Rentierköttel - Lars Simon - E-Book

Rentierköttel E-Book

Lars Simon

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Beschreibung

Gödseltorp war gestern: Auf nach Lappland! Neue Lachfalten für Schwedenfans! Wenn es bei Torsten schlecht läuft, dann gleich doppelt: Haus marode, Freundin verschwunden! Gemeinsam mit Chaos-Kumpel Rainer macht er sich auf die Suche nach Linda, Richtung Lappland, wo sie an eine durchgeknallte Asen-Sekte geraten. Die beiden geben vor, »welche von ihnen« zu sein …

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Seitenzahl: 411

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Lars Simon

Rentierköttel

Roman

Deutscher Taschenbuch Verlag

 

boazu [poazu] – Ren(tier)n; Substantiv, neutral – Gehörntes oder geweihtragendes, in den Polargebieten lebendes, zu den Hirschen gehörendes großes Säugetier mit dichtem, dunkel- bis graubraunem, im Winter hellerem Fell und starkem, unregelmäßig verzweigtem, an den Enden oft schaufelförmigem Geweih. Es ist das einzige seiner Art (Hirsch), das domestiziert wurde.

 

bajkka [bai’ka] – Köttel (frei übers.) m; Substantiv, maskulin – Verniedlichend gemeinte, umgangssprachliche Ableitung des Stammwortes Kot; kleiner, zumeist kugelförmiger Mistklumpen; tritt oft haufenweise auf. Fachbegrifflich (Jagd) als Losung bezeichnet.

 

bajkka boazu [bai’ka poazu] – Ren(tier)köttelm; Substantiv, maskulin – 1. Ausscheidungen eines gehörnten oder geweihtragenden und in den Polargebieten lebenden, zu den Hirschen gehörenden großen Säugetiers, die meist haufenweise vorkommen (unabhängig davon, ob das Exemplar, das obige Ausscheidungen produziert hat, domestiziert wurde oder nicht, macht es echt keinen Spaß, davon den ganzen Kofferraum vollzuhaben); 2. Vermutlich der Gehirninhalt von Menschen, die ernsthaft glauben, in Kürze und in anderer Gestalt als gewaltiges Nordgöttergeschlecht auf die Erde zurückkehren zu können.

Was bisher geschah

Torsten Brettschneider ist Mitte dreißig und führte bis vor kurzem ein durchschnittliches Leben in Frankfurt a.M. Sein Job befriedigte ihn genauso wenig wie seine kriselnde Beziehung, was er durch eine Ur-Mann-Therapie vergeblich in den Griff zu bekommen versuchte.

Als er völlig überraschend den Bauernhof seiner Großtante Lillemor im mittelschwedischen Kaff Gödseltorp erbt, beschließt er, sein Leben grundlegend zu ändern: Er kündigt seinen Job und zieht ins Land der Elche, um Schriftsteller zu werden. Leider entwickelt sich seine Vision zum Albtraum. Die gute Nachricht: Alle Beteiligten überleben diese Elchscheiße irgendwie.

Dann lässt er sich aufgrund einer Schreibblockade gleich zu Beginn seines zweiten Romans und einer nicht wirklich existenten, dafür aber bereits kriselnden Beziehung zu Linda Pettersson, der Pfarrerstochter aus Gödseltorp, von seinem Vater breitschlagen, ihm und der ganzen Irrsinnstruppe nach Costa Rica in einen ausgedehnten Cluburlaub zu folgen. Alles, was Torsten sich davon erhofft, ist Erholung, Entspannung und Ruhe, doch die Ferien enden in einem einzigen Chaos, dem er und seine Freunde nur knapp entrinnen können. Was für eine Kaimankacke!

Zurück in Schweden, beschließt Torsten, in der lieblichen Landschaft Dalarna ein zweites Zuhause zu erwerben, während Rainer einen Kulturintegrationskurs in Nordschweden besucht. Alles könnte so besinnlich und nett sein, wäre da nicht die Tatsache, dass Torsten sein Herz offenbar dauerhaft an Linda verschenkt hat, die selbst nicht so ganz zu wissen scheint, was sie will, und deshalb zwecks Selbstfindung nach Lappland abgezischt ist (was halb so schlimm wäre, würde da nicht auch noch ihr doofer Exfreund »Kultur-Olle« wohnen). Vielleicht wäre Torsten schon geholfen, wenn das Haus, das er in Leksand gekauft hat, besser in Schuss wäre oder wenn Rainer andere Klamotten trüge. Was aber bestimmt gar nicht hilft, ist ein Haufen Irrer, die sich anscheinend für die Nachfahren nordischer Götter halten …

 

Am Ende des Buches finden sich nicht nur diverse kleine Sprachkompendien, sondern auch eine Liste mit ultimativen Musiktipps für einen noch höheren Genuss dieser Lektüre durch atmosphärische Untermalung.

Ja dal: Buorre mátki!

Ett

Zufrieden stand ich im Garten meines neuen Häuschens und stemmte die Hände in die Hüften, um zu demonstrieren, dass ich für die anstehenden Renovierungsarbeiten bereit war und dass sich diese Hütte gar nicht einzubilden brauchte, weiter ungehindert vor sich hin zu patinieren. Ich hatte darin gearbeitet und gewohnt, weit länger als jeder Durchschnittsferiengast, und dann hatte es der Zufall gewollt, dass die Besitzer es verkaufen wollten.

Ich besaß jetzt also ein Haus.

In Mittelschweden.

Ganz in der Nähe von Leksand, und das war eigentlich eine ziemlich lässige Sache: weit genug von meinem ehemaligen Bauernhof in Gödseltorp entfernt, um den nötigen Sicherheitsabstand zu gewährleisten, und doch – ein schönes Fleckchen Erde. Dieser an und für sich feierliche Augenblick wurde leider ein wenig getrübt, weil es gerade begann, kalt und unangenehm vom dunkelgrauen Novemberhimmel zu nieseln.

»Sie haben eine Superentscheidung getroffen, Herr Brettschneider«, hatte mich Christer Holm überschwänglich gelobt, nachdem wir in seinem emotionslos eingerichteten und mit Aktenstapeln überhäuften Büro den Papierkram erledigt hatten. »Ein Superpreis für ein Superhäuschen mit viel Potenzial!«, hatte er gerufen und mir voller Maklerelan die Hand über den Schreibtisch entgegengestreckt. Sein wahrscheinlich international zertifiziertes Maklergrinsen vermittelte mir das Gefühl, das ein Einbeiniger ohne Sprachkenntnisse und Schulabschluss empfinden muss, der soeben für einen Stundenlohn von tausend Euro als Parkwächter mit einer Wochenarbeitszeit von zehn Stunden und mit Rentengarantie lebenslang angestellt worden ist.

Ich schlug, nicht restlos überzeugt, in die mir dargebotene Hand ein, denn ich war mir sehr wohl bewusst, dass die Formulierung »viel Potenzial« aus dem Munde eines Immobilienmaklers gleichbedeutend mit »viel Umsatz für viele Handwerker« war, und wer die bezahlen würde, war ja klar. Ich. Aber ich mochte dieses Haus, und neben der Wohnlage, so musste ich mir insgeheim eingestehen, gab es einen weiteren Grund, weshalb ich vielleicht nicht ganz so gründlich jeden Meter Heizungsrohr und jeden Quadratzentimeter Fassade begutachtet hatte …

Das Leben schreibt die seltsamsten Drehbücher, und meistens hilft ihm dabei mindestens eine Frau – wenigstens war das bei mir immer so gewesen. In diesem Fall hieß diese Frau Linda, hatte lange goldblonde Haare und ein zauberhaftes Elfenlächeln. Wahrscheinlich hätte ich nie so viel Zeit in Schweden und schon gar nicht in diesem Häuschen zugebracht, wenn sie nicht gewesen wäre, und mit Sicherheit wäre mir nie in den Sinn gekommen, genau dieses Ferienhaus zu erwerben, wenn Linda nicht ganz in der Nähe gewohnt hätte.

