Das Atelier am Meer - Yvonne Jensen - E-Book

Das Atelier am Meer E-Book

Yvonne Jensen

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Beschreibung

Ein unausstehlicher Kerl soll er gewesen sein, der seine Familie im Stich gelassen hat – mehr weiß Simone Hansen nicht über ihren Großvater. Umso erstaunter ist sie, als ihr zufällig ein altes Familien-Foto in die Hände fällt: Darauf ist der berühmte Künstler Harri Behncke! Simone ist neugierig auf den Mann, dessen Werke sie bewundert. Doch wird er seine Enkelin überhaupt empfangen? Und warum hat er vor so vielen Jahren die Familie verlassen? Als Simone in dem kleinen Dorf in der Nähe von Carnac ankommt, wo Harri Behncke leben soll, muss sie feststellen, dass ihr Großvater nicht leicht zu finden ist. Schließlich wird Simone an den jungen Arzt Mael Le Goff verwiesen, der Harri nicht nur wegen eines Schlaganfalls behandelt, sondern auch der beste Freund des als cholerisch bekannten alten Mannes ist. Kann Mael Großvater und Enkelin zusammenführen – und damit auch etwas in Simone heilen, das vor langer Zeit kaputt gegangen ist? Romantisch, dramatisch und mit viel französischem Flair erzählt Yvonne Jensens Liebesroman von einer Frau auf der Suche nach sich selbst, von einem alten Familien-Geheimnis und neuen Chancen. Lassen Sie sich entführen ins Atelier am Meer an der zauberhaften französischen Atlantikküste.

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Seitenzahl: 405

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Yvonne Jensen

Das Atelier am Meer

Roman

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Inhaltsübersicht

Teil 1 | Entwurf1. Kapitel2. Kapitel3. KapitelTeil 2 | Studien4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. KapitelTeil 3 | Schattenwirkung14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. KapitelTeil 4 | Perspektive19. KapitelTeil 5 | Komposition20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. KapitelTeil 6 | Gesamtkunstwerk26. Kapitel27. Kapitel
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Teil 1

Entwurf

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1

Simone öffnete die Tür der bretonischen Crêperie, und ein verführerischer Duft hieß sie willkommen. Es roch nach Zwiebeln, frischen Muscheln und Käse, der auf Buchweizenpfannkuchen schmolz. Das Zischen von Teig auf den Galettières, das Klappern von Geschirr und französische Satzfetzen drangen an ihr Ohr. Augenblicklich fühlte sie sich Hunderte von Kilometern weit weg in Frankreich. Irgendwo an der Atlantikküste, wo die Wellen so gegen die Felsen schlugen, dass Leuchttürme sekundenlang in der hoch spritzenden Gischt verschwanden.

Das Gefühl von Urlaub. Zwar nur für eine Stunde, das aber mitten an einem gewöhnlichen Arbeitstag. Eine Stunde Auszeit aus der Hektik des Redaktionsalltags mit Besprechungen, Fotoshootings, Recherche, Außenterminen, Artikel schreiben und auswählen, Zeichen zählen. Immer schnell, immer eng am zeitlichen Limit.

Vor der Glasfront des modernen Verlagsgebäudes, in dessen oberster Etage sich die Redaktion von Kultur heute befand, rauschte der Verkehr auf der Willy-Brandt-Straße den ganzen Tag dahin. Doch keine fünfzig Meter entfernt begann eine ganz andere Welt – das alte Hamburg. Hier waren die Straßen schmal, und die alten Speicher neigten sich einander zu, als wollten sie sich umarmen. Hinter ihren Fassaden befanden sich schon längst keine Warenlager mehr, sondern kleine Geschäfte, Manufakturen und einige Restaurants.

Die Mittagspause in einem dieser Restaurants direkt am Fleet genießen zu können gehörte zu den Privilegien, die Simone hatte, weil sie nicht mehr nur eine kleine freie Mitarbeiterin war, die für jedes Wort bezahlt wurde, sondern eine der beiden stellvertretenden Chefredakteure von Kultur heute. Dennoch aß sie meistens in der Kantine. Sie hätte sich selbst dafür gehasst, die Vorgesetzte herauszukehren. Außerdem bot das zwanglose Mittagessen in der quirligen Kantinenatmosphäre die Möglichkeit, auch mit den Mitarbeitern und Praktikanten ins Gespräch zu kommen, die ihr im Redaktionsalltag nur selten über den Weg liefen. Auf diese Weise hatte sie schon oft erfahren, wo der Schuh zu drücken drohte, bevor es wirklich an allen Ecken zu kneifen begann und die Mitarbeiter unzufrieden wurden.

Heute allerdings war sie aus der Redaktion regelrecht geflohen. Sie flüchtete vor den Fragen, die Johannes’ Rundmail bei jedem in der Redaktion aufgeworfen hatte – sie selbst eingeschlossen – und die sie nicht beantworten konnte. Fragen, über die sie nachdenken wollte. In Ruhe. Und allein.

»Bonjour, Madame!« Jules, der Inhaber der Crêperie, kam auf sie zu und schüttelte ihr beide Hände, als wäre sie der Mensch, auf den er sich heute am meisten gefreut hätte. Jules war ein Gastgeber im wahrsten Sinne des Wortes – er gab jedem das Gefühl, ein hochwillkommener Gast zu sein. »Wie geht es Mademoiselle Charlotte?« Er sprach das e am Ende des Namens nicht mit, was ihrer Tochter immer eine Röte ins Gesicht zauberte. Die Art von Röte, die einem selbst irgendwie angenehm ist.

»Danke, Jules. Sie freut sich schon auf die Ferien. Drei Wochen sind es noch bis dahin, wir zählen die Tage. Ist oben noch ein Tisch frei?«

»Oui, Madame. Sogar Ihr Lieblingstisch in der Ecke am Fenster.«

Simone stieg die Treppe hinauf zu der Galerie, auf der sich kleine Tische verteilten. Die Stufen knarrten leise unter ihren Schritten und erzählten von Kaffeesäcken, Teekisten und Stoffballen, die einst in diesem Haus gelagert worden waren. Jetzt waren Holz und Wände weiß gestrichen und verbreiteten selbst an einem Regentag die Atmosphäre von Sommer und Strand. Sie zog ihre Strickjacke aus und nahm auf der gepolsterten Bank Platz. Ein junger Kellner begrüßte sie auf Französisch und reichte ihr die Karte.

»Simone!«

Sie sah auf. Vor ihr stand Stefan Warnholz. Wie sie selbst war er stellvertretender Chefredakteur bei Kultur heute. Er war kompetent, ehrgeizig – und in diesem Moment der Letzte, den sie sich beim Essen als Tischpartner gewünscht hätte.

»Stefan? Wieso …«

»Ich habe dich eben aus dem Verlag huschen sehen und dachte mir schon, dass ich dich hier finde.« Er zog einen Stuhl unter dem Tisch hervor. »Darf ich?«

»Du sitzt ja schon fast.« Simone seufzte. »Aber klar, setz dich.«

»Hast du schon bestellt?« Stefan griff nach der Karte.

»Nein. Ich bin ja auch gerade erst gekommen.«

»Sag mal, bist du sauer?«

»Nein.« Das war nicht die ehrliche, sondern die höfliche Antwort.

»Wirklich nicht?«

»Na gut, wenn du es genau wissen willst – ja, ich bin sauer. Eigentlich wollte ich nämlich meine Mittagspause allein verbringen.«

Doch wenn Stefan diese Antwort störte, verbarg er es gut. Er grinste breit.

»Jetzt bist du wenigstens ehrlich.«

Der Kellner trat an den Tisch.

