Das ausgeglichene Gehirn – Was uns die Neurowissenschaft über mentale Gesundheit verrät - Camilla Nord - E-Book

Das ausgeglichene Gehirn – Was uns die Neurowissenschaft über mentale Gesundheit verrät E-Book

Camilla Nord

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Beschreibung

Gehirn in Balance, statt Chaos in der Seele

Der Weg zu mehr Ausgeglichenheit und psychischer Gesundheit scheint heute simpel: Guter Schlaf, ein paar Yoga- und Achtsamkeitsübungen und im Zweifelsfall helfen passende Medikamente. Doch was, wenn die gängigen Rezepte keine dauerhafte Besserung bringen?

Neurowissenschaftlerin Camilla Nord bringt auf Basis neuester Forschung Licht ins Dunkel. Sie erklärt, wie Wohlbefinden im Gehirn entsteht, wie wir es selbst regulieren können und bringt dabei einige so erfrischende wie unerwartete Erkenntnisse zutage: Denn nicht ein Allheilmittel muss für uns das Richtige sein – vielmehr können Glücksrezepte, die wirklich funktionieren, so vielschichtig sein wie wir selbst.

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Seitenzahl: 423

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Über das Buch:

Der Weg zu mehr Ausgeglichenheit und psychischer Gesundheit scheint heute simpel: Guter Schlaf, ein paar Yoga- und Achtsamkeitsübungen und im Zweifelsfall helfen passende Medikamente. Doch was, wenn die gängigen Rezepte keine dauerhafte Besserung bringen?

Neurowissenschaftlerin Camilla Nord bringt auf Basis neuester Forschung Licht ins Dunkel. Sie erklärt, wie Wohlbefinden im Gehirn entsteht, wie wir es selbst regulieren können und bringt dabei einige so erfrischende wie unerwartete Erkenntnisse zutage: Denn nicht ein Allheilmittel muss für uns das Richtige sein – vielmehr können Glücksrezepte, die wirklich funktionieren, so vielschichtig sein wie wir selbst.

Dr. Camilla Nord

Was uns die Neurowissenschaft über mentale Gesundheit verrät

Neueste Erkenntnisse über die positive Wirkung von Therapien, Psychedelika, Schokolade und Co.

Aus dem Englischen von Imke Brodersen

Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel The Balanced Brain: The Science of Mental Health bei Allen Lane, an imprint of Penguin Books, London.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Aus Gründen der leichteren Lesbarkeit konnte eine gendergerechte Schreibweise nicht durchgängig eingehalten werden. Bei der Verwendung entsprechender geschlechtsspezifischer Begriffe sind im Sinne der Gleichbehandlung jedoch ausdrücklich alle Geschlechter angesprochen.

Alle in diesem Buch veröffentlichten Aussagen und Ratschläge wurden von der Autorin und vom Verlag sorgfältig erwogen und geprüft. Sie bieten jedoch keinen Ersatz für kompetenten medizinischen oder psychologischen Rat. Ebenso ist die Haftung der Autorin bzw. des Verlags und seiner Beauftragten für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ausgeschlossen.

Copyright © 2024 Kösel-Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlag: zero-media.net, München

Umschlagmotiv: Umschlagmotive: iStock.com / Detry26

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-31418-7V001

www.koesel.de

Inhalt

Einleitung

Teil 1Ausgeglichenheit beginnt im Gehirn: Wie sich psychische Gesundheit zusammensetzt

1. Natürliche Highs: Lust, Schmerz und das Gehirn

2. Die Körper-Hirn-Achse

3. Unsere Erwartungshaltung: Alles gut!

4. Motivation, Antrieb und das »Wollen«

Teil 2 Her mit dem psychischen Gleichgewicht: Wie wir das Gehirn aktiv unterstützen können

5.Placebos und Nocebos

6. Wie wirken Antidepressiva?

7. Andere Drogen

8. Wie Psychotherapie das Gehirn verändert

9. Elektrisierte Gefühle

10.Welchen Einfluss hat der Lebensstil?

11. Psychische Gesundheit im Fluss

Danksagung

Quellen

Stichwortverzeichnis

Autorin

Für RPL

Einleitung

Freude ist ein so menschlicher Wahnsinn.

Zadie Smith1

Wann waren Sie zum letzten Mal überglücklich?

Im Sommer 2019 feierte ich inmitten eines kleinen Wäldchens bei Cambridge meine Hochzeit. Ich war damals 29, und es war gerade noch rechtzeitig. Ein Jahr später waren viele gleichaltrige Freundinnen verlobt, doch wegen der Pandemie wurden ihre Hochzeiten abgesagt, verschoben oder fanden nur mit den Trauzeugen statt. Doch auch in der Nacht vor meiner Hochzeit gab es eine Katastrophe – wenn auch objektiv etwas kleiner –, denn es setzte Dauerregen ein. Um zwei Uhr früh schüttete es, als hätten sich alle Schleusen des Himmels aufgetan. Ich zog ins Gästezimmer um und lag den Rest der Nacht voller Angst wach, weil ich mir ausmalte, wie die Tische, Stühle, Heuballen und Sofas, die wir aufgebaut hatten, durchnässten. In Gedanken sah ich die komplette schlammverschmierte Verwandtschaft vor mir, alle ein wenig ungehalten über die fahrlässige Entscheidung, eine Hochzeit im englischen Sommer im Freien anzusetzen.

Aber am nächsten Tag war im Wald von dem Unwetter keine Spur. Das Sonnenlicht fiel durch die Blätter und landete sanft auf den Köpfen von Familienmitgliedern, von denen ich lange geglaubt hatte, sie würden niemals zu meiner Hochzeit kommen. Ich sah meine Frau an, und dann war ich zehn Stunden unendlich froh, bis ich irgendwann einschlief (tief und fest – ob es in dieser Nacht regnete, weiß ich nicht).

Glücksgefühle sind flüchtig und nicht quantifizierbar. Glück ist von Natur aus selten und unerwartet – außergewöhnlich und um Längen besser als alles, womit wir im Alltag so rechnen. Viele Tage enthalten keinen einzigen derartigen Augenblick überschäumender Freude. Die meisten Tage haben gute und schlechte Momente, vorhersehbare und unvorhergesehene: einen Überraschungserfolg oder einen unerwarteten Verlust. In diesem Buch geht es darum, wie unser Gehirn ein individuelles Gefühl für psychische Gesundheit konstruiert, indem es lernt, die komplexen, veränderlichen Informationen unserer Umwelt zu vorhersehbaren Konzepten zu ordnen.

Anders als Glück ist Lust ein alltäglicheres Gefühl. Lustvolle Momente erleben wir im Durchschnitt mindestens einmal pro Tag.2 Einige Forschende halten Lustgefühle für einen konkreten Ansatz, über unser Verständnis von »Wohlbefinden« nachzudenken, einen Begriff, der für gewöhnlich über zwei Grundkategorien definiert wird: erstens, sich zu einem bestimmten Zeitpunkt gut zu fühlen, zweitens, grundsätzlich mit dem eigenen Leben im Einklang zu sein. Dabei greifen sie gern auf Aristoteles zurück: Die erste Kategorie bezeichnete Aristoteles als Hedonia – ein angenehmes Glücksgefühl. Diese Kategorie lässt sich gut durch psychologische Experimente messen und bezieht sich auf zwei bekannte Definitionen für »Glück«: »Glück ist die Anwesenheit von Lustempfindung und die Abwesenheit von Schmerz«, sagte der Begründer des klassischen Utilitarismus, Jeremy Bentham (1748 – 1832),3 wohingegen Daniel Kahneman das längerfristige Verhältnis zwischen Alltagsfreuden und Schmerz darunter versteht.4 Sobald die Sozialwissenschaft jedoch vergleichen möchte, wie glücklich man in diesem oder jenem Land ist, bestimmt man eher die zweite Kategorie, Eudaimonia: die Zufriedenheit mit dem Leben samt Realisierung des eigenen Potenzials. Solche Studien beantworten Fragen wie: Sind reiche Menschen mit ihrem Leben zufriedener? (Die Antwort lautet: bis zu einem gewissen Punkt,5 siehe auch Kapitel 10.)