 

»Uiuiui, da muss aber einiges gemacht werden«, orakelte eine Stimme hinter mir, und ich fuhr erschrocken herum. Wohl aufgrund des aufgekommenen Windes, der die spätherbstlichen Wolkentränen mittlerweile in fast horizontalen Bindfäden über das Gelände trieb, hatte ich den Mann nicht kommen hören. In meiner Einfahrt hatte er seinen etwas in die Jahre gekommenen Firmenwagen geparkt, auf dessen verbeulter Schiebetür das Versprechen prangte, er könne so ziemlich alle Tätigkeiten rund um Hausrenovierung und Gebäudeinstandsetzung in höchster Qualität durchführen, und das obendrein in dritter Generation.

»Hej! Sie sind Herr Johansson?«

»Ja. Wir haben telefoniert.«

»Fein!« Ich begrüßte ihn mit Handschlag und führte ihn ums Haus. Viel zu erklären brauchte ich nicht, denn Johansson hatte Stift und Block gezückt, murmelte beständig, aber unverständlich vor sich hin, setzte seine Brille auf und ab und machte sich eifrig Notizen. Vielleicht etwas zu viele? War meine neu erworbene Immobilie doch in einem noch schlechteren Zustand, als es die Exeigentümer und Makler Holm unisono versprochen hatten? Oder schrieb sich Johansson Hinweise ins Büchlein wie: Der Typ sieht aus, als habe er absolut keine Ahnung von Umbauten. Da geht bestimmt auch noch ein neues Dach! oder Die Fenster sind eigentlich noch gut, aber der Kerl hat bestimmt Geld!

Vielleicht war es aber auch einfach unfair von mir, so etwas anzunehmen, bloß weil er Handwerker war und offensichtlich dringend einen neuen Firmenwagen brauchte.

Unabhängig davon wurde der Regen plötzlich intensiver, und das ohnehin schwache Tageslicht verflüchtigte sich fast zur Gänze.

»Und, Herr Brettschneider, wollen Sie jetzt permanent hier wohnen?«, fragte Johansson und hob schnaufend sein Doppelkinn über den Kunstfellkragen seiner in allen Ölfarbtönen bekleckerten Arbeitsjacke.

Ich schüttelte den Kopf und versuchte, mir gleichzeitig die Kapuze überzuziehen. »Na ja, das hatte ich eigentlich nicht vor, aber immer ein paar Monate am Stück bestimmt. Ich komme ja aus Frankfurt …«

»Deutschland!«

»Richtig«, fuhr ich fort, »und da habe ich eigentlich noch eine Wohnung …«

Ich bereute das sofort. Johansson machte sich umgehend eine kurze Notiz. Wahrscheinlich: Der Typ hat WIRKLICH Geld! Und wenn nicht, soll er halt seine blöde Wohnung in Deutschland verkloppen. Angeber!

»Ihr Schwedisch ist ziemlich gut«, lobte er mich. »Das hat auch schon mein Schwager gesagt.«

Ich hatte die Kapuze endlich auf dem Kopf und zurrte sie fest. Ich nahm an, dass ich jetzt dämlich aussah, aber dafür war es trockener. »Danke. Meine Mutter war Schwedin, und ich habe jetzt wieder einige Monate hier verbracht. Wer ist denn Ihr Schwager?«

»Christer Holm.«

»Herr Holm ist Ihr Schwager?«

»Die Fenster müssten mal gemacht werden.«

»Die sehen doch eigentlich noch ganz gut aus«, merkte ich vorsichtig an und sah plötzlich Makler Holm und Handwerker Johansson vor mir, wie sie mit ihren Familien einen exklusiven Strandurlaub machten, den ich bezahlt hatte.

»Auf den ersten Blick vielleicht, aber denken Sie an die Heizkosten … Ich wollte es nur gesagt haben«, setzte Johansson nach.

»Dann schreiben Sie die mit aufs Angebot.«

Johansson notierte schätzungsweise Anzahl und Art der Fenster und den Kommentar: Ein Geizkragen und Klugscheißer ist er auch noch!

Nachdem wir das Innere meines Ferienhauses in Augenschein genommen und sich Johansson zu allem etwas in sein ominöses Buch geschrieben hatte, bot ich ihm einen Kaffee an. Das macht man so, und außerdem war ich müde. Wir setzten uns in die Küche, von wo aus man normalerweise einen schönen Blick über den Garten und die angrenzenden Wiesen hatte. Sie wurden am Horizont von einem Waldsaum begrenzt, an dem eine wenig befahrene Landstraße vorbeiführte. Heute allerdings nicht. Also, die Landstraße war natürlich noch da, zumindest nahm ich das an, aber man sah weder sie noch irgendetwas Schönes, weil es wie aus Kübeln schüttete und immer düsterer wurde.

»Für November noch ganz gut, das Wetter«, merkte Johansson doppelkinnnickend an. »Also, ich schicke Ihnen das Angebot bis Freitag. Wäre gut, wenn Sie sich schnell entscheiden könnten, denn dann würden wir schon nächste Woche mit den Außenarbeiten beginnen. Wenn erst mal Dauerfrost herrscht und der Schnee liegen bleibt, können Sie das vergessen.« Johansson hatte sich die beschlagene Brille auf den Kopf hochgeschoben, schlürfte am Kaffee und biss in einen der kanelbullar, die ich heute Morgen vom ICA-Supermarkt mitgebracht hatte. Seine gerötete Stirnglatze glänzte.

»Wenn der Preis stimmt, bekommen Sie schnell einen Auftrag«, merkte ich an.

»Wir sind die besten hier«, entgegnete Johansson trocken.

»Da habe ich ja mächtig Glück gehabt«, gab ich zurück, »der Preis muss aber trotzdem stimmen. Noch Kaffee?«

Johansson schüttelte den Kopf und erhob sich. »Nej, tack!«

Ich begleitete ihn zur Tür, wir schüttelten die Hände, dann sah ich ihm hinterher, wie er mit seinem klapprigen Firmenwagen in der Einfahrt wendete, den Kiesweg davontuckerte, auf die unsichtbare Landstraße abbog und im Regenvorhang verschwand.

Ich ging zurück, schenkte mir Kaffee nach und ließ meinen Blick über die floralen Siebzigerjahremuster der Tapete schweifen. Ich war froh, dass die bald wegkam. Ganz sicher, womit ich stattdessen die Wand verzieren wollte, war ich noch nicht, aber es musste etwas weniger Psychedelisches her, wahrscheinlich ein einfacher Farbton, vielleicht ein fröhliches Maigrün? Gerade bei tristem Novemberwetter wäre das ein angenehmer Kontrast zum Grau draußen.

Ich hatte meine Gedanken noch nicht zu Ende gebracht, da klingelte das Telefon.

Två

»Brettschneider?«

»Hier auch!«

»Ah, Papa, du bist es! Wie geht es euch?«

»Gut so weit. Gesund und wohlauf. Unseren Dschungelurlaub habe ich inzwischen verdaut. Renate ist gerade auf einer Esoterikmesse. Könnte schlimmer sein.«

»Freut mich. Ich hab das Haus gekauft.«

»Was? Welches Haus?«

»Na, das, in dem ich schon die ganze Zeit wohne. Das kleine Ferienhaus.«

Mein Vater schwieg einen Moment. »Du lässt aber auch gar nichts im Leben aus, oder? Was hat dich denn da geritten? Soweit ich mich erinnere, war diese Hütte nicht im allerbesten Zustand, oder?«

»Es ist ein charmantes Häuschen, und gegen den Kauf eines Ferienhauses in Schweden ist doch wohl nichts einzuwenden …«

»Ich finde, es gibt eine ganze Menge dagegen einzuwenden, aber jeder, wie er mag.« Er zögerte, dann fragte er: »Es ist wegen Linda, oder?«

Jetzt schwieg ich einen Moment. »Ich mag eben das Land und die Leute«, antwortete ich ausweichend.