»Was darf ich bringen?«

»Für mich bitte eine Boule Val de Rance und eine Galette mit Spinat und Käse. Danke.«

»Ich nehme … ebenfalls einen Cidre und die Galette mit Putenfleisch.«

Der Kellner verschwand, und Stefan lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Sein Blick durch die halb geschlossenen Lider irritierte Simone. Sie fühlte sich wie ein Gemälde, das er begutachten und dessen Wert er schätzen sollte.

»Was?«

»Ich frage mich nur, ob du weißt, warum Johannes die außerordentliche Redaktionssitzung heute einberufen hat.«

»Nein.«

»Was nein?«

»Ich weiß es nicht. Ich war vorhin ebenso überrascht wie jeder von uns, als ich die Nachricht auf meinem Bildschirm hatte.«

»Sicher?«

»Ja, ganz sicher. Das kannst du mir gerne glauben.«

»Und du hast auch keine Vermutung, was er uns nachher mitteilen könnte?«

»Nein. Wieso sollte ich?«

Er zuckte mit den Schultern und spielte mit der Salzmühle auf dem Tisch.

»Nun, ihr seid doch miteinander befreundet, oder nicht?«

Simone schnaubte. »Befreundet? Ich kenne seine Frau und war zwei- oder dreimal zum Grillen bei ihm zu Hause – neben fünfzig anderen Gästen. Wenn das ein Zeichen für eine enge freundschaftliche Beziehung ist, bin ich mit der halben Hansestadt befreundet.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Gib es auf, Stefan. Ich weiß nichts, du weißt nichts. Wir können jetzt hier sitzen und spekulieren oder einfach das Essen genießen und bis drei Uhr warten. Ich bin sicher, Johannes wird uns dann alles erzählen, was wir wissen müssen.«

Der Kellner brachte den Cidre. Simone nahm ihre Keramikschale in die Hand und trank einen Schluck. Der Apfelwein war frisch und herb und so dezent süß, wie nur ein bretonischer Cidre sein konnte. Wie lange war es jetzt her, seit sie in der Bretagne gewesen war? Zehn Jahre? Nein, deutlich länger. Charlotte wurde im August dreizehn Jahre alt. Und als sie zum letzten Mal in der Bretagne Urlaub gemacht hatte, war ihre Tochter nicht einmal ein fehlender Strich im Kalender gewesen.Wir sollten mal zusammen hinfahren. Vielleicht ist die Bretagne ein Ferienziel für den nächsten Sommer? Charlotte würde es da bestimmt gefallen.

»Woran denkst du gerade?«

Stefan beugte sich über den Tisch und kam ihr dadurch näher, als ihr angenehm war.

»An Urlaub. An Urlaub in Frankreich, um genau zu sein. Ich glaube, ich werde mal mit Charlotte hinfahren.«

»Ja, Frankreich ist schon toll. Vor allem die Provence. Und die Côte d’Azur!«

Der Kellner brachte die Galettes. Und während Simone den duftenden Buchweizenpfannkuchen aß, hielt Stefan einen seiner berühmten Monologe – diesmal einen über die Vorzüge seiner favorisierten Urlaubsgebiete. Während er von den Stränden an der französischen Mittelmeerküste schwärmte, war sie froh, dass sie sich Stefan Warnholz immer eine Armeslänge auf Abstand gehalten hatte. Er war ein fähiger Kollege, keine Frage, dabei gut aussehend, witzig und schlagfertig. Viele der jüngeren Kolleginnen schienen ihm förmlich zu Füßen zu liegen. Doch auf Simone hatte sein Charme keine Wirkung. Sie empfand ihn als blasiert und anstrengend, zu sehr von sich überzeugt. Und seine nasale, irgendwie quäkende Stimme ging ihr zu schnell auf die Nerven, um ihn länger als für die Dauer einer Mittagspause in ihrer Nähe ertragen zu können. Dabei durchschaute sie regelmäßig seine Übertreibungen, die gelegentlich sogar haarscharf an einer Lüge vorbeischrammten. Sie wusste von seiner kleinen Rechtschreibschwäche, die er durch ein Korrekturprogramm kaschierte. Und sie hatte Augen im Kopf. Sie sah, dass er getönte Tagescreme benutzte, sich die Haare färben ließ und sich im vergangenen Sommerurlaub einer Lidkorrektur unterzogen hatte. Eitelkeit gehörte zu den Eigenschaften, mit denen sie nur schwer umgehen konnte. Das kam gleich nach Unzuverlässigkeit und Intoleranz.

Und so ließ sie ihn reden, ohne wirklich zuzuhören, genoss ihre Galette und den köstlich erfrischenden Cidre und dachte an die schroffen bretonischen Felsen und die Brandung des Atlantiks. Es würde Charlotte sicherlich in der Bretagne gefallen.

 

Um kurz vor drei versammelten sich alle Mitarbeiter der Redaktion von Kultur heute in dem großen Sitzungssaal, in dem sonst Pressekonferenzen, Vorführungen, Seminare und in regelmäßigen Abständen auch Vernissagen veranstaltet wurden. Als Simone sich auf einen der hinteren Stühle setzte, sah sie sich aufmerksam um. Es schien jeder da zu sein, sogar die Praktikanten hatten sich eingefunden. Und sie waren alle pünktlich. Ein sicheres Zeichen, wie viel Interesse Johannes’ Rundmail geweckt hatte. Sie alle waren neugierig. Und Simone selbst konnte sich da nicht ausnehmen. Sie hatte vorhin Stefan gegenüber die Wahrheit gesagt – sie hatte keine Ahnung, worum es ging. Aber in ihrem Bauch rumorte es. Sie hatte das sichere Gefühl, dass Johannes gleich eine Hiobsbotschaft verkünden würde. In Gedanken überschlug sie die Auflagenzahlen und Bilanzen des Magazins. Drohte der Verlag, die Redaktion zu schließen? Oder sollten sie von einem der Münchner Verlagshäuser übernommen werden? Sie hätte nicht sagen können, was sie schrecklicher gefunden hätte – Kultur heute war eines der renommiertesten Kulturmagazine Europas. Es einzustampfen wäre in ihren Augen gleichbedeutend mit dem Schließen der öffentlich-rechtlichen Fernsehsender. Außerdem war es für sie ein Teil von Hamburg, ebenso wie der Michel und die Elbe.

Die Tür öffnete sich, und Johannes kam herein. Mit seinem schwarzen Leinensacko, den weißen Haaren und dem gepflegten Bart sah er aus wie ein Literaturnobelpreisträger oder preisgekrönter Regisseur. Ein passender Vergleich, denn Johannes Lüdecke hatte bisher nahezu jeden Journalismuspreis verliehen bekommen – national und international. Er stellte sich nach vorne ans Mikrofon und lächelte. Doch Simone fiel auf, dass er sich die Hände rieb.

Er ist nervös,dachte sie und fühlte sich unbehaglich. Er wird uns gleich mitteilen, dass wir uns alle nach einem neuen Job umsehen müssen.

»Meine Lieben«, Johannes’ angenehm beruhigender Bass ließ auch die letzten Gespräche verstummen, »ich freue mich, dass ihr alle gekommen seid. Und um gleich die größten Zweifel und Ängste zu zerstreuen – nein, unser Magazin wird nicht eingestellt, und wir ziehen auch nicht in die Provinz.« Gelächter. Es klang heiter, fröhlich. Vor allem aber nach Erleichterung. »Was ich euch zu sagen habe, hat nur am Rande etwas mit Kultur heute zu tun. Es ist sehr persönlich. Im Grunde betrifft es nur mich. Aber ich finde es wichtig, dass jede und jeder Einzelne von euch gleich Bescheid weiß.« Wieder rieb er sich die Hände. Und als er weitersprach, hörte Simone, dass seine Stimme zu zittern begonnen hatte. Unwillkürlich schlug ihr Herz schneller. »Wie ihr alle wisst, werde ich in acht Jahren in den Ruhestand gehen. Und wie ihr ebenfalls wisst, ist es der größte Traum von meiner Frau und mir, den Ruhestand auf unserem Boot zu verbringen und die Welt zu umsegeln. Nun ist es …« Er brach ab und räusperte sich. »Gelegentlich hat das Leben die unliebsame Angewohnheit, unsere Pläne zu durchkreuzen. So ist es uns jetzt ergangen. Meine Frau ist an Multipler Sklerose erkrankt.«

Was? Aber das kann nicht sein! Das ist doch …Im Saal wurde es so still, dass Simone den Wind hören konnte, der die Sonnenlamellen vor den großen Fenstern zittern ließ. Und während sie noch an diesem medizinischen Begriff kaute, fuhr Johannes fort.