In meinen Augen haben diese traditionellen Kategorien für das Lebensglück viel gemeinsam. Studien zufolge stufen sich Menschen, die im Alltag mehr Lustvolles erleben, auch als zufriedener ein – die Erfahrung von Eudaimonie ist mit Hedonie verknüpft.6 Was kaum überraschend sein dürfte, weil beide Elemente für uns so eng zusammenhängen, dass sie kaum unabhängig voneinander zu messen sind. Ermittelt man das Maß von Hedonie und Eudaimonie mittels getrennter Fragebögen, so ergibt sich bei Menschen auf der ganzen Welt praktisch immer eine Korrelation (0,96), was Zweifel weckt, ob diese Konzepte wirklich trennbar sind – zudem lassen sich die Antworten auf separaten Fragebögen für Eudaimonie und Hedonie mathematisch besser durch einen kompletten Glückswert darstellen als durch zwei voneinander trennbare Konstrukte.7 Das könnte bedeuten, dass lustvolle Momente und grundsätzliche Lebenszufriedenheit zwar unterschiedliche Konzepte sind, am Ende aber dasselbe übergeordnete Glückskon-strukt widerspiegeln.

Seit Jahrzehnten, Jahrhunderten, gar Jahrtausenden streben wir danach, unser psychisches Wohlbefinden zu verbessern, doch Gesellschaft und Wissenschaft haben dieses Thema bis heute nicht gelöst. In diesem Buch werden wir die neurowissenschaftlichen Erklärungen dafür ergründen, was es bedeutet, sich besser zu fühlen – und zwar sowohl vorübergehend als auch dauerhaft. Dazu tauchen wir tief in die Frage ein, woher unser Gefühl für psychisches Wohlbefinden rührt: Wie kann eine kleine, alltägliche Freude individuell Hedonie, also einen lustvollen Moment, vermitteln? Wie tragen unsere Erfahrungen mit erfreulichen und unerfreulichen Ereignissen dazu bei, eine generelle positive oder negative Grundeinstellung zu entwickeln? Wie können kleine Verschiebungen der Mechanismen dahinter unsere psychische Gesundheit beeinträchtigen, und wie lassen sich dieselben Prozesse durch Maßnahmen zur Hebung des Wohlbefindens wie Medikamente, Sport oder Psychotherapie zum Besseren wenden?

Was ist psychische Gesundheit?

Inmitten von Flüssen und Kuhweiden liegt mein Labor bei der MRC Cognition and Brain Sciences Unit, einem Fachbereich der University of Cambridge. Unsere Experimente dort dienen dazu, Hirnprozesse zu verstehen, die die psychische Gesundheit verbessern oder verschlechtern, ganz besonders bei Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen. Langfristig können wir auf diese Weise vielleicht bessere Behandlungsoptionen entwickeln. Aber psychische Gesundheit lässt sich sehr unterschiedlich definieren. Nicht einmal die Neurowissenschaft ist sich bei der Definition einig – geschweige denn die Psychologie oder die Philosophie oder irgendeine andere Fachrichtung, die man diesbezüglich um eine klare Aussage bittet. Man könnte meinen, dass das für eine Wissenschaftlerin wie mich, die sich mit psychischer Gesundheit befasst, ein Problem darstellt. Doch in der Neurowissenschaft stehen spannende Experimente im Vordergrund; philosophische Fragen sind für uns zweitrangig. Manchmal lassen sich Besserungen der psychischen Gesundheit über niedrigere Werte bei einem klinischen Index (zur Einstufung von Depression, Angst, Stress oder anderen Faktoren) nachweisen. Manchmal nutzen wir positive Werte, um das Wohlbefinden zu messen, zum Beispiel bei der Lebenszufriedenheit. Und manchmal leiten wir aus bestimmten chemischen Verbindungen im Gehirn, aus Verhaltensweisen von Mensch oder Tier oder aus aktiven Hirnarealen bestimmte Aspekte von psychischer Gesundheit ab, zum Beispiel Lust, Belohnung und vieles mehr. Ein vollständiges Bild psychischer Gesundheit muss all diese Aspekte beinhalten, das subjektive Erleben und die biologischen Abläufe, und es muss die Querverbindungen dazwischen darstellen.

In diesem Buch verwende ich Begriffe wie »psychisch krank«, »psychische Störung« oder »psychiatrische Erkrankung« als relativ austauschbare Oberbegriffe für Erkrankungen wie Depression, Schizophrenie, generalisierte Angststörung und Ähnliches. Diese eher medizinischen Begrifflichkeiten nutze ich, um hervorzuheben, wann Probleme mit der psychischen Gesundheit so schwer sind, dass sie die Alltagsbewältigung beeinträchtigen und weiteren Diagnosekriterien entsprechen, wobei sich die wissenschaftlichen Oberbegriffe allerdings regelmäßig ändern. Mitunter spreche ich auch allgemeiner von »psychischen Problemen« oder einer »schlechten mentalen Verfassung«, weil man durchaus Probleme haben kann, ohne traditionelle Diagnosekriterien zu erfüllen – und weil nicht alle Probleme sauber in eine Diagnoseschublade passen. Wir sollten uns stets vor Augen führen, dass Menschen, die psychisch angeschlagen sind, ihr persönliches Erleben vielleicht lieber mit Begriffen bezeichnen, die für sie selbst eine bestimmte Bedeutsamkeit besitzen (zum Beispiel als »Erfahrungen« oder »Probleme«, nicht als »Störung« oder »Krankheit« – oder auch umgekehrt).

Ich betrachte psychische Gesundheit im Gehirn als eine Art Gleichgewicht. Rein biologisch überleben Organismen durch Erhaltung der Homöostase, also eines trotz gewisser Veränderungen (wie Außentemperatur, Blutzuckerspiegel oder Flüssigkeitszufuhr) relativ stabilen Zustands im Körper. Im Gleichgewicht zu bleiben, erfordert Veränderung: Zur Senkung der Temperatur schwitzen wir, zur Erhöhung des Blutzuckers essen wir etwas Süßes, nach dem Rennen wird getrunken. Auch das Gehirn bedarf der Homöostase. Seine Ausgeglichenheit erfordert ähnlich flexible Reaktionen auf die Umgebung wie die körperliche Homöostase. Das gilt sowohl innerlich (beim Umgang mit emotionalem Schmerz oder auch Infektionen) als auch äußerlich (weil wir täglich mit diversen Stressfaktoren konfrontiert sind). Entscheidend für dieses Gleichgewicht ist dabei die Fähigkeit unserer Psyche, unser Funktionieren im Alltag zu unterstützen, statt es zu behindern, und so unsere Überlebenschancen zu erhöhen. Bei Menschen, die Phasen schlechter mentaler Verfassung erlebt haben, kann die Psyche mitunter die Alltagsbewältigung, schöne Erlebnisse mit unseren Liebsten oder andere Punkte beeinträchtigen, die für ein gutes Leben elementar sind.

Wie entsteht psychische Gesundheit?

