Das Auge der Wüste - Richard Schwartz - E-Book

Das Auge der Wüste E-Book

Richard Schwartz

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Beschreibung

Auf der Suche nach Verbündeten im Kampf gegen den zerstörerischen Thalak hat es den Krieger Havald, die Halbelfe Leandra und ihre Gefährten in den Wüstenstaat Bessarein verschlagen. In der sengenden Hitze des exotischen Landes müssen sie zunächst Havalds Geliebte Leandra aus den Fängen skrupelloser Sklavenhändler befreien – und geraten dabei mitten in die Wirren des Thronfolgestreits, der die Hauptstadt Gasalabad erschüttert. Eine entscheidende Rolle spielt dabei ein magisches Artefakt – das Auge von Gasalabad. Wird es den Gefährten gelingen, endlich den Weg ins Reich Askir zu finden?

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Für Melanie

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

2. Auflage 2011

ISBN 978-3-492-95454-9

© Piper Verlag GmbH 2007 Umschlagkonzept: semper smile, München Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München Umschlagabbildung: Uwe Jarling

Datenkonvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

Was bisher geschah

Nach den Ereignissen im Gasthof Zum Hammerkopf brechen Havald und seine Gefährten zur Reise in das sagenumwobene Reich Askir auf, wo sie Hilfe gegen das grausame Imperium von Thalak erbitten wollen. Der schreckliche Kriegsherr überzieht die Neuen Reiche mit Tod und Verderben. In der Donnerfeste finden die Abenteurer ein magisches Tor, das sie ins Wüstenreich Bessarein befördert, einst Teil des Reiches von Askir, nun jedoch ein autonomes Land. Obwohl die Zeit drängt und sie schnellstmöglich weiter in die alte Reichsstadt Askir müssen, stoßen sie in Bessarein immer wieder auf Schwierigkeiten. Der Krieger Havald, seine Geliebte Leandra, die Dunkelelfe Zokora und die anderen Reisenden werden Zeugen eines Menschenraubs in der Wüste und geraten in der Folge zwischen die Fronten des Thronfolgekampfs in der Hauptstadt Gasalabad. Schließlich nehmen Sklavenhändler sie gefangen, und die Gruppe wird auseinandergerissen. Während Havald und sein neugewonnener Diener, der redselige Armin, fliehen können und in Gasalabad die meisten ihrer Gefährten wiedertreffen, bleibt Havalds Geliebte Leandra verschollen. Damit nicht genug, es erweist sich, dass die Feinde, welche die Neuen Reiche bedrohen, ihnen bis nach Bessarein gefolgt sind. Schlimmer noch: Anscheinend legt sich Thalaks Schatten nun auch über diese fernen Gegenden, um sie zu unterjochen …

1. Grund und Recht

Es hatte etwas Befreiendes, in vollem Galopp zu reiten. Ich hatte einmal anhalten müssen, um die Steigbügel des ungewohnten Sattels anders zu schnallen, aber dies war bislang das einzige Mal gewesen. Noch waren die Pferde frisch und hatten Lust aufs Rennen, und das Donnern der vierundzwanzig Hufe hatte seinen eigenen Reiz. Die Pferde mochten klein sein, aber bei den Göttern, was konnten sie laufen! Im Hammerkopf befand sich immer noch mein eigenes Pferd, ein schweres und massives Kriegspferd, und ein gutes Pferd, aber nie war es so gelaufen wie dieses hier. Felder, Bäume und Gehöfte, Wasserräder und Windmühlen rauschten an mir vorbei, immer wieder sahen Feldarbeiter oder Sklaven auf, als ich wie die Wilde Jagd vorbeipreschte. Eine Gruppe Reisender sprang voller Panik in den Graben, als ich heranritt, und ich versetzte einem Händler den Schreck seines Lebens, als ich an seinem schwer beladenen Ochsengespann wie ein Donnerhall vorbeiflog.

Diese Straße war kaum mehr als ein Weg, nicht zu vergleichen mit der imperialen Straße, auf der wir hergekommen waren, aber einige der Sklaven hatten mir eine Beschreibung der Gegend geben können, gut genug, um eine grobe Karte zu zeichnen. Dieser Weg stieß irgendwann auf die imperiale Straße, kaum eine Stunde zu Pferd vom Gasthof des verräterischen Fahrd entfernt. Es war auch für die Sklavenhändler, die sich kaum schneller als mit dem Tempo gefesselter Sklaven bewegen konnten, der beste Weg zu ihrem Lager am Fluss.

Tatsächlich fand ich die Reste ihres Lagers noch kurz vor Sonnenuntergang: zwei Käfigwagen, Zelte, Ketten und Seile, die Spuren eines Kampfes und Tote, achtlos liegen gelassen und zum Teil schon von Sand zugeweht. Auch hier, wo es etwas grüner war, gab es mehr als genügend Sand: Die Wüste versuchte sich auszubreiten.

Ich stieg ab, führte das zitternde und schäumende Pferd hin und her, während ich versuchte zu verstehen, was hier wohl vorgefallen war.

Die Tür eines Käfigwagens war zersplittert, in Dutzende, wenn nicht Hunderte kleine Teile. Ich entdeckte einen Satz Handfesseln, deren Kettenglieder geschmolzen waren. Zwei der Toten schienen unverletzt, bis ich die kleinen verkohlten Stellen in ihren Gewändern sah und darunter den schwarzen Punkt auf der Haut.

Leandra. Als ich sie kennengelernt hatte, konnte sie noch keinen Blitz zu erzeugen, aber vieles hatte sich seitdem geändert. Zumindest die zersplitterte Tür des einen Käfigwagens trug ihre unverwechselbare Handschrift.

Zwei der Leichen hatten ein gebrochenes Genick, ihre tote und zum Teil angefressene Haut wies immer noch den Abdruck großer Hände auf. Janos. Nach dem Ausbruch hatten sich meine Gefährten wohl schnell bewaffnet, denn die anderen Sklavenhändler waren an Schwertstreichen gestorben. Ein Teil von ihnen hatte wohl auch zu fliehen versucht: Ich fand ihre Leichen weiter weg, noch immer stand ihnen die Angst in den Augen.

Seitdem dies alles geschehen war, hatten andere das zerstörte Lager entdeckt und geplündert. Es war nichts mehr von Wert vorhanden.

Die Sklavenhändler waren nicht länger als zwei Tage tot. Doch die Aasfresser, darunter auch wieder Dutzende dieser Geier, hatten sich bereits an den Leichen gütlich getan, sodass diese Schätzung ungewiss war. Zokora hatte länger als Natalyia und Varosch in dem Betäubungsschlaf gelegen, in den die Sklavenhändler sie versetzt hatten. War also auch Leandra wegen ihres elfischen Blutes stärker davon betroffen gewesen? Janos und Sieglinde, besser: Serafine, mochten tapfere Kämpfer sein, doch erst die Magie der Maestra hatte ihnen den Ausbruch ermöglicht. Ich hoffte nur, dass Sieglinde und Leandra das Schicksal Natalyias erspart geblieben war. Sie war von den Kerlen vergewaltigt worden.

Verwertbare Spuren waren keine mehr zu finden, aber ich entdeckte an einer Stelle Pferdeäpfel, also hatten auch diese Sklavenhändler Pferde besessen. Leandra und die anderen waren nicht mehr zu Fuß unterwegs.

Ich sattelte auf das nächste Pferd um und ließ das andere frei.

Als die Sonne unterging, versuchte ich noch ab und zu meinen Hintern zu entlasten, indem ich in den Steigbügeln stand, aber irgendwann ging auch das nicht mehr. Nachdem ich das dritte Pferd gesattelt hatte, spürte ich meinen Hintern nicht mehr und war froh darum.

Schließlich färbte die Morgensonne den Himmel rot, und ich war in der Nähe der letzten Wegestation vor Gasalabad angekommen, dort wo uns Fahrd ein Henkersmahl bereitet hatte. Beinahe wäre ich in meiner Müdigkeit drauflosgeritten, doch ich besann mich rechtzeitig.

Ich näherte ich mich der unverhofften Szene vor der Wegestation nicht im Galopp, sondern im Schritt auf dem vierten Pferd und erregte so nicht sofort die Aufmerksamkeit derer, die vor dem Gasthof miteinander im Zwist lagen.

Zuerst erschien es mir wie eine Ausgeburt meines übermüdeten Geistes, als ich die rote Fahne mit dem goldenen Drachen über dem Wehrturm der Wegestation wehen sah. Als ich jedoch näher kam und einen Hügel erreichte, stellte ich fest, dass es sich keineswegs um einen Traum handelte.