»Die Diagnose steht erst seit wenigen Wochen fest, und wir sind immer noch dabei, mit diesem Wissen zurechtzukommen und die therapeutischen Optionen auszuloten. Es geht ihr noch ziemlich gut – tatsächlich merkt sie von der Erkrankung zurzeit kaum etwas. Aber niemand weiß, wie lange das so sein wird, genaue Prognosen sind nicht möglich. Vielleicht kann sie in acht oder zehn Jahren immer noch segeln. Vielleicht ist sie aber auch schon in einem Jahr auf den Rollstuhl angewiesen. Deshalb haben wir, meine Frau und ich, gemeinsam beschlossen, nicht mehr bis zu meinem offiziellen Ruhestand zu warten, sondern jeden Tag zu nutzen, uns jetzt den Traum zu erfüllen und über die Meere zu segeln, solange sie gesundheitlich noch dazu imstande ist. Deshalb werde ich zum 1. Oktober dieses Jahres die Redaktionsleitung niederlegen. Die Verlagsleitung hat meine Kündigung bereits akzeptiert. Ich wäre auch gern schon früher gegangen, aber ich möchte durch mein privates Unglück das Magazin nicht im Chaos zurücklassen. Bis Oktober bleibt jedoch genug Zeit für die Verlagsleitung, um die beste Nachfolge für mich zu finden.« Er lächelte wieder, sah beinahe aus wie sonst, höchstens ein bisschen blasser. Wie viel Kraft brauchte er für dieses Lächeln? Simone wagte kaum, sich das vorzustellen. In ihrer Kehle steckte ein dicker Kloß und erschwerte ihr das Atmen. »Das war schon alles, was ich sagen wollte. Wenn sich nach meiner Mail heute Vormittag mancher von euch Sorgen um seine Zukunft gemacht hat, tut mir das aufrichtig leid. Doch ich wollte es euch allen persönlich mitteilen, nicht durch eine schnöde Mail. Danke, dass ihr mir eure Zeit und euer Ohr geschenkt habt. Und jetzt bitte ich euch, geht wieder an eure Arbeit. Dienstag ist Redaktionsschluss. Und wir wollen das beste Magazin herausbringen, das uns bisher gelungen ist. Damit wir alle stolz sein können, in dieser Redaktion zu arbeiten.«

Er trat vom Mikrofon zurück und wollte zur Tür, doch sofort stürmten einige der Redaktionskollegen auf ihn zu, drückten seine Hand, sprachen ihm ihr Mitgefühl aus. Simone blieb sitzen. Sie fühlte sich wie erstarrt, als wäre sie am Sitz festgeklebt. Sie dachte an Johannes’ kleine, quirlige Frau, die immer so aussah, als hätte sie gerade am Bug eines Bootes gestanden und dem Wind entgegengelacht. Sie konnte sich nicht einmal ansatzweise vorstellen, wie es Johannes und Henriette mit dem Wissen um diese Erkrankung gehen mochte. Und sie war wütend auf ihre Kollegen, die auf Johannes einstürmten, anstatt jetzt seine Privatsphäre zu respektieren. Sie benahmen sich, wie Journalisten in Filmen und Romanen üblicherweise dargestellt wurden – wie empfindungslose, sensationsgierige Hyänen.

Es schüttelte sie fast vor Abscheu. Natürlich war Stefan in dem Haufen ganz vorne dabei. Und sie wollte nicht ausschließen, dass er bei der Gelegenheit bereits seine Chancen auslotete, Johannes’ Posten zu übernehmen.

Simone erhob sich schwerfällig. Es fühlte sich an, als würden kräftige Hände versuchen, sie auf dem Stuhl festzuhalten. Johannes war ein überragender Journalist und zugleich ein bewundernswerter Mensch, der sich ebenso angeregt mit einem rumänischen Straßenkünstler unterhielt wie mit dem Intendanten der Wiener Oper. Kultur heute ohne ihn – das war wie die Alster ohne Segler. Es würde schwer werden, diese Lücke adäquat zu füllen.

 

Es war bereits sieben, als Simone endlich ihren Computer ausschaltete. Sie hatte die Artikel der Praktikanten korrigiert, einen Entwurf der ersten zehn Seiten des Magazins am Bildschirm zusammengestellt und selbst ihre Reportage über die neue Ausstellung in der Kunsthalle geschrieben. Es hatte alles etwas länger gedauert als sonst. Sie hatte Schwierigkeiten gehabt, sich zu konzentrieren. Immer wieder schweiften ihre Gedanken ab und glitten zu Johannes, zu Henriette und natürlich auch zur Zukunft des Magazins.

Sie stand auf und schob ihren Stuhl unter den Schreibtisch. Dann nahm sie Jacke und Handtasche. Als sie aufschaute, sah sie, dass in Johannes’ Büro immer noch Licht brannte. Sie ging hin und klopfte an die Tür.

»Ja?«

Sie öffnete und streckte ihren Kopf durch den Spalt. Johannes stand an der großen Fensterfront seines Büros. Von hier aus hatte man einen atemberaubenden Blick über die Speicherstadt und den Hafen.

»Darf ich kurz hereinkommen?«

Er drehte sich zu ihr um und lächelte. Es war ein trauriges Lächeln.

»Natürlich, Simone.«

Sie schloss sorgfältig die Tür hinter sich.

»Wie kommt Henriette mit der Diagnose zurecht?«

»Danke, dass du danach fragst. Die meisten unserer Kollegen haben sich benommen, als hätte ich ihnen mitgeteilt, dass sie gestern gestorben ist.« Er seufzte. »Sie ist stark, kämpft, lacht, will sich nicht unterkriegen lassen. Aber manchmal ist sie verzweifelt. Wir haben doch noch so viel vor. Wir wollen nach Tortuga segeln und nach Rio. Das Cap der guten Hoffnung umrunden und vor Samoa vor Anker gehen. Und am Great Barrier Reef schnorcheln. Manchmal denke ich, es ist unfair, dass ausgerechnet uns dieses Schicksal trifft. Was haben wir getan? Womit haben wir das verdient?« Er steckte die Hände in die Hosentaschen. »Weißt du, was Henriette dann sagt? ›Warum nicht wir? Warum sollte es uns nicht treffen? Wir haben bis hierher ein verdammt gutes Leben geführt, Johannes. Wir haben immer Glück gehabt. Jetzt ist es vielleicht an der Zeit, etwas davon zurückzuzahlen. Und wir sind stark. Wir beide sind stark, und gemeinsam werden wir das hier schaffen.‹« Er schluckte hörbar.