Psychische Gesundheit wird durch diverse Prozesse im Gehirn unterstützt, von der Lust- und Schmerzverarbeitung bis hin zu Motivation und Lernprozessen. Unsere eng mit dem Körper verknüpfte Hirnbiologie erzeugt, erhält und schützt ein ausgeglichenes Gehirn. Vielleicht nutzen Sie längst verschiedene Techniken zur Stabilisierung Ihrer Psyche, die jeweils unterschiedliche Wirkungen auf diese Abläufe im Gehirn haben. Und bestimmt kennen Sie auch konkrete Empfehlungen aus dem Freundeskreis (»Probier’s mal mit Yoga!«), die Ihnen absolut nicht entsprechen. Das liegt daran, dass Maßnahmen, die positiv auf die Psyche einwirken können, nur im Kontext individueller Prozesse in Gehirn und Körper funktionieren – oder auch nicht. Diese permanenten biologischen Prozesse im Gehirn unterliegen vielfach subtilen genetischen Unterschieden, die unsere grundsätzliche Neigung zu bestimmten Denk- oder Verhaltensmustern und Gefühlslagen beeinflussen. Gleichzeitig sind sie von einer großen Bandbreite früherer Erlebnisse geprägt. (Ich sage ausdrücklich »früherer«, weil viele glauben, alle psychisch prägenden Ereignisse fänden in der Kindheit statt. Das Risiko ist zu diesem Zeitpunkt am höchsten, aber geschehen kann so etwas ein Leben lang.) Diese Faktoren sind nicht unabhängig voneinander, sondern sie interagieren. Deshalb können gewisse genetische Prädispositionen durch Umwelteinflüsse verändert werden, und (was weniger bekannt ist) die Reaktion auf bestimmte Umwelteinflüsse kann von der individuellen Erbinformation abhängig sein. »Biologisch« bedeutet aber keinesfalls »statisch«: Diese Faktoren und ihre Wechselwirkungen sind dynamisch, in bestimmten Entwicklungsphasen unverzichtbar und ein Leben lang relevant.

Das liegt daran, dass viele Elemente unseres Nervensystems plastisch sind, also veränderbar, und durch die Umwelt geformt werden. Unter »Nervensystem« verstehe ich in diesem Zusammenhang Gehirn und Rückenmark, aber auch deren ausgedehnte, wechselseitige Kommunikationskanäle mit dem Rest des Körpers. Die Funktion des Nervensystems unterliegt dem Einfluss von Genen, kulturellen Faktoren, ökonomischer Sicherheit, stressbeladenen Lebenserfahrungen, dem sozialen Umfeld, der Ernährung und unserer physischen Verfassung (um nur einige Punkte zu nennen). All diese Faktoren wirken über das Nervensystem auch auf die psychische Gesundheit.

Ist es somit unmöglich, ein Phänomen zu messen und zu quantifizieren, das derart breit gefächerten Einflüssen unterliegt? Zumindest ist es sehr knifflig. Aber jeder Faktor verbessert oder verschlechtert die psychische Gesundheit, indem er im Nervensystem einen physiologischen Prozess verändert. Psychische Probleme können auf ganz unterschiedliche innere und äußere Ursachen zurückgehen, und Sie werden bald feststellen, dass man die Psyche umgekehrt auch durch eine ähnlich große Bandbreite an inneren und äußeren Faktoren stärken oder behandeln kann. Unabhängig von der Ursache bleibt das Gehirn jedoch der Dreh- und Angelpunkt für psychische Gesundheit. Alle Risikofaktoren und Behandlungen wirken letztlich auf das Gehirn.

Das könnte überraschend klingen. Wir gehen häufig davon aus, dass psychische Gesundheit etwas anders funktioniert als körperliche Prozesse an bestimmten Organen oder Organsystemen wie Diabetes oder Herzschwäche. Vielleicht wirkt es sogar herabsetzend, psychische Krankheit als körperlich verankert darzustellen, wo sie doch zweifellos vielen äußeren wie zum Beispiel gesellschaftlichen Faktoren unterliegt. Das gilt allerdings auch für körperliche Erkrankungen anderer Organsysteme – Herz oder Lunge können durch soziale Rahmenbedingungen wie stärkere Luftverschmutzung oder den Zugang zu gesunder Ernährung in die Bredouille geraten. Sozial bedingte Erkrankungen betreffen im Endeffekt unsere Biologie, und jegliche psychische Verfassung wirkt sich letztlich körperlich aus. Eine stabile Psyche und instabile Tendenzen in bestimmten Lebensphasen beruhen auf beständigen biologischen Prozessen im Gehirn, die unsere Wahrnehmung der Außenwelt wie auch des Körpers samt der Innenwelt formen. Wenn diese Prozesse sich verändern oder dieselben Gehirnprozesse zu neuen Ergebnissen führen, können sich Wahrnehmungen verzerren, bis sie maladaptiv werden und unseren Lebenszielen zuwiderlaufen. So entstehen Symptome, die wir als »psychische Erkrankung« einstufen – wenn Gefühle, Gedanken oder Verhalten den Alltag erheblich beeinträchtigen, bis hin zu chronisch gedrückter Stimmungslage und Suizidgedanken (wie bei einer Depression oder einer bipolaren Störung), repetitiven Gedanken, die uns von anderen wichtigen Aspekten des Lebens abhalten (wie bei einer generalisierten Angststörung, sozialen Phobie oder Zwangsstörung) oder einer gestörten Wahrnehmung der Realität (wie bei psychotischen Erkrankungen, zum Beispiel Schizophrenie).

Ein Beispiel für eine allgemeine Gehirnfunktion, die die psychische Stabilität unterstützt, ist die Fähigkeit des Gehirns, Ereignisse zu begreifen und vorherzusagen. Dabei geht es um Hinweise zur Außenwelt (Ist hier irgendwo ein Tiger?) und zum inneren Zustand (Habe ich Hunger? Durst? Angst?). Am stärksten merkt das Gehirn auf, wenn seine Vorhersagen sich als fehlerhaft erweisen, denn dann muss es sein Weltbild anpassen und möglicherweise etwas lernen. Dieses Wechselspiel aus Vorhersagen und Lernen läuft im Alltag oft unbewusst im Hintergrund ab. Zum Beispiel »wissen« wir schon unser Leben lang, dass Dinge zur Erde fallen, selbst wenn man uns das nie ausdrücklich beigebracht hat. In Bezug auf psychische Gesundheit haben wir auch viele andere Dinge gelernt, die Stimmungslage, Emotionen und Gedankengänge beeinflussen: ob wir bei neuen Begegnungen positive oder negative Reaktionen erwarten, ob wir uns von Alltagsaktivitäten hohen oder geringen Lustgewinn versprechen oder wie empfindlich wir auf Schmerz oder andere körperliche Signale reagieren. Solche Erwartungen haben Einfluss auf das Risiko für psychische Erkrankungen.

