Träum dich weg: Sehnsucht bei Knaur #01 - Yvonne Jensen - kostenlos E-Book

Träum dich weg: Sehnsucht bei Knaur #01 E-Book

Yvonne Jensen

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Beschreibung

Liebst du große Gefühle? Entspannst du gerne bei Geschichten mit Sommer, Sonne, Strand und einem Happy End? Faszinieren dich bewegende Lebensgeschichten? Dann ist dieser Leseproben-Mix genau das Richtige für dich! Träum dich mit Marie Matiseks neuem Roman »Sommerlese« weg auf die traumhaft schöne Insel Capri, wo eine Autorin versucht, ihre Schreibblockade zu überwinden - und ihr Herz nicht nur an einen streunenden Hund verliert. Begleite »Die Inselhebamme« von Emma Jacobsen an den Strand von Norderney und folge ihr auf der Suche nach dem Glück, der großen Liebe und sich selbst. Oder fiebere in Anna Bells »Gib mir ein Herz« mit beim Drahtseilakt der jungen Izzy, die ein Doppelleben zwischen Instagram und ihren Alltag führt und plötzlich zwischen Fake-Beziehung und echten Gefühlen entscheiden muss. Diese und weitere gefühlvolle Geschichten von Autorinnen wie Philippa Gregory, Pia Casell und Stephanie Butland findest du in der Leseproben-Sammlung zu den Sehnsuchts-Titeln von Knaur. Das kostenlose eBook enthält Leseproben zu: - Yvonne Jensen, »Das Atelier am Meer« - Philippa Gregory, »Gezeitenland« - Marie Matisek, »Sommerlese« - Lily Oliver, »Du und ich ein letztes Mal« - Anna Bell, »Gib mir ein Herz« - Sonja Rüther, »Hey June« - Tash Skilton, »Morgen schreib ich dir ein Happy End« - Pia Casell, »Ein Sommer voller Salbeiduft« - Stephanie Butland, »Die Frau auf dem Foto« - Emma Jacobsen, »Die Inselhebamme« - Anna Herzblum, »Die Liebe wohnt im zweiten Stock links«

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Seitenzahl: 415

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Träum dich weg: Sehnsucht bei Knaur

Gefühlvolle Leseproben von Philippa Gregory, Anna Bell, Tash Skilton, Stephanie Butland uvm.

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

VorwortYvonne Jensen – Das Atelier am MeerPhilippa Gregory – GezeitenlandMarie Matisek – SommerleseLily Oliver – Du und ich ein letztes MalAnna Bell – Gib mir ein HerzSonja Rüther – Hey JuneTash Skilton – Morgen schreib ich dir ein Happy EndPia Casell – Ein Sommer voller SalbeiduftStephanie Butland – Die Frau auf dem FotoEmma Jacobsen – Die InselhebammeAnna Herzblum – Die Liebe wohnt im zweiten Stock links
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Liebe Leserin,

lieber Leser,

 

wir freuen uns, Ihnen wieder Ausblicke auf den Lesesommer 2021 zu bieten – für uns bei Knaur immer ein besonderer Moment, wenn wir Ihnen zum ersten Mal einige unserer Lieblinge vorstellen können.

 

Besonders viele Fans bei uns hat die großartige Liebeskomödie von Tash Skilton, »Morgen schreib ich dir ein Happy-End«. Miles und Zoe haben beide einen etwas ungewöhnlichen Beruf: Sie sind Ghostdater, leihen also Singles auf Datingplattformen ihre Stimme, damit die dort Mr oder Miss Right finden. Im richtigen Leben können sich die beiden zwar nicht ausstehen, online entdecken sie allerdings sehr schnell äußerst attraktive Seiten aneinander … und auch wir haben uns von Anfang an in Zoe und ganz besonders in Miles verliebt.

Anna Bell kennen Sie vielleicht schon, bei ihr gibt es natürlich wieder etwas zum Lachen und Träumen. In »Gib mir ein Herz« muss Izzy sich entscheiden zwischen dem Instagram-tauglichen Luke und dem eher schüchternen Aidan. Eigentlich keine schwere Wahl, gäbe es da nicht Izzys Traum von einem Leben als Influencerin. Ganz andere Probleme hat dagegen Lucy in Anna Herzblums charmantem »Die Liebe wohnt im zweiten Stock links« – ein riesiges pinkfarbenes Sofa, das so gar nicht in ihre frisch bezogene Singlewohnung in Berlin passen will. Doch zum Glück weiß ihr neuer Nachbar Dominik Rat.

Und was wäre ein Sommer ohne einen Tag am Meer? Das denkt sich auch Nela aus »Die Inselhebamme« von Emma Jacobsen. Nach langen Jahren in München kehrt Nela zurück nach Norderney, der Heimat ihrer Familie. Hier sieht sie sich nicht nur mit ihrer störrischen Omama konfrontiert, sondern auch mit dem Wunsch, noch einmal ganz von vorn anzufangen. Nur einen Katzensprung weiter, hinter dem Deich, versucht Pieter Kreuzfeld als Tierarzt einen Neuanfang. Greta Holm schickt ihn in »Altes Land und neue Liebe« von der quirligen Metropole Hamburg mitten aufs platte Land – rasante Turbulenzen garantiert!

Wenn Sie sich lieber in den Süden ans Mittelmeer träumen möchten, würden wir Ihnen dagegen Marie Matisek mit »Sommerlese«, Yvonne Jensen mit »Das Atelier am Meer« und Pia Casell mit »Ein Sommer voller Salbeiduft« ans Herz legen wollen, je nachdem, ob es Sie nach Italien, nach Frankreich oder nach Kreta zieht.

Wenn Sie dramatische Liebesgeschichten genauso gern lesen wie wir, sind Sie vermutlich bei »Hey June« von Sonja Rüther richtig: Architektin Leah glaubt, ihre Zukunft sehr genau zu kennen: Schon bald wird sie ihren Verlobten heiraten. Doch eine Zufallsbegegnung mit einem traurigen Fremden wirft sie gewaltig aus der Bahn … Ebenso emotional ist auch »Du und ich ein letztes Mal« von Lily Oliver: Vivi und Josh, einst ein Traumpaar, wissen, dass ihnen nur die Trennung bleibt – doch wie kann man eine so große Liebe wie die ihre überhaupt loslassen?

Zum Schluss möchten wir Sie noch auf zwei Reisen in die Vergangenheit einladen: Stephanie Butland entführt ihre Leserinnen in »Die Frau auf dem Foto« mitten in die wilden Sechziger, in den Kampf der Frauen um Freiheit und Gleichberechtigung, und auch in Philippa Gregorys »Gezeitenland« muss sich die junge Witwe Alinor in einer Männerwelt behaupten – selbst wenn ihr dieser Mut jederzeit den Tod bringen kann.

 

Sie sehen also, der nächste Sommer verspricht wieder wunderbare Bücher: zum Lachen, zum Mitfiebern, zum Weinen, zum Wegträumen … einfach perfekt geeignet für die kleine Flucht aus dem Alltag. Wir wünschen Ihnen viel Spaß beim ersten Reinschnuppern.

 

Herzlich

Ihr Knaur-Team

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Yvonne Jensen

Das Atelier am Meer

Ein unausstehlicher Kerl soll er gewesen sein, der seine Familie im Stich gelassen hat – mehr weiß Simone Hansen nicht über ihren Großvater. Umso erstaunter ist sie, als ihr zufällig ein altes Familienfoto in die Hände fällt: Darauf ist der berühmte Künstler Harri Behncke!

Simone ist neugierig auf den Mann, dessen Werke sie bewundert. Doch wird er seine Enkelin überhaupt empfangen? Und warum hat er vor so vielen Jahren die Familie verlassen? Als Simone in dem kleinen Dorf in der Nähe von Carnac ankommt, wo Harri Behncke leben soll, muss sie feststellen, dass ihr Großvater nicht leicht zu finden ist. Schließlich wird Simone an den jungen Arzt Mael LeGoff verwiesen, der Harri nicht nur wegen eines Schlaganfalls behandelt, sondern auch der beste Freund des als cholerisch bekannten alten Mannes ist. Kann Mael Großvater und Enkelin zusammenführen – und damit auch etwas in Simone heilen, das vor langer Zeit kaputtgegangen ist?