»Hast du etwas von ihr gehört?«

»Vor einer guten Woche habe ich eine Karte von ihr bekommen.«

»Und?«

»Sie hat mir geschrieben, dass es ihr gutgeht. Das Kulturprojekt von Olle läuft anscheinend prima, obwohl sie da jetzt offenbar nicht mehr mitmacht und noch etwas Zeit für sich benötigt. Und sie will wiederkommen, sobald das Projekt abgeschlossen ist.«

»Soso …«

»Was ist?«

Ich sah meinen Vater förmlich mit den Augen rollen. »Wenn ich mich recht entsinne, ist dieser Olle Lindas Exfreund, nicht wahr?«

»Ja, aber das ist doch schon Jahre her, außerdem geht es mich ja theoretisch gar nichts an. Wir sind ja nicht einmal zusammen, nur befreundet.«

»Und genau das werdet ihr bleiben, weil du da nicht richtig Gas gibst, Junge! Da kannst du meinetwegen alle Drecksbuden in der Gegend kaufen, das wird auch nichts daran ändern.«

»Was hätte ich denn machen sollen, Papa? Sie etwa an den Haaren schnappen und Prügel androhen, wenn sie mich nicht nimmt und stattdessen zu diesem Kulturheini nach Lappland fährt?«

»Wäre ausnahmsweise mal eine männliche Reaktion gewesen«, sagte mein Vater unverblümt. »Aber ein marodes Haus in Schweden zu kaufen und zu warten, bis diese Frau vielleicht wiederkommt, um dir dann zu sagen, dass das alles nichts wird, ist natürlich ein gut durchdachter Alternativplan.«

Nur meine Erziehung hinderte mich am Brüllen und Auflegen.

»Wolltest du nicht sowieso da hochfahren?«, hakte mein Vater nach. »Wegen Rainer?«

»Ja, wollte ich, aber ich habe mit ihm telefoniert. Wir brauchen uns da keine Sorgen mehr zu machen. Dem geht’s prima. Er hat sich zwar beklagt, dass sein Intensivkurs gar nicht so urkulturell sei, wie er angenommen hat, aber immerhin lernt er etwas Schwedisch, und das Ganze geht noch gut einen Monat. Außerdem kann ich hier nicht weg. Nächste Woche kommen die Handwerker und fangen mit der Renovierung an.«

»Na dann ist ja alles in bester Ordnung. Die Frau deiner Träume ist bei ihrem Exgeliebten, Rainer lernt Schwedisch in Lappland, und du versenkst Geld in eine Drecksbude, die keiner braucht. Wird das wenigstens bis Weihnachten fertig? Ich habe nämlich keine Lust, unseren Festtagsbraten am Tapeziertisch und auf einem Stapel Bierkisten zu essen.«

»Ach, das wird schon.«

»Du weißt, ich bin Frührentner, und Renate hat auch Zeit. Wir kommen gerne und helfen dir.«

»Nein, nein, das ist nicht nötig!«, wiegelte ich hastig ab.

Nicht, dass ich meinen Vater nicht gemocht hätte, und Renate war ebenfalls eigentlich schwer in Ordnung (auch wenn sie zugegebenermaßen noch eigentümlicher war als mein alter Herr), aber immer wenn mein Vater mir in der jüngsten Vergangenheit hatte helfen wollen oder davon überzeugt gewesen war, dass ich zwingend Unterstützung benötigte, hatte es im Chaos geendet. Mein Vater und Rainer waren das Duo infernale schlechthin. Auch wenn sie ansonsten nicht gegensätzlicher hätten sein können, ergänzten sie sich in diesem Punkt ganz prächtig. Ich war nicht unglücklich darüber, beide eine Zeit lang etwas weiter weg und voneinander getrennt zu wissen.

»Kommt ihr mal schön am 22. Dezember und bleibt über Silvester. Bis dahin habe ich das alles hier geregelt.«

Mein Vater schien nachzudenken. »Du regelst das? Na gut, wenn du meinst. Aber, wie gesagt, ich glaube ja nach wie vor, dass du unsere Hilfe gut gebrauchen …«

»Ich weiß, dass du das glaubst, Papa. Danke für das überaus freundliche Angebot und dein grenzenloses Vertrauen, aber: Nein! Grüß mir Renate. Mach’s gut.«

»Wie du meinst. Drecksbude. Tschüs!«

Ich beendete das Telefonat mit gemischten Gefühlen. Schön, dass es meinem Vater und Renate gut ging. Schön, dass sie vorerst blieben, wo sie waren, in Frankfurt nämlich. Aber: Mist! Jetzt musste ich wieder an Linda denken. Ich kramte ihre Postkarte hervor.

Hej, Torsten!

Mir geht es so weit gut, und das Projekt von Olle geht voran, auch wenn ich mich da wahrscheinlich mittelfristig ausklinken werde. Olle ist seltsam geworden, und irgendwie habe ich den Verdacht, dass das Projekt nicht das ist, wonach er es aussehen lässt. Ich erkläre Dir dann alles, aber ich brauche danach einfach mal Zeit für mich. Dann komme ich wieder. Versprochen.

Ganz herzliche Grüße

Linda

Abgestempelt am 20. Oktober in Jokkmokk, Lappland. Ich wusste ganz genau, wo das lag, denn natürlich hatte ich gleich im Internet nachgeschaut. Ein bisschen kindisch, so als würde mir das Linda näherbringen.

Etwas an dieser Karte kam mir allerdings seltsam vor. Der Stil passt einfach nicht zu Linda, denn auch wenn wir – aus meiner Perspektive bedauerlicherweise – nur Freunde und kein Paar waren, hätte sie niemals dermaßen komische Sachen geschrieben. Dazu kannten wir uns einfach zu lange, und schließlich hatten wir zusammen schon eine bewegte Geschichte in Gödseltorp durchgemacht. Das klang alles viel zu nüchtern und sachlich. Und warum redete sie nicht mit mir, sondern stellte einfach ihr Handy ab?

Das war schon ziemlich seltsam. Aber war es seltsam genug, um hier alles stehen und liegen zu lassen und nach Lappland zu reisen? Womöglich würde ich Linda dabei ertappen, wie sie mit Kultur-Olle, einem furchtbar selbstverliebt dreinblickenden Mann mit grauen Schläfen, Seidenschal und Retro-Designerbrille aus schwarzem Horn (ich kannte nur ein älteres Foto von ihm, das ihn auf irgendeiner Vernissage in Stockholm zeigte und das ich mal bei Linda gesehen hatte), händchenhaltend durch die Jokkmokker Innenstadt flanierte. Sie würde mich entdecken und Kultur-Olle flüsternd von mir erzählen, und der würde bei meinem Anblick so höhnisch-überlegen grinsen wie eine Deutsche Dogge, die von einem Chihuahua angeknurrt wird, woraufhin Linda sich beschämt abwenden würde. Und ich würde mir wünschen, dass mich der Erdboden verschlingen möge.

Nein, so ging das nicht! Vielleicht schrieb sie ihre Postkarten ja generell in diesem Stil? Ich kannte nur diese eine von ihr und hatte deswegen keinen Vergleich. Wahrscheinlich hatte mein Vater wie so oft recht, und Linda blieb am Ende bei Olle und mir bliebe als Erinnerung nur diese eine Postkarte. Und eine Drecksbude in Mittelschweden mit dem dazugehörigen Haufen Handwerkerrechnungen.

Gut, aber das Haus hatte ich jetzt nun mal – Linda hin, Olle her –, und ich hatte vor, das Projekt zu Ende zu bringen. Ein echter Mann muss einen Sohn zeugen, einen Baum pflanzen und ein Haus bauen. Kinder hatte ich noch keine gezeugt (falls doch, kannte ich sie nicht), und Setzlinge bekam man zur Not beim Gartenmarkt an der Ecke. Die beiden ersten Aufgaben schienen mir, theoretisch wenigstens, im Bedarfsfall verhältnismäßig zeitnah leistbar zu sein. Das Haus hingegen wirkte auf mich wie der aufwändigste Punkt dieser männlichen Lebens-To-Do-Liste. Ob man nun eines besetzte, erbaute oder sanierte, irgendwo musste ich ja schließlich mal anfangen, und genau das würde ich tun.

Punkt.

Tre

Johanssons Angebot steckte am Mittwoch im Briefkasten. Nun, das erfüllte ja auch auf gewisse Weise seine Ankündigung, er werde es »bis Freitag« schicken, es war halt nur ein anderer Freitag, als ich angenommen hatte. Vielleicht war ich einfach nur kleinlich?

Egal. Nachdem er und ich daraufhin noch ein längeres Telefonat über diverse Positionen, insbesondere über deren Notwendigkeit (zum Beispiel den Austausch von meiner Ansicht nach noch vollkommen intakten Fenstern), Umfang und Preis, geführt hatten, einigten wir uns schließlich, und ich erteilte ihm den Renovierungsauftrag für mein Haus.