Das Imperium, oder zumindest ein Teil davon, war zu dieser alten Garnison zurückgekehrt. Vor den weit geöffneten Toren der Wegestation sah ich eine Gruppe Bullen stehen, die tiefgrauen schweren Plattenrüstungen waren selbst auf die Entfernung unverwechselbar. Noch war es kühl, die Sonne noch nicht aufgegangen, aber ich fragte mich, wie sie es in der Mittagshitze in diesen Rüstungen aushalten sollten.

Durch die offenen Tore konnte ich in die Station hineinsehen; schwere Ochsengespanne standen im Hof und wurden entladen. Vor dem Gasthof wuchs ein Haufen mit Möbelstücken und anderer Inneinrichtung empor, die nicht mehr die Gnade der neuen Bewohner fand. Diese pflegten einen robusteren Stil.

Eine größere Gruppe, darunter auch eine Person mit einem roten Offiziersumhang über dem gepanzerten Rücken, stand am Richthügel, wo noch immer die Leichen von Fahrd und dem zweiten Mann hingen.

Diese andere Gruppe war genauso leicht zuzuordnen wie die dunkelgrauen Rüstungen der Imperialen. Die Männer waren beritten, und ihre leichten Schuppenrüstungen glänzten rötlich im frühen Licht. Ich hatte sie noch nie gesehen, aber die grüne Flagge Gasalabads wehte an einer der Lanzen, die die Reiter in Händen hielten. Ohne Zweifel war es leichte Kavallerie unter der Flagge Gasalabads und Bessareins.

Es waren vielleicht dreißig von ihnen, und unter anderen Umständen bildeten sie sicherlich eine schlagkräftige Einheit. Aber schon aus dieser Entfernung sah ich, dass die Kavalleristen nervös waren und diese Unruhe auf die Pferde übertrugen. Sie tänzelten verwirrt.

Ich ritt langsam näher, und je weiter ich herankam, desto weniger gefiel mir diese Truppe aus der Stadt. Jeder Einzelne ritt einen Schimmel mit versilbertem Geschirr, die Rüstungen der Reiter waren, genau wie ihre spitzen Helme, blank poliert, und die meisten der Pferde trugen eine Blume als Kopfschmuck. Paradesoldaten.

Bald war ich nahe genug, dass einige der Soldaten mir einen Blick zuwarfen, aber ich ritt nur weiter gemächlich auf sie zu, und so wurde ich nicht weiter beachtet.

Der Anführer der Bullen stand mit dem Rücken zu mir, aber den Hauptmann der Gardesoldaten sah ich nun besser. Er hatte ein schmales, kantiges Gesicht, trug einen gewachsten Bart, und noch bevor ich seine nasale Stimme vernahm, weckte seine arrogante Miene in mir den Wunsch, ihn vom Pferd zu schlagen. Es gab ab und an Leute, bei deren bloßem Anblick sich mir schon die Nackenhaare aufstellten. Wäre ich ein Hund, wäre mir wohl in diesem Moment ein Knurren entfahren.

»… betrachtet es der Emir als einen Affront, bewaffnete Schergen eines anderen Reiches in seinem Land marodieren zu sehen! Ihr werdet sofort abziehen und dieses Gemäuer räumen!«

»Herr Hauptmann«, erklang eine ruhige weibliche Stimme. »Es ist unangemessen, eine Lanze der imperialen Stadt mit Marodeuren zu vergleichen. Wir nehmen nur in Besitz, was uns gehört.«

»Wie könnt Ihr nur so sprechen, Frau! Dieses Gemäuer stand lange leer, bis es durch den Schweiß und die Arbeit eines Landsmanns wieder zum Leben erwachte. Und nun finde ich ihn schändlich ermordet, von dieser … Perversion eines Galgens baumelnd! Liefert mir seinen Mörder aus, und ich lasse Gnade walten.«

»Ob es sich um einen Mord handelt, Herr Hauptmann, ist zur Zeit ungeklärt. Die Anklagen, die wir gemäß dem alten imperialen Recht auf diesen Tafeln fanden, lassen darauf schließen, dass er hingerichtet wurde. Bis wir die Umstände überprüfen können, kann ich dazu nichts weiter sagen.«

Götter, ich bewunderte die Ruhe dieser Frau.

»Der Emir, in seiner Weisheit, wird diesen Fall wohl anders sehen! Dennoch, dieses Gemäuer stand leer, und ihr habt jedes Anrecht darauf verloren! Ich verlange, dass ihr es räumt.«

»Es tut mir leid, Herr Hauptmann, aber nach meinem Wissen wird der Besitzanspruch der imperialen Stadt auf ihre Liegenschaften, dem Rechtswesen der jeweiligen Nation entsprechend, regelmäßig erneuert. Wenn Ihr in den Archiven Eurer Registratur nachseht, werdet Ihr sicherlich herausfinden, dass Askir, wie nach dem Recht Bessareins gefordert, jedes zwanzigste Jahr den Anspruch erneuert hat. Ihr werdet auch alle Steuern bezahlt finden.«

»Woher willst du das denn wissen, du Schlange!«, schäumte der Hauptmann, und ich sah, dass sogar einige seiner Männer besorgt zu ihm blickten.

»Es steht in meinen Unterlagen. Wenn Ihr ohne Vorbereitung mit Eurer Truppe aufbrecht, ist das Euer Vorrecht. Die imperiale Stadt verfährt mit ihren Marschbefehlen allerdings sorgfältiger«, entgegnete ihm die Frau mit einer Ruhe, die den Mann noch mehr zu reizen schien.

»Wie könnt Ihr es wagen, hier zu stehen und so zu tun, als wäre es Euer Recht? Dies ist unser Land, und Ihr habt hier nichts zu suchen. Wenn ich herauskriege, wer Euch durch die Tore hat reiten lassen, wird er es büßen. Seit drei Monden ist es keinem imperialen Hund gestattet, Fuß auf den Boden der Stadt zu setzen, und das wisst Ihr genau!«

»Zwei Dinge gibt es dazu zu sagen, Hauptmann.« Die Stimme der Frau wurde nun doch kühler. »Der Vertrag von Askir regelt, dass die imperialen Straßen sowie fünfzig Schritt links und rechts derselben Grund und Boden des Imperiums sind. Dass Askir für dieses Land Steuern zahlt, ist eine Geste und als solche in dem Vertrag deklariert. Zum zweiten haben weder ich noch meine Leute hier jemals imperialen Grund verlassen und auch nur einen Fuß auf den Boden Gasalabads gesetzt. Ihr hingegen befindet Euch auf dem Hoheitsgebiet des Imperiums.«

»Das Imperium gibt es nicht mehr!«, rief der Hauptmann.

»Das ist nicht ganz richtig«, sagte die Frau. »Askannon entließ die Reiche in ihre eigene Verwaltung, aber sie sind immer noch nominell Bestandteil des Imperiums.«

»Nominell? Ihr redet wirr, Frau. Zieht Euch zurück, oder wir treiben Euch von unserem Land!« Er lockerte sein Schwert.

»Wenn Ihr diese Klinge zieht, Herr Hauptmann, riskiert Ihr einen Krieg.«

»Ihr droht mir, Weib? Bessarein ist das mächtigste der Reiche!«

»In Eurer Einbildung vielleicht. Oder in längst vergangenen Tagen. Aber selbst wenn Ihr recht hättet – verfügt es über fünf Legionen?« Ihr Ton wurde gefährlich sanft. »Wenn Ihr darauf besteht, hier zu streiten, werde ich Euch lebend oder tot vor die Füße Eures Herrschers werfen und ihn fragen, ob er einen Krieg wollte. Sagt er Ja, wird das Leben hier in Eurem Reich mehr als interessant werden.«

»Eine einzelne Stadt droht uns! Das ist lachhaft!«

»Ich drohe nicht. Ihr wart noch nicht in Askir, richtig? Die Stadt ist eines der Reiche und entsprechend groß und mächtig. Stellt Euch vor, die Zitadelle des ewigen Herrschers befände sich an der Stelle, an der in Gasalabad der Palast des Kalifen steht. Dann befänden wir uns hier immer noch innerhalb der Mauern der ewigen Stadt.«

Ich blinzelte. Das konnte nicht sein! Sie musste sich irren, denn es war mehr als ein voller Tag zu Pferde von hier zu den Toren Gasalabads. Keine Stadt der Weltenscheibe konnte eine solche Ausdehnung haben.

Unsicherheit lief über das arrogante Gesicht des Hauptmanns.

