Lennart Malmkvist und der überraschend perfide Plan des Olav Tryggvason - Lars Simon - E-Book

Lennart Malmkvist und der überraschend perfide Plan des Olav Tryggvason E-Book

Lars Simon

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Beschreibung

Das zauberhafte Finale der Reihe mit Lennart Malmkvist und seinem sprechenden Mops Ein glückliches Ende der Abenteuer von Lennart Malmkvist ist genauso ungewiss wie ein sonniger Tag mit Plusgraden im schwedischen Winter. Denn Mops Bölthorn wurde im Kampf gegen Olav Krähenbein lebensbedrohlich verletzt, und der Schwarzmagier steht kurz davor, seine Macht zu vervollkommnen. Die Situation erscheint aussichtslos. Das Blatt wendet sich, als ein geheimnisvoller Muschelmann bei Lennart auftaucht – und offenbart, dass er nicht nur die beiden bisher unbekannten Wächter der Dunklen Pergamente kennt, sondern sogar weiß, wo diese versteckt sind. An Bord eines magischen Segelschiffes machen sie sich auf zur Insel Svolderoie. Gelingt dort die Rettung Bölthorns und der Welt?

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Lars Simon

Lennart Malmkvist und der überraschend perfide Plan des Olav Tryggvason

Roman

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

»Þorkell setti stein þenna eptir Gunna, son sinn.

Er vard dauðr í orrostu, er barðust konungar.«

 

»Thorkel setzte diesen Stein nach seinem Sohn Gunne.

Er wurde in der Schlacht getötet, als die Könige kämpften.«

 

 

Inschrift des Runensteins am Karnhaus der Råda kyrka

westlich von Lidköping in Gedenken an die Schlacht,

in der Olav Krähenbein am 9.September des Jahres 1000 n. Chr.

geschlagen und getötet wurde. So glaubte man wenigstens …

Prolog

Elír stand inmitten des Kreises aus lodernden Scheiterhaufen. Trotz der Hitze, die von den mannshohen Flammen ausging, musste sie ihren Umhang enger um sich schlingen – sie zitterte und blickte in die mondlose Nacht. Der erste Schnee war nicht mehr fern. Ein schlecht gelaunter Wind kratzte mit eisigen Krallen von der Meerenge her über Svolderoie. Derart heftig brandeten die Fluten des Ostmeeres an die Riffe und die schroffe Steinküste des Eilands, dass das Fauchen der Gischt und das Grollen des schwarzen Wassers bis hierher zu hören waren. Jede Welle ließ den Boden erbeben. Und obwohl die kleine Insel keine halbe Meile vom Festland entfernt unweit der Svolderbucht lag, kam sich Elír in diesem Moment so verloren vor, als befände sie sich in einer Nussschale treibend auf hoher See, hilflos den Gezeiten ausgesetzt

»Es ist vorbei«, sagte eine Stimme hinter ihr, und eine Hand legte sich sanft auf ihre Schulter.

Elír wandte sich um. »Auf dass die Götter deine Worte hören, Buri. Er war so mächtig am Ende … und ich weiß nicht, wie es überhaupt so weit kommen konnte. Ist er wirklich besiegt? Für immer?«, fragte sie flüsternd und schlang den Umhang noch enger um ihren zarten Körper.

Buri sah sie mit versteinerter Miene an und strich sich gedankenverloren durch den langen grauen Bart. »Ich weiß es nicht. Was ich aber weiß, ist, dass wir zwingend magische Vorbereitungen treffen müssen, um diese Insel und unsere Leben zu schützen. Und das der Menschen.«

»Ist Järnskägg ein Verräter?«, wollte Elír wissen, auch wenn sich alles in ihr gegen diese Frage sträubte.

»Ein Verräter?«, fragte Buri und hob die Augenbrauen. Dann schüttelte er den Kopf und sagte mit fester Stimme: »Nein, niemals. Aber er hat seine Schwächen. Die schwarze Magie ist allerorten, und ihre Diener sind durchtrieben. Das Dunkle in der Seele der Zauberei kann man nicht besiegen, es ist mächtig, sehr mächtig … so mächtig wie Olav Krähenbein selbst.«

»Das heißt, Ihr glaubt auch, dass Järnskägg uns etwas verschweigt, dass er etwas gesehen hat?«

»Davon bin ich überzeugt«, sagte Buri.

»Fragen wir ihn doch«, schlug Elír vor.

Buri schüttelte vehement den Kopf. »Das sollten wir tunlichst unterlassen. Ihn hier und jetzt damit zu konfrontieren, würde nur Zwietracht säen und die Freude über den Sieg vergiften. Die Zeit wird kommen, da uns die Wahrheit ohnehin offenbart werden wird. Aber nicht heute, nicht in dieser Nacht.« Dann wurde er still und schwieg eine Weile. »Und doch entbindet uns nichts von der Pflicht, auf alles vorbereitet zu sein …«, murmelte er schließlich.

Elír blickte ihn fragend an. »Was meint Ihr damit?«

Buri räusperte sich. »Ich habe einen Plan, und ich brauche dich dafür. Niemand außer uns darf davon erfahren, und vor allem sollten wir Järnskägg und Rœkrvænn gegenüber Stillschweigen bewahren – sicher ist sicher, und je weniger davon wissen, desto besser. Dieser Plan ist als letztes Mittel gedacht, nur für den unwahrscheinlichen Fall, dass beide Amuletthälften irgendwie in die falschen Hände gelangen, in die eines Größenwahnsinnigen oder Verrückten, der Krähenbein wieder heraufbeschwören will. Denn falls das geschieht und Krähenbein es auch noch gelingt, alle vier Dunklen Pergamente zusammenzufügen, dann könnte es unser Ende sein, und vielleicht sogar das Ende der Welt.«

»Was kann ich tun?«, fragte Elír.

Buri atmete tief durch und sagte mit düsterer Stimme: »Dir und mir wird ein großes Opfer abverlangt werden.«

»Wie groß?«, fragte Elír. Ihr hüftlanges Haar hatte sich gelöst und wehte nun im stürmischen Wind – gleich den goldenen Flammen der Feuer um sie herum.

»Ihr dürft nie wieder lieben, und ich werde … sterben, wenn die Zeit gekommen ist. Bis dahin müssen wir uns so verbergen und verstecken, dass er uns nicht finden kann.«

Mehr als eintausend Jahre später …

1. Kapitel

War die Nacht vorüber? Lennart hatte den Geschmack von Staub im Mund, und in seinen Augen brannte es. Als er sie behutsam öffnete, erkannte er eine steppenartige Ebene um sich herum. Wo war er? Langsam drang hinter der im Schatten liegenden Hügellandschaft eine aschfahle Sonne durch den Nebel. Sie war ohne Fröhlichkeit, ohne Kraft, beinahe wirkte es, als wohne ihr keine Wärme inne. Um ihn herum standen einige Dutzend blattloser, niedriger Bäume, aus dem Sand emporgewachsen, mit dicken, knorrigen Stämmen. Wie krumme, geschwollene Gliedmaßen reckten sie ihr totes Holz in die klirrend kalte Luft. Und auf jedem dieser Bäume saß eine Krähe, starrte auf Lennart herab, musterte ihn. Gierig und wütend. Mit schwarz glänzenden Augen.

In dieser befremdlichen Situation fühlte sich Lennart alles andere als wohl. Dennoch blieb er ruhig, atmete tief ein und aus, richtete sich auf und blickte sich nach allen Seiten um … Da gefror ihm das Blut in den Adern. »Bölthorn! Um Himmels willen! Was ist mir dir?« – es klang trotz der ihn umgebenden scheinbar endlosen Weite so dumpf, als hätte er in ein Daunenkissen geschrien.

