God morgon«, sagte sie, trat an Johan vorbei in den Flur, stellte ihren Korb auf den Dielenboden, zog ihre Schuhe aus und schlüpfte in die bereitstehenden Filzpantoffeln. »Ich soll dir von meinem Bruder ausrichten, dass er sich freuen würde, dich morgen am Ostersonntag in der Kirche begrüßen zu können, und dass dir das Haus Gottes immer offen, steht.«

Agnes zog ihren Mantel aus und hängte ihn an die Garderobe, Tuch und Hut an einen Haken daneben. Sie hatte ihr pechschwarzes Haar hochgesteckt, was sie viel älter wirken ließ und ihr, zusammen mit der etwas aus der Mode gekommenen Hornbrille, das Aussehen der Direktorin eines Knabeninternats zu Beginn des Jahrhunderts verlieh, der man besser nicht widersprach, die man wegen ihrer hübschen und fein geschnittenen Gesichtszüge jedoch insgeheim verehrte.

»Danke, sehr freundlich. Aber Weihnachten genügt – mir zumindest«, entgegnete Johan und schloss die Tür. »Möchtest du einen Kaffee?«

»Ich richte nur aus, was mir aufgetragen wurde.« Agnes bückte sich flink und hob den Korb auf. »Kaffee? Gerne.«

Johan ging zurück in die Küche, wo er Kanne, Filter und Kaffeedose aus dem Hängeschrank über dem Herd nahm, dann setzte er Wasser auf. Agnes folgte ihm und stellte den Korb auf den Küchentisch. Vorsichtig holte sie mit beiden Händen ein rundes Tortenbehältnis aus geschliffenem Kristallglas hervor, platzierte es auf dem Tisch und setzte sich selbst so auf einen der Stühle, dass sie aus dem Sprossenfenster übers Feld zu den Eichen blicken konnte. Schweigend spielte sie mit dem Ehering an ihrem Finger, ohne den Blick von dem See abzuwenden, dessen seichte Wellen schillernd das Licht der Mittagssonne spiegelten. Agnes trug dieses goldene Erinnerungsstück noch immer, obwohl ihr Mann bereits vor einigen Jahren viel zu früh verstorben war, lange vor Johans Ankunft in Hedekas. Seit diesem tragischen Vorfall wohnte sie zusammen mit ihrem Bruder Gunnar Bertilsson und dessen Frau Birgitta im Pfarrhaus.

Was allerdings nicht immer leicht sei, wie sich der Pfarrer vor geraumer Zeit einmal nach einigen Tassen Glögg auf einem kirchlichen Weihnachtsmarkt bei Johan beklagt hatte. Obwohl er seine Schwester mit aller beruflichen und menschlichen Kraft mehrmals täglich in seine Gebete einschließe, habe sich Agnes über die letzten paar Jahre mehr und mehr in sich zurückgezogen und sei trotz ihres noch recht jungen Alters zu sich selbst und zu anderen immer härter geworden. Es käme ihm beinahe vor, so Gunnar Bertilsson weiter, als hasse Agnes alle Menschen, die aus ihrer Sicht glücklicher waren als sie, wohlwissend, dass ihr diese wenig christliche und zudem moralisch verwerfliche Gefühlsregung nicht zustand. Das führe schließlich dazu, dass sie sich selbst auch nicht mehr leiden könne. Jedenfalls lasse sie nicht einmal mehr Gott an sich heran. Letzteres schien den Pfarrer besonders zu betrüben.

Vielleicht deshalb hatte sich der Geistliche zum sichtlichen Unmut seiner Gattin einen weiteren Glögg eingeschenkt und schließlich nach halbem Verzehr des süßen, stark alkoholischen und mit allerlei Gewürzen versehenen Getränks die Katze aus dem Sack gelassen. Ob es Johan nicht möglich sei, seine Schwester anzustellen, um sie damit auf andere Gedanken zu bringen, hatte ihn der Pfarrer gebeten. Sie helfe zwar manchmal in der Gemeinde, aber das genüge nicht. Ein Mensch brauche doch eine sinnstiftende und angemessene Beschäftigung, oder nicht? Agnes sei fleißig, pünktlich, pfiffig, zuverlässig, vertrauenswürdig, und außerdem könne sie verflucht gut backen (bei dem Wort »verflucht« hatte er sich wie ertappt umgeschaut). Ganz abgesehen von diesen immensen Vorteilen für Johan, hatte Gunnar Bertilsson betont, der mittlerweile einen mit Blauschimmelkäse bestrichenen Pfefferkuchen kaute, hätten er und seine Frau Birgitta seine Schwester Agnes damit zumindest in den hellen Monaten auch ein paar Stunden täglich weniger um sich, was bestimmt dazu beitrage, seine brüderliche Liebe und den familiären Frieden um einiges länger zu konservieren. Amen.