»Henriette ist eine wunderbare Frau.«

»Ja, das ist sie. Und weißt du was, Simone? Ich bin sicher, dass sie auf ihrem Weg noch sehr vielen Menschen in gleicher Lage bündelweise Mut und Hoffnung geben wird.« Er drehte sich wieder zu ihr um und lächelte. »Möchtest du morgen Mittag zu uns zum Essen kommen?«

»Ich würde sehr gerne, Johannes, aber ich kann leider nicht. Meine Großmutter hat sich endlich entschlossen, ihr Haus zu verkaufen und in eine betreute Wohnung zu ziehen. Wir werden dieses Wochenende die Schränke ausräumen.«

»Wie alt ist deine Großmutter noch gleich?«

»Neunundachtzig. Geistig ist sie immer noch topfit, aber natürlich lassen ihre Kräfte nach. Eine Putzhilfe hat sie schon immer gehabt – als alleinerziehende Geschäftsfrau liegt es ja nahe, Arbeit zu delegieren. Doch es ist in den letzten drei Monaten deutlich beschwerlicher für sie geworden. Ihre Gelenke machen ihr zu schaffen, und manchmal ist es für sie anstrengend und schmerzhaft, die Treppe in den ersten Stock zu ihrem Schlafzimmer hochzusteigen. Nicht auszudenken, wenn sie da mal stolpert. Sie ist eine selbstständige Frau, doch mittlerweile hat sie selbst Angst, dass etwas passieren könnte. Und meine Mutter und ich haben auch nicht täglich die Zeit, vorbeizufahren und nach dem Rechten zu sehen. Der Gedanke, dass sie in einer Wohnanlage nur einen Knopf drücken muss, damit jemand kommt, ist für uns alle beruhigend.«

»Ja, das ginge mir nicht anders. Übrigens, hast du dir mal Gedanken darüber gemacht, ob du meine Nachfolgerin werden möchtest?«

»Ich?«

»Ja.« Johannes lächelte erneut. »Überrascht dich der Gedanke? Du bist die fähigste Kollegin der Redaktion. Du hast ein Gespür für Themen und Ästhetik, aber auch für die Mitarbeiter. Nicht umsonst kommen die Praktikanten und Frischlinge immer zuerst zu dir.«

»Aber …«

»Stefan ist schon scharf auf den Stuhl der Chefredaktion, obwohl er nicht einmal halb so gut ist wie du und das vermutlich sogar weiß. Aber er kann mit seinem internationalen Renommee glänzen. An der Met in New York kennt man ihn, bei den Nachkommen der Guggenheims war er mal zum Barbecue eingeladen. Das beeindruckt natürlich unseren ansonsten doch recht ahnungslosen Verleger. Trotzdem werde ich in erster Linie dich als meine Nachfolgerin vorschlagen.« Er legte ihr eine Hand auf den Arm. »Du hast alles, was du brauchst, um den Job nicht nur gut zu machen, sondern vielleicht sogar besser als ich. Das Einzige, was dir noch fehlt, ist der internationale Ruf in Kulturkreisen. Aber bis Oktober ist noch viel Zeit.«

Simone war so gerührt und überrascht, dass es ihr erst einmal die Sprache verschlug.

»Danke für dein Vertrauen, Johannes.«

»Keine Ursache, Simone. Ich bin dabei keinesfalls selbstlos. Es würde mich schlicht beruhigen und mir den Weggang erleichtern, wenn ich die Zukunft von Kultur heute in deinen Händen wüsste. Ich wüsste, dass weder Anspruch noch Qualität oder Arbeitsklima unter deiner Führung leiden würden. Vielleicht ergibt sich ja in den kommenden Wochen etwas für dich, um diese kleine Schwäche auszugleichen.«

Simone lachte und schüttelte den Kopf. Wie sollte sie das anstellen? Sich bei der Familie Rothschild vor die Tür setzen, bis sie sich ihrer erbarmten und sie in den Schlossgarten ließen, damit sie bei der Preisverleihung einer ihrer Kunststiftungen dabei sein durfte?

»Ich werde mir Mühe geben.« Sie drückte seinen Arm. »Grüße bitte Henriette herzlich von mir. Sag ihr, dass ich sie für ihre Haltung bewundere. Und ich wünsche ihr, dass die Krankheit stillhält, solang es nur irgendwie möglich ist.«

»Ich werde es weitergeben.« Johannes’ Augen schimmerten feucht, als er sich vorbeugte und Simone einen freundschaftlichen Kuss auf die Wange gab. »Danke für deine Worte.«

Dann ging Simone hinaus und schloss behutsam die Tür hinter sich. Auf dem Weg zur Tiefgarage beschäftigten sie zwei Gedanken. Der eine galt Henriette. Jeder von uns blickt letztlich in eine ungewisse Zukunft – niemand kennt den nächsten Tag, und theoretisch kann ein Schritt zum falschen Zeitpunkt in die falsche Richtung das Ende bedeuten. Doch Henriette wusste jetzt, dass ihre Zukunft anders und kürzer sein würde, als sie selbst es sich gewünscht und für sich geplant hatte. Wie ging man damit um? Henriette tat das offensichtlich auf bewundernswerte Weise.

Ihr zweiter Gedanke galt der Zukunft von Kultur heute. Johannes war ein freundlicher, aber anspruchsvoller Chef, der mit seinem Lob so sparsam umging, dass man immer sicher sein konnte, dass es ehrlich gemeint war. Dass er ihre Arbeit und ihre Fähigkeiten so hoch schätzte und ihr die Redaktionsleitung zutraute, war Simone neu. Ihr wurde ganz warm bei dem Gedanken, und für einen Moment fühlte es sich an, als würden ihre Füße ein paar Zentimeter über dem Boden schweben. Während sie in der Freitagabendstille der Tiefgarage ihren Autoschlüssel aus der Handtasche kramte, fragte sie sich, ob sie selbst daran glaubte, den Posten ausfüllen zu können. Und wie es ihr gelingen könnte, sich innerhalb von wenigen Monaten im positiven Sinn in der internationalen Kulturszene ins Gespräch zu bringen.

Ich werde alle meine Kontakte durchforsten. Vielleicht fällt mir ja etwas ein.

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2

Simone hockte im Wohnzimmer ihrer Großmutter vor der Vitrine und wickelte sorgfältig Gläser in Papier ein. Durch das Panoramafenster flutete das Sonnenlicht herein und brachte den Kristallschliff der Gläser zum Funkeln. Einen Moment hielt sie inne und schaute in den Garten hinaus. An dem alten Kirschbaum in der Mitte der Rasenfläche hatte früher eine Schaukel gehangen. Beim Schaukeln hatte sie Kirschen naschen können. Mittlerweile war der Baum in die Jahre gekommen und trug schon lange keine Früchte mehr. Irgendein Käufer würde sich über das Haus und das großzügige Grundstück freuen. Und der alte Kirschbaum würde wahrscheinlich anderen Gestaltungsplänen weichen.

Sie zwang sich, den Blick abzuwenden, denn in den Garten zu schauen führte nur zu Melancholie und Trübsinn. Ihre Großmutter brauchte Unterstützung und Optimismus und nicht, dass sie einander weinend in den Armen lagen.

Sie verteilte die eingewickelten Gläser auf zwei Kartons. Ein Karton sollte als Spende an die Bedürftigen der Kirchengemeinde gehen, der ihre Oma angehörte. Der andere wesentlich kleinere war für den Eigenbedarf bestimmt. Der Umzug in die Seniorenwohnanlage bedeutete eine Reduktion der Wohnfläche um knapp hundertzwanzig Quadratmeter. Das hieß weniger und kleinere Schränke und damit auch von allem anderen weniger: weniger Geschirr, weniger Kleidung, weniger Wäsche. Ihre Großmutter hatte diese Entscheidung freiwillig und ohne Drängen schon vor etlichen Monaten getroffen. Jetzt wanderte Oma Luise durch das Haus wie ein melancholischer Geist, nahm hier eine Vase in die Hand, dort eine Porzellanfigur oder ein gerahmtes Foto.

Sie nimmt Abschied, vermutete Simone. Abschied von Gegenständen, von Erinnerungen, die mit ihnen verbunden sind. Abschied von einem Leben, das sie in Zukunft nicht mehr führen wird. Sie musste schlucken. Oma fährt nicht für ein paar Wochen in den Urlaub.