»Wisst Ihr, was ich an Eurer Stelle täte? Ich würde zurückreiten und nachfragen, was zu tun ist. Ihr sagtet, Ihr wurdet geschickt, die Früchte dieser Galgen zu untersuchen. Dies sei Euch gestattet, solange Ihr hier nichts berührt. Nach fast tausend Jahren Frieden zwischen unseren Reichen einen Krieg auszulösen stand sicherlich nicht in Euren Befehlen.«

Ich konnte seine Zähne knirschen hören. Aber schließlich nickte er und riss grob sein Pferd herum. »Zurück zur Stadt!«, rief er. »Ich werde mit einer Armee wiederkommen.« Und dann gab er seinem Pferd brutal die Sporen. Seine Leute versuchten ihm zu folgen, doch die Formation löste sich dabei fast vollständig auf.

»Die wird er dann auch brauchen«, sagte die Frau in einem eisigen Tonfall.

Als ob sie die ganze Zeit gewusst hätte, dass ich unweit von ihr auf meinem Pferd saß, drehte sie sich um und musterte mich aus kalten grauen Augen. »Und wer seid Ihr?«

Ich saß von meinem Pferd ab und legte mich beinahe in den Staub, als meine Beine unter mir nachgaben; ich konnte mich gerade noch am Sattel festhalten. Aber keiner der Soldaten lachte, sie sahen mich nur aufmerksam an.

Wieder erschien diese kleine Schrift auf ihrer linken Brust, unterhalb des Bullen, und ich konnte sie lesen. Dies war die Vierte Legion.

»Schwertmajor Kasale«, begann ich, »mein Name ist Havald. Meine Heimat ist Illian, ein Königreich, das dort liegt, wo einst die alten Kolonien gegründet wurden. Ich bin im Auftrag meiner Königin unterwegs nach Askir.«

Sie nahm ihren Helm ab und musterte mich sorgfältig. Ich hatte sie bis dahin für jünger gehalten, aber nun sah ich, dass sie gut vier Dutzend Jahre alt war. Ihr Haar war dunkelbraun, kurz geschnitten, es reichte ihr nur bis zum Nacken. Die feinen Falten in ihrem Gesicht standen ihr. Sie hatte eine gerade Nase, ein Kinn, das vielleicht ein wenig zu vorstehend war, und einen schmalen, dennoch weiblichen Mund. Ihre ganze Haltung drückte aus, dass sie schon mit ganz anderen Dingen fertig geworden war.

»Soso, seid Ihr das? Woher kennt Ihr meinen Namen?«

»Er steht auf Eurer Brustplatte geschrieben.«

In ihren grauen Augen sah ich Überraschung, dann nickte sie, als hätte sie gerade etwas verstanden. »Folgt mir.«

Sie wandte sich ab und ging vom Hügel in Richtung der Station. Ich wollte ihr folgen, doch mein linkes Bein war eingeschlafen und weigerte sich, die Last zu tragen. Wieder strauchelte ich.

Einer der Bullen trat an mich heran und bot mir wortlos seinen Arm. Ich zögerte nur kurz, dann nahm ich seine Hilfe an.

2. Von Greifen und Federn

Ich hatte den Eindruck, als wären die Bullen erst vor kurzem hier angekommen; die Spur der schweren Wagen, die durch das Tor führte, war noch frisch. Dennoch hatte sich die Station schon deutlich verändert, vor allem der Gastraum.

Fahrds Mobiliar war verschwunden, an seiner Stelle befanden sich lange Tische und Bänke, wie ich sie aus dem Hammerkopf kannte. Die Fässer hinter der Theke waren verschwunden. Durch die offene Tür zur Küche bemerkte ich eine Gruppe Soldaten, die, nur in ihr Unterzeug gekleidet, mit reichlich Lauge den Küchenraum schrubbten.

Ein Unteroffizier stand mit einem Schreibbrett vor der Stiege, ein anderer Soldat wies auf eine ausgetretene Stufe, was der Unteroffizier mit einem Stirnrunzeln sorgsam notierte.

Ohne dem geschäftigen Treiben Beachtung zu schenken, führte mich die Schwertmajorin zu dem Büro des Kommandanten, das auch hier wieder zwischen Wehrturm und Küche lag. Dieser Raum roch frisch gereinigt und war bereits vollständig neu eingerichtet.

»Setzt Euch, Havald«, sagte sie, als sie hinter dem Schreibtisch des Kommandanten Platz nahm. Hinter ihr an der Wand befand sich neben einer neuen Karte eine Flagge, die kleiner war als jene Legionsflagge, welche wir damals, vor unserem Aufbruch, aus dem Kommandantenbüro im Hammerkopf geborgen hatten. Die Flagge einer Hundertschaft der Vierten Legion. Ich musterte kurz die Karte an der Wand und fand sie enttäuschend, sie zeigte nicht mehr die ganze Weltenscheibe, sondern nur noch das Gebiet der sieben Königreiche.

»Darf ich Euch bitten, Euren linken Handschuh auszuziehen?«, sagte sie ruhig, aber bestimmt.

Hinter mir, allerdings außerhalb des Raums, standen zwei Bullen. Sie befanden sich in Ruhehaltung, und ich selbst war noch bewaffnet, dennoch war die Situation leicht bedrohlich.

»Nein«, sagte ich. »Ich sehe auch keinen Grund dazu. Es sei denn, ich wäre Euer Gefangener.«

Wie, bei allen Göttern, sollte ich ihr den Ring an meinem Finger erklären? Sie würde mich für einen Hochstapler halten.

Sie suchte Augenkontakt, und ich ging darauf ein. Eine ganze Weile hielt sie den Blick, dann schien es, als ob wir beide gleichzeitig zu dem Schluss kamen, dass der andere zumindest gleich stur war. Sie seufzte, trommelte kurz mit ihren Fingern auf den Schreibtisch und sah mich wieder an. »In Ordnung. Belassen wir es dabei. Ich weiß, was an Eurer Hand zu finden ist. Habt Ihr irgendetwas mit den Galgen da draußen zu tun? Wir haben hier ein paar junge Frauen vorgefunden, die uns einen bemerkenswerten Bericht abgaben.«

»Ja«, sagte ich.

»Ihr wart derjenige, der den Nekromanten getötet und diese beiden Männer hingerichtet hat?«

»Ja.«

»Und die anderen erschlagen hat, deren Köpfe wir auf den Lanzen fanden?«

»Ja.«

»Die Anklage auf den Richttafeln ist ebenfalls von Euch?«

Ich nickte.

»Entspricht sie auch der Wahrheit?« Ihre Augen musterten mich eindringlich.

»Ja.«

Sie lehnte sich zurück, zog die Plattenhandschuhe aus und warf sie achtlos auf die Oberfläche des Schreibtischs.

»Wollt Ihr etwas trinken oder essen? Ihr seht aus, als könntet Ihr eine Stärkung vertragen.«

Ich nickte. Sie betrachtete mich und seufzte. »Ihr seid nicht im Geringsten maulfaul, nicht wahr?«, fragte sie. »Lanzensergeant, ein Gedeck für mich und unseren Gast. Frischen Kafje, die Brühe in der Urne lässt mir sonst noch Brusthaare wachsen!«

»Ay, Schwertmajor!«, sagte einer der Bullen hinter mir, schlug sich auf die linke Brust und machte auf dem Absatz kehrt.

»Also bedingte Zusammenarbeit. Und um Himmels willen nichts Offizielles. Oder habt Ihr irgendwelche schriftlichen Befehle dabei?«

Ich schüttelte wortlos den Kopf.

»Götter! Ihr befindet Euch nicht in einem Verhör oder in unserem Gewahrsam. Dass ich wissen will, was hier geschehen ist, könnt Ihr ja wohl verstehen, oder?« Sie beugte sich vor und knallte ihre linke Hand auf den Tisch vor mir. Ein Ring funkelte an ihrem Finger. »Wir lassen es inoffiziell, und ich will Euren Ring auch gar nicht sehen. Sagt mir nur eines: wie viele Steine?«

Ihr Ring sah aus wie der meine, bis auf die Tatsache, dass ihrer vier Steine trug. Sie bemerkte meinen Blick.

»Schließ die Tür, Soldat«, rief sie, und die Tür fiel hinter mir ins Schloss.

»Mehr Steine, huh? Reicht mir Eure Hand.«

Ich zögerte kurz und tat es dann. Sie tastete nach meinem Ring unter dem Kettenhandschuh und hielt ihren dann an dieser Stelle gegen die Kette.

Ihr Ring leuchtete auf.

Sie ließ meine Hand los und lächelte grimmig. »Das war deutlich.« Ich wusste nicht, wovon sie sprach.