Das war vor rund vier Jahren gewesen, und zu dieser Zeit hatte Johan tatsächlich eine Aushilfe für sein Literaturcafé gesucht, allerdings hatte er dabei eher an eine zwanzigjährige Studentin gedacht, die sich im Sommer ein wenig dazuverdienen wollte, gut zu Fuß war und vielleicht Susanna oder Kerstin hieß. Mit einer Agnes, die damals schon fast vierzig war, hatte er wahrhaftig nicht gerechnet.

Doch aus einer solchen Situation kam man hier nicht ungeschoren heraus. Man befand sich eben nicht in Stockholm, Malmö oder Göteborg, sondern in dem kleinen Ort Hedekas. Und wer hier dem Pfarrer einen durchaus zumutbaren Gefallen ausschlug, auch wenn er noch so besoffen geäußert wurde, der machte sich im Sinne der unausgesprochenen Dorfgesetze strafbar und hätte ab sofort nicht nur keinen Stein bei ihm im Brett, sondern sicher bald einen in der Fensterscheibe gehabt oder wäre zumindest gemieden, Gegenstand von Getuschel und Opfer von Seitenblicken geworden. Johan hatte sich daraufhin ebenfalls noch einen ordentlichen Glögg eingeschenkt, still in sich hineingeseufzt, seine Tasse gegen die des Pfarrers gestoßen und schließlich zugesagt. »Skål!«

Damit galt das Ganze als besiegelt.

Seit dem Frühling, der auf diesen Glögg folgte, half Agnes Eklöv also neben ihrer Gemeindearbeit bis zum Spätsommer, je nach Wetter und Anzahl der Touristen, mehrmals wöchentlich in Johans Literaturcafé »Singoalla«. Die Entscheidung hatte sich zum Glück nicht als Fehler herausgestellt, denn abgesehen davon, dass Agnes nicht mehr Lohn wollte als eine zwanzigjährige Studentin, die Susanna oder Kerstin hieß, war sie mindestens genauso gut zu Fuß und erwies sich tatsächlich als eine fleißige, pünktliche, pfiffige, zuverlässige und vertrauenswürdige Angestellte. Außerdem konnte sie wirklich verflucht gut backen. Ihr Bruder hatte absolut nicht übertrieben.

Leider aber auch nicht, was Agnes’ Strenge und Härte anging. Es schien beinahe so, als hätte sie sich vorgenommen, sich nie wieder in irgendetwas zu verlieben. Schon gar nicht in einen Mann. Und sie tat alles, um das unmissverständlich klarzustellen und jede Gefühlsduselei schon im Keim zu ersticken. Dabei schoss sie manchmal übers Ziel hinaus und wehrte Avancen ab, die gar nicht gemacht wurden – was für manchen Mann eher unangenehm war, denn dieser konnte gar nicht wissen, wie ihm geschah. Das Ganze hatte etwas von einem Balztanz mit umgekehrten Vorzeichen.

Der Kessel begann zu pfeifen. Johan nahm ihn vom Herd und goss das sprudelnde Wasser in den Filter. Sofort verbreitete sich ein angenehmer Geruch frischen Kaffees im Raum.

Agnes wandte ihren Blick vom Fenster zu Johan. »Ich weiß nicht, aber bei der Kälte werden wir morgen zur Wiedereröffnung des Cafés sicher nicht allzu viele Gäste erwarten können. Ich habe deshalb nur eine Torte gemacht. Apfel-Sahne-Zimt. Ich hoffe, das ist in Ordnung für dich.«

Der erste Sonntag im Mai war in Schweden nicht unbedingt ein Garant für gutes Wetter. Schon oft war er eher wie ein verärgerter Februartag mit Schnee im Gepäck dahergekommen. Von drinnen sah es dann zunächst so aus, als würden Tausende von Kirschblütenblättern durch die Luft tanzen, aber wenn man in Erwartung der ersten lauwarmen Brise vor die Tür trat, merkte man, dass es Eiskristalle waren, die durch die Luft wirbelten, und knöpfte sich rasch die Strickjacke bis ganz oben zu. Johan spürte diese Kälte eine Sekunde lang förmlich, sah in Gedanken das Meer … dann fasste er sich wieder.

»Vielen Dank, Agnes«, sagte er. »Eine leckere Torte wird reichen. Zur Not haben wir ja noch Kekse.« Er goss heißes Wasser in den Filter nach.

Als der Kaffee durchgelaufen war, füllte er zwei Tassen und stellte eine vor Agnes auf den Tisch. Sie trank ihn schwarz. Er nahm einen Schuss Milch und setzte sich ihr gegenüber.

»Ist noch viel vorzubereiten?«, fragte sie und blickte wieder hinaus über die Weide und auf den See.