Bölthorn lag blutüberströmt nur wenige Schritte von Lennart entfernt im Staub. Sein von Buri Bolmen geerbter Mops, das bei Gewitter sprechende Wundertier, der stummelbeinige Vernichter von Fleisch und Speisen jedweder Couleur, sein magischer Mentor und – vor allem – sein liebgewonnener Freund.

Lennart versuchte, sich zu erheben – er schaffte es nicht. Auf allen vieren kroch er zu Bölthorn und stellte mit Erschrecken fest, dass kein Leben mehr in ihm war. Er war tot. Ermordet vom Barghest, dem Höllenhund, den Olav Krähenbein im Sturm der vergangenen Nacht auf ihn gehetzt hatte.

Schlagartig wurde es noch kälter, kakophonisch kratzende Musik erschallte, so schief und grausam, dass es einen erschaudern ließ. Alle Krähen stiegen schreiend aus den Bäumen empor, sammelten sich dicht über Lennart und begannen, dort zu kreisen wie ein schwarzer Schwarm hungernder Geier. Und er musste sich nicht einmal umdrehen, um zu wissen, dass er da war. Schon wieder.

»Was willst du?«, rief Lennart, während er mit beiden Händen über das blutverkrustete Fell von Bölthorns warmen Körper strich – warmer Körper? Aber wie …?

Der Leierkastenmann. Sein zerschundenes Gesicht, seine toten Augen düster und leer, seine Gestalt groß gewachsen, hager, bedrohlich und voller Unheil. Er näherte sich Lennart. Unaufhörlich. Er grinste und zeigte seine gelben und braunen Zähne.

»Die Frage sollte vielmehr lauten, was du willst, Lennart Malmkvist«, hauchte er, woraufhin sich ein Geruch nach Asphalt und Schwefel verbreitete. Seine Stimme klang leblos und trocken wie brechendes Reisig.

»Ich will leben, ich will Frieden und ich will … ich will lieben!«, rief Lennart.

Der Leierkastenmann hörte auf, an seinem altersschwachen und verrosteten Instrument zu kurbeln. Augenblicklich ließen sich alle Krähen wieder flatternd im blattlosen Geäst der Bäume nieder. Er grinste, lupfte den verbeulten Zylinder und vollführte eine übertrieben ehrerbietige Verbeugung. »Wohl gesprochen, Lennart Malmkvist. Doch hast du nicht zuvor einen gewissen Auftrag zu erfüllen?«

»Krähenbein«, flüsterte Lennart, »ich weiß …«

»Ja, Krähenbein!«, fauchte der Leierkastenmann. »Denn wer ist Freund, und wer ist Feind? Wer ist tot, und wer ist lebendig? Wer eine Hilfe, wer ein Hemmnis? Wer soll leben, wer soll sterben?« Er machte eine gnadenvolle Geste, und auf einmal verwandelten sich alle Bäume in Menschen. Da erschraken die Krähen und flogen schreiend davon.

Die Menschen schauten alle auf Lennart. Seine Eltern standen da, lächelten. »Wir wollen morgen Weihnachten zusammen feiern. Liebst du uns? Unser Sohn! Komm doch an Heiligabend zu uns aufs Schiff. Schiffe sind ja oft voller alter Geheimnisse, und ist der Anker erst gelichtet, wer weiß schon, wohin die Reise geht, nicht wahr? Ein Schiff ist wie das Leben, das Meer ist wie das Schicksal …« Die Stimme von Lennarts Mutter war voller Stolz und tiefer Zuneigung. »Oh ja, wie das Leben, das stimmt«, pflichtete Lennarts Vater ihr bei. »Ein Scherzartikelladen ist und bleibt aber eine idiotische Geschäftsidee. Warum bist du bloß aus Stockholm fortgegangen? Du hast mich verraten!« Die Mutter stieß den Vater in die Seite und zischte ihm etwas zu.

Lennart konnte sich auf das, was seine Eltern sagten, keinen Reim machen, und ihm blieb auch keine Zeit, darüber nachzudenken, denn nun übernahm Emma, die ebenfalls aus einem der Bäume erwachsen war, das Wort. Emma Mårtensson. »Du hast mich gerettet. Ich hätte dich lieben können«, sagte sie sanft und lächelte traurig. »Soll ich? Ist es wirklich vorbei?«

»Sterben wirst du, du Hund!«, brüllte es hasserfüllt von der anderen Seite. Ex-Kommissar Nilsson, Führer der Sekte von Tryggvasons Erben. »Ich kriege dich und die Dunklen Pergamente, du wirst schon sehen! Ich bin nicht mehr allein, ich habe einen mächtigen Verbündeten.«

»Das stimmt«, sagte eine sonore, Respekt einflößende Stimme dicht bei Nilsson. Es war Lennarts ehemaliger Arbeitgeber Harald Hadding, der mächtige Wirtschaftsmagnat. »Wissen Sie, wohin uns die Reise führen wird, Malmkvist? Sie waren ein schlechter Mitarbeiter. Manchmal täuscht man sich ja sehr in den wahren Absichten der Menschen.« Er lächelte und verschwand im Nichts.

Frederik tauchte auf. »He, ich halte die Stellung, komme, was wolle. Möge die Macht mit dir sein. Und der Mops, schau nur …«

Lennart folgte Frederiks Fingerzeig und war wie vom Donner gerührt. Bölthorn hatte sich erhoben und schüttelte sich, als sei nichts geschehen. Doch nicht nur Staub und Dreck flogen von seinem wogenden Leib ab, sondern auch das getrocknete Blut und die Wunden.

»Bölthorn!«, rief Lennart außer sich vor Freude. »Du lebst?«

»Geht so«, antwortete der Mops blubbernd und röchelnd. »Hab mich schon besser gefühlt.« Er tippelte ein paar Schritte auf Lennart zu und knautschte sein felliges Gesicht zusammen, bis es aussah wie der Faltenwurf einer viel zu großen Samtdecke. »Falls du es noch nicht gemerkt hast: Das ist nur ein Traum.«

»Ach so, nur ein Traum …«, sagte Lennart.

Bölthorn schüttelte den Kopf und rollte mit seinen Glupschaugen. »Dir muss man aber auch alles erklären, was? Wenn du mich retten willst, dann schau auf mein Fell! Hörst du? Mein Fell, sonst werde ich sterben. Er ist sehr trickreich.«

»Wer? Was meinst du? Krähenbein?«

»Wer denn sonst? Ich weiß nicht, ob Buri sich nicht doch irrt, was dich angeht …«

»Sei nicht so hart zu ihm«, widersprach plötzlich eine wunderschöne Stimme, die gar nicht in diese höllenartige Szenerie passte. Lennart wandte sich um und erblickte eine junge Frau, so schön und strahlend hell, dass ihm sofort das Herz aufging. Lennart wusste in diesem Moment, dass er sie für immer lieben könnte, wenn er nur dürfte. Doch er durfte nicht, er war verflucht.

»Wer bist du?«, fragte er verhalten.

»Ich bin Elír. Ich bin nicht ich. Vielleicht sehen wir uns wieder. Ich muss gehen.«

»Nein! Bleib!«, rief Lennart, doch sie hatte sich bereits wieder in einen der Bäume verwandelt. »Wer ist sie?«, rief er Bölthorn zu, aber auch der hörte ihn nicht mehr. Er lag wieder tot da und bewegte sich nicht.