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Simone hockte im Wohnzimmer ihrer Großmutter vor der Vitrine und wickelte sorgfältig Gläser in Papier ein. Durch das Panoramafenster flutete das Sonnenlicht herein und brachte den Kristallschliff der Gläser zum Funkeln. Einen Moment hielt sie inne und schaute in den Garten hinaus. An dem alten Kirschbaum in der Mitte der Rasenfläche hatte früher eine Schaukel gehangen. Beim Schaukeln hatte sie Kirschen naschen können. Mittlerweile war der Baum in die Jahre gekommen und trug schon lange keine Früchte mehr. Irgendein Käufer würde sich über das Haus und das großzügige Grundstück freuen. Und der alte Kirschbaum würde wahrscheinlich anderen Gestaltungsplänen weichen.

Sie zwang sich, den Blick abzuwenden, denn in den Garten zu schauen, führte nur zu Melancholie und Trübsinn. Ihre Großmutter brauchte Unterstützung und Optimismus und nicht, dass sie einander weinend in den Armen lagen.

Sie verteilte die eingewickelten Gläser auf zwei Kartons. Ein Karton sollte als Spende an die Bedürftigen der Kirchengemeinde gehen, der ihre Oma angehörte. Der andere, wesentlich kleinere war für den Eigenbedarf bestimmt. Der Umzug in die Seniorenwohnanlage bedeutete eine Reduktion der Wohnfläche um knapp hundertzwanzig Quadratmeter. Das hieß weniger und kleinere Schränke und damit auch von allem anderen weniger: weniger Geschirr, weniger Kleidung, weniger Wäsche. Ihre Großmutter hatte diese Entscheidung freiwillig und ohne Drängen schon vor etlichen Monaten getroffen. Jetzt wanderte Oma Luise durch das Haus wie ein melancholischer Geist, nahm hier eine Vase in die Hand, dort eine Porzellanfigur oder ein gerahmtes Foto.

Sie nimmt Abschied, vermutete Simone. Abschied von Gegenständen, von Erinnerungen, die mit ihnen verbunden sind. Abschied von einem Leben, das sie in Zukunft nicht mehr führen wird. Sie musste schlucken. Oma fährt nicht für ein paar Wochen in den Urlaub.

Und wenn ihr selbst schon beim Gedanken an den Kirschbaum im Garten die Tränen in die Augen stiegen, wie musste sich ihre Großmutter dann fühlen, die seit Jahrzehnten in diesem Haus lebte? Sogar die lebhafte Charlotte, deren Mundwerk sonst keine Minute stillstand, rollte schweigend zierliche Sektgläser in Papier ein.

»Ich hätte nicht gedacht, dass es mir so schwerfallen wird«, sagte Oma Luise leise und nahm das neueste Familienfoto in die Hand, das ein Fotograf kurz vor Weihnachten aufgenommen hatte. Es zeigte Oma Luise, Simones Mutter Elly, Simone und Charlotte. Vier Frauen, vier Generationen. Keine Männer. Schon Luise Hansen war eine fortschrittliche Frau gewesen, hatte ihren Mann noch vor der Ehe zum Teufel gejagt und ihre Tochter lieber allein großgezogen. Simones Mutter hatte zwar geheiratet und eine Weile mit Simones Vater zusammengelebt, sich dann aber wegen unüberbrückbarer Differenzen scheiden lassen, als sie gerade zwei Jahre alt war. »Wir brauchen keine Männer«, sagte Oma Luise immer, wenn die Sprache darauf kam. »Männer sind unzuverlässig und bis auf wenige Momente entbehrlich. Wir sind besser dran ohne sie.« Trotzdem hatte sie in ihrem Schlafzimmer ein Doppelbett stehen. Und Simone hätte Wetten darauf abgeschlossen, dass Oma Luise in all den Jahren nicht nur allein darin geschlafen hatte. Doch auch das war in Zukunft vorbei. In der Seniorenwohnung war für das breite Bett kein Platz mehr.

Die Vitrine war mittlerweile leer geräumt. Simone klappte die Kartondeckel zu und beschriftete beide. Dann öffnete sie den nächsten Schrank. Neben einem Stapel Leinenservietten und Tischdecken stand ein dickes goldgeprägtes Buch in Leder, dem man ansah, dass es sich um eine Antiquität handelte.

»Was ist das?«

»Das ist ein Fotoalbum.«

»Ein Fotoalbum?« Charlotte sprang auf, ihre blauen Augen leuchteten. »Wie cool! Ist das von früher?«

»Ja, Charlotte, von ganz früher. Wir hatten damals ja weder einen Computer noch ein Handy, das Fotos machen konnte. Tatsächlich sind in diesem Album sogar noch Fotos, die mein Vater aufgenommen hat.« Das traurige Lächeln auf dem Gesicht ihrer Großmutter schnitt Simone ins Herz. »Da war ich noch ein Baby. Das ist fast hundert Jahre her.«

»Oh! Darf ich mir die ansehen?«

»Natürlich. Setzen wir uns auf das Sofa, dann kann ich dir ein bisschen was dazu erzählen.«

Oma Luise streckte eine zitternde Hand nach dem Fotoalbum aus. Elly warf ihrer Tochter einen gequälten Blick zu. Ihr standen die Tränen in den Augen.

»Ich glaube, du hast recht. Es ist Zeit für eine Pause«, sagte sie und blinzelte. »Ich koche uns Kaffee.«

Simone folgte ihr in die Küche. Ihre Mutter stützte sich auf der Arbeitsplatte ab, ihre Schultern bebten. Als sie Simone hörte, hob sie den Kopf und wischte sich hastig über die Augen.

»Entschuldige. Es geht gerade mit mir durch.« Sie holte tief Luft, ihre Unterlippe zitterte. »Das Haus, der Garten … So viele Jahre. Und jetzt … Wenn es schon für mich so schwer ist, wie muss es dann erst für sie sein?«

Simone nahm ihre Mutter in den Arm und drückte sie fest an sich. Es war still in der Küche. Die Uhr über der Tür tickte, im Rhododendron vor dem Fenster sang eine Amsel. Im Wohnzimmer kiecherte Charlotte. Vielleicht konnte die Fröhlichkeit und Lebendigkeit ihrer Urenkelin Luise Hansen helfen, mit dem Abschied besser fertigzuwerden.

»Oma hat die Entscheidung selbst getroffen, Mama, und sie ist gut und vernünftig. Wir haben doch schon lange darüber gesprochen. Sie hat sich die Wohnanlage selbst ausgesucht, nichts musste überstürzt werden. Und sie ist noch fit genug, um …«

»Ich weiß, Simone. Du hast ja recht.« Ihre Mutter seufzte und schnäuzte sich in ein bereits ziemlich zerknülltes Papiertaschentuch. »Geh wieder ins Wohnzimmer. Kaffee kochen kann ich auch allein, und ich glaube, ich brauche ein paar Minuten für mich.«

 

Im Wohnzimmer saßen Charlotte und Oma Luise nebeneinander auf dem Sofa. Als Simone eintrat, hob das Mädchen den Kopf.

»Mama, das musst du dir ansehen. Kannst du dir vorstellen, was die früher für komische Badeanzüge getragen haben? Darf ich Mama das Bild zeigen?«

»Natürlich darfst du.« Oma Luise blätterte ein paar Seiten zurück.

»Schau mal, das sind die Mama und der Papa von Oma Luise. Sieht das nicht komisch aus?« Der geringelte Einteiler des Mannes auf dem Foto und das fast schon als Kleid zu bezeichnende Badekostüm der Frau sprachen für eine Aufnahme aus den Zwanzigerjahren. »Oma Luise sagt, das sollen Badeanzüge sein!« Wieder kiecherte Charlotte, und auch Simone musste schmunzeln.