»Das Übliche«, antwortete Johan. »Wie jedes Jahr. Und ich muss später noch einen Stoß Bücher einsortieren, die ich von einem Trödelmarkt im Norden mitgebracht habe.« Er blickte quer über den Hof in Richtung des Antiquariats mit seiner rotgetünchten Fassade, den leuchtend weißen Giebelbrettern und Fensterlaibungen und der mintgrünen Eingangstür. Als er den Hof erworben hatte, war das Nebengebäude nicht mehr gewesen als ein großer Raum, in dem die Vorbesitzer vor langer Zeit Werkzeuge, Stroh, Heu und Futtermittel für ihre Tiere eingelagert hatten. Irgendwann hatten sie wohl keine Tiere mehr besessen und die Scheune daher auch nicht mehr genutzt und instand gehalten. Mehr und mehr war sie verfallen, bis Johan sie schließlich aus ihrem Dornröschenschlaf erweckt und außen wie innen saniert und zu seinem Antiquariat mit Dielenboden, Heizung und wunderschöner Atmosphäre umgebaut hatte. Ein ganzes Jahr hatte der Umbau gedauert, aber die Mühen und die Kosten hatten sich mehr als gelohnt. Das Antiquariat war ein Teil von Johan geworden.

»Die Kraniche sind noch nicht da«, sagte Agnes leise und unterbrach damit seine Gedanken. Sie schlürfte vorsichtig an ihrem Kaffee. »Seltsam.«

Johan nickte. »Ja, das stimmt. Sie kommen spät dieses Jahr. Vielleicht haben sie uns vergessen?«

»Je später die Kraniche eintreffen, desto größer sind die Veränderungen, die sie mit sich bringen.«

Johan konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken. Er wusste mittlerweile, dass Agnes, ganz zum Verdruss ihres Bruders, nicht nur artig dem Protestantismus anhing, sondern insgeheim auch manchen alten Lehren und Aberglauben. Eigentlich wusste das jeder in Hedekas, aber niemand sprach offen darüber. »Ist das ein gutes Zeichen?«

Agnes blickte Johan in die Augen. »Gut möglich. Der Kranich ist der Vogel des Glücks«, sagte sie leise. »Wir werden sehen …«

2. Der Duft vergangener Zeiten

Hedekas – Samstag, 2. Mai 1987

Sechs Stunden hatten Agnes und Johan durchgearbeitet – von der einen oder anderen kleinen Pause einmal abgesehen. Sie hatten Tischdecken gebügelt, Teller und Gläser gespült, die Zimmer umgeräumt, Besteck poliert und die fünf Tische sowie die dazugehörigen zwanzig Klappstühle aus Holz und Eisen aus dem Lagerschuppen neben Johans Antiquariat quer über den Hof auf die Veranda getragen. Dort hatten sie die Stühle vom Staub des Winters befreit. Jetzt konnten die Gäste bei schönem Wetter im Schatten der alten Kastanie gemütlich essen und trinken. Der Baum hielt seine Äste schützend über diesen Ort, und sollte es einmal regnen – was in einem schwedischen Sommer durchaus vorkam –, konnte Johan immer noch mit der quietschenden Handkurbel die weiß-rot gestreifte Markise über der Veranda ausfahren.

Zu guter Letzt hatten Agnes und Johan die Speisekarten auf den Tischen verteilt. Sie waren von Johan persönlich mit Tusche auf dickem sonnengelbem Papier geschrieben und danach in Lederhüllen geklemmt worden. Er hatte sich dabei kalligrafisch an Briefen aus dem neunzehnten Jahrhundert orientiert, weshalb sie recht opulent wirkten. Inhaltlich waren sie allerdings eher übersichtlich gehalten, denn es gab nur Tee, Kaffee, Wasser, Limonade und Bier sowie den »Literaturkuchen des Tages« und ein Gericht namens »Hotflush«. Diesen Namen hatte Johan selbst erfunden. Es verbarg sich ein typisch schwedischer Snack dahinter, nämlich ein Würstchen mit Ketchup, Senf und Röstzwiebeln – wer mochte, noch mit Kartoffelbrei – in einem weichen länglichen Hefeteigbrötchen. »Flush« war der Titel einer Romanbiografie von Virginia Woolf, in der sie das Leben des gleichnamigen Cockerspaniels erzählte. Johan hatte die Bezeichnung für diesen Hotdog zum Andenken an diesen Vierbeiner gewählt. Immerhin befand man sich in einem Literaturcafé mit angeschlossenem Antiquariat. Oder umgekehrt. Die Gäste sollten sich dessen bewusst sein. Nebenbei bemerkt schmeckte dieser »Hotflush« ziemlich gut und kam bei den Leuten hervorragend an – manche besuchten das Café angeblich bloß deswegen und interessierten sich überhaupt nicht für Literatur.