»Was soll das alles hier?«, brüllte Lennart den Leierkastenmann an, der immer noch an Ort und Stelle stand.

»Ich habe keinen Einfluss auf das Schicksal«, krächzte dieser. »Was du soeben erfahren hast, ist alles, was du wissen musst. Tue das Richtige – oder stirb zusammen mit allem, was du liebst oder lieben könntest. Ich werde dich nun der Polizei übergeben.« Der Leierkastenmann grinste, als hätte er einen guten Witz erzählt

»Wem? Der Polizei? Was soll denn der Mist? Was soll ich tun? Wo ist Krähenbein, wo sind die Dunklen Pergamente?«, hörte sich Lennart noch verzweifelt rufen, doch der Leierkastenmann schnipste ungerührt mit seinen langen, knochigen Fingern, und augenblicklich wurde es wieder stockfinstere Nacht.

 

Dann hörte er eine Stimme.

»Herr Malmkvist?«

Sie wurde etwas lauter.

»He, Herr Malmkvist! Hören Sie mich?«

Eine Frau. Lennart meinte, diese Stimme zu kennen. Sie drang ihm leise wie durch zähen Honignebel in die Ohren. Wo war er? Was war geschehen? Kein Staub mehr, keine Krähen. Der Leierkastenmann war verschwunden. Es roch modrig und schlammig. Zwischen den Zähnen knirschte es, das Atmen fiel ihm schwer – so schwer …

»Kommen Sie besser mit dem Sani mal rüber!«, rief dieselbe Stimme noch lauter. Jemand berührte ihn an den Schultern.

Dann. Noch mehr Hände.

»Ist gut! Ist ja gut!«, rief Lennart, hustete und spuckte mit Speichel vermengten Schlamm aus. Er kam mühevoll auf die Knie und verharrte einige Sekunden in dieser Position. Jetzt erst öffnete er die Augen und blickte sich um. Ihm war ein wenig schwindelig.

»Gott sei Dank! Sie leben«, sagte Kommissarin Maja Tysja, die neben ihm in die Hocke gegangen war. Sie erhob sich und klopfte sich mit einem wenig erfreuten Gesicht kleine matschige Erdklumpen vom Mantel.

»Brauchen Sie uns noch?«, wollte einer der beiden Sanitäter wissen, die mit einem Erstversorgungskoffer hilfsbereit vor Lennart und der Kommissarin standen.

»Nein, es geht schon«, antwortete Lennart, »es ist nur …« – Er hielt abrupt inne. Seine Augen weiteten sich vor Schreck. »Bölthorn!«, schrie er. »Bölthorn!«

Der Mops lag abseits des Weges auf einer Rettungsdecke, einige Meter von der Stelle entfernt, wo Lennart auf dem Boden kniete. Reglos. Blutverschmiert. Die Polizei musste ihn dort hingebracht haben, denn war Lennart nicht dicht bei ihm gewesen, bevor er ohnmächtig …? Nun fiel ihm wieder siedend heiß ein, was geschehen war.

Der Sturm. Das Unwetter. Hendrik Nilsson. Der Ex-Kommissar hatte ihn und Bölthorn verfolgt und auf sie geschossen, nachdem sie bei Advokat Cornelius Isaksson gewesen waren. Und er hatte sie direkt in die Arme des Feindes getrieben, ganz als würde dieser skrupellose Verbrecher mit den bösen Mächten paktieren. Hier im Park hatte der Barghest auf sie gewartet, der Höllenhund. Durch finstere Magie aus einer bronzenen Figur erwachsen, die bis vor Kurzem noch mitten in Göteborg gestanden und allenfalls Passanten erschreckt hatte.

Und dann war er gekommen. Olav Krähenbein.

Er hatte Lennart gedroht, hatte ihn auf seine Seite ziehen wollen, um an die restlichen Dunklen Pergamente und damit zu einstiger Macht zu gelangen.

Lennart hatte es abgelehnt, und der Barghest – der gnadenlose Diener des mächtigen Zauberers – hatte Bölthorn mit seinen Fängen gepackt und zu Boden geschleudert …

»Bölthorn!«, schrie Lennart nochmals, sprang auf, stolperte zwei Schritte und fiel der Länge nach in den Schlamm. Verzweifelt streckte er die Hände nach seinem Freund aus, ertastete sein Fell und schrie immer wieder seinen Namen.

»Ich glaube, wir brauchen Sie doch noch!«, hörte er Kommissarin Tysja die Sanitäter zurückrufen, dann wurde ihm schwarz vor Augen.

 

Als Lennart erwachte, befand er sich auf der Pritsche eines Krankenwagens.

»Er macht einen stabilen Eindruck. Äußere Verletzungen konnte ich, von ein paar Kratzern und kleineren Prellungen abgesehen, nicht feststellen. Aber für eine wirklich zuverlässige Diagnose muss er natürlich in die Klinik gebracht … Ah, er ist wach.« Der Arzt richtete sich an Lennart: »Wie fühlen Sie sich?« Er war ein junger Mann, nicht viel älter als Lennart selbst, mit kurzgeschorenen Haaren und einer für die ernste Situation beinahe unpassend sympathischen Ausstrahlung. Er beugte sich unter einem entschuldigenden Murmeln zu Lennart hinunter und leuchtete ihm mit einer kleinen Stablampe in die Augen.

»Ich will nicht ins Krankenhaus«, sagte Lennart und setzte sich mühsam auf. »Ich will nach Hause, und Bölthorn nehme ich mit.«

»Aber Sie könnten innere Blutungen oder eine Gehirnerschütterung …«, erwiderte der Notarzt, doch Kommissarin Tysja hob gebieterisch die Hand.

»Herr Malmkvist, Sie müssen ins Krankenhaus. Und außerdem können Sie den Hund nicht mit sich nehmen, okay? Er ist tot. Verstehen Sie das?«

Lennarts Augen brannten. »Ich bin nicht bescheuert, wenn Sie das meinen«, entgegnete er unwirsch und stand von der Pritsche auf. »Gibt es ein Gesetz, das besagt, dass ich ins Krankenhaus muss?«

»Nein, natürlich nicht …«, antwortete die Kommissarin. »Was soll die Frage?«

»Und gibt es ein Gesetz, das besagt, dass ich meinen toten Hund nicht mitnehmen und selbst bestatten darf?«

»Mann, Herr Malmkvist, hören Sie doch auf …«

»Also nicht, Frau Kommissarin? Perfekt! Dann fahre ich jetzt nach Hause. Und meinen Hund nehme ich mit.«

»Tun Sie, was Sie nicht lassen können«, zischte Maja Tysja entnervt, winkte ab und stieg zusammen mit dem Arzt aus dem Krankenwagen.

»Kümmern Sie sich lieber um Hendrik Nilsson, diesen Mistkerl«, rief Lennart der Kommissarin nach. Dann trat er selbst ins Freie, schloss den Reißverschluss seiner Jacke und zog sich die Kapuze über. Es hatte zu schneien begonnen, und seine Kleidung war klamm.