»Wie viele Steine also? Sieben? Acht? Ich gebe Euch mein Wort, es bleibt inoffiziell. Wenn Ihr es wünscht, haben wir uns nie gesehen.«

»Neun Steine«, antwortete ich langsam. »Was habe ich auf dem Richtplatz Falsches gesagt?«

Ihre Augen weiteten sich für einen Moment und sie erstarrte bewegungslos, dann holte sie tief Luft und sprach weiter.

»Ihr habt meinen Namen gewusst. Auf meiner Brustplatte steht er nicht offen geschrieben. Aber wenn man einen solchen Ring trägt, kann man den Namen dort lesen. Sofern beide einen Eid auf Askir geschworen haben.«

»Magie?«, fragte ich überrascht.

Sie fuhr sich unruhig über das Haar. »Wenn überhaupt, dann ist es alte Magie. Vielleicht wird der Name auch mit unsichtbarer Tinte auf die Rüstung geschrieben, wenn sie ausgegeben wird. Und der Ring erlaubt es, die Schrift zu sehen.« Sie lehnte sich wieder zurück. »Ich muss gestehen, mit neun Steinen habe ich nicht gerechnet.«

Ich zögerte, dann entschloss ich mich, sie zu fragen. »Ich bin nur zur Zeit der Träger des Rings, er ist letztlich nicht für mich bestimmt. Könnt Ihr mir die Bedeutung des Rings und dieser Steine erklären?«

»Nicht für Euch bestimmt, hm?«

Es klopfte an die Tür. Sie rief »Herein«, und ein Soldat platzierte ein großes Tablett mit einem reichlichen Frühstück auf dem Tisch zwischen dem Schwertmajor und mir. Er musste dazu erst die Panzerhandschuhe zur Seite räumen. Wortlos verschwand er wieder und zog die Tür vernehmbar ins Schloss.

»Neun Steine trägt der Kommandant einer vollen Legion. Doch eigentlich gibt es solche Ringe nicht mehr. Kommandeur Keralos, der Kommandant der imperialen Truppen, trägt einen Ring mit zehn Steinen. Der nächsthöchste Ring, den ich je gesehen habe, besitzt acht, das Kommando über eine reduzierte Legion. Neun Steine gibt es nur im Kriegsfall.« Sie zog eine Augenbraue hoch und blickte mich fragend an. »Haben wir denn Krieg?«

Ich überlegte mir meine Antwort genau. Ich sah das Frühstück vor mir und meine Hände, die in Kettenhandschuhen steckten. Es kam mir nun blöde vor. »Inoffiziell«, sagte ich und zog die Handschuhe aus. Die Innenflächen meiner Hände waren trotz des dicken Leders der Handschuhe wund von den Zügeln.

Ich griff mir ein frisches Brot und bediente mich an Schinken und Käse. »Meine Heimat befindet sich im Krieg. Je nachdem, ob man sie dem Alten Reich, also Askir, zugehörig empfindet oder nicht, beantwortet das die Frage.«

»Ihr spracht von den Kolonien«, sagte sie langsam. Sie sah meinen Ring an. »Darf ich?«

Warum nicht. Ich hoffte nur, dass ich keinen Fehler beging, aber meine Menschenkenntnis teilte mir mit, dass diese Frau so gerade wie eine Lanze war.

»Götter! Die Zweite Legion«, hauchte sie. Überrascht sah ich den Ring an.

»Haltet den Ring etwas schräg«, sagte sie. Tatsächlich, als ich ihn neigte, erkannte ich unter dem Drachen die imperiale Zahl Zwei.

»Wieso behandelt Ihr mich nicht wie einen Hochstapler?«, fragte ich sie und schenkte mir einen Kafje ein.

»Weil diese Ringe weder gestohlen noch getragen werden können, wenn sie nicht legitim verliehen wurden.«

Ich wusste es besser. Ich hatte mir den Ring einfach angesteckt, und das war’s. Aber es brachte wohl nichts, ihr das zu erzählen.

Der Kafje war ausgezeichnet.

»Ich habe tausend Fragen, aber ich fürchte, sie müssen warten, nicht wahr?«, fragte sie.

Ich nickte und biss in das Brot.

»Dann bleibt, bis ich diesen Ring offiziell sehe, eine Frage: Wie kann ich helfen?«

»Warum wurde die Station wieder eröffnet?«, fragte ich.

Sie seufzte. »Ich bin selbst schuld, nicht wahr? Jetzt stellt Ihr die Fragen. Ich werde sie Euch auch nicht alle beantworten, bis Ihr offiziell seid, in Ordnung?«

Ich hatte den Mund voll, also nickte ich.

»Wir erhielten den Befehl, auszurücken und diese Station zu besetzen sowie herauszufinden, wer hier altes imperiales Recht anwandte.«

»Wie ist die Lage zwischen Askir und Bessarein?«

»Ruhig, aber in letzter Zeit etwas gespannt. Zu viel Sonne hier, wenn Ihr mich fragt.« Ich lächelte, denn ich kannte da eine Dunkelelfe, die sich mit Schwertmajor Kasale wohl gut verstehen würde.

»Wir haben strikte Befehle, uns aus internen Angelegenheiten herauszuhalten.«

»Der Vorfall dort draußen?«, fragte ich.

»Selbst wenn der Idiot sein Schwert gezogen hätte, es wäre nicht viel passiert. Kavallerie ist gut im Angriff, wenn sie in vollem Galopp ankommt. Aber sie standen fast zwischen uns. Ich denke, wir hätten sie alle lebend zurückschicken können. Solche Anmaßungen gefährden den Vertrag weit weniger, als ich behauptet habe. Milch?«

»Danke.«

Es klopfte.

»Was ist?«

»Eine Meldung vom Turm, Schwertmajor. Der Späher behauptet, drei Greifen mit Reitern zu sehen.«

»Das glaube ich erst, wenn ich es selbst sehe!«, rief sie und griff ihre Handschuhe. »Kommt Ihr mit oder wartet Ihr hier?«

»Ich komme mit«, sagte ich. Mein Bein war wieder wach, auch wenn ich mir fast wünschte, es wäre nicht so: Es brannte wie Feuer. Ich drehte den Ring nach innen, nahm mir noch schnell meine Handschuhe und zwei Brote und folgte ihr auf protestierenden Beinen nach draußen.

Im Hof angelangt, rief sie zum Turm hoch: »Wo?«

»Zwanzig Südost«, kam die Antwort.

Drei Punkte, mehr als das war kaum zu erkennen. Aber sie flogen hoch genug, dass die Morgensonne sie anstrahlte, und ich sah das dunkle Blau ihres Gefieders und die mächtigen Schwingen. Und wenn ich die Augen zusammenkniff, vermeinte ich auch tatsächlich jeweils einen Reiter zu erkennen.

»Was liegt in dieser Richtung?«, fragte sie in die Runde.

»Janas, glaube ich«, kam die Antwort.

Wir waren nicht die Einzigen, die mit glänzenden Augen diesen Flug verfolgten. Für den Moment ruhte alle Arbeit. Kasale sagte nichts, bis die Punkte wirklich kaum mehr zu sehen waren, dann fauchte sie den nächsten Sergeanten an. »Habt Ihr eine Erklärung dafür, warum jeder in die Luft gafft, wenn die Arbeit hier unten ist?«

»Nein! Schwertmajor!«, rief er, aber er grinste dabei.

»Nicht zu glauben. Greifenreiter«, sagte sie kopfschüttelnd, als wir uns wieder in Richtung ihres Arbeitsraums begaben. »Dass ich das auf meine alten Tage noch erleben darf!«

Sie zog die Tür wieder hinter uns zu.

»Ich habe etwas für Euch. Eines der Mädchen, die wir hier vorfanden, gab es mir, wenn auch nur widerstrebend.«

Sie öffnete eine Schublade und nahm einen Brief heraus, den sie mir reichte. Das Schriftstück war vierfach gefaltet. Mein Name stand auf der Vorderseite, auf der Rückseite sah ich das Siegel Leandras, den Greifen. Es war gebrochen. Ich zog eine Augenbraue hoch, und sie zuckte mit den Schultern.

Mein Herz pochte, als ich die geschwungenen Linien ihrer Schrift wiedererkannte.

H.

Die Mädchen erzählten mir, was geschehen ist, ich erhielt deine Nachricht. Ich danke den Göttern für deine Augen und dein Leben. Uns geht es gut. Wir treffen zwei Tage nach dir in Gasalabad ein.

L.

»Darf ich eine Frage zu dem Brief stellen?«, meinte Kasale. Ich nickte.

»Unsere Federn brüten seit einem Tag über dieser Nachricht. Ist es Klartext oder Chiffre?«

»Federn?«

»Unsere Gelehrten. Sie beschäftigen sich mit allem, was Schrift ist.«

»Die Botschaft war vor allem privat«, sagte ich und blickte bedeutungsvoll auf das gebrochene Siegel.