Am Montagmorgen der darauffolgenden Woche fuhr sein Lieferwagen vor und parkte neben Lasse, wie ich meinen alten, aber treuen VW-Bus getauft hatte. Johansson und drei weitere Gestalten entstiegen dem Firmengefährt. Als Erstes hüpfte ein sehr kleiner Mann in meinem Alter aus dem Auto, der sofort mit Kusshand eine Rolle als Hobbit in jedem x-beliebigen Fantasyfilm bekommen hätte. Mustafa wirkte wieselflink, hatte auffällig blitzende Äuglein und riesige, behaarte Hände. Aufgrund seiner Physiognomie schätzte ich ihn als Profi für Erd- und Untertagearbeiten ein.

Ihm folgte ein baumlanger, schlaksiger Kerl, der aussah wie ein Weberknecht mit Arbeitsstiefeln und wahrscheinlich mit Vorliebe für Dach- und andere Reparaturen in schwindelerregender Höhe eingesetzt wurde, weil er sicher auch ohne Leiter die glattesten Wände emporklettern und sich im Falle eines Sturzes an einem dünnen Faden abseilen konnte. Er stellte sich als Gunnar vor.

Der dritte Kollege stellte sich gar nicht vor. Von Johansson erfuhr ich, dass er Kjell hieß. Ein junger Typ, der offensichtlich nicht fürs Dachdecken eingesetzt wurde, weil jede Leitersprosse geborsten wäre, sobald er sie erklommen hätte. Er war fast so groß wie Gunnar, aber wog bestimmt das Doppelte. Kjells Steckenpferd schien Kaloriensammeln zu sein. Das würde auch erklären, warum er nicht gegrüßt hatte. Selbst das verbrennt ja Energie!

Kjell jedenfalls machte sich wortlos ans Werk und entfernte alten Lack an Fenstern und der Holzfassade. Johansson schnappte sich die anderen beiden und begann, mit ihnen mein Haus von innen in Augenschein zu nehmen. Sie unterrichteten mich kurz darauf, dass man sich vom Badezimmer aus über die Küche und dann durch die anderen vier Zimmer durcharbeiten wolle.

Am Donnerstag war der Fassadenlack komplett abgeschliffen, Küche und Bad waren ausgebaut und teilentsorgt, und im Wohnzimmer war der Fußboden herausgerissen. In allen Räumen hatte man die Tapeten abgekratzt. Der ganze Abraum befand sich vor dem Haus in zwei großen Containern, während die Dinge, die wiederverwendet werden sollten, im Holzschuppen lagerten.

Es war bis jetzt super vorangegangen, und ich freute mich schon auf den nächsten Tag, an dem, so hatte es Johansson fest und mit treuem Blick versprochen, nach dem partiellen Entkernen meines Häuschens mit den eigentlichen Renovierungsarbeiten begonnen werden sollte.

Am Freitag jedoch kam keiner mehr. Nun, das stimmte nicht ganz, der Postbote kam schon, nur die vier Handwerker-Daltons der Firma Johansson byggtjänst AB blieben verschwunden. Dafür schaute gegen Mittag ein Außendienstmitarbeiterpärchen der Zeugen Jehovas mit Heil bringenden Versprechungen vorbei. Ich konnte den beiden farblos gekleideten Frauen allerdings klarmachen, dass ich ihre Ansichten zwar ganz toll fand und prinzipiell auch Interesse hätte, das Jüngste Gericht im Himmel als einer der wenigen Auserwählten zu überstehen, aber anderen, die es nötiger hatten als ich, gern den Vortritt ließe und dafür ganz uneigennützig die etwaige Unsterblichkeit meiner Seele zu riskieren bereit sei. In diesem Sinne gab ich ihnen die Adresse von Herrn Johansson und behauptete, dieser habe großen Kummer und stehe eventuell vor einem Suizid, was ja eine Megasünde sei. Mit diesem Hinweis in der Tasche und dem Vakttornet, der schwedischen Ausgabe des Wachtturms, in der Hand verließen die beiden Frauen mein Grundstück und zogen von dannen – direkt zu Herrn Johansson, hoffte ich.

Nachdem ich mein Frühstück gegen neun Uhr auf zwei Bierkisten und am Tapeziertisch eingenommen hatte, rief ich mehrmals in Johanssons Firma an. Fehlanzeige. Ich hinterließ eine Nachricht und versuchte es auf seinem Handy. Es klingelte fünfmal, dann meldete sich auch hier der Anrufbeantworter. Ich wiederholte meine Bitte um Rückruf und Aufklärung und ging ratlos und entnervt zurück in die Küche, die inzwischen zu einem unmöblierten, bodenbelaglosen Raum mit vielen Rohren, Leitungen und vor allem viel Staub und Dreck mutiert war.

»Na prima!«, sagte ich zu mir selbst und schaltete das mit Farbflecken übersäte Handwerkerradio an, das Johansson und Konsorten mitgebracht hatten. Blechern ertönte der alte ABBA-Gassenhauer Mamma mia! – fraglos ein gut komponiertes Musikstück, doch reflektierte es in diesem Moment nicht annähernd mein inneres Bedürfnis, Handwerker mit Dachlatten zu vermöbeln oder ihnen bündelweise den Vakttornet an den Kopf zu schmeißen. Ich suchte einen anderen Sender und blieb bei American Idiot der Punkrockband Green Day hängen. Prima! Das passte erheblich besser, auch wenn Johansson Schwede war.

Ich drehte so laut, bis der Song vor Gekrächze kaum noch zu erkennen war, dann setzte ich mich zusammen mit etwas Wut und geringfügiger Resignation auf meinen Bauherrenthron aus zwei aufeinandergestapelten Bierkästen der Marke Norrlands Guld, nachdem ich mir eine Flasche herausgezogen und sie geöffnet hatte. Ich trank einige tiefe Züge, wischte mir mit dem Handrücken über den Mund und ärgerte mich. Ich Trottel hatte das Bier gestern noch in aller Eile vor Ladenschluss eigens für die Herren Handwerker besorgt und sogar an zwei Flaschen Cola für Mustafa gedacht – für den Fall, dass er streng gläubig sein sollte. Aktuell erschien es mir als durchaus akzeptable Lösung, einen Großteil der Flaschen sofort und selbst auszutrinken und den Rest wegzuschütten, damit die blöden Daltons nichts mehr davon hatten. Netter Nebeneffekt: Nach etwa einem halben bis dreiviertel Kasten wäre mir das ganze Chaos hier wahrscheinlich auch egal.

»Hallöchen! Sag mal, was geht’n hier ab, du?«, schrie auf einmal eine männliche Stimme.

Mein Herz machte einen Sprung gegen die Innenseite meiner Brust, und ich blickte auf. Ach, du dickes Ei! Wer oder, besser gesagt, was war das denn?

Das Wesen in der Tür trug ein hüftlanges und anscheinend von traditioneller Hand genähtes Hemd in stechendem Blau, das an den Schultern und allen Säumen mit gelb-roten Bordüren verziert und durch einen handbreiten, ebenfalls mit allerlei Schmuck bestickten Ledergürtel gerafft war, von dem so etwas wie eine Fellhandtasche baumelte. Bei Linda wäre das alles wahrscheinlich ziemlich ansehnlich gewesen und als kurzes und extravagantes Sommerkleid durchgegangen. Bei diesem Typen definitiv nicht. Seine Beine steckten in einer relativ unförmigen grauen Stoffhose, die wiederum in pelzverbrämten Wildlederstiefeln endete. Die Krönung des Ganzen war eine mehr als farbenfrohe Strickmütze, die vom modischen Charakter her zwar bombig zum Hemd, aber absolut nicht zur flaschenbodendicken Hornbrille und dem fisseligen Bart passte.

»Rainer!«, rief ich, als mir klar geworden war, wer mich da mit seinem Reisegepäck in der Hand heimsuchte. Er hingegen sah mich ratlos an und schien meine Worte nicht zu verstehen. Ach ja, Green Day … Ich stellte das plärrende Radio leiser.