Positive Emotionen wie Wohlbefinden, Glück, Lust, Freude, Fröhlichkeit eint das Prinzip, dass sie entstehen, wenn ein Ergebnis besser ist als erwartet (aber immer noch im Bereich dessen, was das Gehirn für möglich gehalten hätte). Es ist also hilfreich, Gutes zu erwarten, aber vielleicht noch hilfreicher, Dinge zu erwarten, die nicht ganz so gut sind wie das, was am Ende dabei herauskommt. Das ist die positive Überraschung, die das momentane Wohlbefinden erhöhen kann (siehe Kapitel 3). Manchmal ist eine Erfahrung erheblich besser als erwartet: Eine Hochzeit, die um ein Haar in einem Schlammbad geendet hätte, ist eine überwältigend positive Überraschung, die das Glücksgefühl augenblicklich gewaltig erhöht. Meistens sind Überraschungen jedoch weniger bemerkenswert, sondern geschehen im Rahmen alltäglicher Erlebnisse, die mal ganz normal, mal enttäuschend und mitunter etwas Besonderes sind. Im Laufe der Zeit häufen sich diese Eindrücke und wirken sich auf die Psyche aus. Lernprozesse im Gehirn, die durch (positive und negative) Überraschungen ausgelöst werden, formen unsere Erwartungshaltung und führen allmählich dazu, dass wir die Welt morgen anders erleben werden als heute. Dieser Prozess aus Erwartungen, Überraschung und Lernen zählt zu den Grundbausteinen mentaler Gesundheit. Er liefert Erkenntnisse über unsere Fähigkeit, Resilienz aufzubauen, aber auch darüber, welche Faktoren das Risiko für psychische Erkrankungen erhöhen und auf welche Aspekte der Psyche bestimmte Therapien und Interventionen abzielen.

Das menschliche Gehirn erzeugt aus Erlebnissen und auf der Basis unserer Gene im Verlauf vieler Jahre ein absolut individuelles Weltbild. Genau deshalb gibt es für die psychische Gesundheit kein Allheilmittel. Dass manche Menschen verabscheuen, was andere vergöttern, kann unter anderem an Unterschieden in der Neurochemie des Gehirns liegen. In ähnlicher Weise bedeutet der individuelle Aufbau Ihres Gehirns, dass unterschiedliche Methoden zur Verbesserung der psychischen Gesundheit nur bestimmten Untergruppen der Bevölkerung helfen. Wenn also ein Artikel behauptet, Behandlung X oder Diät Y würde der Psyche helfen oder glücklich machen, bezieht sich dies bestenfalls auf den Durchschnitt einer Gruppe (die mitunter recht klein sein kann). Das kann allerdings auch bedeuten, dass die Behandlung bei einigen Leuten hervorragend angeschlagen hat – und bei anderen gar nicht.

Daher kann etwas, was den einen psychisch hilft, bei anderen schlicht versagen. Der potenzielle Weg zu mehr psychischer Stabilität (ob in einer Klinik oder zu Hause durch Ernährungsumstellung und Sport) kann auch mit persönlichen Risiken einhergehen – mitunter kann er sogar Schaden anrichten, schlicht weil Sie rein biologisch etwas anders ticken. Psychische Gesundheit ist ein Mosaik, das sich aus verschiedenen Faktoren zusammensetzt. Auch wenn Vorhersagen im großen Stil bisher leider nicht möglich sind, arbeitet die Neurowissenschaft mit Hochdruck daran, diese Faktoren objektiv zu messen, um herauszufinden, welche Behandlung bei welchem Patienten anschlägt.

Warum müssen wir psychische Gesundheit überhaupt verstehen?

Herauszufinden, worunter die Psyche leidet und wie man ihr helfen kann, zählt zu den entscheidenden Fragen unserer Zeit. Psychische Probleme verursachen weltweit eine enorme Krankheitslast. Depressionen als die häufigste psychische Erkrankung betreffen global mehr als 250 Millionen Menschen. Die globalen Kosten für psychische Erkrankungen beliefen sich 2010 geschätzt auf 2,5 Billionen US-Dollar und dürften sich bis 2030 noch einmal verdoppeln.8 Wichtiger jedoch sind die katastrophalen Auswirkungen auf die individuelle Lebensqualität. Die breite Mehrheit (über 90 Prozent) derer, die Suizid begehen, leiden an einer psychischen Erkrankung.9 Diese Krise betrifft nicht nur den Westen: 77 Prozent aller Suizide treten in Ländern mit niedrigem bis mittlerem Einkommen auf.10 Suizid ist zudem nicht der einzige und noch nicht einmal der zahlenmäßig größte Mortalitätsfaktor bei Menschen mit psychischen Problemen: Eine schwere psychische Erkrankung (zum Beispiel Schizophrenie, bipolare Störung oder Depression) verringert die Lebenserwartung Schätzungen zufolge um 25 Jahre, insbesondere aufgrund eines erhöhten kardiovaskulären Risikos.11 Das unterstreicht, wie untrennbar körperliche und psychische Gesundheit miteinander verbunden sind. Selbst in reichen Ländern, die viel Geld für psychische Gesundheit aufwenden, helfen unsere besten Therapien (Psychotherapie und Antidepressiva) nur rund der Hälfte der Betroffenen. Das ist ein starker Ansporn für die neurowissenschaftliche Forschung, denn wir möchten bessere Behandlungsoptionen finden.

Allerdings sind psychische Krankheiten nur ein Aspekt psychischer Gesundheit. Für Menschen, die das Glück haben, von schwerwiegenden physischen Krankheiten verschont zu bleiben, ist der Erhalt einer stabilen Psyche ein ebenso relevanter Faktor für die Lebensqualität. Sich glücklicher zu fühlen, ist für sich allein mit einem längeren, gesünderen Leben assoziiert, ganz ohne sonstige Faktoren wie körperliche und seelische Erkrankungen, Alter, Geschlecht und dem sozioökonomischen Status.12 Der Grund dafür ist unklar. Möglicherweise stecken kardiovaskuläre, hormonelle und immunbedingte Veränderungen dahinter, die mit negativen Emotionen einhergehen.13 Umgekehrt korrelieren positive Emotionen mit geringeren Fallzahlen bei Schlaganfall,14 Herzinfarkt15 und sogar Erkältungssymptomen.16 Zwischen Niedergeschlagenheit und einer psychischen Krankheit liegen Welten – dennoch gibt es Überschneidungen beim Einfluss solcher Erfahrungen auf Körper und Gehirn. Die vielleicht besten Informationen, wie das Gehirn die psychische Gesundheit unterstützt, stammen aus Untersuchungen von Menschen mit psychischen Erkrankungen, die uns viel darüber verraten, welche Hirnprozesse Wohlbefinden, Glück und andere positive Aspekte der psychischen Gesundheit stärken.

Was wir über die Voraussetzungen für eine stabile Psyche wissen, klingt mitunter überraschend. Manches, was als gesundheitsschädlich gilt (süße Snacks, Bier trinken, ausgiebig feiern gehen), könnte sich psychisch kurz- oder auch langfristig positiv auswirken. Dieses angeblich »ungesunde Zeug« fällt nämlich unter die zahlreichen Methoden, die psychisch stabilisierenden Systeme des Gehirns zu nutzen. Und das ist keine Übertreibung: Mit Freunden bei einer Fernsehshow herzlich zu lachen, aktiviert im Gehirn dasselbe System wie Heroin (siehe Kapitel 1).

Es geht in diesem Buch also keineswegs darum, alles zu streichen, was Spaß macht, von Zucker bis hin zum Zocken, damit es uns besser geht. Ich werde auch nicht empfehlen, dass Sie dreimal am Tag Achtsamkeitsübungen machen oder Probiotika nehmen müssen. Vielmehr möchte ich erklären, was die Neurowissenschaft darüber herausgefunden hat, wie psychische Gesundheit wirklich funktioniert.