»Das Greifensiegel war es, das unsere Aufmerksamkeit erregte.«

Ich sah sie an. »Vermutet Ihr in jeder Nachricht eine geheime Botschaft?«

»Berufskrankheit«, sagte sie und zuckte mit den Schultern. »Aber ich sehe, dass es das ist, was Euch hierher führte. Eure Laune scheint sich gebessert zu haben.«

Ich faltete den Brief wieder vorsichtig zusammen und verstaute ihn über meinem Herzen.

»Sie war vorsichtig«, sagte Kasale und belegte sich ein neues Brot.

»Woher wisst Ihr, dass es eine Frau war?«

»Oh, so eine Nachricht sagt einiges. Die Schrift zum Beispiel. Frauen schreiben so. Unsere Federn sagen, sie ist gelehrt, wahrscheinlich Tempelerziehung, vielleicht sogar magisch geschult. Sie verwende in ihrer Schrift Symbole, die der Sprache ähneln, in der einst magische Formeln niedergeschrieben wurden.« Sie schien zu überlegen. »Was noch? Richtig. Sie schreibt flüssig, aber sehr präzise. Entweder ist sie von Beruf eine Feder, eine Schreiberin, oder sie ist eine Elfe. Wir Menschen sind in der Regel nicht geschickt genug, um so zu schreiben. Sie führt ihre Waffe mit der linken Hand, und sie ist recht groß. Das Pergament stammt von hier, darüber gibt es nichts zu sagen. Die Art, wie sie den Brief faltet, sagt, dass sie adlig ist und gewohnt, versiegelte Nachrichten zu schreiben, und die Positionierung der Schrift auf dem Bogen zeigt, dass sie häufig offizielle Schriftstücke verfasst. Ich glaube, das ist so in etwa alles. Lagen unsere Federn richtig?«

Ich pfiff durch die Zähne. »Ich wusste, dass das Alte Reich gute Magier besaß, aber das beeindruckt mich jetzt.«

Sie lachte. »Wir sind immer für eine Überraschung gut. So wie Ihr ausseht, seid Ihr lang und hart geritten. Ich biete Euch ein Bad und eine Massage sowie frische Pferde und einen guten Sattel im Tausch gegen etwas anderes an.«

»Und was wäre das?«, fragte ich misstrauisch.

»Erzählt mir von dem Krieg, im dem wir uns befinden oder auch nicht.«

Ich erhob mich und merkte, wie sehr meine Knochen schmerzten. »Inoffiziell habe ich eine Stunde Zeit.«

»Natürlich nur inoffiziell«, sagte sie. »Ihr habt Glück. Unser Masseur ist der beste der ganzen Legion.«

3. Schlafender Drache

Wenn ich weiterhin keine Rücksicht auf die Pferde nahm, konnte ich damit rechnen, dass ich die Stadt am Abend erreichte. Aber bis dahin hatte ich Zeit nachzudenken.

Kasale erschien mir als ein aufrechter Soldat. Aber ihre Loyalität lag eindeutig bei Askir.

Ich hatte nun zum ersten Mal, von den Wachen vor der Botschaft abgesehen, Kontakt mit den imperialen Truppen gehabt. Ich wusste nicht, was diese Federn mit Leandras Botschaft angestellt hatten, aber es erschreckte mich. Die Truppen Thalaks hatte ich noch nie gesehen, aber nun hatte ich Teile der Vierten Legion erblickt. Reduziert auf tausend Mann, die offensichtlich mehr wert waren als fünftausend Soldaten irgendeiner anderen Armee.

Was mich aber vor allem beeindruckte, war die Logistik. Selbst auf dem Geschirr, von dem ich mein Frühstück gegessen hatte, war das Zeichen der Vierten Legion eingebrannt.

Vor vier Tagen hatte ich die T-Galgen mit ihren Früchten behängt. Irgendjemand hatte daraufhin so schnell gehandelt, dass eine Lanze, eine Hundertschaft, die Station besetzte, noch bevor die Kavallerie aus Gasalabad eintraf.

Ich war beunruhigt. Wenn ich vorher darüber nachgedacht hatte, was wir im Alten Reich wohl vorfinden würden, so hatte ich mir Reste einer vergangenen Blüte vorgestellt. Zwar mochte Askir noch über Legionen verfügen, aber ich hatte vor meinem inneren Auge kaum mehr als glorifizierte Stadtwachen gesehen, die vielleicht sogar verrostete Rüstungen trugen. Schließlich hatten sie seit Jahrhunderten keinen Krieg mehr erlebt.

Wenn ich jetzt darüber nachsann, wurde mir klar, dass es nicht zwangsläufig so sein musste. Die sieben Königreiche lebten in einem seltsamen Frieden nebeneinander, das bedeutete jedoch nicht, dass es an den Außengrenzen keinen Ärger gab.

Die achte Lanze der Vierten Legion erschien mir ganz und gar nicht eingerostet.

Dreißig Mann Kavallerie waren nicht ungefährlich, auch wenn es sich nur um Paradesoldaten handelte. War Kasales Einschätzung überheblich, oder war sie wirklich davon überzeugt, dass sie die Kavallerieeinheit ohne Blutvergießen hätte überwältigen können?

Was bedeutete es für unsere Reiche und die Weltenscheibe, wenn Leandra es wirklich vermochte, die Hilfe der sieben Reiche für unser Land zu sichern?

Die Antwort war einfach: imperiale Einflussnahme auch bei uns, in den Neuen Reichen. Und wie man hier in Bessarein sah: Waren die Imperialen einmal da, gingen sie nicht mehr.

Wo wir stehen, da weichen wir nicht. Das war der Leitspruch der schweren Infanterie. Anscheinend war es ihnen damit ernster, als ich bislang geglaubt hatte.

Verglichen mit dem, was unser Land von Thalak zu befürchten hatte, war es ein kleiner Preis. Ich schüttelte diese Gedanken ab. Schon vor langen Jahren hatte ich für mich entschieden, die Politik anderen zu überlassen. Das war alles Leandras Aufgabe. Sie sprach für unsere Königin, nicht ich.

Aber als ich in vollem Galopp über die imperiale Straße ritt, beschlich mich das Gefühl, dass Leandra drauf und dran war, einen schlafenden Riesen zu wecken.

Oder einen Drachen.

4. Der Hüter der Botschaften

Als ich die Straße nach Gasalabad entlangritt, offenbarte sich mir die Bedeutung dieser Straßen in der Geschwindigkeit des Ritts. Die hiesigen Pferde erschienen mir schneller als die in meiner Heimat, aber auf meinem Ritt vom Lager der Sklavenhändler zur Wegestation hatten Sand und der unsichere Boden die Pferde erheblich behindert.

Auf dieser Straße war das nicht so. Sie war gerade wie ein Lineal, und wir schienen fast zu fliegen. Als ich mein letztes Pferd sattelte, stand die Sonne hoch über mir, aber es war erst später Nachmittag, als ich Gasalabad vor mir liegen sah.

Zokora und meine Gefährten sollten entspannt am frühen Morgen dieses Tages eingetroffen sein, Leandra schon am gestrigen Tag. Es wurmte mich, dass sie vielleicht genau in jenem Moment in die Stadt eingeritten war, als wir sie auf der Lanze der Ehre verlassen hatten.

Gut. Diese Reise hatte die Essera Marinae aus den Händen der Sklavenhändler befreit und Faraisa wieder mit ihrer Mutter zusammengebracht; nur ein gefühlsarmer Mensch würde diese Fahrt als verlorene Zeit bezeichnen. Dennoch war ich von einer brennenden Ungeduld erfüllt, als ich mein letztes geschundenes Pferd mit zitternden Beinen und schaumigen Flanken zum Stadttor führte.

Anders als beim letzten Mal staute sich davor eine Schlange von Reisenden, hier ein Wagen, baumhoch mit Fässern beladen, dort ein anderer mit Ballen aus Stoff. Ein Schafhirte versuchte seine Herde zusammenzuhalten, und Bauern mit einer Rückenlast, schwerer, als man sie einem Ochsen zumuten wollte, warteten geduldig auf Passage.

Erst jetzt nahm mein müder Geist wahr, dass sich die Situation seit meiner letzten Ankunft verändert haben musste. Die Wachen erschienen mir merklich aufmerksamer, niemand lungerte herum oder trank, ihre Gesichter wirkten angespannt, und es schien, als ob sie nur darauf warteten, die Abzüge ihrer Armbrüste zu bedienen.