»Nun, so sind die Leute eben damals schwimmen gegangen.«

»Du auch?«

Jetzt lachte auch Oma Luise. »Nein. Dieses Foto ist fast hundert Jahre alt. Als ich mit meinen Freundinnen baden gegangen bin, hatten wir schon solche Badeanzüge, wie du sie auch kennst. Warte mal.« Oma Luise blätterte in dem Fotoalbum. »Da ist es. Siehst du? Das bin ich im Badeanzug. Das war 1952. Da war Oma Elly noch gar nicht geboren.«

»Ui, der ist aber hübsch! Der würde mir vielleicht auch gefallen. Leider kann ich die Farbe nicht erkennen …«

»Weil das eine Schwarz-Weiß-Fotografie ist. Aber ich kann mich noch daran erinnern. Der Badeanzug war rot.«

»Welche Art von Rot?«

Oma Luise schloss die Augen. »Am ehesten ein warmes Tomatenrot.«

Charlotte nickte. »Ja, der hätte mir auch gefallen. Und wer ist der Mann auf dem Foto?«

»Das ist Oma Ellys Vater.«

»Der sieht aber nett aus!«

Charlotte schien die Veränderung in der Stimme von Luise Hansen nicht bemerkt zu haben, Simone hingegen schon. Oma Luise klang plötzlich kühl und distanziert. Über ihren Großvater wurde im Hause Hansen nicht gesprochen. Nie. Und bis zu diesem Tag hatte sie nicht einmal gewusst, dass ein Foto von ihm existierte. Neugierig beugte sie sich vor, um das Bild besser sehen zu können.

»Das hat nichts zu sagen. Männer sind unzuverlässig, Charlotte. Eine Frau sollte ihnen nicht einmal so weit trauen, wie sie spucken kann. Und die, die nett aussehen, sind meistens die schlimmsten.« Oma Luise schaute auf. »Simone? Kind, was ist? Du bist ja plötzlich ganz bleich um die Nase!«

Simone hörte kaum, was ihre Großmutter sagte, denn sie starrte das alte Schwarz-Weiß-Foto an, das vermutlich einzige Bild ihres Großvaters, das noch in diesem Haus existierte. Das glatt rasierte Gesicht mit dem fröhlichen, selbstbewussten Lächeln – sie kannte es.

»Oma, wie heißt Mamas Vater?« Sie sah ihrer Großmutter fest in die Augen, entschlossen, nicht nachzugeben. Diesmal nicht. Sie wollte, nein, sie musste wissen, ob sie sich täuschte. »Bitte, Oma.«

Luise Hansen zuckte mit den Schultern. »Wenn es dir denn so wichtig ist!« Sie verdrehte die Augen und klappte das Fotoalbum zu. »Sein Name ist Harri Behncke.«

»Also doch …« Simones Knie wurden weich. Sie tastete nach der Armlehne eines Sessels und setzte sich. »Oma!« Ihre Stimme war vor Aufregung ganz heiser. »Du weißt, wer Harri Behncke ist?«

»Ein Schuft, der sich aus dem Staub gemacht hat, als es unangenehm wurde. Das ist er.«

»Nein, ich meine …«

»Natürlich weiß ich das, Simone. Ich lese ja jeden Tag das Hamburger Abendblatt – auch das Feuilleton.«

»Und warum hast du nie etwas gesagt? Warum?«

Luise Hansen richtete sich auf ihrem Sofa auf.

»Warum sollte ich? Das hätte doch nichts geändert. Er ist einfach abgehauen. Mir nichts, dir nichts verschwunden, von einem Tag auf den nächsten. Und da stand ich nun, allein und mit dicker werdendem Bauch. Weißt du, wie es damals war, als Frau ohne Mann ein Kind zu bekommen? Mein Vater stand jeden Tag vor mir und hat den Kopf geschüttelt. ›Wie konntest du das deiner Mutter antun? Wie konntest du nur?‹ Und meine Mutter hat mich wochenlang im Haus eingesperrt, damit mich niemand auf der Straße sieht. ›Was sollen nur die Leute von uns denken?‹ Das war ihre größte Sorge. Und der Behncke hat sich nicht wieder blicken lassen. Nicht einmal geschrieben hat er. Kein einziges Mal.« Oma Luise wischte sich mit dem Ärmel ihrer Strickjacke über die Augen. Dann stand sie auf und stellte das Fotoalbum energisch in das Regal zurück. »Sein Geld und sein Ruhm können mir gestohlen bleiben. Und er sowieso. Und jetzt sollten wir davon aufhören. Es hat keinen Sinn, in der Vergangenheit zu wühlen. Da man sie ohnehin nicht ändern kann, sollte man sie besser ruhen lassen.«

»Was ist denn los, Mama?«, flüsterte Charlotte, und ihre Hand schob sich tastend in Simones.

»Wenn wir zu Hause sind«, sagte si, »dann erkläre ich dir alles, okay?«

»Okay.«

In diesem Moment brachte Simones Mutter Kaffee und einen Teller mit Keksen, und ihr Gespräch drehte sich um die Organisation des Umzugs.

 

Als sie am Abend wieder zu Hause waren, zog Simone sich sofort in ihr Arbeitszimmer zurück und setzte sich an ihren Laptop. Behncke war kein seltener Name in Hamburg, und Harri war einst ein gängiger Vorname gewesen. Doch es schien tatsächlich nur einen Harri Behncke zu geben. Sie googelte, rief Archive auf und fand etliche Bilder aus den Fünfzigerjahren, die Harri Behncke bei Ausstellungen oder im Kreis anderer Künstler zeigten. Und es war eindeutig. Dieser Mann, einer der größten und schillerndsten lebenden Künstler Europas, war der Mann auf dem Foto im Album ihrer Großmutter. Er war ihr Großvater.

»Ist das nicht dein Opa, Mama?«

Simone war so vertieft in ihre Recherche, dass sie gar nicht mitgekriegt hatte, dass Charlotte ins Zimmer gekommen war und ihr über die Schulter sah.

»Ja, das ist er.« Sie war immer noch fassungslos.

»Und warum gibt es so viele Fotos von ihm im Internet?«

»Weil er ein berühmter Künstler ist. Ich habe dir doch bestimmt schon von ihm erzählt. Der alte Maler und Bildhauer, der in Frankreich lebt und …«

»Ist das der, der den Journalisten mit einem seiner Stemmeisen aus dem Haus gejagt hat?«

»Ja, genau der.«

Charlottes Augen wurden groß. »Und das ist dein Opa? Wie cool! Kannst du mir mal Bilder und Skulpturen von ihm zeigen?«

»Natürlich. Warte mal.« Und ein paar Klicks später schauten sie sich gemeinsam die Zusammenstellung einer aktuellen Ausstellung an, die sich Harri Behnckes Schaffensweg widmete.

»Wow. Krass. Diese Statuen da sind so … so … mächtig. Als wollten sie einen bei den Schultern packen und so lange durchschütteln, bis man ihnen zuhört.«

Simone nickte. Sie dachte an ein Zitat aus einem der wenigen Interviews, die je mit Harri Behncke geführt worden waren. Nach der Bedeutung der Kunst für die heutige Zeit gefragt, hatte Harri Behncke geantwortet: »Kunst ist die Faust, die den Menschen in die Fresse schlägt, damit sie endlich aufwachen.«Charlotte hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Und einmal mehr war sie von dem Kunstverständnis ihrer Tochter überrascht. Oder war das am Ende gar nicht überraschend? Wie lautete das Sprichwort mit dem Apfel und dem Stamm noch?