Angefangen bei einigen der allerersten modernen Experimente zur Neurowissenschaft der Lust werden wir uns im Verlauf des Buches mit den aktuellsten Erkenntnissen und Studien beschäftigen, die sich mit neuen Medikamenten, Therapien und komplett anderen Interventionen zur Verbesserung der psychischen Gesundheit befassen. In den verschiedenen Kapiteln geht es um unterschiedliche wissenschaftliche Aspekte mentaler Gesundheit, von denen einige auf der Hand liegen (die Neurobiologie der Lust), andere weniger (die neuronalen Prozesse hinter unserer Motivation), obwohl sie ebenso unverzichtbar sind. Dabei werden wir auch sehen, wie spezielle Substanzen im Gehirn (darunter Dopamin, Serotonin und Opioide) zur psychischen Gesundheit beitragen. Und obwohl das Erleben psychischer Gesundheit aus Prozessen im Gehirn erwächst, ist das Gehirn zugleich eng mit dem Rest des Körpers verknüpft. Ich präsentiere faszinierende neue Erkenntnisse zur Verbindung zwischen körperlicher und psychischer Gesundheit, einschließlich der Einflüsse von Darm und Immunsystem. Diese Verbindung zwischen Körper und Gehirn könnte der Schlüssel zum Verständnis sein, wie Glücklichsein und andere positive Gemütszustände die körperliche Gesundheit stärken können und warum ein gesünderer, sportlich aktiver Körper umgekehrt der Psyche helfen kann.

Wir werden uns mit dem langen Bemühen um Verbesserungen der psychischen Gesundheit befassen: von der Entdeckung der Antidepressiva bis hin zu modernen Experimenten mit psychoaktiven Pilzen, von der Reaktion des Gehirns auf Achtsamkeitsübungen bis hin zu veränderten Schlaf- und Bewegungsgewohnheiten oder auch fortschrittlichen elektrischen Therapien für Depressionen. Und dabei werden wir immer wieder Gemeinsamkeiten finden: neuronale Netzwerke und Prozesse, die psychische Gesundheit bedingen und die Heilung von psychischen Erkrankungen fördern. Diese Standardsignalwege könnten den Hinweis auf neue, personalisierte Behandlungen für psychische Erkrankungen liefern – die Zukunft der gesundheitlich orientierten Neurowissenschaften.

Irgendwann erlebt jeder Mensch psychische und physische Schmerzen und Unwohlsein, und viele von uns brauchen dann eine Behandlung, wobei es mitunter häufig vorkommt, dass sich das viel gelobte Wundermittel des einen für den anderen als Enttäuschung herausstellt. Aber es gibt vieles, was wir ausprobieren können, damit es uns psychisch besser geht. Hierzu zählen Veränderungen der Lebensweise, um psychisch gesund zu bleiben, ein besonderer Fokus auf guten Schlaf und Offenheit für das breite Arsenal psychiatrischer Medikamente und Psychotherapien bei stärkerer Beeinträchtigung.

Wann immer eine neue Therapieform entwickelt wird oder ein anderer Lebensstilfaktor mehr Glück verspricht, gilt dies bestenfalls für einen Teil von uns, im Idealfall für einen großen Teil. Aber nie für alle. Um diese Komplexität zu akzeptieren, ist beim Thema psychische Gesundheit ein Umdenken erforderlich: weg von dem Konzept, dass etwas »wirkt« oder »nicht wirkt«, hin zu einem Verständnis für den Prozess, den etwas beeinflusst, und der Gruppe, der es helfen könnte. Ich hoffe, dass dieses Buch Ihnen auf dem Weg zu dieser neuen Sichtweise hilft, indem es aufzeigt, welche Ratschläge wir aus der neurowissenschaftlichen Forschung ableiten können, um psychisch stabiler zu werden – und welche Ratschläge wir getrost ignorieren können.

Ausgeglichenheit beginnt im Gehirn:

Wie sich psychische Gesundheit zusammensetzt

1. Natürliche Highs: Lust, Schmerz und das Gehirn

Wie wir Schmerz und Lust empfinden, kann individuell extrem unterschiedlich sein und reicht von verstärkter Lust über chronischen Schmerz bis hin zu fehlender Schmerzwahrnehmung. Tatsächlich hängen Lustempfinden und psychische Gesundheit eng zusammen, und ein Leitsymptom für psychische Erkrankungen wie Depression oder Schizophrenie ist die Anhedonie – wenn normalerweise erfreuliche Aktivitäten keine Freude mehr machen oder das Interesse daran fehlt. »Normalerweise erfreulich« ist ein subjektives, nicht wertendes Kriterium und umfasst vielleicht gutes Essen, ein Lieblingsbuch lesen, einen Orgasmus erleben oder andere, ungewöhnlichere Dinge, die jemand gern mag. Bei Anhedonie fühlt sich das, was mich eigentlich glücklich macht, vergleichsweise öde an, weniger erstrebenswert und wertvoll. Eine Störung des Lustempfindens schwächt die Psyche massiv.

Auch Schmerz hat starken Einfluss auf die Psyche, aber in anderer Form. Menschen mit Depressionen geben im Alltag mehr subjektiven Schmerz an, was möglicherweise an einer niedrigeren Schmerzschwelle liegt.17 Dieser Zusammenhang besteht wechselseitig: Menschen mit chronischen Schmerzen (zu denen ich selbst zähle) haben ein erhöhtes Risiko für psychische Probleme.18 Generell steigt die Wahrscheinlichkeit einer psychischen Belastung, je häufiger jemand Schmerz erlebt und unangenehme Erfahrungen macht.19

Warum hängen psychische Gesundheit, Lust und Schmerz so eng zusammen? In diesem Kapitel geht es um die Zusammenhänge zwischen Schmerz und psychischer Belastung, die unter anderem darin wurzeln, dass bestimmte Veränderungen im Gehirn sowohl bei chronischem Schmerz als auch bei psychischen Erkrankungen auftreten. Wir sehen uns an, wie das Gehirn Angenehmes und Unangenehmes normalerweise verarbeitet und was das mit unseren Vorlieben und Abneigungen zu tun hat. Dass wir bestimmte Dinge subjektiv als angenehm, abstoßend oder schmerzhaft erleben, hat großen Einfluss auf Stimmungslage, Gedanken und Verhalten und damit auf die psychische Verfassung. Ob uns etwas angenehm oder unangenehm erscheint, beeinflusst auch, was das Gehirn darüber lernt und was wir in unserer Umgebung gern beschaffen oder aber meiden. Umgekehrt kann eine Verschlechterung der psychischen Verfassung beeinflussen, wie wir die Welt erleben, kann Freude dämpfen und Schmerz verstärken. Deshalb könnten Veränderungen der Schmerz- und Lustwahrnehmung eine Verschlechterung der psychischen Verfassung ankündigen, und die Stabilisierung der Schaltkreise hinter Schmerz und Lust kann umgekehrt ein Weg sein, uns mental gesund zu halten.

Berauscht vom Schmerz?

Die meisten von uns kennen das Gefühl, wenn wir uns nach einem sehr schmerzhaften oder erschreckenden Erlebnis plötzlich wie berauscht fühlen. Biologisch wird dieses Phänomen als stressinduzierte Analgesie bezeichnet. Dieses Gefühl kann während oder nach etwas wirklich Gefährlichem (zum Beispiel Fallschirmspringen) auftreten oder bei etwas eher Harmlosem (sich den Zeh anzustoßen). In beiden Fällen geht zugleich die Schmerzempfindlichkeit vorübergehend zurück.

Ob ein Raubtier hinter mir her ist oder ein Feind angreift – der Körper hat nur noch ein Ziel: überleben. Wenn Lebensgefahr nur Kampf oder Flucht zulässt, wäre ein normales Schmerzempfinden äußerst hinderlich, denn es könnte unser Überleben gefährden. Sich hinzusetzen und den gebrochenen Fuß oder das blaue Auge zu verarzten, ist keine Option. Jeder Schmerz könnte uns davon ablenken, am Leben zu bleiben. Deshalb verfügen wir über stressinduzierte Analgesie, die unter starkem Stress die Überlebenswahrscheinlichkeit erhöht. Vermutlich haben Tiere dank der Fähigkeit, Schmerz in gefährlichen Situationen auszublenden, im Verlauf der Evolution häufiger ausreichend lange überlebt, um diese praktische Eigenschaft an ihre Nachkommen weiterzugeben.