Ein Offizier der Stadtwache ritt entlang der Schlange der wartenden Reisenden auf und ab und musterte auch mich mit grimmiger Miene. Der Soldat, mit dem Armin bei meinem letzten Besuch in Gasalabad so gut gehandelt hatte, war weit und breit nicht zu sehen.

»Was ist denn los?«, fragte ich einen Händler, der trübe auf seinem Kutschbock saß und an einem Strohhalm kaute.

»Habt Ihr es nicht gehört?«

Ich schüttelte müde den Kopf. Solange ich geritten war, schien es mir, als wäre ich wach genug, jetzt, als ich warten musste, kämpfte ich gegen den Schlaf.

»Die Essera Marinae, ihre Tochter und ihr Gemahl sowie ihre ganze Reisegesellschaft! Sie wurden auf dem Weg in die Stadt ermordet! Gestern wurde es bekannt! Wenn man die Mörder in die Finger bekommt, wird das Volk sie zerreißen wollen.«

Den Tod der Essera vorzutäuschen war nur eine flüchtige Überlegung gewesen; sie hatte jedoch darauf bestanden, dass es nicht geschehen sollte. Ich war müde und überlegte noch, warum sich Zokora doch anders entschieden haben könnte, bevor mir das wichtige Wort in seiner Rede auffiel. Gestern.

Nur mit den günstigsten Winden hätte die Lanze Gasalabad am gestrigen Tag schon erreicht.

»Wer hat die Nachricht verkündet?«, fragte ich den Händler.

»Eine Karawane aus Jasala fand das zerstörte Lager der Essera an einer Oase, und man erkannte einen der Erschlagenen als eine Wache aus dem Haus des Baums.«

So viel also dazu, dass Essera Marinae nicht wollte, dass man um sie trauerte. Ich hoffte nur, dass sie vernünftig genug blieb, sich dennoch versteckt zu halten.

»Hört man sonst noch etwas?«

»Nein, nur Gerüchte. Es heißt, dass sich Nekromanten aus einem fremden Land in die Stadt geschlichen hätten, um den Gläubigen die Seele zu rauben. Mögen uns die Götter vor ihnen beschützen!« Er beugte sich vertraulich vor. »Es gibt noch andere Omen. Mein Cousin sagte mir, man habe die Weiße Frau in der Stadt gesehen.«

Mein Herz schlug schneller. Leandra war eine Halbelfe und ein Albino, Weiße Frau war eine Beschreibung, die auf sie passte wie auf kaum eine andere.

Der Händler trieb seine Ochsen an, und sie setzten sich träge in Bewegung, um nach ein paar Metern wieder anzuhalten.

»Verzeiht, Händler, aber wer ist die Weiße Frau?«

»Ihr habt noch nie von ihr gehört? Es heißt, sie sei ein Geist oder ein Engel der Rache. Sie trägt die Maske der Schönheit. So schön ist sie, dass ein jeder, der sie sieht, sofort aus den Augen zu bluten beginnt. Wer eines Verbrechens schuldig ist, weiß, dass er nur noch einen Tag zu leben hat.« Er lachte. »Es gab wohl einige, die sich schuldig genug fühlten, um nach ihrem Anblick in Borons Tempel zu fliehen und ihre Sünden zu bekennen und ihre Seelen zu läutern. Es heißt weiterhin, dass sich Borons Priester redlich bemühen, alle Sünder abzuurteilen, noch bevor die Sonne untergeht.«

Das bedeutete wohl, dass Leandra Gasalabad sicher erreicht hatte.

»Wenn sie nicht gestanden hätten, hätten sie den morgigen Tag nicht erlebt«, sagte ich mehr als Feststellung denn als Frage.

Er nickte und grinste breit. »Ich wollte, die Weiße Frau wäre mehr als eine Legende. Für unsereins, der sich ehrlich durch sein Leben plagt, wäre der Anblick ihrer vollkommenen Schönheit eine Gnade, vor allem, wenn sie die Halunken zum Bekenntnis in die Tempel treibt.«

»Hallo, du!«, rief jetzt der berittene Wachoffizier. Ich richtete mich in meinem Sattel auf und sah ihn an.

»Wo kommst du her?«

»Ich komme aus Janas. Dort, wo die süßesten Datteln wachsen und die schönsten Mädchen zu Hause sind, ist auch meine Heimat«, sagte ich mit einer Verbeugung aus dem Sattel heraus. Ich hoffte, dass die Imitation meines Dieners sein Misstrauen zerstreute. Aber nein, sie war wohl nicht perfekt.

»Ich mag keine Leute, die ihre Pferde zuschanden reiten! Jemand wie du sollte barfuß über glühende Steine getrieben werden!«

»Es hat mir treu gedient und wird dafür belohnt werden«, sagte ich und tätschelte den Hals meine Pferdes. »Hätte ich gewusst, dass die Tore geschlossen sind, hätte ich mich nicht beeilen müssen.«

»Es hat seinen Grund, warum wir tun, was wir tun. Wer bist du, dass du es wagst, Kette zu tragen, als wärst du jemand?«

Nun, offensichtlich besaß ich nicht Armins Talent für Verhandlungen. Ich schüttelte den weißen Stein aus meinem Beutel, von dem Armin damals bei unserem Einritt nach Gasalabad behauptet hatte, er würde mir die Tore öffnen.

»Ich bin jemand, Leutnant, und ich habe mir das Recht, Rüstung zu tragen, hart verdient.« Ich hielt ihm den Stein hin.

Er musterte ihn und nickte dann widerstrebend. »Ich werde mir Euer Gesicht trotzdem merken.« Er drehte sich im Sattel um. »Dieser hier kann passieren!«, rief er zum Tor. »Was glotzt du so?«, fuhr er den Händler an. »Du musst warten, die Herren von Stand nicht.«

Ich spürte seine Blicke in meinem Rücken, als ich in die Stadt einritt.

Nachdem ich im Hof des Hauses der Hundert Brunnen angekommen war und das Pferd einem der Jungen gegeben hatte, mit der Weisung, es gut zu versorgen, eilte einer der diskreten jungen Männer heran und verbeugte sich tief.

»Ich bin der Hüter der Botschaften. Eine Nachricht von Eurem Diener, Esseri.«

Ich nickte. »Gebt sie mir.«

Zu meiner Überraschung schloss er die Augen und begann in einer passablen Nachahmung von Armins Stimme zu sprechen. »Esseri, Eure Freunde und Euer treuer Diener sind wohlbehalten zurückgekehrt. Eure Freunde sind aufgebrochen, Eure anderen Gefährten zu suchen. Als Euer treuer Diener werde ich selbst Euer Mündel und ihr Kind begleiten, auf dass sie sicher nach Euren Wünschen untergebracht sind. Ich gab in Eurem Namen Anweisung, ein Bad vorzubereiten. Mögen die Götter selbst über Euren Schlaf wachen. Erwartet Euren Diener noch vor der tiefsten Stunde der Nacht zurück.«

Er öffnete die Augen wieder. »Euer Diener gab Anweisung, ein Bad für Euch zu richten. Ich habe mir erlaubt, auch frische Kleidung bereitzulegen.«

»Ich danke Euch, Hüter der Botschaften.«

Ich wollte mich abwenden, aber er verbeugte sich erneut.

»Ich habe eine weitere Botschaft für Euch.«

»Dann gebt mir auch die.«

Wieder schloss er die Augen und begann zu sprechen, doch diesmal erkannte ich die Stimme nicht. »Im Namen von Emir Erkul Fatra dem Aufrechten, Statthalter und Gnade von Gasalabad, Berater des Kalifen, Herrscher über das Haus des Löwen, Hüter der Gerechtigkeit und Bewahrer der Worte, mögen die Götter ihm ewiges Leben und Freude schenken, wird der Fremde, Saik Havald, am Tag des Hundes in den Palast des Mondes geladen. Er soll seinem Stand entsprechend gesalbt, gewaschen und gekleidet sein. Er soll nicht später als zur letzten Stunde des Tages vorstellig werden. Es ist ihm erlaubt, Rüstung und Waffen zu führen, jedoch nicht den Bogen oder die Armbrust. Im Namen des Emirs, Kolman Tark, Hauptmann in der Garde der Gerechten, Streiter für Gasalabad und Überbringer der Worte.« Er kam nicht einmal außer Atem. Nochmals verbeugte er sich tief. »Esseri, heute ist der Tag des Hundes. Die letzte Stunde des Tages ist nicht mehr weit. Es ist nicht geschickt, den Emir warten zu lassen.«

Es war auch nicht geschickt, Herrscher aufzusuchen, wenn man zu müde war, um klar zu denken.