Und wenn ihr selbst schon beim Gedanken an den Kirschbaum im Garten die Tränen in die Augen stiegen, wie musste sich ihre Großmutter dann fühlen, die seit Jahrzehnten in diesem Haus lebte? Sogar die lebhafte Charlotte, deren Mundwerk sonst keine Minute stillstand, rollte schweigend zierliche Sektgläser in Papier ein.

»Ich hätte nicht gedacht, dass es mir so schwerfallen wird«, sagte Oma Luise leise und nahm das neueste Familienfoto in die Hand, das ein Fotograf kurz vor Weihnachten aufgenommen hatte. Es zeigte Oma Luise, Simones Mutter Elly, Simone und Charlotte. Vier Frauen, vier Generationen. Keine Männer. Schon Luise Hansen war eine fortschrittliche Frau gewesen, hatte ihren Mann noch vor der Ehe zum Teufel gejagt und ihre Tochter lieber allein großgezogen. Simones Mutter hatte zwar geheiratet und eine Weile mit Simones Vater zusammengelebt, sich dann aber wegen unüberbrückbarer Differenzen scheiden lassen, als sie gerade zwei Jahre alt war. »Wir brauchen keine Männer«, sagte Oma Luise immer, wenn die Sprache darauf kam. »Männer sind unzuverlässig und bis auf wenige Momente entbehrlich. Wir sind besser dran ohne sie.« Trotzdem hatte sie in ihrem Schlafzimmer ein Doppelbett stehen. Und Simone hätte Wetten darauf abgeschlossen, dass Oma Luise in all den Jahren nicht nur allein darin geschlafen hatte. Doch auch das war in Zukunft vorbei. In der Seniorenwohnung war für das breite Bett kein Platz mehr.

Die Vitrine war mittlerweile leer geräumt. Simone klappte die Kartondeckel zu und beschriftete beide. Dann öffnete sie den nächsten Schrank. Neben einem Stapel Leinenservietten und Tischdecken stand ein dickes goldgeprägtes Buch in Leder, dem man ansah, dass es sich um eine Antiquität handelte.

»Was ist das?«

»Das ist ein Fotoalbum.«

»Ein Fotoalbum?« Charlotte sprang auf, ihre blauen Augen leuchteten. »Wie cool! Ist das von früher?«

»Ja, Charlotte, von ganz früher. Wir hatten damals ja weder einen Computer noch ein Handy, das Fotos machen konnte. Tatsächlich sind in diesem Album sogar noch Fotos, die mein Vater aufgenommen hat.« Das traurige Lächeln auf dem Gesicht ihrer Großmutter schnitt Simone ins Herz. »Da war ich noch ein Baby. Das ist fast hundert Jahre her.«

»Oh! Darf ich mir die ansehen?«

»Natürlich. Setzen wir uns auf das Sofa, dann kann ich dir ein bisschen was dazu erzählen.«

Oma Luise streckte eine zitternde Hand nach dem Fotoalbum aus. Elly warf ihrer Tochter einen gequälten Blick zu. Ihr standen die Tränen in den Augen.

»Ich glaube, du hast recht. Es ist Zeit für eine Pause«, sagte sie und blinzelte. »Ich koche uns Kaffee.«

Simone folgte ihr in die Küche. Ihre Mutter stützte sich auf der Arbeitsplatte ab, ihre Schultern bebten. Als sie Simone hörte, hob sie den Kopf und wischte sich hastig über die Augen.

»Entschuldige. Es geht gerade mit mir durch.« Sie holte tief Luft, ihre Unterlippe zitterte. »Das Haus, der Garten … So viele Jahre. Und jetzt … Wenn es schon für mich so schwer ist, wie muss es dann erst für sie sein?«

Simone nahm ihre Mutter in den Arm und drückte sie fest an sich. Es war still in der Küche. Die Uhr über der Tür tickte, im Rhododendron vor dem Fenster sang eine Amsel. Im Wohnzimmer kicherte Charlotte. Vielleicht konnte die Fröhlichkeit und Lebendigkeit ihrer Urenkelin Luise Hansen helfen, mit dem Abschied besser fertig zu werden.

»Oma hat die Entscheidung selbst getroffen, Mama, und sie ist gut und vernünftig. Wir haben doch schon lange darüber gesprochen. Sie hat sich die Wohnanlage selbst ausgesucht, nichts musste überstürzt werden. Und sie ist noch fit genug, um …«

»Ich weiß, Simone. Du hast ja recht.« Ihre Mutter seufzte und schnäuzte sich in ein bereits ziemlich zerknülltes Papiertaschentuch. »Geh wieder ins Wohnzimmer. Kaffee kochen kann ich auch allein, und ich glaube, ich brauche ein paar Minuten für mich.«

 

Im Wohnzimmer saßen Charlotte und Oma Luise nebeneinander auf dem Sofa. Als Simone eintrat, hob das Mädchen den Kopf.

»Mama, das musst du dir ansehen. Kannst du dir vorstellen, was die früher für komische Badeanzüge getragen haben? Darf ich Mama das Bild zeigen?«

»Natürlich darfst du.« Oma Luise blätterte ein paar Seiten zurück.

»Schau mal, das sind die Mama und der Papa von Oma Luise. Sieht das nicht komisch aus?« Der geringelte Einteiler des Mannes auf dem Foto und das fast schon als Kleid zu bezeichnende Badekostüm der Frau sprachen für eine Aufnahme aus den Zwanzigerjahren. »Oma Luise sagt, das sollen Badeanzüge sein!« Wieder kicherte Charlotte, und auch Simone musste schmunzeln.

»Nun, so sind die Leute eben damals schwimmen gegangen.«

»Du auch?«

Jetzt lachte auch Oma Luise. »Nein. Dieses Foto ist fast hundert Jahre alt. Als ich mit meinen Freundinnen baden gegangen bin, hatten wir schon solche Badeanzüge, wie du sie auch kennst. Warte mal.« Oma Luise blätterte in dem Fotoalbum. »Da ist es. Siehst du? Das bin ich im Badeanzug. Das war 1952. Da war Oma Elly noch gar nicht geboren.«

»Ui, der ist aber hübsch! Der würde mir vielleicht auch gefallen. Leider kann ich die Farbe nicht erkennen …«

»Weil das eine Schwarz-Weiß-Fotografie ist. Aber ich kann mich noch daran erinnern. Der Badeanzug war rot.«

»Welche Art von Rot?«

Oma Luise schloss die Augen. »Am ehesten ein warmes Tomatenrot.«

Charlotte nickte. »Ja, der hätte mir auch gefallen. Und wer ist der Mann auf dem Foto?«

»Das ist Oma Ellys Vater.«

»Der sieht aber nett aus!«

Charlotte schien die Veränderung in der Stimme von Luise Hansen nicht bemerkt zu haben, Simone hingegen schon. Oma Luise klang plötzlich kühl und distanziert. Über ihren Großvater wurde im Hause Hansen nicht gesprochen. Nie. Und bis zu diesem Tag hatte sie nicht einmal gewusst, dass ein Foto von ihm existierte. Neugierig beugte sie sich vor, um das Bild besser sehen zu können.

»Das hat nichts zu sagen. Männer sind unzuverlässig, Charlotte. Eine Frau sollte ihnen nicht einmal so weit trauen, wie sie spucken kann. Und die, die nett aussehen, sind meistens die Schlimmsten.« Oma Luise schaute auf. »Simone? Kind, was ist? Du bist ja plötzlich ganz bleich um die Nase!«

Simone hörte kaum, was ihre Großmutter sagte, denn sie starrte das alte Schwarz-Weiß-Foto an, das vermutlich einzige Bild ihres Großvaters, das noch in diesem Haus existierte. Das glatt rasierte Gesicht mit dem fröhlichen, selbstbewussten Lächeln – sie kannte es.