»Die Fahndung in und um Göteborg läuft auf Hochtouren. Glauben Sie mir«, erklärte Maja Tysja mit funkelnden Augen. »Ich will dieses miese Dreck…, ich meine, diesen Mann genauso gerne hinter Gittern sehen wie Sie. Der entkommt mir nicht. Nicht noch einmal. Verlassen Sie sich darauf.«

»Ich hoffe es sehr«, sagte Lennart und massierte sich den schmerzenden Nacken. Beinahe flüsternd fuhr er fort: »Ich muss das alles erst einmal verdauen, und vor allem muss ich es noch Maria beibringen. Es ist furchtbar. Der Tod von Bölthorn wird sie wahrscheinlich ebenso heftig treffen wie der Tod von Buri Bolmen. Vielleicht sage ich es ihr besser noch nicht, so kurz vor Weihnachten …«

»Frau Calvino … richtig …«, stimmte ihm Maja Tysja zu. »Das wird ein Schock für sie sein.« Dann blickte sie Lennart um Aufmunterung bemüht an. »Soll ich Sie begleiten? Ich habe als Polizistin eine gewisse Übung im Überbringen schlechter Nachrichten. Okay, Frau Calvino ist keine Angehörige und das Opfer kein Mensch, aber trotzdem. Die Tragik bleibt dieselbe.«

Lennart betrachtete die hübsche blonde Polizistin mit den eisblauen Augen einen Moment lang. Sie konnte so hart sein, so schroff, so konsequent, und doch blieb ihr Herz unergründlich. Zumindest für ihn. Und ein klein wenig … reizvoll? Das hatte wohl auch Lennarts gute Bekannte und Beinahe-Freundin, Emma Mårtensson, gespürt, als sie Maja Tysja auf der Wiedereröffnungsfeier des Zauber- und Scherzartikelladens begegnet war. Seitdem hatte er nichts mehr von ihr gehört … »Das Angebot weiß ich wirklich zu schätzen«, bedankte sich Lennart bei Maja Tysja und unterbrach damit seine Gedanken, »aber ich mach das schon.«

»Sind Sie sicher?«

Lennart nickte. »Ganz sicher.«

»Okay, wie Sie wollen. Sie haben ja bekanntermaßen einen Dickschädel und wirken in der Tat relativ gefasst.«

Tatsächlich war Lennart weit davon entfernt, gefasst zu sein. Tief in seinem Innern nämlich zerriss es ihn beinahe vor Anspannung. War Bölthorn nun tot? Oder konnte Lennart auf das zählen, was er gespürt hatte, als er den leblosen Mopskörper nach seinem Sturz mit den Händen berührt hatte. Es war eine unerklärliche Aura gewesen, und sie machte ihm Hoffnung, dass sein adipöser, vierbeiniger Freund vielleicht doch noch nicht den letzten Knochen gefressen hatte. Denn ebendiese Aura konnte nur einen einzigen Ursprung haben: Magie. Und wo Magie präsent war, waren Wunder niemals ausgeschlossen …

2. Kapitel

Maja Tysja hatte einen älteren Beamten gebeten, Lennart und den leblosen Bölthorn mit einem Polizeiwagen zu ihm nach Hause in die Västra Hamngata zu fahren. Allerdings nahm sie ihm das Versprechen ab, sich am Nachmittag zwecks Zeugenaussage im Präsidium einzufinden. Sie selbst blieb am Tatort – an ebenjenem Ort also, an dem Lennart und Bölthorn erst vor gut einer Stunde Opfer von Olav Krähenbeins Angriff geworden waren.

Was außer Lennart selbst besser niemand erfahren durfte. Was ihm aber ohnehin niemand geglaubt hätte.

Ein offiziell vor mehr als tausend Jahren bei einer Seeschlacht getöteter Heerführer und ehemaliger norwegischer König soll der Täter gewesen sein? In Kooperation mit Hendrik Nilsson, dem einstigen Leiter der Göteborger Mordkommission? Lennart konnte sich vorstellen, wie das für jemanden klingen musste, der dem verbreiteten Glauben anhing, Zauberei und magische Wesen würden nur in Märchen und Fantasygeschichten existieren. Ihm war es lange Zeit ja nicht anders gegangen. Heute allerdings wusste Lennart, dass die Realität, an die er all die Jahre geglaubt hatte, nicht alles war, was zwischen Himmel und Erde existierte. Er hatte gelernt, dass es weit mehr verrückte, magische, zauberhafte, aber auch bedrohlich-dunkle Wesen und Dinge gab, als er jemals für möglich gehalten hätte.

Alles hatte sich an dem Tag verändert, als sein ehemaliger und ziemlich skurriler Nachbar Buri Bolmen auf mysteriöse Weise ermordet worden war. Lediglich eine Aschespur in der Form seines Körpers und einen abgeschnittenen Finger hatte man gefunden. Und zwar just in dem Zauber- und Scherzartikelladen im Erdgeschoss des gemeinsamen Wohnhauses, den Lennart völlig überraschend dann auch noch von besagtem Buri Bolmen geerbt hatte.

Den Laden.

Und den Mops – mit Namen Bölthorn.

Lennart drehte sich im Polizeiwagen nach hinten um. Im Laderaum des Kombis lag sein Freund, immer noch in die Rettungsdecke eingewickelt, die man am Tatort um ihn gelegt hatte. Er hoffte so sehr, dass er sich in Bezug auf die magische Aura und den ersehnten Restfunken Mopslebens nicht getäuscht hatte …

Manchmal kam es ihm vor, als habe er ohnehin keinen Einfluss auf das Schicksal, als sei alles vorherbestimmt, ganz wie es auch der Leierkastenmann in seinem Albtraum gesagt hatte. Wie hatten seine letzten Worte gelautet? Lennart wisse alles, was er wissen müsse … Ja, prima. Aber: Um was zu tun? Um das Schicksal doch noch zu beeinflussen? War Buri Bolmen vielleicht doch nicht so verrückt gewesen, wie es den Anschein gehabt hatte? War er nicht vielmehr stets einem wohl durchdachten Plan gefolgt? Aber: Konnte das sein? Buri Bolmens Abschiedsbrief kam Lennart in den Sinn. Dort hatte er geschrieben, dass Lennart auserwählt sei. Aber: auserwählt wofür?

Nichts als Fragen und kaum Antworten … Lennart schrak plötzlich hoch.

Fröhlich dudelnde Musik ertönte lautstark. Der Polizist hatte an einer Ampel gehalten und das Radio eingeschaltet, ganz als habe er just in diesem Moment beschlossen, dass es nun genug sei mit der Trübsal. Obendrein entpuppte sich der Beamte als bemerkenswert redselig. Während er schwätzte, blickte er mit seinen kleinen, blitzenden Augen in den Rückspiegel und sah Lennart an. Sein Schnauzbart und die geröteten, dicklichen Backen tanzten fröhlich zu seinen Worten.

»Ganz schöner Sturm gestern, was?«

Lennart atmete verhalten aus. Ihm stand der Sinn so gar nicht nach einem geschwätzigen Polizisten, doch der wahrscheinlich kurz vor der Pensionierung stehende Beamte wirkte so unbedarft und beinahe charmant, dass Lennart nicht unhöflich sein wollte. Und vielleicht konnte er von ihm ja etwas erfahren, was aus Tysja nicht herauszubekommen war. »Ja, mächtiger Sturm, in der Tat«, antworte er deshalb und erwiderte den Blick im Rückspiegel.

»Und dann noch dieser Raub. Eine Frechheit! Das wird immer doller hier.«

»Was für ein Raub?«, fragte Lennart wenig interessiert.