Bis heute äußert sich stressinduzierte Analgesie nicht bei jedem in gleichem Maße, das heißt, diese Eigenschaft ist in der Bevölkerung unterschiedlich ausgeprägt. Quantifizieren lässt sich das durch Messung der individuellen Schmerzschwelle vor und nach einem Stressereignis. Bei manchen Menschen (und manchen Tieren) ändert sich die Schmerzschwelle stärker als bei anderen: Sie sind für stressinduzierte Analgesie deutlich empfänglicher.20 Bei diesen Personen kann akuter Stress die Stimmung auch deutlich heben – bei Gefahr fühlen sie sich besonders euphorisch. Wenn Sie (wie ich) wenig Lust auf Unternehmungen haben, die mit viel akutem Stress verbunden sind, ist die stressinduzierte Analgesie bei Ihnen wahrscheinlich eher gewöhnlich ausgeprägt. (Menschen wie uns kann dennoch schwindelig werden, wenn wir uns den Zeh anstoßen, aber wir werden nicht unbedingt den Wunsch verspüren, das zu wiederholen.)

Die stressinduzierte Analgesie wurde in den 1980ern über Experimente mit »heißen und kalten Bädern« bestimmt. Dabei ließ man Ratten für eine festgelegte Zeit in unterschiedlich temperiertem Wasser schwimmen. Danach wurden die Ratten abgetrocknet und ihre Schmerzreaktion gemessen. Kurzes Schwimmen in kaltem Wasser, zum Beispiel drei Minuten bei 15 Grad Celsius, reduzierte die Schmerzreaktion. Viele Menschen mögen ein warmes Vollbad, wissen aber durchaus, dass kalte Bäder oder Schwimmen in kaltem Wasser euphorisch machen können. Wer sich dem kurzen Schmerz freiwillig aussetzt, schwört auf kaltes Wasser!

Die stressinduzierte Analgesie geht auf ein säugetierspezifisches System endogener Opioide im Gehirn zurück, das bei Schmerz und Stress aktiviert wird. Diese Substanzen dienen nicht nur der Schmerzunterdrückung (wie jeder weiß, der schon einmal ein opioidhaltiges Medikament wie Kodein eingenommen hat), sondern sorgen auch für ein schummeriges Gefühl.

Kurzes Schwimmen im kalten Wasser, das leichten Stress auslöst, lindert Schmerzen, weil es die Freisetzung körpereigener Opioide provoziert.21 Diese Substanzen werden meist pauschal als Endorphine bezeichnet, eine Verkürzung für »endogene Morphine« (»endogen« bedeutet »aus dem Körperinneren stammend«). Sie binden sich wie Opium oder Morphium an die für sie vorgesehenen Opioidrezeptoren im Gehirn. Opioidhaltige Medikamente imitieren die Wirkung dieser Endorphine. Wenn natürliche oder medikamentöse Opioide an diese Rezeptoren andocken, wird eine Verkettung zellulärer Prozesse ausgelöst, die unter anderem die Aktivität einiger Neuronen und die Ausschüttung anderer Hirnchemikalien hemmen.22 Diese Signalkaskade verändert die Kommunikation von Gehirnregionen mit Opioidrezeptoren bis in andere Gehirnregionen und ins Rückenmark, wo eingehende Schmerzsignale aus dem Körper gedämpft und bewertet werden.23 Endorphine können einen natürlichen Rausch auslösen (Schwindel, Entspannung, Euphorie), der sich angenehm anfühlt und die Schmerzempfindlichkeit herabsetzt. Unter bestimmten Umständen kann mäßiger Stress deshalb dazu führen, dass man sich gut fühlt, weil das Gehirn dann Opioide (und andere chemische Stoffe) freisetzt. (Sollten Sie zufällig die Budapester Thermalbäder besuchen, deren Temperaturen von wohlig warm bis hin zu schmerzhaft kalt reichen, können Sie das Experiment einmal an sich selbst ausprobieren.)

Aber auch wer keine große Lust hat, in kaltem Wasser zu baden, könnte Glück haben: Es gibt eine Vielzahl kurzer Stressfaktoren, mit denen Menschen natürliche Opioide freisetzen können. Sogar Aktivitäten, die evolutionstechnisch unerwartet sind (zum Beispiel sich aus einem Flugzeug zu stürzen), scheinen dasselbe Opioidsystem anspringen zu lassen wie unsere evolutionäre Überlebensreaktion. Die Opioide gegen akuten Schmerz bewirken (zumindest für manche Menschen) angenehme Reaktionen auf kurzfristigen Stress. In einer Studie senkte Fallschirmspringen die Schmerzempfindlichkeit vergleichbar mit den kalten Bädern für Ratten, was auf Opioidausschüttung hindeutet.24 Bekamen die Teilnehmenden unmittelbar vor dem Sprung ein Mittel, das die Opioidwirkung hemmte, so blieb ihre Schmerzempfindlichkeit höher als bei den Probanden, die ein Placebo erhielten. Das bestätigt, dass die geringere Schmerzempfindlichkeit mit dem endogenen Opioidsystem zusammenhängt. Andererseits war dies eine kleine Studie, und die Schmerzempfindlichkeit wurde erst nach der Landung überprüft (im freien Fall die Schmerzempfindlichkeit zu testen, dürfte selbst für die unerschrockensten Forschenden einen Schritt zu weit gehen).

Auch bei Ratten lässt sich stressinduzierte Analgesie durch diverse Überraschungen auslösen. Schmerz zählt selbstverständlich dazu: Natürliche Opioide, die nach einem kurzen, schmerzhaften Elektroschock frei werden, wirken bei Ratten anschließend schmerzmindernd.25 Einen ähnlichen Effekt hat Rotation in einem bestimmten Tempo (bitte nicht mit Haustieren nachahmen!). Wie Wassertemperaturen und Fallschirmspringen haben all diese Stressauslöser etwas gemeinsam: Sie sind mild und vorübergehend.aSchon wenn eine Ratte etwas zu schnell rotiert (was offenbar unangenehmer ist als langsamere Rotation), bleibt die Opioidausschüttung aus. Der Grund dafür ist nachvollziehbar. Eine vorübergehende Schmerzunterdrückung ist nützlich, denn sie kann den drohenden Tod hinauszögern oder uns trotz Verletzung vor einem Raubtier fliehen lassen. Wenn auch anhaltender extremer Stress den Schmerz unterdrücken würde, wäre uns weniger daran gelegen, bedrohlichen Situationen zu entkommen oder Schmerzquellen zu vermeiden.

Schmerz ist ein wichtiges, nützliches Signal. Menschen, die dank seltener genetischer Merkmale keinen Schmerz empfinden können, drohen schwere körperliche Konsequenzen wie Verbrennungen, Knochenbrüche oder abgebissene Zungen. Schmerz und Stress sind zwar unangenehme Gefühle, können aber zugleich unbemerkte Lust erzeugen, bis wir außer Gefahr sind – und selbst wenn sie sehr unangenehm sind, erhöhen sie die Überlebenschancen.