Der Zeitpunkt dieser Audienz – oder war es eine Vorladung? – war denkbar ungünstig. Zudem war meine Erfahrung, dass mächtige Herrscher, wenn sie mich in ihren Palast baten, meistens wollten, dass ich meinen Kopf für sie riskierte. Seit längerem hatte ich mich schon entschlossen, meinen Kopf für mich zu behalten und diesen Gelegenheiten aus dem Weg zu gehen. Aber nicht zu erscheinen wäre, aller Voraussicht nach, ein Fehler.

Ich seufzte und verbeugte mich erneut. Ich machte einen weiteren Schritt in Richtung des Eingangs.

»Verzeiht, Esseri, aber ich habe noch eine Botschaft für Euch.«

»So sprecht.«

»Sie kam kürzlich erst.« Er griff in seinen Ärmel und reichte mir einen Brief. Im ersten Moment hoffte ich, dass er von Leandra wäre, aber das Siegel war mir unbekannt, nicht mehr als ein Ring in dunklem, fast schwarzem Wachs. Ich erbrach das Siegel, da wieherte plötzlich in unmittelbarer Nähe ein Pferd, und ohne dass ich wusste, warum, rollte ich mich zur Seite ab.

Sowohl Stalljungen als auch der diskrete junge Mann sowie ein anderer vornehm gekleideter Gast sahen mich erstaunt an.

»Ich … ich bin eingeknickt«, sagte ich, als ich mich erhob und den Staub aus meinen Kleidern klopfte. Die Ausrede war dünn, aber was sollte ich sonst sagen? Dass die Müdigkeit meinen Geist benebelte und ich Phantome sah?

Wenn Ihr das Pferd wiehern hört, duckt Euch, irgendwie klangen mir die Worte im Geist, nur wusste ich nicht wann und wo ich sie gehört haben sollte …

Der Brief war mir heruntergefallen, und der Hüter der Botschaften hob ihn auf. Mit einer Verbeugung reichte er ihn mir.

Bevor ich den Brief noch selbst greifen konnte, schienen die Falten des Schriftstücks aufzuspringen, als ob sich eine Blüte öffnete, und eine Wolke aus schwarzem Staub schoss dem Hüter der Nachrichten ins Gesicht.

Ich sprang zurück, als er mich mit traurigen Augen ansah.

»Esseri …«, sagte er noch, dann fiel er schwer zu meinen Füßen nieder. Der Brief, seines Inhalts nun beraubt, wehte davon, mit der Spitze meines Stiefels hielt ich ihn am Boden fest. Die Nachricht bestand aus einem Falken in einem runden schwarzen Feld.

Wachen und zwei weitere diskrete Herren kamen aus dem Haus gestürzt. Einer warf ein Tuch über die Leiche seines Kollegen, der andere näherte sich vorsichtig dem offenen Brief.

»Nachtfalke«, sagte er mit erstickter Stimme. Dann sah er zu mir hoch. »Ihr seid unser Gast, Esseri. Das Haus der Hundert Brunnen steht zu seinen Verpflichtungen. Unsere schützende Hand erstreckt sich über Euch, Esseri, aber wenn ein Nachtfalke kommt, werden unsere Bemühungen vergebens sein. Mögen die Götter unsere armen Seelen gnädig empfangen.«

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, also verbeugte ich mich nur. »Ich bedauere den tragischen Tod des Hüters der Botschaften zutiefst. Soltar wird sich seiner sicherlich annehmen. Sagt, hat er Familie? Gibt es etwas, was ich tun kann?«

Der Mann schüttelte langsam den Kopf. »Nein. Wir sind seine Familie. Esseri, ich bitte Euch, wartet einen Moment, ich geleite Euch zu Euren Räumen.«

An der Tür zu meinen Zimmern warteten wir einen Moment, dann gesellte sich ein ernster junger Mann zu uns und verbeugte sich tief.

»Dies ist Euer Hüter des Lebens. Er wird Euer Essen und Eure Getränke kosten und sonstige Gefahren für Euer Leben auf sich nehmen.«

»Nein«, sagte ich. »Das werde ich nicht erlauben. Wenn Ihr wünscht, reise ich ab.«

Der diskrete junge Mann schüttelte den Kopf. »Esseri, das Haus der Hundert Brunnen hat noch nie einen Gast verraten oder ihn aus Feigheit seiner Räume verwiesen. Schon zweimal in unserer langen Geschichte reichte der Arm der Nachtfalken bis in unsere Mauern. Aber auch diesmal werden wir nicht in unserer Pflicht einem verehrten Gast gegenüber wanken. Das Haus der Hundert Brunnen ist mehr als eine Herberge. Eure Abreise würde Schande über unser Haus bringen. Ich bitte Euch bei den Göttern, dies nicht zu tun. Mein Bruder hier ist bereit, für Euch zu sterben, um die Ehre des Hauses nicht zu gefährden.«

Ich musterte ihn und seine entschlossenen Augen. »Gut, meine Freunde und ich bleiben. Aber die Dienste des Hüters des Lebens werde ich nicht in Anspruch nehmen.«

Beide verbeugten sich. »Wie Ihr wünscht, Esseri.«

Als ich meine Räume betrat, berührte ich Seelenreißers Heft, aber niemand lauerte auf mich. Das Bad war, wie versprochen, eingelassen, und auf einem niedrigen Tisch daneben waren prachtvolle Gewänder bereitgelegt.

Wäre ich nicht so müde gewesen, hätte mich der Mordversuch eben vielleicht mehr erschreckt. So aber glitt ich ins warme Wasser und schloss für einen Moment die Augen …

… bis ein Hämmern an der Tür mich weckte. Das Wasser war kalt. Ich sprang mit Seelenreißer in der Hand, die Klinge jedoch in der Scheide, aus dem Bad und eilte zur Tür.

»Was gibt es?«, rief ich, ohne sie zu öffnen.

»Esseri, die letzte Stunde des Tages naht«, sagte die Stimme des diskreten jungen Mannes. »Wir befürchteten, Ihr wärt im Bad eingeschlafen.«

»Danke!«, rief ich und hastete ins Bad zurück.

Viel mehr als eine Stunde hatte ich nicht geschlafen, aber diese kurze Rast hatte mir neue Kräfte gegeben. Ich kleidete mich an. Es gab einen Spiegel im Raum der Kleider, und als ich an ihm vorbeiging, blieb ich überrascht stehen.

Der Mann, den ich sah, hatte nur wenig Ähnlichkeit mit mir. Ich war zu leicht für meine Größe, ich hatte noch nicht wieder mein normales Gewicht erreichen können. Der Mann vor mir war hager, mit breiten Schultern, das Gesicht braungebrannt. Die Schwellung über meinem Auge war fast nicht mehr zu sehen – Seelenreißers Werk, nahm ich an –, und die Falten in meinem Gesicht waren tiefer als sonst. Ich hatte daran gedacht, meine Haare, Augenbrauen und meinen Bart erneut zu färben, also sah ich nun pechschwarze Haare anstelle der gewohnten blonden oder, vor nicht allzu langer Zeit, grauen Haare.

Armin hatte darauf bestanden, dass ich zur Tarnung einen Ring im linken Ohr trug. Noch vor zwei Tagen war er mir lächerlich vorgekommen, nun schien er zu diesem Gesicht zu passen. Durch meinen langen Ritt waren meine Augen schmaler als sonst, der Nasenrücken schärfer, und durch den Mangel an Fleisch auf meinen Knochen wirkte mein Gesicht kantig und kompromisslos. Es erschien mir seltsam fremd, obwohl es unzweifelhaft mein eigenes war.

Die überraschende Bräune meiner Haut hatte zwei weiße Linien ausgespart, alte Narben. Bei der einen konnte ich mich nicht einmal mehr erinnern, wie ich sie erhalten hatte. Diese eine, sonst kaum zu sehen, reichte von einem Nasenflügel bis zum Kinn, die andere bedrohte mein linkes Auge. Menschen wie diesem hier, der mich aus dem Glas kritisch musterte, pflegte ich normalerweise aus dem Weg zu gehen.

Ich zuckte mit den Schultern und verließ meine Räume. Eine Sänfte wartete auf mich, aber das war mir dann doch zu viel. Einen Führer nahm ich jedoch gern an, ich wollte mich nicht verlaufen und zu spät erscheinen.

Es dauerte nicht lange und ich wünschte mir, die Sänfte genommen zu haben. Meine Muskeln schmerzten nach dem langen Ritt.

5. Der Engel des Todes

Die Götter hatten ein Einsehen mit mir, es war kein weiter Weg. Nach einem weiteren Tor in einer der vielen Mauern Gasalabads erstreckte sich eine Straße vor mir, die an einem großen Tor endete. Dahinter sah ich den Palast des Mondes.