»Meinst du, ich mag Kunst und habe in dem Fach so gute Noten, weil er mein Urgroßvater ist?«

Ein Schauer durchlief Simone. »Das ist möglich.«

»Schade, dass ich ihn nicht kenne. Er könnte mir bestimmt viel beibringen.« Charlotte runzelte die Stirn und stützte ihr Kinn auf beide Hände. »Stimmt es, was Oma Luise sagt?«

»Was meinst du denn?«

»Das, was sie über Männer gesagt hat. Dass man ihnen nicht trauen sollte und so.«

Simone schüttelte langsam den Kopf. »Ich weiß nicht, ob man das so pauschal formulieren sollte. Aber …« Sie zögerte einen Moment. »Es ist nicht immer ganz einfach, jemanden zu finden, dem man vertrauen kann.«

»Seid ihr deswegen mit keinem Mann zusammen – du und Oma Elly und Oma Luise? Weil ihr den Richtigen nicht gefunden habt?«

»Vielleicht. Ja, vielleicht liegt es daran.«

»Ihr habt wohl einfach Pech.« Charlotte zuckte mit den Schultern. »Julius vertraue ich jedenfalls. Unbedingt.«

»Das sollst du auch. Und ich glaube auch nicht, dass alle Männer unzuverlässig sind.«

»Natürlich nicht. Wenn du so etwas denken würdest, wäre das nämlich Diskriminierung.« Charlotte hob eine Augenbraue, dann grinste sie. »Zum Glück lässt Pech sich nicht vererben. Im Gegensatz zur künstlerischen Ader.« Sie stieß Simone leicht mit dem Ellbogen an. »Ich schicke Julius eine WhatsApp, ob wir uns morgen zum Skatebordfahren treffen können. Ich darf doch?«

»Selbstverständlich. Morgen ist Sonntag, wir haben nichts vor. Ihr könnt zur Skatebahn fahren, wenn ihr wollt.«

»Und kann Julius anschließend bei uns essen? Er mag deine Pasta so gern.«

»Natürlich.«

»Cool. Und können wir danach auch noch ein bisschen PS4 spielen? Ich stecke nämlich gerade in einem Level fest und komme nicht weiter. Julius hat das Spiel aber schon durch und …«

Geschickt eingefädelt, dachte Simone. Erst die entwicklungsfördernde Bewegung an der frischen Luft erwähnen, dann eine Bitte mit einem Kompliment verbinden. Und das, worum es von Anfang an eigentlich gegangen ist, kommt ganz zum Schluss in einem Nebensatz.

»Von mir aus. Sind denn die Hausaufgaben fertig?«

»Noch nicht, aber bis dahin schon.«

Simone sah ihrer Tochter hinterher, die pfeifend in ihrem Zimmer verschwand. Manchmal wunderte sie sich über dieses Kind und fragte sich, wie ausgerechnet sie mit so einer wunderbaren Tochter beschenkt worden sein konnte. Aber diese Frage stellten sich wohl alle Eltern von Zeit zu Zeit.

3

Wie immer am Tag vor Redaktionsschluss war der Montag so hektisch, dass Simone nicht einmal die Zeit für eine geregelte Mittagspause hatte. Sie bat eine Praktikantin, ihr einen Salat aus dem kleinen Tante-Emma-Laden um die Ecke zu holen, und aß ihn direkt aus der Plastikschale, während sie Fotos und Artikel auf dem Bildschirm hin und her schob. Jedes Mal, bevor eine neue Ausgabe von Kultur heute in den Druck ging, fragte sie sich, wie es angehen konnte, dass trotz der sorgfältigen Planung und Arbeit der ihnen zur Verfügung stehende Platz nicht ausreichte. Meist mussten sie dann noch etliche Artikel um eine Zeile kürzen oder auf das eine oder andere Foto verzichten. Diesmal war es anders. Diesmal war eine halbe Seite leer.

Vorschläge wurden gesammelt, Diskussionen begannen. Hektisch suchten sie alle in ihren Dateien nach Artikeln, die dem Platzmangel in einer der letzten Ausgaben zum Opfer gefallen und trotzdem noch aktuell waren. Oder gab es eine Ausstellung, ein Konzert oder eine Veröffentlichung, die sie bisher übersehen hatten? Und während Simone selbst suchte, Vorschläge diskutierte und verwarf, spukten immer wieder zwei Sätze durch ihren Kopf – »Das Einzige, was dir noch fehlt, ist der internationale Ruf in Kulturkreisen« sowie »Schade, dass ich ihn nicht kenne« – und machten ihr die Arbeit noch schwerer, als sie ohnehin war.

Erst als Simone in den Sinn kam, dass ein exklusives Interview mit Harri Behncke alle anderen Themen zum Füllstoff degradieren und spielend die Hälfte der Magazinseiten füllen könnte, griffen plötzlich die Zahnräder in ihrem Kopf ineinander. Es machte klick. So laut, dass sie zusammenzuckte und dabei ihren Kugelschreiber fallen ließ.

Ja, sie wollte den Job der Chefredakteurin von Kultur heute. Noch mehr aber sehnte sie sich danach, ihren Großvater kennenzulernen. Das hatte sie sich schon als kleines Mädchen gewünscht. Ihr leiblicher Vater war ein Chemielehrer. Ein langweiliger, uninteressanter Mensch, der jedes Mal, wenn sie einander besuchten, denselben Pullover getragen und nichts Besseres mit ihr anzufagen gewusst hatte, als dass er ihr irgendwelche fürchterlich stinkenden Experimente gezeigt hatte. Schon als Kind hatte sie begriffen, weshalb ihre Mutter sich hatte scheiden lassen. Anders ihr Großvater, den sie sich in ihren Träumen in den schönsten Farben ausgemalt hatte. Sie erinnerte sich, wie sie früher, wenn sie bei Oma Luise zu Besuch gewesen waren, im Kirschbaum geschaukelt und sich dabei vorgestellt hatte, dass ihr Großvater hinter ihr auf dem Rasen stand und ihr Anschwung gab. In ihrer Fantasie hatte er einen weißen Haarkranz wie der Opa ihrer besten Freundin, trug eine blaue Arbeitshose und hatte dabei eine verblüffende Ähnlichkeit mit Meister Eder. Und immer noch spürte sie die Enttäuschung, dass da in Wirklichkeit niemand gewesen war. Sie hatte nicht einmal ihren Freundinnen in der Schule erzählen können, dass sie ihren Opa hin und wieder auf dem Friedhof besuchte.

Nun hatte sie endlich einen Großvater. Damit nicht genug, er war sogar ein berühmter Künstler. Seine Kunst bewunderte und verehrte sie schon seit vielen, vielen Jahren. Er war einer jener innovativen Kunstschaffenden, die sich und ihre Kunst ständig weiterentwickelten. Seine Werke waren immer überraschend, und nicht selten trafen sie den Betrachter wie die Faust eines Boxers in empfindliche Körperstellen. Denn auch das war Harri Behncke: So zurückgezogen der Künstler auch lebte und so sehr er Fernsehauftritte und Interviews ablehnte, so wenig schwieg er zu gesellschaftspolitischen Themen. Immer wieder griff er die Gräuel des Nationalsozialismus in seinen Werken auf und brachte sie mit der Gegenwart auf einzigartige Weise in Zusammenhang. Mit seinen Gemälden und Skulpturen drückte er aus, was er von der Welt und ihren Auswüchsen hielt, und brüllte es ihr ins Gesicht.

Sicher, Enkelin von diesem Ausnahmekünstler zu sein, würde sie international schnell und dauerhaft ins Gespräch bringen. Aber … war das überhaupt noch wichtig? Sie hatte einen Großvater! So viele Jahre hatte sie sich danach gesehnt – und jetzt war er da, zum Greifen nahe. Selbst wenn er ein Bauarbeiter wäre, er wäre immer noch ihr Großvater.

Wärme breitete sich in ihrem Bauch aus, wohltuende Wärme. Sollte sie Harri Behncke – ihren Großvater – besuchen? Bald begannen die Ferien. Sie hatten bisher noch keine Reise gebucht. Wieso also sollten sie nicht spontan in die Bretagne fahren? Hatte sie daran nicht erst am Freitag in der Mittagspause gedacht?

Was konnte schon passieren?

Natürlich war es ihr bereits jetzt peinlich, durch dieses kleine Dorf in der Nähe von Carnac zu laufen, wo Harri Behncke lebte, wie sie ja wusste, nach ihm zu fragen und dann an seiner Tür zu klingeln wie eine kleine Schmierenblattreporterin. Schlimmstenfalls würde er sie ebenso aus dem Haus werfen wie alle anderen Journalisten oder sie mit seinem größten Beitel bis auf die Landstraße jagen, wie es erst vor einem halben Jahr den Kollegen eines spanischen Fernsehsenders ergangen war. Vielleicht aber auch nicht. Immerhin war sie seine Enkelin. Vielleicht würde sich die sonst für Presse und Medien so hermetisch verschlossene Tür für sie öffnen. Sie würden einander kennenlernen. Und vielleicht würde er ihr irgendwann die Gelegenheit zu einem seiner wenigen handverlesenen Interviews geben.