»Rainer?«, wiederholte ich. »Du?«

»Genau, ne. Sorry, ne, echt, ne, wollte dich nicht erschrecken, Torsten, aber die Tür stand auf, ne, da hab ich gedacht, ich geh mal rein, ne. Und dann war die Mucke hier so oberstkrass laut.«

»Ich bin fast gestorben vor Schreck. Was machst du denn hier? Ich dachte, du wärst in Lappland?«

Ich erhob mich, ging zu ihm und umarmte ihn. Rainer roch streng, etwa wie ein schweißnasser, ketterauchender Waschbär. Nicht nur deshalb löste ich mich rasch wieder von ihm.

»Mann, Rainer, müsstest du nicht gerade in deinem Intensivsprachkurs sitzen?« Ich machte einen Schritt zurück, um ihn eingehend zu betrachten. »Und überhaupt: Wie siehst du eigentlich aus?«

Rainer lachte und nickte gleichzeitig. »Ja, nee, ich war ja auch in Lappland, ne, aber der Kurs war irgendwie so gar nicht mein Ding, da bin ich früher weg, ne. Wieder zurück mit Bahn und Bus, so ökotechnisch vertretbar eben, ne. Aber die Klamotten hier sind total original. Hab ich auf einem Samenmarkt gekauft. Cool, ne?«

»Ja, es ist irgendwie ziemlich cool, so rumzulaufen, Rainer«, sagte ich, »das würde ich mich nicht trauen. Was ist das?«

»Die traditionelle Bekleidung der Sami, ne. Ultrabequeme Schuhe, eine eins-A-Hose aus Rentierleder und eine modisch zeitlose Tunika, auch gákti genannt, ne. Die ist aus ’nem handgewalkten Wollstoff namens vadmal, Farbmäßig und bedeutungstechnisch ist das so geregelt: Blau ist der Himmel, Gelb die Sonne, Rot das Feuer und Grün die Erde, ne. Total basic und down to earth also.« Als Rainer mein verdattertes Gesicht sah, fügte er hinzu: »Man gewöhnt sich echt dran, ne, auch an die neidischen Blicke der anderen. Nee, echt, super Klamotten. Total bequem und echt integrativ. Das hat sonst keiner bei uns. Die Leute an der Uni in Frankfurt werden Augen machen, wenn mein Urlaubssemester vorbei ist, ne.«

»Davon bin ich absolut überzeugt«, pflichtete ich ihm bei. »Wahrscheinlich darfst du diese Montur dann auch noch ganz anderen Fachleuten vorführen.«

»Meinste?« Rainer setzte die schreiend bunte Mütze ab und blickte sich um. »Und hier ist so renovierungstechnisch noch was zu machen, oder bleibt das so?«

»Das wissen nur Gott und Herr Johansson«, antwortete ich, »aber geplant war das anders.«

»Okay, wär auch ’n bissi zuuu reduziert, ne.«

»Ja, ohne Küche, Klo, Fassadenfarbe und richtige Deckenlampen könnte man sagen, dass es geringfügig zu reduziert wäre.«

»Genau, ne.«

Ich hob den oberen Kasten herunter, schob ihn Rainer als Sitzgelegenheit hin und machte auch ihm ein Bier auf. »Skål – auf die Schweden, auf die Samen und auf alle Handwerker!«

»Genau. Prösterchen, ne.«

Wir nippten am Bier, das erfrischend kühl war. Nicht verwunderlich, denn die Heizung in der Küche war ja abgeschraubt, und die mit Muffen abgedichteten Rohrenden schauten mich fast vorwurfsvoll aus der grob verputzten Wand heraus an.

»Du, Torsten, ich will da noch mal hoch.«

»Wohin? Nach Lappland?«

»Genau. Der Kurs, den ich gebucht hatte, war zwar nicht so dufte, wie ich mir das so vorgestellt hab, aber ich hab da so einen samischen Folkloreabend mitgemacht, wo einer einen Vortrag über nordische Religionen und die Kollision der samischen Urbevölkerung mit den Wikingern gehalten hat. Super spannend, ne, und extrem kulturmäßig. Was mir vorschwebt, wäre eine urkulturelle Kulturgruppe mitten in Lappland. Da würde ich total gern mitmachen, denn das wäre so ein authentisches, voll integratives Kultursoziotop, das alles verbindet, was ich mir so vorstelle, also Tradition, Sprache lernen und alte mythologische Strömungen, und das alles basierend auf einem nicht staatlichen Bildungskonzept, ne. Total krass politisch wär das und religiös absolut independent und megacool.«

»Aha. Abgesehen davon, dass ich mir vorstellen könnte, dass es schwierig werden dürfte, etwas zu finden, was deinen, sagen wir mal, doch recht konkreten Vorstellungen entspricht, würde mich mal interessieren, warum du so etwas machen willst. Du kannst doch jetzt schon einigermaßen Schwedisch, und das Land kennst du auch.«

»Hey, Torsten, back to the roots, ne. Das ist es«, meine Rainer und lachte. Dabei bildeten sich in seinen Mundwinkeln kleine Schaumbläschen. Hoffentlich Bier, dachte ich bei mir.

»Du kriegst halt erst einen Einblick in die Seele eines Landes und die der Menschen und so, wenn du dich komplett drauf einlässt, ne«, fuhr er unvermindert begeistert fort. »An der Uni hab ich mal ein Referat über einen Typen gehalten, der sieben Jahre bei den Aborigines verbracht hat. So lange hat es gedauert, bis sie ihn akzeptiert hatten, ne. Irgendwie krass lange.«

Ich sah Rainer an. Während er sprach, nickte er rhythmisch und sah mich mit seinen durch die Dioptrienschaufenster unnatürlich vergrößerten Augen freundlich an. Ich fragte mich in diesem Moment, ob es irgendeinen Kulturkreis gab, der Rainer, nach welcher Zeitspanne auch immer, so akzeptiert hätte, wie er war. »Okay, Rainer, du suchst also einen privaten Kulturverein, der einen Sprachkurs anbietet, korrekt?«, sagte ich, um zum eigentlichen Thema zurückzukehren.

»Genau, aber die sollten noch mehr machen.«

»Aha, und was?«

»So was mit nordischen Göttern und Helden und so. Das wär genau mein Ding, ne.«

Ich dachte daran zurück, dass Rainer schon in unserem zurückliegenden Cluburlaub in Costa Rica damit begonnen hatte, hingebungsvoll die Edda zu lesen. Um genau zu sein: eine kommentierte Ausgabe, die beide Versionen, die Prosa-Edda von Snorri Sturluson sowie die Lieder-Edda, vereinte und somit wohl so etwas wie eine Pflichtlektüre für all diejenigen darstellte, die sich für nordische Mythologie interessierten. Also auch für Rainer. Mir persönlich wäre es nie in den Sinn gekommen, etwas über die eisige Heimat der alten Nordgötter, der Asen, zu lesen, wenn ich bei über dreißig Grad mit einer Piña Colada am Strand liege, aber genauso wenig war mir in meinem Leben je in den Sinn gekommen, Sozialpädagogik zu studieren, wie Rainer es von Zeit zu Zeit tat. Und auch wenn ich mir absolut sicher war, dass er in einer vollkommen anderen Welt lebte, aus der man ihn bisweilen in die Gegenwart zurückholen musste, damit er sich und anderen nicht unabsichtlich Schaden zufügte, so beschlich mich doch der Verdacht, dass ich ihn auch ein klein wenig bewunderte. Womöglich hatte Rainer sogar einen ordentlichen Schlag am Ranzen, aber dafür bekam er auch keine Midlifecrisis – und zwar, weil er war, wie er war: echt.

»Okay«, sagte ich schließlich, »und wie wollen wir so etwas finden?« Ich glaubte nicht im Leben daran, dass es so etwas auch nur annäherungsweise gab. Die Leute in diesem Kulturverein müssten ja dann genauso schräg unterwegs sein wie mein lieber Kumpel Rainer, und das war schwer vorstellbar.