Am Ende ihrer Vorbereitungen – Agnes hatte sich schon verabschiedet – erweckte Johan noch den großen, vorher penibel gesäuberten Kühlschrank in der Küche aus seinem Winterschlaf – ein alljährliches Ritual. Sobald das Gerät sonor vor sich hin brummte, war die Saison eröffnet. Darin verstaute er neben Bier, Limonade und Wasser auch den morgigen »Literaturkuchen des Tages«. Die von Agnes mit Liebe und Geschick zubereitete Apfel-Sahne-Zimt-Torte wollte er am Eröffnungssonntag als »Schillertorte« anbieten, in Anlehnung an das Drama »Wilhelm Tell« und den darin vorkommenden Apfelschuss.

Johans Antiquariat atmete den Duft vergangener Zeiten. Er hatte sich das Gebäude auf der anderen Seite des Guts noch vor der Renovierung des Haupthauses hergerichtet, nachdem er seine Tätigkeit als geschäftsführender Gesellschafter des Stockholmer Verlages vor knapp vier Jahren aufgegeben und den Hof in Hedekas gekauft hatte. Die beiden anderen Teilhaber, Magnus Löfwing und Per Eriksson, hatten ihn damals nur ungern ziehen lassen – sie schätzten Johans untrügliches literarisches Gespür mindestens genauso wie ihn selbst.

Doch auch das waren längst vergangene Zeiten.

Nachdem er im Antiquariat alle Regale von Staub befreit, die Fenster geputzt und auch den Dielenboden gewischt hatte, begab sich Johan hinter den Tresen und prüfte eingehend, Werk für Werk, den Stapel der unlängst auf dem Trödelmarkt erworbenen Bücher. Darunter befand sich auch eine seltene schwedische Erstausgabe von Karl Marx’ »Das Kapital« aus dem Jahre 1930, die er für knapp eintausendfünfhundert Kronen hatte ergattern können. Dass in Hedekas jemals ein Kunde danach verlangen würde, war zwar höchst unwahrscheinlich, aber es war ein bemerkenswertes Zeitdokument, und Johan hatte es unmöglich liegen lassen können. Jedes Buch von Format hatte seine ihm eigene Bestimmung, schlimmstenfalls würde man zusammen in Würde alt werden. Dieses seltene Stück legte Johan in seine Schatzkiste. So nannte er die alte Holztruhe mit rostigen Eisenbeschlägen, worin er besondere Raritäten lagerte. Genau genommen war es keine richtige Schatzkiste – sie hatte nicht einmal ein funktionierendes Schloss –, sondern eine alte Reisetruhe aus dem neunzehnten Jahrhundert, die so klobig und schwer war, dass Johan an der Unterseite kleine Möbelrollen montiert hatte, damit er sie auch ohne fremde Hilfe bewegen konnte.

Die anderen Neuerwerbungen preiste er aus und sortierte sie in die Regale ein. Nach etwa einer Stunde war er fertig und schob als Letztes ein wunderschön illustriertes Kochbuch aus der Zeit des Jugendstils in das entsprechende Fach.

»Ich hätte mir nicht vorstellen können, dass ich es so lange hier in Hedekas aushalten würde, William.« Mit diesen Worten drehte sich Johan zu dem Franziskanermönch um, der in der geöffneten Tür des Antiquariats stand.

Der Angesprochene trug eine schäbige, grobe Leinenkutte mit Kapuze und eine heutzutage nicht mehr als modern zu bezeichnende Tonsur. Er war groß gewachsen und schlank, sein Blick durchdringend und durchaus freundlich, vor allem aber neugierig. Die schmale, leicht gebogene Nase erinnerte an einen Raubvogel.

»Weshalb?«, fragte der Mönch und legte die Stirn in Falten.

»Weil es einsam ist.«

William von Baskerville lächelte gütig und erwiderte: »Gott ist immer bei Euch.« Er bekreuzigte sich.

»Mir fehlt etwas anderes.«

»Ein Weib?«

Johan zögerte. »Nein, nicht irgendeine Frau«, erwiderte er. »Vielleicht Glück und Zufriedenheit. Nicht dass es mir schlecht ginge, aber es ist manchmal so leer in meinem Leben. Trotz deiner Anwesenheit und meiner Bücher. Es tut mir leid, dass ich es derart drastisch formulieren muss. Mein Leben erscheint mir wie ein ständiger Zeitvertreib, ich weiß nur nicht, was kommt, wenn ich die Zeit erfolgreich vertrieben habe.«

»Ich bin zwar ein gottesfürchtiger Scholastiker und interessierter Beobachter des menschlichen Seins, doch das erhebt mich noch lange nicht zum Heiler für Seelen und Herzen«, sagte William von Baskerville. »Aber wenn Ihr mich fragt, so habt Ihr es nie verkraftet, was damals geschehen ist. Ihr seid geflohen. Vor Euch selbst. Doch das Vergangene nimmt man mit sich wie den Duft einer Blüte, wenn es gut war. War das, was geschehen ist, hingegen schlecht, dann haftet es an einem wie der Gestank eines elend schwärenden Geschwüres.«