Inzwischen fragen Sie sich vielleicht, was stressinduzierte Analgesie mit psychischer Gesundheit zu tun hat. Ihr persönliches Schmerz- und Lustempfinden (und dessen schlichterer Gegenpart von Vorlieben und Abneigungen) prägt Ihre Alltagshedonie und trägt damit zur gegenwärtigen und künftigen psychischen Verfassung bei. Menschen reagieren extrem unterschiedlich auf unangenehme Situationen und Schmerzen. Das beste Beispiel dafür ist chronischer Schmerz, der bei den Betroffenen psychisch verheerende Folgen haben kann.

Was chronischer Schmerz uns kostet

Anhaltender Schmerz kann das Gegenteil von stressinduzierter Analgesie auslösen: Gehirn und Nervensystem werden im gesamten Körper immer schmerzempfindlicher. In diesem Fall spricht man von Hyperalgesie (dem Gegenteil von Analgesie, der Abwesenheit von Schmerz).26 Hyperalgesie entsteht zumeist nach Verletzungen oder physiologischen Schäden aufgrund von lokalen Gewebsveränderungen. Diese lokalen Veränderungen erzeugen eine Hypersensibilität gegenüber Schmerzen (oder mitunter auch Berührung oder Bewegung) und erhöhen die Vigilanz, denn man möchte sich weitere Verletzungen ersparen und den Körper schützen. Kurzfristig ist Hyperalgesie sehr hilfreich. Bei chronischen Schmerzen kann sie jedoch länger andauern als die Gewebeschäden. Es besteht keine akute Notwendigkeit mehr, den Körper vor weiteren Schäden zu bewahren, aber die verstärkte Schmerzwahrnehmung bleibt. Dahinter stecken wahrscheinlich Veränderungen in Hirnregionen, die an Körperwahrnehmung, Aufmerksamkeit und Emotionen beteiligt sind.27 Von dort gehen Signale an die sensorischen Regionen im Gehirn sowie über das Rückenmark in den Körper und erzeugen auf diese Weise körperliche Schmerzen, die im Gehirn ihren Ursprung haben. Selbst wenn die unmittelbare körperliche Schmerzempfindung also vorbei ist (zum Beispiel der Knochenbruch vollständig verheilt ist), kann im Gehirn immer noch ein Schmerzsignal vorliegen, das uns mitteilt, dass wir körperlich Schmerzen haben.

Besonders bei Menschen mit chronischen Schmerzen spielt das eine wichtige Rolle. Laut einer großen Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) litten Teilnehmende, die länger als sechs Monate ständige Schmerzen hatten, viermal häufiger an Angststörungen oder Depressionen. Aus meiner Sicht kommen für den engen Zusammenhang zwischen chronischen Schmerzen und psychischer Gesundheit zwei Erklärungen infrage. Die eine liegt auf der Hand: Schmerzen sind unangenehm, lästig und im Alltag störend. Eine derart leidvolle Erfahrung beeinträchtigt natürlich auch die Psyche. Diese Erklärung kann ich gut nachvollziehen, weil ich seit einem Unfall vor 16 Jahren immer wieder unter chronischen Schmerzen durch Arthrose im Fuß leide. Wer chronische Schmerzen kennt, weiß, wie anstrengend es ist, den Launen des Körpers unterworfen zu sein: Gegen das Diktat der Schmerzen kommt auch ein noch so starker Wille nicht an. Der Schmerz hat immer das letzte Wort, und das macht der Psyche natürlich zu schaffen. Aber die Kausalität verläuft nicht nur in eine Richtung.

Länder- und kulturübergreifend besteht eine gegenseitige Beziehung zwischen chronischen Schmerzen und psychischer Gesundheit.28 Wer chronische Schmerzen hat, entwickelt eher eine Depression, aber Menschen mit Depressionen entwickeln auch deutlich häufiger chronische Schmerzen.29 Woran könnte das liegen?

Einerseits könnten Depressionen verändern, wie das Gehirn auf Schmerz reagiert, andererseits könnte die Anfälligkeit für chronische Schmerzen sich auf das Depressionsrisiko auswirken. Für beide Optionen gibt es Belege. Die biologischen Mechanismen, die chronische Schmerzen hervorrufen, haben viel mit denen gemein, die an Depressionen beteiligt sind. Sehr auffällig ist, dass die Hirnareale, die bei chronischen Schmerzen beeinträchtigt sind, anatomisch stark mit den Arealen überlappen, die bei Depressionen oder Angst (und vermutlich vielen anderen psychischen Erkrankungen) beeinträchtigt sind.30 Viele physiologische Prozesse, die chronischen Schmerzen zugeordnet werden (zum Beispiel vermehrte Entzündungen), scheinen auch bei psychischen Erkrankungen eine kausale Rolle zu spielen.31 Diese Parallele verrät auch etwas über chronische Schmerzen an sich. Aus meiner langjährigen Erfahrung als Betroffene weiß ich, dass Ärzte im Gespräch mit Patienten sehr gern betonen, dass diese Schmerzen »nicht nur in Ihrem Kopf« sind, sondern sehr real. Doch als Neurowissenschaftlerin weiß ich auch, dass das nur die halbe Wahrheit ist. 

Studien zu chronischen Schmerzen belegen, dass die Chronifizierung neurologisch gesehen mehr mit einer psychischen Beeinträchtigung zu tun haben könnte als mit akutem Schmerz. Bei akuten Schmerzen nach einer Verletzung oder anderen körperlichen Schäden werden Schmerzrezeptoren aktiv, die als Nozizeptoren bezeichnet werden und dem Rückenmark über das Nervensystem Informationen über Gewebeschäden übermitteln. Das Rückenmark leitet diese Informationen an die sensorischen Schmerzschaltkreise im Gehirn weiter. Das ist sozusagen der »Aufwärts«-Signalweg für Schmerz: Der Körper funkt dem Gehirn Signale zu. Mit der Zeit können Schmerzrezeptoren sensibler werden oder abstumpfen und die Schmerzreaktion dementsprechend verstärken oder mindern.32 Aber wenn die Signale der Nozizeptoren das Gehirn erreichen, entspricht die empfundene Schmerzintensität nicht unmittelbar der Information, die von den Nozizeptoren übermittelt wurde. Das körperliche Schmerzempfinden wird zudem durch ein deutlich breiteres emotionales und kognitives Erleben ergänzt, das uns beunruhigt, ablenkt und Aufmerksamkeit beansprucht und ebenfalls zu dem gehört, was wir unter »Schmerz« verstehen. Chronische Schmerzen können also auf echten Schmerzwahrnehmungen beruhen, aber auch von anderen kognitiven Prozessen im Gehirn herrühren.

Wenn man gerade selbst Schmerzen hat, ist dieses Konzept schwer nachvollziehbar. Solange man auf einen schmerzenden Punkt deuten und beschreiben kann, wie der Schmerz entsteht und was ihn lindert, kommt es uns absurd vor, dass der Schmerz nicht von dort stammen könnte. Aber das Schmerzempfinden wird auch von Hunger, Erregung, Stress, Ablenkung, früheren Schmerzerfahrungen und unseren Genen beeinflusst (unter anderem).33 Der tatsächlich empfundene Schmerz entsteht über unbewusste Prozesse im Gehirn und bezieht Erwartungshaltungen zum Körper ein. Mitunter sind diese Prozesse so mächtig, dass sie nicht einmal mehr Impulse von den Nozizeptoren benötigen, um Schmerzsignale in die sensorischen Systeme zu schicken.