Das war eine einmalige Chance. Aber …Was ist mit Oma? Sie wird wütend sein, traurig, vor allem aber enttäuscht.

Der Gedanke holte sie schlagartig auf den Boden der Tatsachen zurück. Harri Behncke war schließlich der Mann, der ihre schwangere Oma sitzen gelassen und sich nie wieder bei ihr gemeldet hatte. Ihn zu besuchen hieße, beinahe Verrat an ihrer eigenen Familie zu begehen. Andererseits …

Wieso fühlte sie sich zu Behnckes Werken so stark hingezogen? Sie sprachen mit ihr, berührten sie tief, erschütterten sie und schienen genau das auszudrücken, was sie fühlte, wozu ihr aber die Worte und künstlerischen Mittel fehlten, um sich selbst zu äußern. Wie oft hatte sie vor einer Behncke-Skulptur gestanden und gedacht: Ja, wenn ich Künstlerin wäre, ich würde es genau so darstellen. Und wie oft hatte sie den Eindruck gehabt, dieses Bild oder jene Installation hätte er eigens für sie geschaffen? Woher kam diese tiefe Verbindung? War es Zufall? Die intensive Beschäftigung mit denselben Themen? Ein ähnlich strukturierter Geist? Oder waren es einfach die Gene?

Simone schloss die Augen. Sie zitterte beinahe vor Aufregung.Ich muss es herausfinden. Ich muss ihn kennenlernen und herausfinden … Es tut mir leid, Oma, ich kann keine Rücksicht auf dich nehmen. Dieses Mal nicht.

Die Zeit lief ihr davon. Wenn sie jetzt nicht versuchte, Kontakt mit Harri Behncke aufzunehmen, würde sie ihn nie kennenlernen. Der Mann war bereits über neunzig und hatte nie das Leben eines Asketen geführt. Eine schwere Krankheit, Demenz, ein plötzlicher Tod – in dem Alter war damit beinahe täglich zu rechnen. Deshalb musste sie in die Bretagne. In diesem Sommer.

Und falls sie ihn doch nicht fand, zu spät kam oder er sich schlicht weigerte, sie zu sehen – unterm Strich blieb immer noch ein Urlaub an der Atlantikküste in der Gegend von Carnac mitten zwischen schroffen Felsen, Menhiren, Sand und Sonne. Welches Risiko ging sie also ein, einfach mal zu schauen, ob es dort noch ein freies Feriendomizil, Flug- oder Bahntickets und einen Leihwagen gab?

Die Antwort war simpel: keins.

Und wer nicht wagt, hat nicht einmal die Chance zu gewinnen.

 

An diesem Abend kam Simone noch später als gewöhnlich nach Hause – das Magazin sollte schließlich bis morgen druckfertig sein. Trotzdem war sie deutlich weniger müde und erschöpft als an anderen Montagen vor Redaktionsschluss. Die Idee eines Urlaubs in der Bretagne elektrisierte sie. Sie schob Tiefkühlpizza in den Ofen und freute sich darauf, nach dem Essen nach Reisemöglichkeiten und Unterkünften zu suchen. Charlotte erzählte sie noch nichts davon. Es war ja ein recht kurzfristiger Entschluss, und sie wollte ihrer Tochter keine falschen Hoffnungen machen, falls schon alles ausgebucht war. Im anderen Fall würde es morgen beim Frühstück eine schöne Überraschung sein.

Tatsächlich war die Suche nicht einfach. Simone klickte sich durch alle Ferienportale, suchte nach Hotels, Pensionen, Ferienwohnungen und -häusern, sogar nach Pauschal- und Busreisen. Es war zum Verrücktwerden. Die ganze Welt schien ausgerechnet in diesem Sommer ihren Urlaub in der Bretagne zu verbringen. Sie wollte bereits aufgeben, als sie ganz am Ende der Seite einer Ferienhausplattform doch noch fündig wurde. Es war ein kleines Dreizimmerhaus, geradezu winzig. In der Anzeige stand etwas von vierzig Quadratmetern, die sich auf zwei Ebenen verteilten. Die steile Treppe wurde explizit erwähnt. Außerdem gab es nur ein Foto, das eine blühende Hortensie neben einem ziemlich klapprig aussehenden Gartentor zeigte. Das war alles, Bewertungen anderer Urlauber waren nicht vorhanden. Aber das Haus lag in unmittelbarer Nähe von Carnac. Laut Liste hatte es ein Duschbad, einen Kühlschrank und einen Herd mit Backofen, WLAN und einen Stellplatz für das Auto. Den Hinweis, dass der Strand fünfzig Meter weit entfernt war, hielt Simone für einen Druckfehler. Der Preis war zwar kein Schnäppchen, hielt sich aber im Rahmen. Doch letztlich war alles egal, denn es war das einzige Haus, das noch frei war.

Bestimmt nicht ohne Grund!

Das war diese Unkenstimme, die sie immer wieder fatal an ihre Mutter erinnerte, die grundsätzlich ihren Teller im Restaurant so lange absuchte, bis sie endlich das Haar in ihrer Suppe gefunden hatte.

Ach, was soll’s. Es wird schon nicht reinregnen. Und gegen Bettwanzen …Unwillkürlich musste Simone schlucken. Sie war wirklich nicht sehr anspruchsvoll und auch bereit, auf wackeligen Stühlen zu sitzen und von abgestoßenen Tellern zu essen, aber Sauberkeit musste schon sein! Und wenn … wenn es tatsächlich schlimm sein sollte, schlafen Charlotte und ich eben kurzfristig im Wagen und suchen uns etwas anderes direkt vor Ort. Wenn wir erst dort sind, wird sich schon irgendwo ein Fremdenzimmer auftreiben lassen.

Mit einem beherzten Klick schickte sie ihre Buchung ab, bevor sich ihre Fantasie noch mit Bildern von schimmligen Wänden, an denen Kakerlaken herumkrochen, und Geschirr, auf dem noch die Essensreste der Vormieter klebten, länger beschäftigen konnte. Den Flug von Hamburg aus zu buchen, erwies sich dagegen als Kinderspiel. Und wenn sie nun am 28. Juni in Nantes ankamen, würde dort am Flughafen sogar ein Mietwagen auf sie warten. Wenn alles gut geht. Du kennst die Tücken des Internets.

Sie fühlte, wie Enthusiasmus und Vorfreude sich wieder davonstahlen und einer Unruhe Platz machten, die sie nur zu gut kannte. Dieses Gefühl, etwas Falsches gegessen zu haben, stellte sich jedes Mal ein, wenn sie nicht alles im Voraus planen und überschauen konnte.

Denn manchmal wollte das Leben einen einfach nur ärgern.

Teil 2
Studien
4

Manchmal sind ferne Orte doch erstaunlich nah, dachte Simone, als sie auf der Autobahn hinter Nantes das Hinweisschild las – es waren nur noch dreißig Kilometer bis Carnac. Um zehn Uhr morgens waren sie in Hamburg bei wolkenverhangenem Himmel losgeflogen. Und jetzt, vier Stunden später, befanden sie sich bereits auf der Autobahn Richtung bretonischer Küste. Der Himmel über ihnen war blau, und durch die geöffneten Autofenster wehte der Atlantikwind den Geruch von Salz und Sommer herein.

Charlotte saß auf dem Beifahrersitz, schaute aus dem Fenster und strahlte dabei über das ganze Gesicht. Egal, wie das Ferienhaus aussehen würde, egal, ob sie Harri Behncke finden und einen Kontakt herstellen konnte – die Entscheidung, hierherzukommen, war gut und richtig. Und sollte sie in den kommenden drei Wochen Zweifel daran haben, würde sie an diesen Moment und die glänzenden Augen ihrer Tochter denken.

Im Büro der Ferienvermietung erhielt Simone den Schlüssel für das Haus und eine detaillierte Anfahrtsskizze.