»Ach, Sie wissen davon noch gar nichts? Das ist ja ein Ding.« Die Ampel sprang auf Grün, der Wagen fuhr los. Der Beamte drehte das Radio etwas leiser und plapperte weiter. »So etwas Dreistes habe ich noch nie erlebt. Die haben die Statue von einem riesigen Hund geklaut, die bis vor Kurzem noch in der Altstadt, ganz in der Nähe der Västra Hamngata gestanden hat«, fuhr der uniformierte Schnauzbart fort. »Und darüber hinaus fünf weitere Skulpturen.«

Bei »riesiger Hund« und »Statue« war Lennart hellhörig geworden. Er rutschte auf der Rückbank etwas vor. »Und? Wer war es? Gibt es schon Tatverdächtige?«

Der Polizeibeamte schüttelte den Kopf. »Nein, niemanden. Ehrlich gesagt, sind die Kollegen ratlos«, antwortete er zerknirscht, um dann die Stimme zu senken und eine verschwörerische Miene aufzusetzen, »zumindest wenn man dem Glauben schenken darf, was mir meine Kontakte beim Diebstahls- und Einbruchs-Dezernat geflüstert haben. Keine Spuren, nichts. Und als wäre das nicht schon undankbar genug, müssen wir uns am Telefon auch noch die wildesten Geschichten anhören. Die schwedische Polizei ist doch nicht komplett bescheuert! Manche Anrufer meinen, es sei bloß der üble Ausgang eines Junggesellenabschieds gewesen. Dann gibt es ein paar Spinner, die sagen, das könnten durchaus Außerirdische gewesen sein – mit so einem Traktorstrahl wie bei Raumschiff Enterprise«, bei diesen Worten tippte er sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. »Alles nur Bekloppte!«

»Und was denken Sie persönlich?«, wollte Lennart wissen.

»Dasselbe wie die meisten Kollegen. Ich glaube, das war der hochprofessionell koordinierte Kunstraub einer osteuropäischen Diebesbande. Würde mich überhaupt nicht wundern, wenn die Figuren bald in einem rumänischen Dorf auf dem Marktplatz stehen oder bei einem stinkreichen russischen Oligarchen im Vorgarten. Aber«, der Beamte hob den Zeigefinger, »keiner weiß, wie sie das gemacht haben. Das ist schon alles ziemlich rätselhaft. Absolute Profis.« Der Polizist bremste an einem Zebrastreifen und ließ eine Gruppe tobender Schüler und ihre drei Lehrerinnen über die Straße. Er nutzte die Gelegenheit und drehte sich zu Lennart um. »Ich sag Ihnen was: Die hatten einflussreiche Freunde und haben Leute geschmiert oder bedroht. Oder können Sie mir sagen, wie die Täter das halbe Dutzend bleischwerer und sperriger Statuen einfach so haben verschwinden lassen können? Ohne Hilfe unmöglich, wenn Sie mich fragen.«

»Das sehe ich auch so«, sagte Lennart, denn ihm war längst klar, dass die Figuren nicht geraubt worden waren, sondern dass jemand ihnen Leben eingehaucht hatte. Anschließend waren die Figuren auf magischen Pfoten und Füßen von ganz alleine verduftet. Unter anderem ein gewisser Bronzehund aus der Västra Hamngata, der zum Barghest mutiert war. All diese Erkenntnisse würde er dem Polizisten allerdings nicht auf die Nase binden, um nicht doch noch im Krankenhaus zu landen, und zwar in der geschlossenen Psychiatrie.

Das letzte Kind tanzte über den Zebrastreifen, gefolgt von einer Lehrerin, die es, weit weniger ausgelassen, zur Eile antrieb. Als beide auf der anderen Straßenseite angekommen waren, fuhr der Wagen wieder an.

»Aber das ist ja noch nicht alles an seltsamen Dingen«, begann der Polizist von Neuem. »Wie ist es den Tätern gelungen, vollkommen unbeobachtet zu Werke zu gehen? Es gibt nicht einen einzigen Augenzeugen. Und das, obwohl mehrere Tatorte im Zentrum von Göteborg liegen.«

»Es hat wirklich niemand etwas gesehen?«, vergewisserte sich Lennart, weil ihn das natürlich besonders interessierte.

»Na ja«, antwortete der Polizist, »sagen wir mal so: fast niemand. Die Kollegen meinten, es habe sich jemand gemeldet.«

»Und?«

»Es war allerdings bloß Öl-Ole.«

»Öl-wer?«, fragte Lennart verwundert.

»Ole Olsson«, antworte der Beamte, »besser bekannt als ›Öl-Ole‹ – Bier-Ole –, Sie verstehen?« Der Polizist blickte Lennart im Rückspiegel an und machte mehrfach eine unmissverständliche Handbewegung. »Olsson ist ein polizeibekannter Säufer und Obdachloser. Er ist harmlos, ein bemitleidenswerter Kerl, hat sogar mal studiert und war Journalist oder Reporter oder so, glaube ich, aber er hat alles verloren, und jetzt ist er im Oberstübchen nicht mehr ganz dicht.«

»Und was hat er gesagt?«

Der Polizist zögerte. »Eigentlich darf ich Ihnen ja nicht … Ach, Quatsch. Ich mag Sie, Herr Malmkvist, verraten Sie es nur nicht, vor allem nicht der Kommissarin Tysja. Wenn die sauer ist, will man der nicht begegnen.«

»Ich weiß«, sagte Lennart und konnte sich eines Grinsens nicht erwehren. »Meine Lippen sind versiegelt.«

Der Polizist nickte und fuhr fort: »Öl-Ole hat meinen Kollegen gegenüber behauptet, er habe gestern zur Tatzeit im Seiteneingang des Doms an der Kyrkogata geschlafen. Kurz nach dem zwölften Glockenschlag sei er von einem rötlich zuckenden Licht und einem Knistern geweckt worden. Er habe sich das eine Zeit lang angeschaut, sei dann aber hingegangen, weil er gedacht habe, dass dort vielleicht ein Fahrzeug brenne. Aber statt eines Autos habe er einen Mann gesehen, der sehr streng nach Meer, Fisch und Tang gerochen habe. Er sei über und über mit Algen, Muscheln und ähnlichem Zeug bedeckt gewesen, habe Augen gehabt wie ein Karpfen und ein großes Maul dazu. Dann erst sei ihm aufgefallen, dass es diejenige Figur war, die wir hier in Göteborg den Muschelmann nennen, nur dass der plötzlich lebendig und so nah vor ihm gestanden habe, dass er ihn mit den Händen hätte berühren können. Dann habe der Muschelmann etwas Unverständliches gegrummelt, habe ihm die Zunge rausgestreckt, gelacht und sei schließlich mit schnellen, platschenden Schritten wie ein nasser Frosch in Windeseile über den Domplatz gesprungen und in der Dunkelheit verschwunden. Der sollte einen Roman schreiben«, lachte der Polizist und schüttelte den Kopf.

»Absolut«, sagte Lennart, »das ist ja ein Riesenunfug.«

»Die Sache mit der Münze ist allerdings komisch.«

»Was für eine Münze?«

»Öl-Ole behauptet, der Muschelmann habe ihm vor seinem Abgang eine Münze geschenkt. Und stellen Sie sich vor, er hatte doch tatsächlich ein altes Silberstück aus dem Jahre 1668 bei sich.« Der Polizeibeamte zuckte mit den Schultern. »Na, die hat er entweder gefunden oder stibitzt, und dann hat er eine dolle Geschichte drum herum erfunden. Die Kollegen haben sie als Beweismittel beschlagnahmt. Blödsinn, wenn Sie mich fragen. Was soll das für ein Beweis sein? Und wofür? Die Münze ist in etwa fünfhundert Kronen wert, da hätte Öl-Ole sie auch ruhig behalten können, alleine schon als Belohnung für das schöne Märchen.«

»Noch eine Eilmeldung aus der Wirtschaft«, schallte es plötzlich aus dem Radio. »Die in Stockholm und Göteborg ansässige Investmentgesellschaft HICAB des Mehrheitseigners Harald Hadding gab soeben bekannt, dass sie in die Göteborger Reederei Old Scandinavian Line investieren werde. Der Großteil der Arbeitsplätze bleibe jedoch erhalten, heißt es aus Unternehmenskreisen. So kurz vor Weihnachten also noch eine gute Nachricht für die rund fünfhundert Beschäftigten des angeschlagenen Göteborger Traditionsunternehmens. Wir hören uns zu den 13:00-Uhr-Nachrichten wieder.« Die Sprecherin verabschiedete sich von der Hörerschaft, dann ertönte wieder Musik.