»Ich habe sie gesucht«, sagte Johan. »Überall. In ganz Schweden – aber ich habe sie nicht gefunden. Erst als ich begriffen habe, dass sie wirklich tot ist, bin ich hierhergekommen. Willst du das als Flucht bezeichnen?«

William von Baskerville schmunzelte, und die Flügel seiner Raubvogelnase blähten sich mit jedem Atemzug. »Nun, Johan Andersson, mein alter Freund, die Feinde, vor denen Ihr geflohen seid, kennt Ihr besser als ich. Aber ich frage mich, wenn Ihr sie doch längst tot und in der Obhut des Herrn wisst« – er bekreuzigte sich erneut –, »sagt mir, weshalb sucht Ihr sie dann noch immer?«

Johan schwieg.

»Wie dem auch sei«, sagte William von Baskerville. »Ich für meinen Teil werde Euch jetzt vorübergehend verlassen. Wir sehen uns bestimmt bald wieder. Vielleicht, sobald die Kraniche zurückgekommen sind? Der Herr sei mit Euch.« Damit verschwand er, der Feierlichkeit des Augenblicks unangemessen schnell, durch die Tür und tauchte in die orangefarbenen Strahlen der Nachmittagssonne ein.

Johan Andersson trat aus dem Antiquariat und schloss hinter sich ab. Er freute sich auf ein ordentliches Feierabendbier. Bücher machen Durst. Und Gespräche mit längst verstorbenen und vor allem hochgradig fiktiven Franziskanermönchen erst recht.

Das alles hatte kurz nach dem Schiffsunglück begonnen. Johan hatte sich anfangs nichts dabei gedacht, es allein seiner blühenden Fantasie und einem gewissen Mitteilungsbedürfnis zugeschrieben. Als ihm jedoch die Romanfiguren immer häufiger erschienen und sich immer deutlicher manifestierten, wurde ihm klar, dass er eine handfeste Marotte entwickelt hatte (und das, obwohl er damals gerade einmal die dreißig überschritten hatte). Er war zu einem Psychiater gegangen, um eine echte Geisteskrankheit auszuschließen oder sie sich zumindest fachärztlich attestieren zu lassen.

3. Literarische Halluzinationen

Stockholm – Mitte November 1983

Dr. Dr. Malmström war, so schien es, ein erfahrener Psychiater und Traumatologe und trug einen weißen Kittel mit mehreren Kugelschreibern in der Brusttasche. Darüber hinaus verfügte er neben einer Nickelbrille mit starken Gläsern über eine preisverdächtig hohe Stirnglatze und einen zu diesen Insignien medizinischer Kompetenz optisch perfekt passenden Ziegenbart. Er saß in einem monströsen schokoladenbraunen Lederstuhl mit ausladenden Armlehnen, während er Johans Schilderungen schweigend lauschte. Er nickte ab und zu, zog an seiner Pfeife und wippte im Rhythmus eines dösendes Herzens beständig mit der Rückenlehne.

Ob Johan in letzter Zeit etwas Schlimmes erlebt habe, fragte der Psychiater.

Johan bejahte und erzählte ihm ausführlich von dem erst wenige Wochen zurückliegenden Schiffsunglück. Und von Lina.

Der Schock über den Verlust eines geliebten Menschen gepaart mit Panik und Todesangst seien natürlich absolut hinreichende Gründe für Halluzinationen wie aus dem Lehrbuch, erklärte Dr. Dr. Malmström und lächelte. Normal, so könne man sagen, seien in diesem Fall Selbstgespräche, auch Autokommunikation genannt. Ob Johan ein gewisser Juri Michailowitsch Lotman bekannt sei?

Johan verneinte.

Besagter Wissenschaftler sei ein estnisch-russischer Semiotiker und bezeichne dieses Phänomen als »individuell vollzogene kommunikative Operation«.

Diese Thematik sei sicherlich ungemein interessant, hatte Johan bemerkt.

Anders, fuhr Dr. Dr. Malmström ungerührt fort, verhalte es sich allerdings bei Gesprächen mit fiktiven Personen. Das sei nicht normal und lasse sich folgendermaßen erklären: Eine verwundete Seele suche sich ein Ventil und verhelfe dem Betroffenen damit zur Flucht aus einer Realität, die er nur schwer ertragen könne.

Wen er denn so sehe, wenn er in einen solchen Zustand gerate, erkundigte sich der Psychiater.