»Es sind höchstens zehn Minuten von hier«, sagte die Frau hinter dem Tresen, die zwar freundlich war, aber dennoch keinen Zweifel daran aufkommen ließ, dass sie unter Zeitdruck stand.

Dass die Fahrt zum Haus dann deutlich länger dauerte, lag weder an der Skizze noch an Simones Fahrkünsten. Dreimal fuhr sie an dem kleinen Steinhaus mit den blauen Fensterläden vorbei, bis sie sich endlich traute, davor zu halten. Sie schaltete den Motor aus und schnallte sich ab.

»Soll ich schon meinen Rucksack mitnehmen?« Charlotte war bereits ausgestiegen.

»Nein, lass mal. Wir müssen erst gucken, ob wir hier auch an der richtigen Adresse sind.«

Simone schlug die Autotür zu und schaute das Häuschen ungläubig an. Es war ein altes, aus Feldsteinen errichtetes Haus mit Schieferschindeln auf dem Dach und hohen hellblauen Fensterläden. Schon an der Gartenpforte konnte sie den Atlantik hören, der nicht weit von hier seine Wellen gegen die Küste schlug. Die Luft roch nach Salz und Heckenrosen. Über ihr ließen sich ein paar Möwen vom Wind tragen und schrien ihm und allen, die es hören wollten, ihre Lebensfreude entgegen.

Kies knirschte unter ihren Sandalen, als Simone zögernd auf die Haustür zuging. Im gleichen Blauton gestrichen wie die Fensterläden, entpuppte sie sich als alte, zweigeteilte Tür, wie man sie auch in Norddeutschland unter dem Begriff Klöntür kennt.

Das muss ein Irrtum sein. Das konnte nicht ihr Ferienhaus sein. Wieso um alles in der Welt sollte man von so einem Haus keine Bilder ins Internet stellen? Vielleicht wohnten hier die Vermieter. Oder es war doch die falsche Adresse. Während sie klopfte und wartete, drehte Charlotte sich langsam um ihre eigene Achse, als wollte sie sich jede Einzelheit genau einprägen.

»Worauf wartest du denn, Mama? Warum gehst du nicht rein? Du hast doch den Schlüssel, oder?«

Weil ich nicht glauben kann, dass das wirklich unser Häuschen ist, dachte Simone. Und weil ich mir die Enttäuschung ersparen will.

Im Inneren des Hauses blieb es still, keine Stimmen, keine Schritte, kein Geschirrklappern. Simone zählte zuerst bis zehn, dann bis zwanzig. Endlich steckte sie den Schlüssel ins Schloss. Gegen jede Erwartung ließ er sich problemlos drehen. Mit einem Klicken sprang das Schloss auf. Sie öffnete die Tür und war einen Augenblick sprachlos.

»Wow! Wie toll ist das denn!«

Charlotte streifte sich die Schuhe von den Füßen und lief in den offenen Raum, der so behaglich wirkte, als würde ein lachender Mensch sie mit ausgebreiteten Armen empfangen. Und dann diese Farben! Unterschiedliche Blautöne in Kombination mit hellem Holz und dem Grau der Feldsteine, dazu einige wenige gelbe Farbakzente. Und Weiß. Viel Weiß. Ein strahlendes, leuchtendes, frisches und sonniges Weiß. Die Farben weckten Assoziationen mit Sommer, Ferien, mit Meer, Sand und Muscheln, Erholung und Rotwein, Obst und Käse, knusprigem Baguette und Abenden auf der Terrasse bei Kerzenschein und dem Zirpen von Grillen.

Langsam, weil sie immer noch nicht ihren Augen trauen wollte, folgte Simone ihrer Tochter. Die frisch abgeschliffenen Dielen ächzten leise unter ihrem Gewicht, und in ihrer Fantasie erzählten sie dabei Geschichten von Generationen von Fischern, die über diesen Boden gegangen waren – in grob gestrickten Socken, die klobigen Fischerstiefel an der Tür stehen lassend, weil ihre Frauen den Boden gerade mit Sand und Wasser gescheuert hatten.

Die Holzbalken an der Decke waren hellblau gestrichen, einige Wände waren weiß verputzt, andere waren naturbelassen, sodass man die Feldsteine sehen konnte, aus denen das Haus erbaut war. In der als Wohnzimmer dienenden Ecke des Raumes vor dem offenen Kamin befand sich eine aus weiß getünchten Ziegeln gemauerte Sitzecke, die mit dicken Polstern ausgestattet war. Um einen antiken Esstisch aus hellem Holz waren vier schöne, schlichte Stühle gruppiert. Die Küchenzeile war wie die Sitzecke aus Ziegeln gebaut und in den Platz unter der schmalen weißen Treppe eingepasst, die steil nach oben führte. Gerührt las Simone die kleine Karte, die an einem prall gefüllten Begrüßungskorb lehnte, der mitten auf dem Esstisch stand.

»Bienvenue Familie Hansen – herzlich willkommen.«

Über ihr klappten Türen, und Charlottes Schritte polterten auf den Dielen.

»Mama, komm hoch! Das musst du dir ansehen!«

Dann ist der Haken also dort oben, dachte Simone und stieg mit gemischten Gefühlen die Treppe hoch.

Doch im ersten Stockwerk fand sie nur das Duschbad und zwei kleine schlicht eingerichtete Schlafzimmer. Bett, Nachtschrank, ein Schrank in dem einen, eine Kleidertruhe in dem anderen Zimmer. Das war alles. Doch allein die frischen Farben – Blau, Weiß, hier und da ein Hauch von Gelb – vermittelten sofort Urlaubsstimmung. Und dann gab es noch diesen unvergleichlichen Blick aus dem Fenster.

Es war kein Druckfehler, schoss es Simone durch den Kopf. Lediglich von einer Wildrosenhecke getrennt, begann gleich hinter dem Grundstück der Strand. Es gab sogar eine Pforte, sodass man nicht einmal den Umweg über die Straße nehmen musste, sondern gleich vom Rasen aus ans Meer gehen konnte. Keine hundert Meter dahinter lag der Atlantik – eine glitzernde, von weißer Gischt gekrönte Wasserfläche. In dieser Sekunde wusste Simone, dass sie dieses Haus liebte, ganz egal, ob das Dach undicht war oder sie das Wasser zum Kochen und Waschen täglich mit einer Handpumpe vom anderen Ende der Straße holen musste.

Hier bleibe ich.

Sie legte Charlotte den Arm um die Schultern und zog sie an sich.

»Ist das nicht schön hier?«

Charlotte nickte begeistert. »Wollen wir gleich an den Strand?«

»Was hältst du davon, wenn wir jetzt erst mal auspacken und etwas essen? Ich habe jedenfalls Hunger.«

»Ich eigentlich auch. Okay, dann machen wir das so.«

Und schon war Charlotte verschwunden. Simone sah ihrer Tochter nach, die leichtfüßig die steile Treppe hinuntersprang, als hätte sie in ihrem Leben nie woanders gewohnt. Sie selbst stieg die schmalen Stufen mit deutlich mehr Respekt hinunter und inspizierte den Begrüßungskorb auf dem Esstisch. Sie hatte zwar für den ersten Nachmittag und Abend eine Packung Nudeln und ein Glas Pesto eingepackt für den Fall, dass sie in diesem kleinen Dorf weder ein Restaurant finden noch am Sonntag einkaufen konnte, aber diese Sorge hatte sich jetzt erledigt. Der Korb war so gefüllt, als hätten die Vermieter sie nicht nur erwartet, sondern als würden sie sie auch kennen – frisches Baguette, ein Säckchen Salz aus der Gegend, drei verschiedene Käsesorten, ein Stück Schinken, Butter, Aprikosen, ein Glas Marmelade, Milch, je eine kleine Packung Kaffee und Tee, eine große Flasche Wasser und eine Flasche Cidre. Brauchte man mehr?

Das Leben ist nicht immer hinterhältig. Manchmal hält es auch sehr angenehme Überraschungen parat.

 

Das Auspacken ging schnell, auch wenn Simone darauf bestand, dass Charlotte ihren Koffer nicht einfach offen in einer Zimmerecke stehen ließ, sondern die T-Shirts, Badesachen und Hosen in die Truhe räumte.