Kurz darauf hielt der Wagen endlich vor Bolmens Skämt-&Förtrollningsgrotta – Bolmens Scherz- und Zaubergrotte. Lennart stieg zusammen mit dem Polizisten aus, holte Bölthorn unter einem Ächzen aus dem Laderaum und trug ihn hinüber zur Ladentür.

»Soll ich Ihnen helfen?«, fragte der Beamte und machte die Heckklappe zu. Es war unschwer zu erkennen, dass dieser Mops kein Leichtgewicht war.

Lennart schüttelte den Kopf. »Nicht nötig, ich komme schon klar.« Er klemmte sich Bölthorn kurzzeitig unter einen Arm, um mit der anderen Hand den Ladenschlüssel aus der Jackentasche zu holen und aufzuschließen. Kaum hatte er die Tür aufgezogen, ertönte ein dämonisches Kichern wie von einer Hexe mit äußerst schwerwiegenden psychischen Problemen.

»Was ist das denn?«, fragte der Polizist erschrocken.

»Bloß ein Halloween-Scherzartikel aus den USA«, erklärte Lennart, der sich an die elektronisch verzerrte Hexe und ihr dämliches Gegacker mittlerweile schon gewöhnt hatte. »Danke fürs Fahren und Grüße an die Kommissarin Tysja. Sagen Sie ihr, ich käme heute Nachmittag wie vereinbart wegen meiner Aussage aufs Revier. Und keine Sorge, von mir erfährt niemand etwas von dem, was Sie mir im Vertrauen erzählt haben.«

Lennart zwängte sich mit Bölthorn durch die Tür, schloss ab und presste den Mops an sich. Nein, er hatte sich nicht getäuscht: Der Hund strahlte tatsächlich eine kaum merkliche Aura aus, eine beinahe unnatürliche, oder besser gesagt, magische Wärme …

»Ich habe es mir überlegt …«, sagte Lennart leise zu Bölthorn. Konnte er ihn hören? So wie man es auch Komapatienten nachsagte? Lennart drückte Bölthorn fester an sich. »Ich habe es mir überlegt«, wiederholte er flüsternd. »Ich werde es Maria nicht erzählen, ich werde es ihr einfach nicht erzählen. Weißt du auch weshalb, Bölli? Ich verrate es dir: Weil es nichts zu erzählen gibt. Ich werde dich nämlich retten. Du bist nicht tot! Ich fühle es … Hörst du mich? Ich hole dich zurück … Ich brauche dich, Bölli!«

3. Kapitel

Mit Bölthorn im Arm stolperte Lennart durch den düsteren Laden nach hinten zur Werkstatt, die am anderen Ende des Geschäftes lag, wo sich die Lichtschalter für den Verkaufsbereich befanden. Die Gänge, welche die deckenhohen und teils schiefen Holzregale bildeten, waren dunkel. Und eng. Sehr eng. Es bedurfte schon unter normalen Umständen einer gewissen Geschicklichkeit, hier ohne meldewürdigen Haftpflichtschaden hindurchzukommen. Wenn man aber noch einen unförmigen Mops mit sich herumtrug, wurde es zum wahren Hindernisparcours.

Plötzlich schepperte es hell und durchdringend.

Lennart erschrak und hielt die Luft an. Eine neue Teufelei von Krähenbein? Oder vom mysteriösen Leierkastenmann? Er wollte schon in die Innentasche seiner Jacke greifen, um seinen Zauberstab hervorzuziehen. Doch dann beruhigte er sich – er war bloß mit Mops oder Ärmel an einer der chinesischen Feenglocken aus Glas hängen geblieben und hatte diese aus dem Regal zu Boden gerissen. Die zerschellte Glocke war im Moment allerdings seine geringste Sorge.

Hinten angekommen, schob er sich mit Bölthorn durch den dicken Samtvorhang, der Werkstatt und Verkaufsräumlichkeiten voneinander abtrennte, tastete sich an der Wand zur Werkbank vor und legte Bölthorn behutsam darauf ab. Dann erst schaltete er das Licht ein. Was er erblickte, war an Traurigkeit kaum zu überbieten. Im selben Raum, in dem man damals Buri Bolmens Aschereste und seinen Finger gefunden hatte, lag nun dessen Mops Bölthorn leblos auf der Werkbank.

Lennart befreite ihn aus der Rettungsdecke. Ihm stockte der Atem. Wie war das möglich? Der Leierkastenmann im Traum hatte die Wahrheit gesagt. Wieso hatte er das vorhin übersehen? Etwas war auf dem Fell des Mopses zu lesen, etwas, das weder die Polizei noch er bisher bemerkt hatten. Oder war es vorhin noch nicht da gewesen? Das wiederum würde bedeuten, dass Krähenbein oder zumindest seine Magie weiter präsent waren. Kein schöner Gedanke. Lennart zog seinen Zauberstab aus der Jackentasche und sprach einen Ǥlœðāmȳ, einen Leuchtzauber: »Ǥlittā gløa lyʂa.«

Sofort begann die Spitze seines Zauberstabes grünlich zu leuchten und erhellte den vor ihm liegenden Mops. »Mekta!«, fügte Lennart hinzu – ein kleiner Spruch mit großer Wirkung, da er die Kraft von beinahe jedem Zauber verstärkte. Es funktionierte. Die Spitze des Zauberstabes leuchtete nun so hell wie eine Taschenlampe mit fabrikneuen Batterien. Allerdings mit dem bemerkenswerten Unterschied, dass durch einen Leuchtzauber auch verborgene Schriften deutlicher hervortraten. In diesem Fall jedoch wusste Lennart nicht, ob er wirklich erkennen wollte, was die Zeichen offenbarten.

 

Willst Du mir dienen, Lennart Malmkvist?

Sonst sende ich den Tod in: 19:54:00!

 

Lennart fasste es nicht … die Zahlen veränderten sich, während er sie betrachtete:

 

Sonst sende ich den Tod in: 19:53:57!

Sonst sende ich den Tod in: 19:53:56!

 

Er hielt den Zauberstab noch näher an Bölthorns Körper. Nein, er täuschte sich nicht. Eben noch vernarbtes Fell füllte sich sekundenschnell mit Mopshaaren, dafür verschwand es im selben Augenblick an anderer Stelle und formte eine neue Zahl:

 

Sonst sende ich den Tod in: 19:53:51!

Sonst sende ich den Tod in: 19:53:50!

 

»Ein Mopsfell-Countdown …«, stammelte Lennart und schüttelte ungläubig den Kopf. »Unfassbar! Wenn es nicht so dramatisch wäre, könnte man beinahe darüber lachen.«

Kurz wunderte er sich noch über die von Krähenbein gesetzte Frist. Warum nicht 24 Stunden oder 48, wie beijedem anständigen Ultimatum? »Slǫcƙna!«, befahl er, und das Leuchten des Zauberstabes verschwand augenblicklich. »Krähenbein will mich auf seine Seite ziehen. Aber warum? Was will er von mir? Er hätte mir vorhin auch den Barghest auf den Hals hetzen können. Warum bin ich so wichtig für ihn?«, dachte er laut. Doch sosehr Lennart sich auch mühte, ihm wollte keine befriedigende Antwort auf diese Frage einfallen – ja, nicht einmal eine unbefriedigende.