Ach, das sei ganz verschieden, erläuterte Johan achselzuckend und so als berichtete er Dr. Dr. Malmström vom Hotel seines letzten Skiurlaubes und nicht von den Symptomen einer möglicherweise schweren pathologischen Störung. Je nach Stimmung seien das beispielsweise Dorian Gray, Gregor Samsa und viele mehr oder manchmal auch Pippi Langstrumpf. Die Figuren stammten jedoch allesamt aus Büchern, die er sehr schätze oder die er zumindest früher einmal geschätzt habe. Das sei bemerkenswert. Als Beleg für diesen Umstand führte er an, dass zum Beispiel jemand wie Leopold Bloom glücklicherweise noch nie dabei gewesen sei, was durchaus daran liegen könne, dass er den »Ulysses« für den furchtbarsten und unlesbarsten Roman halte, der je geschrieben worden sei, ganz gleich welche kulturhistorische und literaturwissenschaftliche Bedeutung ihm von wem auch immer zugeschrieben werde.

Der Psychiater hörte auf, mit seinem Stuhl zu wippen. Er machte zu einem hastig aufgesetzten Lächeln ein besorgtes Gesicht und einige Notizen. Einige …

Johan wusste in diesem Augenblick nicht, ob Dr. Dr. Malmström über die geschilderten Tatsachen erschrocken oder lediglich zutiefst verletzt war, weil er im Gegensatz zu ihm selbst James Joyce ganz besonders schätzte und Johan nun aus Rache in die Psychiatrie einweisen würde.

Doch die harsche Joyce-Kritik schien für den Doktor kein Problem darzustellen, er ging gar nicht weiter darauf ein. Stattdessen erläuterte Dr. Dr. Malmström seinem Patienten, dass es dringend notwendig und heutzutage gottlob auch möglich sei, etwas gegen diese Symptome zu unternehmen. Er blickte von seinem Notizbuch auf und begann wieder zu wippen. Spaziergänge in der freien Natur täten beispielsweise gut, körperliche Ertüchtigung sowieso, allerdings nur solange sie ein gewisses Maß an Intensität nicht überschreite. Allgemein solle man in einem solchen Fall wie Johans starke psychische Belastungen vermeiden, wie etwa Stress im Berufsleben. Außerdem rate er Johan als flankierende Maßnahme zu einer medikamentösen Behandlung. Mit diesen Worten erhob sich Dr. Dr. Malmström von seinem schokoladenbraunen Lederstuhl und eilte zu einem Aktenschrank, aus dessen Innerem er zwei Formulare hervorholte, mit denen er sich danach wieder an den Schreibtisch setzte. Er begann, sie konzentriert auszufüllen. Dabei fiel Johan auf, dass der Psychiater während des Schreibens den Mund bewegte, als sage er sich tonlos die Buchstaben vor. Ob das wohl dem jahrelangen Kontakt mit Menschen geschuldet war, die sich seltsam verhielten?

Kurz darauf erhob sich Dr. Dr. Malmström wieder, überreichte Johan eine Krankschreibung, ein Rezept für einen Cocktail aus verschiedenen Psychopharmaka und eine Notiz mit einem neuen Termin in seiner Praxis. Dann begleitete er Johan zur Tür und reichte ihm die Hand zum Abschied.

Noch im Treppenhaus der mondänen Gründerzeitvilla im noblen Stockholmer Stadtteil Kungsholmen, in deren drittem Stock die Praxisräume des Psychiaters untergebracht waren, begann es in Johan zu rumoren. Ja, sicher, er war noch immer zutiefst traurig und wollte Linas Verlust nicht wahrhaben, aber war es nicht vollkommen nachvollziehbar und unerheblich, dass er mit sich selbst oder mit den Protagonisten aus seinen Lieblingsbüchern sprach? Irgendjemandem musste er schließlich sein Leid klagen. Und trotzdem konnte er sich bestens konzentrieren, schlief in aller Regel ganz passabel und war auch sonst absolut nicht verhaltensauffällig geworden. Zumindest hatte ihm das außer Dr. Dr. Malmström noch niemand gesagt. Seine Unterhaltungen mit Romanfiguren waren vermutlich nicht mehr als eine Art speziellerSelbstgespräche – und wer führte die nicht von Zeit zu Zeit? Juri Michailowitsch Lotman hätte das mit Sicherheit bestätigt. Wer in den Spiegel schaute, war ja quasi schon zu zweit. Johans Gegenüber ging lediglich gewisse Umwege und verteilte sich auf mehrere fiktive Personen. Was war schon dabei? Johan kam nach einigem Abwägen und mit Erreichen des Erdgeschosses zu dem Schluss: nichts.

Er stieß den rechten Flügel der bestimmt drei Meter hohen, massiven Holztür auf und trat aus dem Haus auf die Bergsgatan. Die Novembersonne schien auf ihn herab, und Johan schloss einen Moment lang die Augen und atmete tief durch. Dann traf er eine Entscheidung: Er attestierte sich selbst den Vollbesitz seiner geistigen Kräfte – es handelte sich eindeutig nicht um Halluzinationen im pathologischen Sinne. Vielleicht waren es literarische Halluzinationen, aber die waren bestimmt nicht so schlimm. Und statt sich den Verstand mit den Medikamenten, die ihm Dr. Dr. Malmström verschrieben hatte, zu vernebeln, wollte er lieber nach Lina suchen. Sie sagten, sie sei tot, doch sie war nie gefunden worden, nie wieder aufgetaucht.