Dann kümmerten sie sich gemeinsam um das Essen. Charlotte trug die Teller und zwei Gläser auf die kleine Terrasse hinaus.

»Mama!«

Simone erschrak, ließ das Messer fallen, mit dem sie gerade das Baguette geschnitten hatte, und eilte nach draußen. Sie wusste hinterher nicht, was sie erwartet hatte – aufgeschlagene Knie, einen tollwütigen Hund in der Gartenecke oder ein gestrandetes Meerestier vor der Pforte. Aber bestimmt nicht das, was Charlotte ihr zeigte.

»Schau mal!« Charlotte deutete mit zitterndem Finger in einen Winkel des Grundstücks. Ihre Stimme war nur ein Flüstern.

In einem von der Straßenseite nicht einsehbaren Winkel des Gartens, direkt hinter der angebauten Garage, standen zwei aufrechte Felsen, über denen quer eine Felsplatte lag. Das Gebilde war so groß, dass Kinder im Grundschulalter darunter ohne Weiteres hätten sitzen können.

»Ja, aber … das gibt’s doch nicht!« Simone blinzelte ungläubig, dann klatschte sie in die Hände. »Wie viel Glück kann man denn haben? Das Haus ist schon ein Traum. Und jetzt haben wir auch noch unseren eigenen Dolmen im Garten!«

»Was glaubst du, wie alt der ist, Mama?«

»Keine Ahnung. Fünftausend Jahre? Zehntausend? Da müsste ich im Internet nachschauen. Hier in der Gegend gibt es ja viele Menhire und Dolmen, ganze Felder. Dafür ist die Gegend von Carnac berühmt. Aber direkt neben der Terrasse hätte ich nicht damit gerechnet.«

Eine Weile standen sie nebeneinander und staunten.

»Der ist so schön! Meinst du, ich darf ihn anfassen?«

Simone lachte. »Ich glaube nicht, dass du dem alten Gestein in irgendeiner Weise etwas anhaben kannst.«

»Wow.« Charlotte tastete langsam mit beiden Händen über den Stein. Ein bisschen sah es aus, als würde sie ihn streicheln. »Das ist wirklich unglaublich. Das glaubt mir niemand in der Klasse.«

Simone trat neben sie und berührte das große Monument. Die Sonne hatte die Oberfläche des grauen Gesteins gewärmt, und doch spürte sie die wohltuende Kühle darunter. Und die Stärke, die Beständigkeit.

Im Vergleich zu diesem Dolmen, der seit vielen Tausend Jahren hier stand, errichtet aus einem Gestein, das etliche Millionen Jahre alt war, war die Dauer ihres eigenen Lebens nicht einmal ein Wimpernschlag. Und doch war auch dieser Dolmen nicht für die Ewigkeit bestimmt. Moos hatte sich in Spalten und kleinen Unebenheiten angesiedelt. Die winzigen Wurzeln würden die Risse im Stein vergrößern, wie sie es bereits seit Tausenden von Jahren taten. Und im Laufe zahlloser Jahreszeiten würden sie kleine Teile aus dem Stein sprengen. Regen, Wind und Sand, der Wechsel von Hitze und Kälte würden ihren Teil beitragen und den Stein schleifen, ihn Stück für Stück zerkleinern, ab- und davontragen. Es würde Tausende von Jahren dauern, vielleicht sogar Zehntausende – womöglich war die Existenz der Menschheit dann bereits Geschichte und vergessen –, doch der Prozess würde weitergehen, bis von dem Dolmen nur noch Sandkörner übrig waren. Dieses Monument, das jetzt so stark und unverwüstlich aussah, würde vergehen. Das war sicher. Und irgendwo würde Neues aus seinem Material entstehen. So wie es mit allen Lebewesen ging, mit Landschaften, aber auch Planeten und ganzen Universen. Nichts blieb. Das einzig wirklich Beständige war die Veränderung. Eine Erkenntnis, die gelegentlich deprimieren oder sogar erschrecken konnte. Manchmal aber, und so war es heute, erfüllten diese Gedanken Simone mit nichts als übergroßem Staunen.

 

Simone saß eingehüllt in eine Decke auf der Terrasse, schenkte sich noch das letzte Glas Cidre ein und lehnte sich in die Polster des Terrassenstuhls zurück. Weit draußen auf dem Atlantik waren die Lichter eines Frachters oder Trawlers zu sehen, am Horizont schimmerte noch ein schmaler Streifen Tageslicht.

Der Abend war lang und gefüllt mit Gesprächen und Lachen und einem atemberaubenden Sonnenuntergang. Es war bereits nach elf Uhr, als Charlotte endlich in ihrer kleinen Kammer im Bett lag – mit einem breiten, zufriedenen Lächeln auf dem Gesicht. Bei ihrer ersten Stranderkundung am Nachmittag hatten sie herausgefunden, dass nicht weit von ihrem Ferienhaus entfernt eine Surfschule ihr Büro hatte. Charlotte, die ihr schon lange in den Ohren lag, weil sie unbedingt surfen lernen wollte, war natürlich völlig aus dem Häuschen. Dass zu der Surfschule auch ein sehr sympathisches Mädchen in Charlottes Alter gehörte, war die Krönung dieses erstaunlichen, wundergefüllten Tages. Mit ein paar Brocken Englisch, Französisch und Deutsch, vielen Gesten und noch mehr Gelächter hatten sich die beiden auf ein Treffen am nächsten Nachmittag verständigt. Einen besseren Start in den Urlaub konnte Simone sich für ihre lebhafte, aktive Tochter kaum wünschen. Und sie brauchte sich keine Sorgen zu machen, dass Charlotte sich langweilte, während sie selbst nach ihrem Großvater forschte.

Fledermäuse flatterten über ihrem Kopf. Die frische Brise zauste gelegentlich die Hecke und brachte den schweren Abendduft wilder Rosen zu ihr. Der Atlantik rauschte, an diesem Abend ein sanfter Riese auf Zehenspitzen.

Wie sollte sie vorgehen, um Harri Behncke zu finden? Sollte sie einfach in der Bäckerei fragen? Auf der Straße Leute ansprechen? Sie gehörte nicht zu den Journalisten, die mit fast schon krankhafter Neugierde Spaß daran hatten, Prominenten aufzulauern und Nachbarn über sie auszufragen. Dieser Teil ihres Plans war ihr jetzt schon unangenehm. Und wenn sie es auf sich beruhen ließ? Wenn sie einfach die drei Wochen mit Charlotte genoss – auf der Terrasse und am Strand saß, schwimmen ging, mit ihrer Tochter die Gegend erkundete, las und sich bei gutem Essen, Cidre und Wein erholte? Was sprach dagegen, einen Urlaub zu verbringen wie viele andere Familien?

Du willst doch den Job, du willst doch Johannes’ Nachfolgerin werden, ermahnte sie sich selbst. Das fällt dir nicht in den Schoß. Und jetzt, wo du dich schon mit Oma verkracht und Mama verärgert hast …

Beim Gedanken an die Tage vor ihrer Abreise wurde ihr ganz flau. Sie hatte Oma Luise in ihrer neuen kleinen Wohnung besucht, um sie um das Fotoalbum zu bitten. Und natürlich hatte sie ihr auch gesagt, wofür sie es brauchte – um es Harri Behncke als Beweis zu zeigen. Das Gesicht ihrer Oma würde sie wohl nie vergessen. »Tu, was du nicht lassen kannst, hindern kann und werde ich dich nicht. Aber verschone mich mit diesem Mann.« Seitdem war Oma Luise nicht ans Telefon gegangen, wenn sie angerufen hatte. Sie wollte nicht mit ihr reden, hatte ihr ihre Mutter erklärt. »Und weißt du was? Ich verstehe sie, während ich keine Ahnung habe, was in deinem Kopf vorgeht.«

Sie hatte die Menschen vor den Kopf gestoßen, die ihr abgesehen von Charlotte am wichtigsten waren. Also musste sie dafür sorgen, dass sich der Einsatz wenigstens auch lohnte.Also tu etwas dafür.