»Oma, wie heißt Mamas Vater?« Sie sah ihrer Großmutter fest in die Augen, entschlossen, nicht nachzugeben. Diesmal nicht. Sie wollte, nein, sie musste wissen, ob sie sich täuschte. »Bitte, Oma.«

Luise Hansen zuckte mit den Schultern. »Wenn es dir denn so wichtig ist!« Sie verdrehte die Augen und klappte das Fotoalbum zu. »Sein Name ist Harri Behncke.«

»Also doch …« Simones Knie wurden weich. Sie tastete nach der Armlehne eines Sessels und setzte sich. »Oma!« Ihre Stimme war vor Aufregung ganz heiser. »Du weißt, wer Harri Behncke ist?«

»Ein Schuft, der sich aus dem Staub gemacht hat, als es unangenehm wurde. Das ist er.«

»Nein, ich meine …«

»Natürlich weiß ich das, Simone. Ich lese ja jeden Tag das Hamburger Abendblatt – auch das Feuilleton.«

»Und warum hast du nie etwas gesagt? Warum?«

Luise Hansen richtete sich auf ihrem Sofa auf.

»Warum sollte ich? Das hätte doch nichts geändert. Er ist einfach abgehauen. Mir nichts, dir nichts verschwunden, von einem Tag auf den nächsten. Und da stand ich nun, allein und mit dicker werdendem Bauch. Weißt du, wie es damals war, als Frau ohne Mann ein Kind zu bekommen? Mein Vater stand jeden Tag vor mir und hat den Kopf geschüttelt. ›Wie konntest du das deiner Mutter antun? Wie konntest du nur?‹ Und meine Mutter hat mich wochenlang im Haus eingesperrt, damit mich niemand auf der Straße sieht. ›Was sollen nur die Leute von uns denken?‹ Das war ihre größte Sorge. Und der Behncke hat sich nicht wieder blicken lassen. Nicht einmal geschrieben hat er. Kein einziges Mal.« Oma Luise wischte sich mit dem Ärmel ihrer Strickjacke über die Augen. Dann stand sie auf und stellte das Fotoalbum energisch in das Regal zurück. »Sein Geld und sein Ruhm können mir gestohlen bleiben. Und er sowieso. Und jetzt sollten wir davon aufhören. Es hat keinen Sinn, in der Vergangenheit zu wühlen. Da man sie ohnehin nicht ändern kann, sollte man sie besser ruhen lassen.«

»Was ist denn los, Mama?«, flüsterte Charlotte, und ihre Hand schob sich tastend in Simones.

»Wenn wir zu Hause sind«, sagte sie, »dann erkläre ich dir alles, okay?«

»Okay.«

In diesem Moment brachte Simones Mutter Kaffee und einen Teller mit Keksen, und ihr Gespräch drehte sich um die Organisation des Umzugs.

 

Als sie am Abend wieder zu Hause waren, zog Simone sich sofort in ihr Arbeitszimmer zurück und setzte sich an ihren Laptop. Behncke war kein seltener Name in Hamburg, und Harri war einst ein gängiger Vorname gewesen. Doch es schien tatsächlich nur einen Harri Behncke zu geben. Sie googelte, rief Archive auf und fand etliche Bilder aus den Fünfzigerjahren, die Harri Behncke bei Ausstellungen oder im Kreis anderer Künstler zeigten. Und es war eindeutig. Dieser Mann, einer der größten und schillerndsten lebenden Künstler Europas, war der Mann auf dem Foto im Album ihrer Großmutter. Er war ihr Großvater.

»Ist das nicht dein Opa, Mama?«

Simone war so vertieft in ihre Recherche, dass sie gar nicht mitgekriegt hatte, dass Charlotte ins Zimmer gekommen war und ihr über die Schulter sah.

»Ja, das ist er.« Sie war immer noch fassungslos.

»Und warum gibt es so viele Fotos von ihm im Internet?«

»Weil er ein berühmter Künstler ist. Ich habe dir doch bestimmt schon von ihm erzählt. Der alte Maler und Bildhauer, der in Frankreich lebt und …«

»Ist das der, der den Journalisten mit einem seiner Stemmeisen aus dem Haus gejagt hat?«

»Ja, genau der.«

Charlottes Augen wurden groß. »Und das ist dein Opa? Wie cool! Kannst du mir mal Bilder und Skulpturen von ihm zeigen?«

»Natürlich. Warte mal.« Und ein paar Klicks später schauten sie sich gemeinsam die Zusammenstellung einer aktuellen Ausstellung an, die sich Harri Behnckes Schaffensweg widmete.

»Wow. Krass. Diese Statuen da sind so … so … mächtig. Als wollten sie einen bei den Schultern packen und so lange durchschütteln, bis man ihnen zuhört.«

Simone nickte. Sie dachte an ein Zitat aus einem der wenigen Interviews, die je mit Harri Behncke geführt worden waren. Nach der Bedeutung der Kunst für die heutige Zeit gefragt, hatte Harri Behncke geantwortet: »Kunst ist die Faust, die den Menschen in die Fresse schlägt, damit sie endlich aufwachen.«Charlotte hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Und einmal mehr war sie von dem Kunstverständnis ihrer Tochter überrascht. Oder war das am Ende gar nicht überraschend? Wie lautete das Sprichwort mit dem Apfel und dem Stamm noch?

»Meinst du, ich mag Kunst und habe in dem Fach so gute Noten, weil er mein Urgroßvater ist?«

Ein Schauer durchlief Simone. »Das ist möglich.«

»Schade, dass ich ihn nicht kenne. Er könnte mir bestimmt viel beibringen.« Charlotte runzelte die Stirn und stützte ihr Kinn auf beide Hände. »Stimmt es, was Oma Luise sagt?«

»Was meinst du denn?«

»Das, was sie über Männer gesagt hat. Dass man ihnen nicht trauen sollte und so.«

Simone schüttelte langsam den Kopf. »Ich weiß nicht, ob man das so pauschal formulieren sollte. Aber …« Sie zögerte einen Moment. »Es ist nicht immer ganz einfach, jemanden zu finden, dem man vertrauen kann.«

»Seid ihr deswegen mit keinem Mann zusammen – du und Oma Elly und Oma Luise? Weil ihr den Richtigen nicht gefunden habt?«

»Vielleicht. Ja, vielleicht liegt es daran.«

»Ihr habt wohl einfach Pech.« Charlotte zuckte mit den Schultern. »Julius vertraue ich jedenfalls. Unbedingt.«

»Das sollst du auch. Und ich glaube auch nicht, dass alle Männer unzuverlässig sind.«

»Natürlich nicht. Wenn du so etwas denken würdest, wäre das nämlich Diskriminierung.« Charlotte hob eine Augenbraue, dann grinste sie. »Zum Glück lässt Pech sich nicht vererben. Im Gegensatz zur künstlerischen Ader.« Sie stieß Simone leicht mit dem Ellbogen an. »Ich schicke Julius eine WhatsApp, ob wir uns morgen zum Skatebordfahren treffen können. Ich darf doch?«

»Selbstverständlich. Morgen ist Sonntag, wir haben nichts vor. Ihr könnt zur Skatebahn fahren, wenn ihr wollt.«

»Und kann Julius anschließend bei uns essen? Er mag deine Pasta so gern.«

»Natürlich.«

»Cool. Und können wir danach auch noch ein bisschen PS4 spielen? Ich stecke nämlich gerade in einem Level fest und komme nicht weiter. Julius hat das Spiel aber schon durch und …«

Geschickt eingefädelt, dachte Simone. Erst die entwicklungsfördernde Bewegung an der frischen Luft erwähnen, dann eine Bitte mit einem Kompliment verbinden. Und das, worum es von Anfang an eigentlich gegangen ist, kommt ganz zum Schluss in einem Nebensatz.