Aber vielleicht war sie ja gar nicht umgekommen und von der kalten Ostsee verschluckt worden, wie die Polizei leichtfertig behauptete. Vielleicht war sie auf wundersame Weise gerettet worden. Durch ein Fischerboot? Oder war sie womöglich aus eigener Kraft zu einer der zwanzigtausend Schäreninseln geschwommen? Was, wenn sie aus denselben Gründen eine Amnesie erlitten hatte, derentwegen Johan seit dem Unglück die Protagonisten bestimmter Romane erschienen? Ja, es war doch gut möglich, dass sie überlebt hatte und nicht wusste, wer sie war, oder? Lina Berglund, vierundzwanzig Jahre alt, Fotografin aus Göteborg. Nur weil Johan sie in Göteborg nicht gefunden hatte, hieß das ja nicht, dass sie nicht dort war. Irgendwo. Oder in einer anderen Stadt. Schweden war groß.

Johan steckte sich die Krankschreibung in die Innentasche seines Mantels und ging in Richtung Kronobergsparken, in dessen Nähe er sein Auto abgestellt hatte. Während er blinzelnd der Frühlingssonne entgegenschritt, zerriss er das Rezept für die Psychopharmaka und den Notizzettel mit dem neuen Termin und ließ winzig kleine Schnipsel wie den letzten Schnee des Jahres auf den Bürgersteig rieseln.

4. Der Ausblick der finnischen Küste

Hedekas – Samstag, 2. Mai 1987

Johan ging zurück zu seinem Wohnhaus, der Kies knirschte unter seinen Schuhen. Er hatte den Hof noch nicht ganz durchquert, da zuckte er mit einem Mal zusammen. Ein leises, hohes Schreien wie von Vögeln ertönte. Es war vielstimmig und kam von weit entfernt, wurde jedoch immer lauter. Johans Herz begann schneller zu pochen. Er legte den Kopf in den Nacken und spähte in den blauen Himmel. Nichts zu sehen. Doch das Schreien kam immer näher. Er hastete über das Grundstück und um das Haus herum zur Küchenseite, von wo aus er auf die Eichen und den See blicken konnte. Wieder hielt er inne und suchte den Himmel ab.

Dann sah er sie.

Waren es fünfzig, hundert oder noch mehr Tiere? Sie bildeten ein lebendes V mit ungleichen Seiten und bewegten sich fröhlich schreiend auf den Lersjön zu. Dann entdeckte er noch ein V. Und weit entfernt ein drittes …

Kein Zweifel, sie waren zurück.

Agnes’ Prophezeiung fiel ihm ein. Große Veränderungen stünden bevor, hatte sie geweissagt. Plötzlich glaubte er ihr und wusste nicht, warum. Es kam ihm vor, als hörte er in dem Geschrei der Kraniche ein Lied, das ihm einmal unendlich wichtig gewesen war, an das er sich aber nicht mehr hatte erinnern können. Bis jetzt.

Was das bedeutete?

Er hatte absolut keine Ahnung.

Doch es fühlte sich gut an. Wie ein Versprechen, dass er in eine Heimat zurückkehren konnte, aus der man ihn vor langer Zeit vertrieben hatte.

Am nächsten Morgen saß Johan Andersson beim Frühstück und schaute müde aus dem Küchenfenster in den Vormittag. Es war grau und kalt, und es nieselte. Während er seinen Kaffee trank, war vermutlich ganz Hedekas auf dem Weg in die Kirche zu Agnes’ Bruder, um die Heilige Messe zu besuchen. Johan hingegen grübelte darüber nach, was ihm vergangene Nacht den Schlaf so verhagelt hatte. Er wusste es nicht. Vielleicht hatte es daran gelegen, dass heute das Literaturcafé wieder eröffnen würde, aber das allein konnte es nicht gewesen sein. Er stellte die Tasse auf den Küchentisch. Dann tauchte er einen Keks hinein, schob ihn sich in den Mund und zerdrückte den mürben, eingeweichten Teig mit der Zunge am Gaumen. Draußen landete ein silbergrauer Kranich, schlug mit den Flügeln und begann, im Schilfgras am Ufer herumzustolzieren.

Plötzlich erstarrte Johan.

Lina.

Er hatte von Lina geträumt.

Jetzt fiel es ihm wieder ein.