Warum er so hieß, war leicht zu erkennen, er war aus dem blassesten Marmor errichtet, den ich je gesehen hatte.

Als eine der Wachen am Palasttor vortrat, verabschiedete sich mein Führer mit einer Verbeugung.

»Mein Name ist Havald. Der Emir erwartet mich.«

Die Wache, ein grobknochiger Mann, der aussah, als ob er zum Frühstück Steine aß, musterte mich. Er war der erste Mann in der Uniform einer Wache, der mir wie ein richtiger Soldat erschien.

»Ihr meintet sicherlich, dass Emir Erkul Fatra der Aufrechte, Statthalter und Gnade von Gasalabad, Berater des Kalifen, Herrscher über das Haus des Löwen, Hüter der Gerechtigkeit und Bewahrer der Worte, Euch die Gnade einer Audienz gewährt?«

Ich verbeugte mich leicht. »Genau das.«

Seine buschigen Augenbrauen zogen sich zusammen, und er bedachte mich mit einem frostigen Blick. »Wartet hier«, sagte er. Er winkte einen anderen Wächter heran, sagte ihm etwas, und dieser sah mit einem wichtigtuerischen Gesichtsausdruck in einer Schriftrolle nach, die er an seinem Gürtel trug.

»Saik Havald darf passieren«, teilte er dann herablassend mit.

Eine andere Wache wurde herangewunken und salutierte vor dem älteren Soldaten. »Führ den Esseri in den Raum der himmlischen Güte und melde ihn dem Wesir.«

»So soll es sein, Hauptmann!«, rief der junge Mann. »Folgt mir, Esseri!«, wies er mich an und rannte im Laufschritt los.

Ich folgte ihm gemächlich. Er bemerkte es nach einigen Schritten, wurde langsamer und sah mich erstaunt an. Ich war nicht in der Stimmung, hechelnd wie ein alter Hund zu dieser Audienz zu erscheinen, aber warum ihm das mitteilen? Sollte er doch denken, es wäre hoheitsvolles Schreiten.

Der Raum der himmlischen Güte war recht klein und mit Rosenquarz ausgelegt. Aus einem Brunnen in der Mitte des Raumes floss Milch.

Ich überlegte mir, wie schnell Milch bei dieser Wärme sauer wurde, und bedauerte die- oder denjenigen, dessen Aufgabe die Pflege dieses Brunnens war.

Hier ließ man mich warten.

Ich war beinahe so weit, wieder zu gehen, als ein schmächtiger Mann in den Kleidern eines hohen Würdenträgers erschien und sich leicht vor mir verbeugte. Er schätzte mich von oben bis unten ab, und es war klar zu erkennen, dass er nicht begeistert war von dem, was er sah.

»Willkommen im Palast des Mondes. Der Hüter der Gerechtigkeit und Bewahrer der Worte wird Euch eine Audienz gewähren, um Eure Bitten zu hören. Ihr seid wahrlich ein Mann des Glücks und von den Göttern begünstigt, dass Ihr sein erhabenes Antlitz mit Euren eigenen Augen schauen dürft. Legt Stiefel, Rüstung und Schwert ab.«

»Nein.«

»Der Bewahrer des … Nein?«

»Nein.«

»Ihr seid Euch wohl der Ehre nicht bewusst, die Euch widerfährt! Niemand betritt einen Raum, der durch seine Herrlichkeit erleuchtet ist, mit einem Schwert an der Seite.«

Ich hatte einen anstrengenden Tag hinter mir. Ich wollte Leandra in die Arme nehmen und nicht jemanden um Gnade bitten. Ich drehte mich um und machte Anstalten zu gehen, auch wenn es seine Herrlichkeit und Gnade und so weiter verärgern mochte. Ich war bereits verärgert. Bei anderer Gelegenheit, mit ausführlicherem Schlaf, hätte ich vielleicht mehr Geduld aufgebracht. Wahrscheinlich hatte ich auch nur einen sturen Tag.

»Wartet bitte, Esseri!«, rief der kleine Mann und eilte wieder davon.

Ich entschloss mich, kurz zu warten.

Der kleine Mann kehrte mit acht Wächtern zurück.

»Was soll das?«, fragte ich, als die Wachen sich auf mich zu bewegten.

»Eure Ehrengarde.«

Ich ließ sie links liegen und trat an den kleinen Mann heran.

»Wie ist Euer Name, Esseri?«

»Hahmed, Hüter des Protokolls«, sagte er, indem er einen Schritt zurückwich. Ich folgte ihm mit einem größeren Schritt.

»Hahmed, Hüter des Protokolls. Der Emir …«

»Erkul Fatra der Aufrechte, Statthalter und Gnade von Gasalabad, Berater des …«

Ich schnitt ihm das Wort ab. »Ja. Er bat mich um eine Audienz und nicht anders herum. Richtet ihm aus, dass er weiß, wo ich abgestiegen bin. Will er mich sprechen, so soll er sich zu mir bemühen.«

»Aber … was bildet Ihr Euch ein?«

Die Wächter sahen sich untereinander an und musterten mich dann mit neuen Augen. Mittlerweile war es mir egal. »Mögen die Götter Euch und Euren Emir schützen«, sagte ich und drehte mich auf dem Absatz um.

Ein leises, langsames Klatschen sowie das Gepolter, als sich der kleine Mann und die Wachen auf den Boden warfen, erregten meine Aufmerksamkeit.

Ich kannte die ältere Frau, die in der Tür stand und so leise in die Hände geklatscht hatte. Essera Falah, die Mutter des Emirs und die Großmutter Faihlyds und Marinaes.

»Der Götter Wohlgefallen mit Euch, Essera Falah vom Haus des Löwen«, sagte ich mit einer Verbeugung. Auf den Boden warf ich mich nicht. Müde, wie ich war, wäre ich dort glatt eingeschlafen.

»Und mit Euch, Havald.«

Sie sah mich kurz prüfend an. »Folgt mir.« Ich hätte schwören können, dass sie hinter ihrem Schleier lächelte.

»Aber Herrin …«, protestierte Hahmed vom Boden aus. Sie warf ihm nur einen vernichtenden Blick zu. Ich folgte.

»Wisst Ihr«, sagte sie, als wir einen langen Säulengang entlang gingen, »hättet Ihr Euch gefügt, wäre ich enttäuscht gewesen.«

Ein Dienstbote sah uns, verbeugte sich tief und eilte ohne aufzusehen weiter.

»Es hat wenig mit Fügen zu tun«, sagte ich höflich. »Ich kann mein Schwert nicht allein lassen.«

»Das ist nicht der Grund. Ihr seid erbost und empfandet die Behandlung als eine Unverschämtheit«, sagte sie mit einem amüsierten Unterton in der Stimme.

»Ja.« Wenn sie direkt sein wollte, kam mir das entgegen.

Sie steuerte auf eine Tür zu, vor der zwei Wachen standen. Als sie mich bemerkten, straffte sich ihre Haltung, und ihre Hände fanden die Griffe ihrer Schwerter.

Die Essera beachtete sie nicht im Geringsten und ging einfach weiter. Einer der Wächter warf mir einen fast panischen Blick zu, entschied sich aber, die Tür zu öffnen, bevor die Mutter des Emirs dagegenlief.

Ich folgte ihr in den Raum hinein.

Es war definitiv kein Audienzzimmer, dazu war es zu gemütlich. Auch hier sprudelte ein kühlender Springbrunnen; in einem großen Käfig flatterten ein halbes Dutzend farbenprächtige Vögel auf. Ein niedriger Tisch mit bequemen Kissen lud zum Sitzen ein, und durch die offenen Fenster sah ich auf einen grünen Garten.

Aber meine Aufmerksamkeit galt einer jungen Frau, die sich erhob und vor mir verbeugte.

Zuerst erkannte ich sie nicht wieder, trotz der ausgeprägten Ähnlichkeit mit Marinae. Dann erinnerte ich mich an Blut und eine fürchterliche Wunde. Nichts war mehr davon zu bemerken, nur ihr Gesicht erschien mir zu ernst für jemanden ihres Alters.

»Ich begrüße Euch, Saik Havald. Möget Ihr Frieden auf Euren Wegen finden«, sagte sie mit einer Stimme, um die sie jeder Barde beneidet hätte.

Sie war, wie ich schon bemerkt hatte, in Größe und Statur ihrer Schwester ähnlich, jedoch etwas schlanker. Aber ihr Verhalten wirkte anders, ruhiger, überlegter, und ihre dunklen Augen waren traurig. Erst als ich einen Blick in diese Augen tat, erinnerte ich mich daran, dass ihre Familie den Verlust einer Tochter, Enkelin und Schwester beklagte.

Ende der Leseprobe