»Von mir aus. Sind denn die Hausaufgaben fertig?«

»Noch nicht, aber bis dahin schon.«

Simone sah ihrer Tochter hinterher, die pfeifend in ihrem Zimmer verschwand. Manchmal wunderte sie sich über dieses Kind und fragte sich, wie ausgerechnet sie mit so einer wunderbaren Tochter beschenkt worden sein konnte. Aber diese Frage stellten sich wohl alle Eltern von Zeit zu Zeit.

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3

Wie immer am Tag vor Redaktionsschluss war der Montag so hektisch, dass Simone nicht einmal die Zeit für eine geregelte Mittagspause hatte. Sie bat eine Praktikantin, ihr einen Salat aus dem kleinen Tante-Emma-Laden um die Ecke zu holen, und aß ihn direkt aus der Plastikschale, während sie Fotos und Artikel auf dem Bildschirm hin und her schob. Jedes Mal, bevor eine neue Ausgabe von Kultur heute in den Druck ging, fragte sie sich, wie es angehen konnte, dass trotz der sorgfältigen Planung und Arbeit der ihnen zur Verfügung stehende Platz nicht ausreichte. Meist mussten sie dann noch etliche Artikel um eine Zeile kürzen oder auf das eine oder andere Foto verzichten. Diesmal war es anders. Diesmal war eine halbe Seite leer.

Vorschläge wurden gesammelt, Diskussionen begannen. Hektisch suchten sie alle in ihren Dateien nach Artikeln, die dem Platzmangel in einer der letzten Ausgaben zum Opfer gefallen und trotzdem noch aktuell waren. Oder gab es eine Ausstellung, ein Konzert oder eine Veröffentlichung, die sie bisher übersehen hatten? Und während Simone selbst suchte, Vorschläge diskutierte und verwarf, spukten immer wieder zwei Sätze durch ihren Kopf – »Das Einzige, was dir noch fehlt, ist der internationale Ruf in Kulturkreisen.« sowie »Schade, dass ich ihn nicht kenne.« –und machten ihr die Arbeit noch schwerer, als sie ohnehin war.

Erst als Simone in den Sinn kam, dass ein exklusives Interview mit Harri Behncke alle anderen Themen zum Füllstoff degradieren und spielend die Hälfte der Magazinseiten füllen könnte, griffen plötzlich die Zahnräder in ihrem Kopf ineinander. Es machte Klick. So laut, dass sie zusammenzuckte und dabei ihren Kugelschreiber fallen ließ.

Ja, sie wollte den Job der Chefredakteurin von Kultur heute. Noch mehr aber sehnte sie sich danach, ihren Großvater kennenzulernen. Das hatte sie sich schon als kleines Mädchen gewünscht. Ihr leiblicher Vater war ein Chemielehrer. Ein langweiliger, uninteressanter Mensch, der jedes Mal, wenn sie einander besuchten, denselben Pullover getragen und nichts Besseres mit ihr anzufangen gewusst hatte, als dass er ihr irgendwelche fürchterlich stinkenden Experimente gezeigt hatte. Schon als Kind hatte sie begriffen, weshalb ihre Mutter sich hatte scheiden lassen. Anders ihr Großvater, den sie sich in ihren Träumen in den schönsten Farben ausgemalt hatte. Sie erinnerte sich, wie sie früher, wenn sie bei Oma Luise zu Besuch gewesen waren, im Kirschbaum geschaukelt und sich dabei vorgestellt hatte, dass ihr Großvater hinter ihr auf dem Rasen stand und ihr Anschwung gab. In ihrer Fantasie hatte er einen weißen Haarkranz wie der Opa ihrer besten Freundin, trug eine blaue Arbeitshose und hatte dabei eine verblüffende Ähnlichkeit mit Meister Eder. Und immer noch spürte sie die Enttäuschung, dass da in Wirklichkeit niemand gewesen war. Sie hatte nicht einmal ihren Freundinnen in der Schule erzählen können, dass sie ihren Opa hin und wieder auf dem Friedhof besuchte.

Nun hatte sie endlich einen Großvater. Damit nicht genug, er war sogar ein berühmter Künstler. Seine Kunst bewunderte und verehrte sie schon seit vielen, vielen Jahren. Er war einer jener innovativen Kunstschaffenden, die sich und ihre Kunst ständig weiterentwickelten. Seine Werke waren immer überraschend, und nicht selten trafen sie den Betrachter wie die Faust eines Boxers in empfindliche Körperstellen. Denn auch das war Harri Behncke: So zurückgezogen der Künstler auch lebte und sosehr er Fernsehauftritte und Interviews ablehnte, so wenig schwieg er zu gesellschaftspolitischen Themen. Immer wieder griff er die Gräuel des Nationalsozialismus in seinen Werken auf und brachte sie mit der Gegenwart auf einzigartige Weise in Zusammenhang. Mit seinen Gemälden und Skulpturen drückte er aus, was er von der Welt und ihren Auswüchsen hielt, und brüllte es ihr ins Gesicht.

Sicher, Enkelin von diesem Ausnahmekünstler zu sein würde sie international schnell und dauerhaft ins Gespräch bringen. Aber … war das überhaut noch wichtig? Sie hatte einen Großvater! So viele Jahre hatte sie sich danach gesehnt – und jetzt war er da, zum Greifen nahe. Selbst wenn er ein Bauarbeiter wäre, er wäre immer noch ihr Großvater.

Wärme breitete sich in ihrem Bauch aus, wohltuende Wärme. Sollte sie Harri Behncke – ihren Großvater – besuchen? Bald begannen die Ferien. Sie hatten bisher noch keine Reise gebucht. Wieso also sollten sie nicht spontan in die Bretagne fahren? Hatte sie daran nicht erst am Freitag in der Mittagspause gedacht?

Was konnte schon passieren?

Natürlich war es ihr bereits jetzt peinlich, durch dieses kleine Dorf in der Nähe von Carnac zu laufen, wo Harri Behncke lebte, wie sie ja wusste, nach ihm zu fragen und dann an seiner Tür zu klingeln wie eine kleine Schmierenblattreporterin. Schlimmstenfalls würde er sie ebenso aus dem Haus werfen wie alle anderen Journalisten oder sie mit seinem größten Beitel bis auf die Landstraße jagen, wie es erst vor einem halben Jahr den Kollegen eines spanischen Fernsehsenders ergangen war. Vielleicht aber auch nicht. Immerhin war sie seine Enkelin. Vielleicht würde sich die sonst für Presse und Medien so hermetisch verschlossene Tür für sie öffnen. Sie würden einander kennenlernen. Und vielleicht würde er ihr irgendwann die Gelegenheit zu einem seiner wenigen handverlesenen Interviews geben.

Das war eine einmalige Chance. Aber …Was ist mit Oma? Sie wird wütend sein, traurig, vor allem aber enttäuscht.

Der Gedanke holte sie schlagartig auf den Boden der Tatsachen zurück. Harri Behncke war schließlich der Mann, der ihre schwangere Oma sitzen gelassen und sich nie wieder bei ihr gemeldet hatte. Ihn zu besuchen hieße beinahe Verrat an ihrer eigenen Familie zu begehen. Andererseits …

Wieso fühlte sie sich zu Behnckes Werken so stark hingezogen? Sie sprachen mit ihr, berührten sie tief, erschütterten sie und schienen genau das auszudrücken, was sie fühlte, wozu ihr aber die Worte und künstlerischen Mittel fehlten, um sich selbst zu äußern. Wie oft hatte sie vor einer Behncke-Skulptur gestanden und gedacht: Ja, wenn ich Künstlerin wäre, ich würde es genau so darstellen. Und wie oft hatte sie den Eindruck gehabt, dieses Bild oder jene Installation hätte er eigens für sie geschaffen? Woher kam diese tiefe Verbindung? War es Zufall? Die intensive Beschäftigung mit denselben Themen? Ein ähnlich strukturierter Geist? Oder waren es einfach die Gene?