»Es ist wirklich ungewöhnlich warmes Wetter und eine besonders klare Sicht für diese Jahreszeit!«, rief sie gegen den Wind und das Rauschen der Wellen an, die rhythmisch an den Schiffsrumpf schlugen. »Man kann das Festland noch gut sehen.«

Lina stand an der Reling und beschirmte ihre Augen mit der Hand. Sie blickte nach Osten und war ganz versunken in den Anblick der finnischen Küste.

Johan trat zu ihr. »Das stimmt. Erstaunlich. Wir dürften immerhin schon zehn oder fünfzehn Seemeilen von der Küste entfernt sein. Heute Abend sind wir in Umeå.«

Sie wandte sich ihm zu und wiederholte heiter seine Worte: »Zehn oder fünfzehn Seemeilen, verstehe.« Ihr Lächeln verzauberte ihn. Es war, als würde die Sonne noch einmal aufgehen.

»Na gut, einigen wir uns auf weit entfernt«, erwiderte Johan, der merkte, dass sie ihn aufzog, und lächelte zurück.

»Es ist eigenartig, Johan«, sagte Lina.

»Was meinst du?«

»Es stört mich nicht.«

»Was denn?«

»Dass du manchmal ein Pedant bist.« Sie lachte.

Johan räusperte sich. »Das ist äußerst entgegenkommend, Frau Berglund. Aber ich bin über mich selbst erstaunt.«

Lina rückte ihre Sonnenbrille so weit nach vorn, dass Johan das Gefühl hatte, nur noch ihre Sommersprossen würden sie auf der Nasenspitze halten. Sie schaute über den goldenen Metallrand und fragte: »Worüber genau?«

»Dass ich mir solche Respektlosigkeiten von einer Frau gefallen lasse, die ich gerade mal eine Woche kenne.«

Lina schob ihre Sonnenbrille wieder vor die Augen. »Das liegt vermutlich an der Frau.«

»Vermutlich«, sagte Johan. Er zögerte und wurde ernst. »Genau deshalb frage ich mich die ganze Zeit, wie es sein kann, dass ebendiese wunderbare Frau noch nicht vergeben ist. Es ist fast zu schön, um wahr zu sein.« Sanft strich er ihr übers Haar.

Kurz zögerte Lina, wirkte für den Bruchteil einer Sekunde wie ertappt, dann sagte sie: »Ach, da gäbe es genügend Interessenten, aber ich interessiere mich einfach nicht für die Männer, die mir bisher den Hof gemacht haben.« Sie schlang ihre Arme um seinen Hals. »Lass uns über etwas anderes reden.«

»Übers Wetter? Das ist weniger spannend«, sagte Johan.

»Wir müssen auch gar nicht reden«, flüsterte sie.

Und mit diesen Worten legte sie ihre Lippen auf seine und küsste ihn so leidenschaftlich, dass ein vorbeigehender älterer Herr vernehmlich hüstelte. Beide sahen auf und blickten ihm nach.

»Ob er keine Küsse mag?«, fragte Lina.

»Doch, bestimmt«, antwortete Johan. »Ich schätze, er ist einfach eifersüchtig. Ich wäre es jedenfalls an seiner Stelle.«

Lina lachte wieder. »Danke für die vielen Komplimente. Wann, meinst du, werden wir in Umeå anlegen?«

»Irgendwann nach dem Abendessen«, antwortete Johan. »Wir haben also noch Zeit.«

»Zeit ist das Wichtigste«, sagte Lina merkwürdig leise.

»Wie meinst du das?«

»So, wie ich es gesagt habe.« Wieder küsste sie ihn stürmisch, und Johan fühlte, wie sich alles in einem Gefühl von Wärme und Geborgenheit auflöste. Aber obwohl er die Frau seiner Träume in den Armen hielt, erwachte auch eine unendliche Sehnsucht in ihm.

Am Morgen hatte Johan sich an nichts erinnern können, und jetzt fühlte er sich seltsam leer. Er versuchte, dem Glücksgefühl nachzuspüren, das er in seinem Traum empfunden hatte, doch es war verschwunden.

Johan hatte noch immer Sehnsucht. Sein Traum, den die Kraniche ihm gebracht hatten, hatte ihn in die Vergangenheit zurückversetzt. Oder war es der eingeweichte Keks gewesen? Er hatte von seiner erfolglosen Suche nach Lina geträumt, von dem Krankenhausbesuch nach dem Schiffsunglück und von der Sprechstunde bei Dr. Dr. Malmström, durch den er zum ersten Mal von dem estnisch-russischen Semiotiker Juri Michailowitsch Lotman gehört hatte. Und dann hatte sich die Szene an Bord der Leksand in seinen Schlaf geschlichen. Dieses Glück, diese große Liebe. Es hatte sich angefühlt, als wäre die Zeit damals einfach stehengeblieben, als wäre das Schiffsunglück nie geschehen.

5. Eine Frage des Blickwinkels und des Sehvermögens

Stockholm – 15. Januar 1984