»Wir suchen im Internet nach allen möglichen Begriffen. Am besten fangen wir mit Yggdrasil an.«

»Mit was?«

»Yggdrasil.«

Rainer war sichtlich verwundert. »Echt, du, kennst du Yggdrasil, die Weltenesche nicht?«

Ich hatte einen Abidurchschnitt von immerhin zwei Komma fünf. In Anbetracht der Tatsache, dass mir damals Mädchen, Partys und Motorräder weitaus wichtiger gewesen waren als die Aneignung schulischen Wissens, fand ich das Ergebnis gar nicht so schlecht. Dennoch hatte ich von diesem legendären Gewächs, das eher nach Küchengewürz als nach großer Pflanze klang, noch nie etwas gehört und schüttelte daher den Kopf.

»Das ist ein oberstwichtiger Baum in der nordischen Mythologie«, erklärte Rainer kopfnickend und mit einem schulmeisterhaften Unterton. »Die drei Nornen besprengen ihn mit heiligem Wasser aus einem nie versiegenden Brunnen, ne, und schenken ihm damit immer wieder neue Lebenskraft. Total krass das Ganze! Die Nornen heißen Urd, Verdandi und Skuld und stehen für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, ne. Dabei spinnen sie die Schicksale der Götter und der Menschen. Und was echt noch krasser ist: Oben auf dem Baum sitzt der namenlose Adler, und am Stamm läuft ein Eichhörnchen entlang, das Ratatöskr heißt. Ultrakrasse Geschichte, ne?«

Offenbar hatte ich Rainer so angestarrt wie ein Anstaltspsychiater, dem ein Patient soeben versichert hat, er sei ganz und gar nicht verrückt, obwohl er währenddessen den abgetrennten Kopf der Nachtschwester liebkosend in seinem Schoß hält. Nicht nur die Nornen sponnen, so viel stand für mich fest.

»Ja, echt eine ultrakrasse Geschichte«, pflichtete ich Rainer bei, der immer noch seinen Kopf rhythmisch vor und zurück bewegte.

»Quasi so ’ne Art Parabel, dass man seinem Schicksal nicht entkommen kann, ne«, fuhr er fort.

O weh, dann war anscheinend jedermann vom Wohlgefallen dreier strickender Weiber, eines Vogels ohne Identität und eines rasenden Eichhörnchens mit dem Namen einer fiesen Geschlechtskrankheit abhängig. »O Gott, o Gott, ich glaub, ich hab mir einen Ratatöskr geholt, Herr Doktor!«, sah ich mich in Gedanken beim Urologen rufen und dabei panisch in meinen Schritt deuten.

»Gut, den kulturellen Hintergrund hätten wir dann mehr oder weniger konkret umrissen«, fasste ich zusammen. »Dann lass uns mal die Suchmaschine mit der sagenhaften Weltenesche und den Begriffen ›Kulturverein‹ und ›Sprachkurs‹ füttern. Da muss ja was zu finden sein.« Ich holte meinen Laptop in die Küche und stellte ihn auf den Tapeziertisch neben die ungespülten Kaffeetassen und unsere beiden neuen Bierflaschen.

Wir suchten lange.

Vergeblich.

Fehlanzeige.

Zwar fanden wir hunderte von Seiten mit Wikingerlegenden und Erklärungen, mythologischen Texten und Bildern, aber keinen Kulturverein, der auch nur annähernd Rainers Vorstellung entsprach. Wir stießen zwar unter der Adresse www.yggdrasilsriddare.org auf eine Website, doch diese war quasi leer bis auf einen eingescannten, ziemlich detailreichen Kupferstich, der vermutlich aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert stammte. Er zeigte drei weibliche Wesen, die mit irdenen Gefäßen Wasser auf die Wurzeln der Weltenesche Yggdrasil kippten, die im Hintergrund frohgemut in die Höhe rankte. Selbst der namenlose Adler und das fiese Eichhörnchen waren zu sehen. Einzig der Umstand, dass die Nornen, die ja eigentlich recht verknittert hätten aussehen müssen, stattdessen wie drei flotte Mädels im besten heiratsfähigen Alter wirkten, erheiterte mich. Die Wikinger, der Künstler und der Webdesigner hatten allesamt Geschmack bewiesen.

Rainer hatte mir während meiner Recherchen über die Schulter geschaut und schnaufend ins Ohr geatmet. Jetzt richtete er sich enttäuscht auf, weil er bemerkt zu haben schien, dass unsere Ermittlungen in eine Sackgasse führten. »Das sah schon mal echt kulturell aus, aber da steht ja nix auf der Seite. Voll schade, ne«, bemerkte er frustriert. »Was machen wir denn jetzt?«

»Keine Ahnung«, entgegnete ich achselzuckend. »Vielleicht sollten wir unsere Suche ein bisschen erweitern?«

Rainer starrte nachdenklich auf den Bildschirm, der die Liste der Suchergebnisse anzeigte. Plötzlich schnellte er vor und drückte seinen Zeigefinger direkt auf den Monitor. »Und das da?«

»Wenn du deine Hand wegnimmst, kann ich auch etwas erkennen.«

Rainer tat, worum ich ihn gebeten hatte. Zurück blieb ein verschmierter Fingerabdruck, wie ich ihn auf dem Bildschirm besonders liebe. An dieser Stelle befand sich der Hinweis auf einen Forumsbeitrag, in dem ebenfalls die Ritter Yggdrasils vorkamen. Ich klickte den Link an und wurde auf eine andere Seite weitergeleitet. Dort erwartete uns allerdings eine Überraschung. Der Text war weder für mich noch für Rainer zu entziffern.

»Was ist das denn für ein Zeichensalat?«, wollte ich wissen.

Rainer beugte sich noch weiter vor. »Echt oberstkrass. Sieht aus wie uralte Runen oder so was. Ich hab das irgendwo schon mal gesehen, ich glaub, in einem Seminar über die Runen der Wikinger als Beispiel für Reflexionen soziokultureller Identitäten in Schriftzeichen oder so. Weiß nicht mehr so genau, ist schon ’ne Weile her, sorry, ne.«

»Macht nichts«, entgegnete ich. »Alte Schriftzeichen eben. Ist aber eigentlich auch egal, denn das wirklich Wichtige steht doch hier.« Nun deutete ich auf eine Stelle am Bildschirm. »Kulturföreningen Yggdrasils riddare – Thoralf Leifsson, Jokkmokk«, las ich halblaut und zuckte im selben Moment zusammen. Jokkmokk! Verdammte Hacke, das war doch der Ort, wo Lindas Ex wohnte, dieser Olle Olofsson.

Mein Gehirn quälte sich mit der Aufgabe: Olle + Linda + ein vollkommen irrsinniger Kulturintegrationszirkel für Leute wie Rainer + Lindas distanzierte Postkarte, die so gar nicht wirkte, als stamme sie von ihr + meine Eifersucht. »Das wird ja immer seltsamer«, sagte ich und fragte mich insgeheim, ob die spinnenden Nornen – Urd, Verdandi und Skuld – hier ihre Finger im Spiel hatten …

Fyra

»Jokkmokk liegt in Nordschweden, ne«, antwortete Rainer, »ich glaub, nicht wahnsinnig weit von Arvidsjaur, so entfernungsmäßig, mein ich. Da war ja mein letzter Sprachkurs.«

»Ich weiß«, gab ich zurück, »ich habe schon mal nachgeschaut, wo Linda hingefahren ist – rein zufällig natürlich. Wir haben aber noch lange keine Adresse, über die wir mit denen in Kontakt treten können, und ob die überhaupt Kurse nach deinem Geschmack anbieten, wissen wir auch nicht.«

»Och, bestimmt, ne«, sagte Rainer.

»Na ja, wenn du meinst. Ich würde das gerne für dich herausfinden, aber ohne Anschrift und Telefonnummer? Nicht mal eine E-Mail-Adresse ist aufgeführt. Was soll das denn für ein komischer Verein sein? Wollen die keine Mitglieder?«

»Ja, eher schwierig, ne. Das Ganze wirkt krass subkulturell undergroundmäßig.«

»Sag mal, Rainer, hast du was geraucht?«

Ich hatte das sarkastisch gemeint, doch Rainer dachte kurz nach und sagte dann: »Nee, echt nicht, ne, also heute noch gar nichts!«

Immerhin eine Information, die mich beruhigte.