»Es muss einen Weg geben, dich zu retten«, beschloss er schließlich und wickelte Bölthorn wieder in die Decke ein, und zwar so gründlich, dass nur noch der fellwellige Mopskopf herauslugte. Er strich ihm zärtlich über das blutverkrustete Gesicht und die zu kurz geratenen Schlappohren. »Und ich werde diesen Weg finden …«, flüsterte Lennart; er musste sich dabei gehörig zusammennehmen, seine Tränen zurückzuhalten.

Mit einem Mal ertönte gedämpft das Lied ›Get Lucky‹ von Daft Punk. Wie immer vollkommen unpassend. In jeder Hinsicht. Ob er diesen Klingelton je ändern würde? Er nahm es sich immer wieder vor, doch dann hatte er stets anderes zu tun und vergaß es. Bis zum nächsten Klingeln. Als er das Mobiltelefon endlich aus seiner Jackentasche gezogen hatte, klingelte es bereits nicht mehr. Das Display verriet: Es waren seine Eltern gewesen, die sich noch immer in Göteborg befanden und zurzeit auf einem Hotelschiff im Hafen nächtigten.

Lennart überkam ein schlechtes Gewissen. Kurz überlegte er, ob er zurückrufen sollte, beschloss aber, dass es Wichtigeres gab. Zumindest in diesem Moment.

Er stellte das Handy auf lautlos und steckte es sich in die Hosentasche. In Bölthorns Richtung sagte er: »Das Orakel ist vielleicht die einzige Möglichkeit, zu erfahren, wie ich dir helfen kann und wie es weitergeht. Oder zumindest, wie es weitergehen könnte …« Lennart zögerte. Das Orakel wohnte in einer schäbigen, verrosteten Keksdose – sofern man in dieser Kombination überhaupt von wohnen sprechen konnte. Er dachte an die letzten Gespräche mit ihm zurück. Diese waren nicht ganz so gut verlaufen. Zum einen war sprachliche Präzision nicht gerade die Stärke des Orakels (obendrein pflegte es aus unerfindlichen Gründen ausschließlich in Reimform zu kommunizieren, was die Deutung von ohnehin zumeist schwammigen Vorhersagen weiter erschwerte). Und zum anderen hatte sich herausgestellt, dass das Orakel in Wirklichkeit einer der Wächter der Dunklen Pergamente war und Järnskägg – also: Eisenbart – hieß. Angeblich. Und er war Magier wie Buri Bolmen. Ebenfalls angeblich. Wenigstens sei er das – laut eigener, undeutlicher Aussage – vor langer Zeit einmal gewesen.

Und ebendieser Järnskägg hatte in einem Anfall von Selbstüberschätzung sein Dunkles Pergament schon vor Jahrhunderten verschlampt oder war es auf andere, unrühmliche Weise losgeworden. Danach hatte er sich durch ein in die Hose gegangenes magisches Experiment quasi selbst exkorporiert. Was mit seinen leiblichen Überresten geschehen war, wusste Lennart nicht, wohl aber, wo sich Järnskäggs Geist und Seele aufhielten. Die hausten gemeinsam in besagtem ehemaligem Gebäckbehältnis.

Das Orakel schwankte in letzter Zeit mehr und mehr zwischen Eitelkeit und Selbstmitleid, je nach Tagesform. Allerdings hatte es die Welt zu einem Gutteil ihm zu verdanken, dass die Situation im Augenblick so war, wie sie eben war. Wenn Järnskägg sein Dunkles Pergament nicht verschlampt hätte, hätte der Göteborger Hobbyarchäologe und Spinner Mats Wallin es niemals in den neunzehnhundertachtziger Jahren zufällig auf einem Flohmarkt in Norwegen aufspüren und es nebst einer Landkarte erwerben können. Und dann hätte dieser auch Olav Krähenbein beim Zusammenfügen der beiden Amuletthälften und beim zumindest teilweisen Wiederauferstehen nicht behilflich sein können.

Außerdem schien das Orakel irgendwann einmal eine gewisse, vielleicht sogar freundschaftliche Beziehung zu Advokat Cornelius Isaksson gepflegt zu haben. Den Anwalt hatte Lennart mit Bölthorn zusammen zuletzt heute Morgen getroffen und ihn in Järnskäggs Namen um Verzeihung gebeten. Aber außer einem kurzen, verwunderten Aufflackern in den winzigen Schweinsäuglein hatte der kugelrunde Anwalt keine Reaktion gezeigt und nur dicke Schwaden vanilleduftgeschwängerten Pfeifenrauchs in seine düstere Kanzlei geblasen.

Es war kompliziert.

Alles.

Manchmal komplizierter, als man es ertragen und begreifen konnte.

Lennart schritt zum Regal, in dem die alte Keksdose stand. Er zog sie heraus, platzierte sie neben dem regungslosen Bölthorn auf dem Arbeitstisch und setzte sich auf den quietschenden Werkstattdrehstuhl direkt davor. Er spürte den Ring am Finger. Den Ring, den man brauchte, um mit dem Orakel in Kontakt zu treten. Den Ring, den ihm Buri Bolmen hinterlassen hatte.

Das alles wirkte von außen betrachtet absolut albern. Es war ein Kinderring aus Blech, geschmückt mit einem Diamantimitat aus Plastik, das an einen Zuckerkristall erinnern sollte. Ein Werbegeschenk derselben Firma, die auch die Dose und deren Inhalt vor ungefähr fünfzig Jahren produziert und vertrieben hatte. Auf der Vorderseite konnte man über dem Verschluss in alter Fraktur lesen: Berglunds goda smörkakor – Berglunds gute Butterkekse. Der Keksdosendeckel war leicht nach außen gewölbt und mit vier Weißblech-Presswappen verziert, auf dem Rest der Dose befanden sich allerlei Ornamente, die allesamt mit dem heutigen Inhalt nichts mehr zu tun hatten. Ja, es wirkte albern, doch es war die beste Tarnung. Wie so vieles in diesem verrückten Zauberladen. Lennart ließ den Verschluss schnappen und öffnete den Deckel.

Es rauschte in der Keksdose, als wäre sie der Eingang zu einer tief verborgenen Höhle. Für Lennart war das nichts Neues mehr. Er schloss einen Moment lang die Augen, dann sagte er mit fester Stimme: »Oh, Orakel, ich rufe dich, hast du bitte ein Ohr für mich?«

Im gleichen Augenblick begann Nebel aus der Keksdose emporzusteigen. Er quoll und kroch über den Rand und wurde immer dichter. Bald schon war der Boden nicht mehr zu sehen. Und dann begann ein bläuliches Licht zu leuchten, das plötzlich weiter anschwoll. Gleichzeitig waberte noch mehr Nebel wie von einer unsichtbaren Quelle gespeist über die Ränder der Keksdose. Dazu gesellte sich eine Stimme, die den ganzen Raum ausfüllte und klang, als würde man eine Fensterscheibe mit Stahlwolle polieren:

 

Wer ist es, der mich ruft

In diesem Dunkel,

Die Stimme schwach,

Am Ring Karfunkel?

 

»Ich bin’s, und nur dass Ihr’s wisst, man nennt mich Lennart Malmenkvist«, gab Lennart zurück.

 

Nun denn, es sei,

Du riefest mich,

Was also kann ich tun für dich?