Simone schloss die Augen. Sie zitterte beinahe vor Aufregung.Ich muss es herausfinden. Ich muss ihn kennenlernen und herausfinden … Es tut mir leid, Oma, ich kann keine Rücksicht auf dich nehmen. Dieses Mal nicht.

Die Zeit lief ihr davon. Wenn sie jetzt nicht versuchte, Kontakt mit Harri Behncke aufzunehmen, würde sie ihn nie kennenlernen. Der Mann war bereits über neunzig und hatte nie das Leben eines Asketen geführt. Eine schwere Krankheit, Demenz, ein plötzlicher Tod – in dem Alter war damit beinahe täglich zu rechnen. Deshalb musste sie in die Bretagne. In diesem Sommer.

Und falls sie ihn doch nicht fand, zu spät kam oder er sich schlicht weigerte, sie zu sehen – unterm Strich blieb immer noch ein Urlaub an der Atlantikküste in der Gegend von Carnac mitten zwischen schroffen Felsen, Menhiren, Sand und Sonne. Welches Risiko ging sie also ein, einfach mal zu schauen, ob es dort noch ein freies Feriendomizil, Flug- oder Bahntickets und einen Leihwagen gab?

Die Antwort war simpel: keins.

Und wer nicht wagt, hat nicht einmal die Chance zu gewinnen.

 

An diesem Abend kam Simone noch später als gewöhnlich nach Hause – das Magazin sollte schließlich bis morgen druckfertig sein. Trotzdem war sie deutlich weniger müde und erschöpft als an anderen Montagen vor Redaktionsschluss. Die Idee eines Urlaubs in der Bretagne elektrisierte sie. Sie schob Tiefkühlpizza in den Ofen und freute sich darauf, nach dem Essen nach Reisemöglichkeiten und Unterkünften zu suchen. Charlotte erzählte sie noch nichts davon. Es war ja ein recht kurzfristiger Entschluss, und sie wollte ihrer Tochter keine falschen Hoffnungen machen, falls schon alles ausgebucht war. Im anderen Fall würde es morgen beim Frühstück eine schöne Überraschung sein.

Tatsächlich war die Suche nicht einfach. Simone klickte sich durch alle Ferienportale, suchte nach Hotels, Pensionen, Ferienwohnungen und -häusern, sogar nach Pauschal- und Busreisen. Es war zum Verrücktwerden. Die ganze Welt schien ausgerechnet in diesem Sommer ihren Urlaub in der Bretagne zu verbringen. Sie wollte bereits aufgeben, als sie ganz am Ende der Seite einer Ferienhausplattform doch noch fündig wurde. Es war ein kleines Drei-Zimmer-Haus, geradezu winzig. In der Anzeige stand etwas von vierzig Quadratmetern, die sich auf zwei Ebenen verteilten. Die steile Treppe wurde explizit erwähnt. Außerdem gab es nur ein Foto, das eine blühende Hortensie neben einem ziemlich klapprig aussehenden Gartentor zeigte. Das war alles, Bewertungen anderer Urlauber waren nicht vorhanden. Aber das Haus lag in unmittelbarer Nähe von Carnac. Laut Liste hatte es ein Duschbad, einen Kühlschrank und einen Herd mit Backofen, WLAN und einen Stellplatz für das Auto. Den Hinweis, dass der Strand fünfzig Meter weit entfernt war, hielt Simone für einen Druckfehler. Der Preis war zwar kein Schnäppchen, hielt sich aber im Rahmen. Doch letztlich war alles egal, denn es war das einzige Haus, das noch frei war.

Bestimmt nicht ohne Grund!

Das war diese Unkenstimme, die sie immer wieder fatal an ihre Mutter erinnerte, die grundsätzlich ihren Teller im Restaurant so lange absuchte, bis sie endlich das Haar in ihrer Suppe gefunden hatte.

Ach, was soll’s. Es wird schon nicht reinregnen. Und gegen Bettwanzen …Unwillkürlich musste Simone schlucken. Sie war wirklich nicht sehr anspruchsvoll und auch bereit, auf wackeligen Stühlen zu sitzen und von abgestoßenen Tellern zu essen, aber Sauberkeit musste schon sein! Und wenn … Wenn es tatsächlich schlimm sein sollte, schlafen Charlotte und ich eben kurzfristig im Wagen und suchen uns etwas anderes direkt vor Ort. Wenn wir erst dort sind, wird sich schon irgendwo ein Fremdenzimmer auftreiben lassen.

Mit einem beherzten Klick schickte sie ihre Buchung ab, bevor sich ihre Fantasie noch mit Bildern von schimmligen Wänden, an denen Kakerlaken herumkrochen, und Geschirr, auf dem noch die Essensreste der Vormieter klebten, länger beschäftigen konnte. Den Flug von Hamburg aus zu buchen erwies sich dagegen als Kinderspiel. Und wenn sie nun am 28. Juni in Nantes ankamen, würde dort am Flughafen sogar ein Mietwagen auf sie warten. Wenn alles gut geht. Du kennst die Tücken des Internets.

Sie fühlte, wie Enthusiasmus und Vorfreude sich wieder davonstahlen und einer Unruhe Platz machten, die sie nur zu gut kannte. Dieses Gefühl, etwas Falsches gegessen zu haben, stellte sich jedes Mal ein, wenn sie nicht alles im Voraus planen und überschauen konnte.

Denn manchmal wollte das Leben einen einfach nur ärgern.

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Teil 2

Studien

4

Manchmal sind ferne Orte doch erstaunlich nah, dachte Simone, als sie auf der Autobahn hinter Nantes das Hinweisschild las – es waren nur noch dreißig Kilometer bis Carnac. Um zehn Uhr morgens waren sie in Hamburg bei wolkenverhangenem Himmel losgeflogen. Und jetzt, vier Stunden später, befanden sie sich bereits auf der Autobahn Richtung bretonischer Küste. Der Himmel über ihnen war blau, und durch die geöffneten Autofenster wehte der Atlantikwind den Geruch von Salz und Sommer herein.

Charlotte saß auf dem Beifahrersitz, schaute aus dem Fenster und strahlte dabei über das ganze Gesicht. Egal, wie das Ferienhaus aussehen würde, egal, ob sie Harri Behncke finden und einen Kontakt herstellen konnte – die Entscheidung, hierherzukommen, war gut und richtig. Und sollte sie in den kommenden drei Wochen Zweifel daran haben, würde sie an diesen Moment und die glänzenden Augen ihrer Tochter denken.

Im Büro der Ferienvermietung erhielt Simone den Schlüssel für das Haus und eine detaillierte Anfahrtsskizze.

»Es sind höchstens zehn Minuten von hier«, sagte die Frau hinter dem Tresen, die zwar freundlich war, aber dennoch keinen Zweifel daran aufkommen ließ, dass sie unter Zeitdruck stand.

Dass die Fahrt zum Haus dann deutlich länger dauerte, lag weder an der Skizze noch an Simones Fahrkünsten. Dreimal fuhr sie an dem kleinen Steinhaus mit den blauen Fensterläden vorbei, bis sie sich endlich traute, davor zu halten. Sie schaltete den Motor aus und schnallte sich ab.

»Soll ich schon meinen Rucksack mitnehmen?« Charlotte war bereits ausgestiegen.

»Nein, lass mal. Wir müssen erst gucken, ob wir hier auch an der richtigen Adresse sind.«

Simone schlug die Autotür zu und schaute das Häuschen ungläubig an. Es war ein altes, aus Feldsteinen errichtetes Haus mit Schieferschindeln auf dem Dach und hohen hellblauen Fensterläden. Schon an der Gartenpforte konnte sie den Atlantik hören, der nicht weit von hier seine Wellen gegen die Küste schlug. Die Luft roch nach Salz und Heckenrosen. Über ihr ließen sich ein paar Möwen vom Wind tragen und schrien ihm und allen, die es hören wollten, ihre Lebensfreude entgegen.