»Und wie kommen wir jetzt weiter?«, erkundigte ich mich. »Wollen wir uns erst mal bei diesem Forum anmelden? Vielleicht bekommen wir über diese Leute mehr heraus über Yggdrasils riddare, wenn dein Herz so daran hängt.«

Rainer schien das auch nicht so genau zu wissen. Er starrte ins Leere und nickte dabei teilnahmslos – oder doch beipflichtend? Plötzlich rief er jedoch mit großer Entschlossenheit: »Nö, das dauert mir alles zu lange, ne. Ich fahr da einfach hoch und check das vor Ort!«

Das hatte ich befürchtet. Weil mir nichts Besseres einfiel, ließ ich meinen Finger zum animierten Avatar von Thoralf Leifsson wandern, dem mutmaßlichen Verfasser des unleserlichen Forumsbeitrages. Das Bildchen zeigte einen Mann mit ellenlangem schlohweißem Bart, der auf einem von zwei Wölfen mit ziemlich vielen Beinen gezogenen Streitwagen hockte. Zweifellos handelte es sich um Odin. Sein Aussehen wurde noch grimmiger durch die piratöse Augenklappe und die Streitaxt, die er in der Faust hielt, um damit etwa alle zwei Sekunden eine zuckende Hackbewegung zu vollführen. Leider gelang ihm das nur wenig überzeugend, denn die Animation des Avatars war nicht ganz so gelungen. Deshalb wirkten die laufenden Wolfsbeine auch eher wie Baggerketten und überhaupt nicht furchteinflößend. Um den Kopf des Kriegers kreisten zwei schwarze Wesen. Die beiden Flattermänner sollten bestimmt ursprünglich Raben oder Krähen sein, so allerdings muteten sie wie zwei schlecht gezeichnete Verwandte einer Schmeißfliege an. In Ermangelung einer glaubhaft dreidimensionalen Darstellung gewann man zwangsläufig den Eindruck, als wolle der arme Odin mit seiner Axt nach den Biestern hacken, sie aber partout nicht treffen. Nein, diese Darstellung rang mir definitiv keinen Respekt vor dem nordischen Göttervater ab.

Auch Rainer betrachtete den zappelnden Odin eher amüsiert. »Wie ist denn der unterwegs?«

»Irgendwie geschmacklos«, konstatierte ich, »und einen an der Waffel hat der auch.«

»Ist doch völlig okay! In der Uni hatte ich mal ein Semester in Soziologie genau zu dieser Thematik, das war echt oberstkrass interessant, weil aus einer Subkultur oft Inspirationen in den Mainstream erfolgen, ne.«

»Wie dem auch sei. Obwohl du keine wirklichen Informationen über diesen ominösen Kulturverein hast, willst du da also ernsthaft hoch?«

Rainer nickte wie besessen und lachte. »Logo, ne. Das ist doch die Chance auf so ’ne Art Auto-Kompressionskultivierung.« Dann zögerte er. »Komm doch mit«, sagte er schließlich hoffnungsfroh und sah mich dabei mit seinen durch die fingerdicken Brillengläser vergrößerten Augen an.

Dieser Vorschlag überraschte mich, auch wenn mir dieser Gedanke selbst schon ganz kurz gekommen war. Die Tatsache, dass Linda sich seit ihrer eigenartigen Postkarte gar nicht mehr gemeldet hatte, machte mich natürlich stutzig. Aber ich (beziehungsweise mein Gehirn) hatte mich (sich) dagegen entschieden – und mein Vater hätte mich aufgrund seiner hart erarbeiteten Genderkenntnis in meinem Entschluss bestärkt –, einer Frau irgendwohin nachzufahren.

»Ich kann nicht«, lehnte ich ab. »Ich muss hier auf die Handwerker warten und zusehen, dass mein Haus noch vor dem Winter in Schuss ist.«

»Schade, ne, dann muss ich alleine los.«

»Sieht so aus. Oder du wartest, bis die Renovierungen abgeschlossen sind.«

Rainer schob seine Brille höher und sah sich bedächtig um.

»So ganz prinzipiell ’ne Bombenidee, Torsten«, meinte er dann. »Aber ich wollte meinen Kurs total gerne noch dieses Jahr machen, ne. Sorry, ne.«

»Danke, Rainer«, grummelte ich. Irgendwie machten mir alle extrem große Hoffnungen, dass mein Haus in Kürze fertig wäre. Stand Rainer etwa in telepathischer Verbindung zu meinem alten Herrn, vielleicht mit Renate als kosmisch-esoterischem Medium? Noch bevor ich meine Überlegungen zur überirdischen Gedankenübertragung von Schweden nach Deutschland und vice versa zu Ende bringen konnte, hatte Rainer seine Molle mit glucksenden Geräuschen ausgetrunken und wischte sich nun mit dem Ärmel seines samischen Traditionskostüms über die Lippen. »Du, Torsten, sag mal, wo in dieser Bude kann ich denn pennen?«

Das fragte ich mich auch. Das gesamte Mobiliar, mit Ausnahme meines Bettes und einiger kleinerer Schränkchen, war temporär ins Nebengebäude ausgelagert worden. Letztlich blieb nur eine Option, die mir zwar nicht behagte, aber ich konnte Rainer ja schlecht auf den Tapeziertisch verbannen, während ich im Ehebett nächtigte. Also führte ich ihn durch Dreck und halb entkernte Räume ins Schlafzimmer. »Hier!«

»Super, ne«, sagte Rainer und ließ seinen See- und seinen Rucksack fallen. »Aber is ja noch ’n bissi früh fürs Bett, ne. Was geht ’n jetzt so ab? Was machen wir?«

Ich sah auf die Uhr. Halb eins mittags. Das war fürs Zubettgehen definitiv zu früh. Allerdings wusste ich auf seine Frage nach Zeitvertreib keine Antwort.

Da klingelte das Telefon. Ich eilte in die Küche, wo ich es hingelegt hatte, und nahm ab.

»Brettschneider?«

»Hallo, Sohn.«

»Papa? Du schon wieder?«

Im Hintergrund erklangen Fahrgeräusche.

»Sehr freundlich. Hätte ich damals so mit meinem Vater gesprochen, dann …«

»Ich fühle mich nicht belästigt, dass du schon wieder anrufst, ich wundere mich nur, das ist alles.«

»Um Ausreden bist du nie verlegen, was?«

»Kann ich dir irgendwie weiterhelfen?«

»Dass ich nicht lache. Das wäre ja wohl das erste Mal, dass du mir helfen würdest.«

Ich presste meine Lippen so fest aufeinander, dass sie wahrscheinlich die Farbe von verblichenen Thrombosestrümpfen angenommen hatten. »Gut, ich formuliere meine Frage um: Wie kannst du mir helfen?«

Mein Vater lachte sich fast schlapp. »Na, also, geht doch. Wir haben eine Überraschung für dich, Renate und ich …« Plötzlich hupte es, und eine Frau schrie auf, schätzungsweise Renate. »So eine Arschgeige, und das bei dem Mistwetter!«, donnerte gedämpft die Stimme meines Vaters. »Der soll froh sein, dass ich keine zwanzig Jahre jünger bin, dann hätte ich ihn abgedrängt und …« Es raschelte, und die Stimme wurde wieder klarer. »Torsten? Noch dran?«

»Natürlich. Was ist denn da los? Wo seid ihr?«

»Ich bin in der Geisterbahn und hatte gerade Ärger mit einem Gespenst. Blödsinn! Im Auto natürlich, wo sonst? Also, noch mal. Renate und ich haben eine Überraschung für dich.«

»Und die wäre?«, fragte ich vorsichtig. Mich beschlich ein unbehaglicher Gedanke. Ich kannte den Dickkopf meines Vaters und sein auf mich bezogenes Helfersyndrom, in dem er wahrscheinlich noch die nächsten Jahrzehnte gefangen sein würde. Leider ging seine Hilfe des Öfteren nach hinten los – das hatte ich schon schmerzlich erfahren müssen. »Wo steckt ihr denn gerade?«, fragte ich nach.

»Hahaha!«, erwiderte mein Vater. Und legte auf.

»Dein Vater, ne?«, bemerkte Rainer, der mittlerweile in der Küche angekommen war.

»Ja. Mein Vater, wie er leibt und lebt, zusammen mit Renate.«

»Alles klar bei denen?«

»Ich bin mir nicht sicher«, antwortete ich.