Richtig. Wenn man etwas erreichen wollte, gab es zwei Möglichkeiten. Im Zimmer hocken bleiben und auf einen glücklichen Zufall oder ein Wunder warten. Oder man krempelte die Ärmel hoch, arbeitete daran, das gesteckte Ziel zu erreichen, und hoffte dabei auf das Quäntchen Glück, ohne das ein wirklicher Erfolg unmöglich war.

In ihrer Familie war es nicht üblich, sich auf Glück und Zufälle zu verlassen. Immer schon hatten die Frauen der Familie Hansen ihr Leben in die Hand genommen und sich um die Erfüllung ihrer Träume bemüht. Und so würde sie es auch handhaben. Vor Charlottes erster Surfstunde wollte sie ins Dorf gehen und einkaufen. Und bei der Gelegenheit würde sie nach Harri Behncke fragen. Vielleicht bekam sie ja sogar eine Antwort.

5

Simone wachte früh auf. Es war Viertel vor sechs, ihre gewohnte Zeit, zu der sie zu Hause immer aufstand. Sie drehte sich auf die Seite und schloss die Augen. Wer steht schon in den Ferien freiwillig so früh auf?

Doch da waren das Geräusch der Wellen, die Schreie der Möwen und das Licht, das durch den Spalt zwischen den beiden Vorhängen fiel – ein goldenes Sommer-Sonne-Strand-Licht –, und um sieben hielt es sie nicht mehr in ihrem Bett.

Leise stieg sie die Treppe hinunter und ging auf die Terrasse. Über ihr wölbte sich ein zartblauer Himmel. Die Luft duftete nach Salz und frischem Grün, und der Morgenwind spielte mit ihren Locken.

Wann öffnet wohl der Bäcker in La Plage?

Ihr Smartphone kannte die Antwort – sechs Uhr. Simone schrieb einen Zettel für Charlotte und legte ihn gut sichtbar auf den Esstisch, dann zog sie sich rasch an und machte sich auf den Weg, um Brot und Croissants für das Frühstück zu kaufen.

Außer einigen Einheimischen – meist Frauen mit Einkaufstaschen und Kinder mit Ranzen und Schulrucksäcken auf den Rücken – war niemand unterwegs. Eine Straßenkehrmaschine fuhr an ihr vorbei und hinterließ eine feucht glänzende Straße.

Am Ortsschild von La Plage du Menhirs blieb Simone kurz stehen und atmete tief ein. Groß war der Ort nicht, eine Haupt- und ein paar Querstraßen, eine Kirche, ein paar Geschäfte. Das war alles. Die Bäckerei zu finden würde einfach sein – über dem Dorf lag der verführerische Duft von frischem Brot und Gebäck.

Eigentlich bist du völlig bescheuert. Du hast Ferien und stehst auf, als ob Charlotte in die Schule und du in die Redaktion müsstest. Aber … andererseits … hättest du sonst gewusst, dass um diese Zeit das ganze Dorf nach Brot riecht? Niemals. Und sie war sich sicher, dass sie diese Information auch nicht im Internet oder in einem Reiseführer finden würde. Vielleicht konnte man so etwas in einem Roman lesen. Besser war es allerdings, es selbst zu erleben.

Es war nicht schwer zu erkennen, dass die meisten der Frauen mit ihren Einkaufstaschen in dieselbe Richtung gingen wie sie selbst – eine Pilgerschar der Hungrigen.

Und dann sah sie es auch schon. Boulangerie Labrosse stand in goldenen, geschwungenen Lettern über einem schmalen Geschäft. Das dunkle Holz von Tür und Rahmen glänzte, weil es vermutlich seit Generationen von Bäckern regelmäßig poliert wurde. Die Tür des schmalen Ladens öffnete sich, eine Frau kam heraus und zwei andere gingen hinein.

Simone hatte das Geschäft erreicht. Bereits durch die Ritzen der Tür drang der verführerische Duft von frischem Backwerk zu ihr nach draußen, und augenblicklich bekam sie Hunger. Sie zog an dem geschwungenen Messingknauf, und die Tür öffnete sich zum Klang einer Glocke. Dann trat sie ein in die Wärme und den Wohlgeruch einer traditionellen Bäckerei, reihte sich in die Schlange der Hausfrauen, Schüler und Männer in Arbeitsoveralls und schaute sich die Auslagen hinter der sauber geputzten Scheibe des Verkaufstresens an. Und während sie überlegte, ob sie zu Baguette und Croissants auch noch etwas Süßes für den Nachmittag mitnehmen sollte, versuchte sie den Gesprächen im Laden zu folgen. Das Französisch der Leute hier hatte einen kräftigen bretonischen Einschlag mit starkem Akzent, und viele Wörter kannte Simone gar nicht. Am schlimmsten war es, wenn ein alter Mann sich zu Wort meldete, der in einem abgetragenen grauen Anzug in der Ecke des kleinen Verkaufsraumes auf einem Barhocker saß, eine zusammengefaltete Tageszeitung, einen leeren Teller und einen Kaffee vor sich. Wenn er den Mund aufmachte, verstand Simone gar nichts, und sie hatte den Eindruck, in einem Land gestrandet zu sein, von dessen Sprache sie noch nie gehört hatte.

Das Gespräch widmete sich zuerst der Weltpolitik und dem bevorstehenden Gipfel der G7 in Biarritz. Man war sich einig, dass das Los der Obrigkeit in Paris auch auf einen deutlich näheren Ort oder – Gott bewahre! – tatsächlich auf die Bretagne hätte fallen können, doch der Kelch war an ihnen allen vorübergegangen. Und dann drehten sich die Gespräche um Dorfgeschichten. Als der Name Harri fiel, spitzte Simone die Ohren. Sie verstand nur so viel, dass die junge Frau vor ihr in der Schlange offenbar beim hiesigen Arzt als Sprechstundenhilfe arbeitete. Und dass sich die Dorfbewohner um Monsieur Harri sorgten. Warum, das fand Simone nicht heraus. Aber es machte sie unruhig. Ihr Großvater war dreiundneunzig, das war ein stattliches Alter. War sie etwa zu spät gekommen?

Ein Kunde nach dem anderen verließ die Bäckerei. Der alte Herr nahm seinen ausgeblichenen Strohhut, grüßte und ging mit seiner Zeitung und einem Baguette unter dem Arm seiner Wege. Schließlich war Simone allein mit der Frau hinter dem Tresen.

»Madame?« Mit zur Seite geneigtem Kopf und einem Lächeln, das zwar freundlich, aber doch auch etwas müde und angestrengt wirkte, wartete die Frau auf ihre Bestellung.

»Ein Baguette, bitte.« Es dauerte nicht einmal fünf Sekunden, und eine Stange knusprig frisches Brot lag in einer langen, schmalen Gebäcktüte auf der Glasablage des Tresens.

»Darf es noch etwas sein?«

»Vier Croissants, bitte. Und ein Pain au Chocolat.« Die Tüte war ebenso schnell gepackt.

»Sonst noch?«

»Danke, das ist alles.«

»Das macht dann vier Euro fünfundzwanzig.«

Sie kramte aus ihrem Portemonnaie die Münzen hervor und legte sie auf die Glasschale.

»Merci, Madame.«

Sie nahm das Baguette und die Tüte mit den Croissants vom Tresen. Die frische Brotkruste knisterte leise in ihren Händen, durch das Pergamentpapier breitete sich Wärme aus.

»Madame, erlauben Sie mir bitte eine Frage.«

»Ja?«

»Ich komme aus Deutschland und mache mit meiner Tochter Urlaub hier im Ort. Ich …« Und dann beschloss sie, einfach offen und ehrlich zu fragen. »Mein Großvater lebt hier in La Plage du Menhirs. Oder in der Nähe, so genau weiß ich das nicht. Können Sie mir bitte sagen, wo ich ihn finden kann? Sein Name ist Harri Behncke.«

Die Augen der Frau wurden schmal. Sie verschränkte ihre Arme vor der Brust.

»Wenn Harri Behncke Ihr Großvater ist, wieso wissen Sie dann nicht selbst, wo er wohnt?«