 

Lennart dachte bei sich, dass das Orakel eigentlich sehr genau wissen müsste, dass nur Lennart es anrufen konnte. Genauso wie Lennart klar war, wer oder was sich in der Keksdose befand. Dennoch hatte sich dieser Dialog als eine Art Einleitung des darauf folgenden Gespräches eingebürgert. Doch heute war etwas anders … Es war, als verströmte das Orakel neben all dem Nebel und dem ominösen bläulichen Flackern auch eine tiefe, nahezu unergründliche Trauer. Denn als Lennart noch überlegte, wie er die Geschehnisse des Morgens und sein Hilfegesuch in einigermaßen poetische und sich reimende Verse verpacken sollte, hob das Orakel ungefragt an fortzufahren:

 

Ich fühle Kräfte,

Böse, enthemmt,

Mit Hass und Wut

Als Aszendent.

 

Krähe, blutschwarz, unverfroren,

Mordete im Wind,

Dacht’, ein Mops sei auserkoren,

Und doch war’s bloß ein hübsches Kind.

 

Höre gut auf meine Worte,

Begib mittnachtens dich an jenen Orte,

Wo Christenkreuz und Frankenreich

Liegen dicht beieinander gleich.

 

Krabben, Fische, Salz und Tang,

Von allem weiß der Muschelmann.

Bei Gischt und Tod am Steuer steh’n,

Von allem weiß der Kapitän.

 

Er weiß, wie du erretten kannst,

Den Mops, der einst dein Herz gewann,

Auch der, die einst dein Herz gewinnt,

Ihr Leben durch die Sanduhr rinnt.

 

Und zeigst du ihm Ergebenheit,

An einen Ort führt er dich – weit,

Wo Lorbeer wächst im Siegergarten,

Doch Tod und Schmerz dich auch erwarten.

 

Was genau dort wird geschehen,

Weiß ich nicht – Wasser, Nebel, Licht,

Nur dass wir und du und ich

Im Wasser uns bald wiedersehen.

 

Wie von einer geheimnisvollen Kraft inmitten der Keksdose eingesaugt, zog sich der Nebel schlagartig zurück.

Plopp.

Das blaue Licht war erloschen.

Das Orakel verstummt.

Und Lennart wusste nur wenig mehr als zuvor. Vom Hinweis auf zwei ominöse Wesen einmal abgesehen …

4. Kapitel

Im Moment lief nichts, wie es sollte. Zum einen war da Krähenbeins Angriff und der daraus folgende Mops-Countdown für Bölthorn. Zum anderen hatte Lennart eigentlich gehofft, die Wiedereröffnung von Bolmens Skämt- & Förtrollningsgrotta kurz vor Weihnachten würde den Umsatz des Zauber- und Scherzartikelladens erheblich ankurbeln. Dem war leider nicht so. Denn bisher hatte sich kaum ein Kunde hierher verirrt. Die Feier war zwar ein voller Erfolg gewesen, aber im Moment lief bedauerlicherweise lediglich der Webshop einigermaßen zufriedenstellend. Sein bester Freund, der IT-Spezialist und fanatische Star-Wars-Anhänger Frederik Sandberg, hatte ihn freundlicherweise programmiert. Lennart fragte sich, ob er nicht doch noch mehr von den Scherz- und Zauberartikeln hätte ausmisten sollen. Schreckte das die Kundschaft ab? Zwar hatte er mit Frederik bereits einiges entsorgt, aber noch immer erschienen Lennart die Regale über und über mit Krimskrams vollgestopft.

Lennart blickte auf seine Armbanduhr. Halb zwölf. In eineinhalb Stunden würde Frederik auftauchen. Und hier in der Werkstatt lag ein semi-verstorbener Mops auf dem Tisch. Zwei Dinge, die sich irgendwie nicht vertrugen, zumal Lennart Frederik noch immer die Beweise für die Existenz von Magie im Allgemeinen und den Nachweis der eigenen magischen Fähigkeiten im Besondern schuldig war. Er betrachtete den wie sanft schlummernd daliegenden Bölthorn und dachte nach. Dann seufzte er, zog sein Telefon aus der Hosentasche und rief seinen Freund an.

»Lennart? Hej! Ich habe mir schon Sorgen gemacht«, sagte dieser in seiner freundlich-unbedarften, sommersprossigen Art zur Begrüßung.

»Aus gutem Grund«, antwortete Lennart.

»Oh. Was ist los?«

»Kannst du früher herkommen? Jetzt gleich?«

»Ich bin gerade am Programmieren, aber … Was ist denn los? Du klingst bedrückt.«

Lennart holte tief Luft. »Bölthorn … er ist … Das musst du selbst sehen. Ich … Wir brauchen dich. Dringend.«

»Bin schon unterwegs.«

Nachdem er aufgelegt hatte, versuchte Lennart es bei seinen Eltern, doch weder seine Mutter noch sein Vater nahmen ab. Vielleicht machten sie ein Mittagschläfchen oder waren unterwegs. Er hinterließ eine Nachricht und bat um Rückruf.

 

Keine zwanzig Minuten später klopfte es an der verschlossenen Ladentür. Frederik Sandbergs Wohnung lag nicht weit entfernt in der Kronhusgata. Lennart öffnete und ließ seinen abgehetzten und sichtlich aufgeregten Freund ein, der seine sonst wild abstehenden Locken wegen der herrschenden Kälte mit einer Pudelmütze gebändigt hatte. Seine schwarz umrandete Hornbrille war beschlagen. Er musste sofort nach dem Telefonat losgespurtet sein; Lennart wusste, wie viel auch Frederik der Mops bedeutete.

»Was ist mit Bölthorn?«, fragte er. Dann fiel sein Blick auf Lennarts Äußeres. »Huch! Was ist denn mit dir passiert? Du hast ja lauter Schrammen im Gesicht, und deine Klamotten sehen aus … Hast du beim Schlammcatchen mitgemacht?«

»Komm in die Werkstatt« sagte Lennart und führte seinen Freund durch den Laden. Als sie hinten angekommen waren und Frederik den wie tot daliegenden Bölthorn auf der Werkbank entdeckte, wurde er bleich und rief betroffen: »Bölli!« Er stürzte zu ihm und streichelte ihn behutsam. Frederiks Augen schimmerten feucht. »Mein Bölli. Wer hat ihm das angetan?«, fragte er an Lennart gewandt. »Ist er … ist er tot?«

»Tot nicht. Aber du wolltest Magie erleben«, sagte Lennart ruhig. »Bisher hat es nie geklappt. Entweder war es finstere Nacht gewesen, oder aber du hattest einen im Tee und bist eingeschlafen. Jetzt hast du die Gelegenheit. Vor dir liegt das Ergebnis einer magischen Attacke.«

»Was ist passiert?«, wollte Frederik wissen.

Während Lennart erzählte, was geschehen war, wurde Frederik blasser und blasser, und nachdem er geendet hatte, sah sein Freund schließlich aus wie eine Kalkleiste. »Schau her«, sagte Lennart, nahm seinen Zauberstab hervor und hielt ihn vor Frederik in die Höhe.

»Ein Zauberstab«, stammelte dieser wie benommen. »Aus Plastik?«

»Ganz recht«, sagte Lennart. »Und jetzt pass auf.« Er hob den Zauberstab noch etwas an und sprach: »Ǥlittā gløa lyʂa!«

Sofort entfachte sich das grüne Licht an der Spitze des Stabes und strahlte hell in die Werkstatt.

»Er leu… leu… leuchtet …«, stotterte Frederik mit weit aufgerissenen Augen.