»Geht’s ihm gut?«

»Auch das weiß ich nicht hundertprozentig. Körperlich ja, aber …«

Ich konnte meinen Satz nicht zu Ende bringen. Draußen fuhr ein Wagen vor. Es hupte.

»Wer is ’n das jetzt?«, fragte Rainer.

Ich ging langsam zum Eingang. Sehr langsam, denn ich wusste ja, wen ich nun in meinem möbelfreien und für Gäste maximal ungeeigneten Haus begrüßen durfte. Na prima, somit waren ja fast alle wieder zusammen von unserem Dreamteam. Einen Moment lang schloss ich die Augen, holte noch einmal tief Luft, dann öffnete ich die Tür.

Fem

»Sie?« Ich traute meinen Augen kaum. Meine Erleichterung wich kompletter Überraschung und einem genauso unerklärlichen wie unterschwelligen Anflug von Unwohlsein. Was in Gottes Namen hatte ausgerechnet er hier zu suchen? Doch meine gute Erziehung vertrieb meine Neugier. »Kommen Sie doch herein.« Ich machte eine einladende Geste.

»Schön, dich wiederzusehen, Torsten«, sagte Pfarrer Pettersson und trat ein.

»Geht mir genauso, Herr Pettersson.«

»Doch bitte nicht so förmlich – für dich gern Jan-Peer.«

Wir schüttelten die Hände.

Ich half ihm aus seiner tropfnassen Jacke. Während der unschönen Ereignisse rund um meinen ehemaligen Bauernhof in Gödseltorp hatte ich ihn kennen und schätzen gelernt. Auch wenn er von meinen Gefühlen für Linda sicher etwas ahnte, hatte er es sich nie anmerken lassen und stets einen souveränen und pastoral-väterlichen Abstand zu mir bewahrt. Das war ab heute Vergangenheit, wie’s schien. Im Moment wirkte er gehetzt und unsicher, so ganz anders, als ich ihn in Erinnerung hatte.

»Lieber Jan-Peer. Nicht, dass ich mich nicht riesig über deinen unverhofften Besuch freuen würde, aber was verschafft mir die Ehre?«

Er wurde ernst. Sehr ernst. »Ich mache mir große Sorgen. Es geht um einen Menschen, der uns beide verbindet, der uns beiden sehr am Herzen liegt, und es gibt da eine Sache, die ich dir unbedingt erzählen …«

»Hallöchen und Hej!«, tönte es mit einem Mal von der Küche unangemessen fröhlich in den Flur. »Ich bin der Rainer, ne!«

Aus Jan-Peers verstörtem Gesichtsausdruck glaubte ich zwei Dinge herauslesen zu können. Erstens: Er erkannte Rainer wieder. Zweitens: Genau deswegen freute er sich nicht mal halb so dolle über das Wiedersehen wie dieser.

»Grundgütiger, was hat der denn an?«, raunte mir Jan-Peer hinter vorgehaltener Hand zu, als unser Freund näher kam.

Ich zuckte die Achseln. »Er mag Schweden. Vor allem den Norden. Sehr. Glaube ich.« Etwas Besseres fiel mir dazu auch nicht ein.

»Mensch, krass, das ist doch der Pfarrer aus Gödseltorp, ne!«, rief Rainer, der endlich begriffen hatte, wer da vor ihm stand. »Ich bin zwar eher so atheistenmäßig und undogmatisch-spirituell unterwegs, aber egal, ne.« Er streckte Jan-Peer die Hand entgegen.

»Ich freue mich auch«, erwiderte der Pfarrer und schüttelte die ihm gereichte Hand. Rainer nickte und grinste, als habe er seinen tot geglaubten Bruder nach zwanzig Jahren wiedergetroffen. Pettersson lächelte auch geübt, denn wenn einer geübt lächeln kann, dann ist es ein Pfarrer. So etwas ist Teil seines Jobs. Emotionsfassaden je nach Anlass und Gemeindebedürfnis.

»Ich habe einen Vorschlag zu machen«, wandte ich mich an Jan-Peer. »Warum gehen wir nicht etwas einkaufen? Es ist nämlich nichts mehr im Haus, und der Kühlschrank steht abgetaut im Schuppen. Dann machen wir uns etwas zu essen, trinken ein Bier und du erzählst, was du erzählen wolltest. Einverstanden?«

»Gute Idee«, stimmte mir Jan-Peer zu und nickte.

»Was geht ’n ab?«, wollte Rainer wissen.

Ich erklärte es ihm auf dem Weg zum Supermarkt.

 

Gute zweieinhalb Stunden später kamen wir zurück. Es war mittlerweile halb vier geworden und dämmerte bereits. Pettersson hatte zwar bis zum Schluss darauf bestanden, uns zu fahren, wenn er uns schon unangemeldet besuche und von uns verköstigt werde, aber davon hatte ich ihn abbringen können – er wirkte auf mich etwas neben der Spur.

Im großen Einkaufszentrum Hundra Megastores in der Nähe von Leksand hatten wir Grillfleisch, Fertigsalate, haufenweise Konserven und durch die Abwesenheit irgendwelcher organischer Nährstoffe garantiert unschimmelbares Brot erstanden, also allesamt Ingredienzien, die ich auch mit geringsten küchentechnischen Mitteln wie etwa Mikrowelle, Holzkohlengrill, Campingkocher und Taschenmesser zubereiten konnte. Verderben würden nicht einmal die Frischwaren so schnell, wenn die aktuellen Temperaturen blieben, wie sie waren: nahe der Nullgradgrenze, wie in der Gemüsezone eines modernen Kühlgerätes. Immerhin hatte der Schneeregen vor einer guten Stunde aufgehört. Im schwedischen Spätherbst beginnt man, für wettertechnische Kleinigkeiten Dankbarkeit zu zeigen. Wir bogen von der Hauptstraße auf die Kieszufahrt zu meinem Renovierungsobjekt ab.

»Ich finde das irgendwie total spannend hier, so in ’ner kleinen Männergruppe, deren Mitglieder ganz unterschiedliche soziale und kulturelle Hintergründe mit einbringen, ne«, fabulierte Rainer mit glänzenden Augen. Er hatte bereits auf dem Rückweg eine ganze Dose seines Sixpacks Weihnachtsbock namens Julens nöje getrunken, das er in der Leksander Filiale des Systembolaget erstanden hatte.

»Ja, das ist super«, sagte ich müde, und auch Pfarrer Pettersson nickte nur mäßig begeistert, nachdem ich ihm die Aussage meines Kumpels übersetzt hatte, für die Rainers Schwedischkenntnisse, trotz hörbarer Fortschritte, noch nicht ganz ausreichten.

Jan-Peer schien weiterhin bedrückt und hatte noch keine Gelegenheit genutzt, mir zu sagen, warum genau er hier war. Er machte es spannend und feierlich – vielleicht auch eine Berufskrankheit? Jedenfalls fielen mir nur zwei Gründe ein: Linda oder etwas Gesundheitliches. Oder beides zusammen. Also nichts, was mich erbaut hätte.

Aber schlimmer geht ja bekanntlich immer.

»Boah, voll krass! Ne absolut coole Ultragruppenzusammenführung!«, rief Rainer plötzlich und deutete durch Lasses schmutzwasserverschmierte Windschutzscheibe nach vorne. Sein Arm wackelte unkontrolliert im Rhythmus der Schlaglöcher. Jan-Peer und ich hatten gleichzeitig erschrocken hochgesehen.

»Ach, du grüne Neune!«, sagte ich halblaut und sah meine frühzeitig ad acta gelegten Befürchtungen nun doch bestätigt. »Das hat mir gerade noch gefehlt.«

Was ich erblickte, war irgendwie ultra. Es war auch irgendwie eine Gruppe. Und es war mit Sicherheit eine Art Zusammenführung. Nur konnte ich nichts Cooles daran finden.

»Sind das nicht dein Vater und seine … seine Freundin?«, fragte mich Jan-Peer.

»Sieht ganz danach aus. Ich dachte noch vor ein paar Stunden, zumindest dieser Kelch werde an mir vorübergehen, aber ich hätte es besser wissen müssen«, entgegnete ich. »Na ja, wenigstens regnet es kaum noch.«