Chronische Schmerzen werden durch die Erwartung des Gehirns zur Schmerzbedeutung verstärkt, und wenn der Schmerz als bedrohlich interpretiert wird, kann dies die Schmerzwahrnehmung sogar erhöhen.34 Empfindungen, die früher mit Schmerzen einhergingen, können irgendwann eigenständig Schmerz erzeugen, indem sie auch bei schmerzfreier Aktivierung eine Schmerzreaktion in Gang setzen.35 Auf diese Weise können chronische Schmerzen vom Gehirn selbst erzeugt oder aufrechterhalten werden, ohne dass die Nozizeptoren irgendetwas signalisieren. In diesem Fall ist der Schmerz tatsächlich »nur in unserem Kopf«.

Wer sich mit chronischen Schmerzen auskennt, kann dieser Erkenntnis auch ihr Gutes abgewinnen. Denn wenn Schmerz durch Prozesse aufrechterhalten werden kann, die denen von psychischen Erkrankungen sehr ähnlich sind, brauchen wir nicht unbedingt immer Schmerzmittel. Wir könnten auch unsere Erwartungen bezüglich der Schmerzen verändern.

Auf dieses Phänomen stieß ich vor Jahren rein zufällig. Ein Orthopäde verordnete mir Steroidinjektionen in den Bereich der alten Verletzung, weil er hoffte, meine Schmerzen damit so weit zu lindern, dass wir eine Operation hinauszögern könnten (sonst hätte ich einen Gelenkersatz im Fuß benötigt). Die ausgeprägte Arthrose hatte er über MRT-Aufnahmen diagnostiziert, aber bei manchen Menschen können Steroide die Schmerzen erfolgreich lindern, indem sie die lokale Entzündung eindämmen. Ich hatte Glück – mir half die Behandlung.

Und ich war sogar in doppelter Hinsicht ein Glückspilz. Eigentlich lässt die Wirkung solcher Injektionen nach etwa sechs Monaten nach, aber bei mir ist das inzwischen acht Jahre her, und ich hatte nie wieder so massive Schmerzen wie vor der Behandlung. Ja, die Schmerzen sind meistens vorhanden, aber sie sind lange nicht so einschränkend, und ich brauchte keine Operation. Was der Chirurg von damals dazu sagen würde, weiß ich nicht. Meine eigene Hypothese lautet: Die Steroidinjektionen konnten vorübergehend einen Teil der »Aufwärts«-Schmerzen hemmen, die durch die Entzündung in meinem Fuß entstanden. Diese zeitweise Linderung hatte jedoch eine weitaus langfristigere Wirkung auf meine Schmerzschwelle, und das konnte nur auf Veränderungen im Gehirn beruhen. Das wiederum bedeutet, dass nur ein Teil der Schmerzen von der Entzündung in meinem Fuß stammte. Was ich empfand, war von meinem Gehirn stark gefiltert worden. Möglicherweise haben jahrelange Schmerzen die Signalwege in meinem Gehirn so geformt, dass sie an Schmerzen gewöhnt waren, sie beobachteten, erwarteten und das körperliche Schmerzempfinden mittlerweile verstärkten.

Normalerweise spreche ich selten über meine persönlichen Schmerzerfahrungen, denn am Ende ist es lediglich eine Fallgeschichte – kein empirischer Datensatz. Es ist definitiv keine Turbolösung für alle, und wahrscheinlich brauche ich irgendwann doch noch eine Operation, weil eine Steroidinjektion (so erfolgreich diese auch war) den arthrosebedingten Knochenabbau nicht verhindern kann. Meine Anekdote zeigt jedoch, dass mitunter sogar Schmerzen mit sichtbaren, »echten« Ursachen stark vom Gehirn erzeugt sein können. In meinem Fall wirkte eine lokale Akutbehandlung weit länger, als plausibel erwartbar gewesen wäre. Bei anderen Menschen kann die sichtbare, physische Ursache sogar fehlen, aber dennoch erzeugt ihr Gehirn grausame Schmerzen, die sich absolut echt anfühlen.

Im Einzelfall können Schmerzen von jetzt auf gleich entstehen oder stärker werden – womöglich hat das Gehirn gelernt, sie zu erwarten und zu fürchten und alles potenziell Schädliche schon in einem sehr frühen, harmlosen Stadium zu registrieren. In anderen Fällen kann das Gehirn Schmerzen auch positiv beeinflussen, ähnlich wie ein Placebo (Placebos haben einen schlechten Ruf, können aber genial sein; mehr dazu in Kapitel 5). Jedenfalls können chronische Schmerzen wirklich »nur in Ihrem Kopf« sein, obwohl Sie sie definitiv anderswo spüren. Manche Forschenden würden sogar die Aussage unterschreiben, dass der Schmerz immer nur in unserem Kopf ist, weil jede Schmerzerfahrung von höheren Hirnfunktionen wie Aufmerksamkeit oder Ablenkung moduliert und beeinflusst wird. Das eigentliche Problem ist die Vorstellung, dass etwas, das »nur in meinem Kopf« ist, weniger real wäre. Doch sowohl bei Schmerz als auch bei Depressionen gilt: Was »nur in meinem Kopf« ist, ist absolut real und genauso physiologisch wie eine Verletzung oder eine Infektion.

Wo im Gehirn ist der Sitz der Lust?

Dass leichter Stress und Fallschirmspringen lustvolle Gefühle auslösen können, ist schön und gut. Doch ich glaube, dass wir alle auch andere, gewöhnlichere Lustquellen kennen – zudem würde ich keineswegs empfehlen, sich leichte Schmerzen zuzufügen, um sich kurzzeitig gut zu fühlen. Erfreulicherweise werden Opioide und andere lustvermittelnde Neurochemikalien nicht nur bei akutem Schmerz oder Stress ausgeschüttet. Vieles, was wir als lustvoll empfinden – wie Essen, Sex, Sport, soziale Kontakte und Lachen –, hat eine ähnliche Wirkung aufs Gehirn, denn dabei werden lustvermittelnde Opioide freigesetzt und weitere chemische Veränderungen im Gehirn angestoßen.

So wie stressinduzierte Analgesie auf chemische Veränderungen im Gehirn und die daraus resultierende Signalkaskade zwischen Gehirn und Rückenmark zurückgeht, können erstaunlicherweise auch angenehme Erlebnisse Schmerzen lindern. Zum Beispiel kann Sex bei männlichen wie weiblichen Ratten die Schmerzempfindlichkeit senken.36 Einige Studien zeigen, dass dies auch auf Menschen übertragbar sein kann. Immer wieder wird anekdotisch berichtet, dass Sex bei Migränepatienten eine Migräne lindern kann. Großen Umfragen zufolge gilt dies für etwa 60 Prozent der Menschen mit Migräne. Allerdings muss ich Sie warnen: Bei Cluster-Kopfschmerzen besteht bei Sex während einer Schmerzepisode die ebenso große (wenn nicht größere) Gefahr der Schmerzverschlimmerung.37 Wenn Sie also nicht ganz genau wissen, woher Ihre Kopfschmerzen rühren, ist es das Risiko vielleicht nicht wert.

Aber wie entsteht »Lust« im Gehirn und warum ist sie in der Lage, Schmerzen zu reduzieren? Zu dieser Frage gab und gibt es zahlreiche Experimente an Tieren, Menschen oder mittels Computersimulationen. Wir können beobachten, wie etwas funktioniert, oder in die natürliche Funktion eingreifen, um zu sehen, was in diesem Fall passiert. Der kniffligste Aspekt ist die Identifikation der Hirnregionen, die Lustreaktionen generieren – denn deren Beteiligung ist nicht auf Lust beschränkt. Was hat die Wissenschaft also getan?

Zunächst einmal musste man überlegen, wie sich überhaupt messen lässt, was das Gehirn gerade anstellt. Um zu bestimmen, wie stark Gehirnzellen feuern, müsste man eigentlich den Schädel öffnen und die elektrischen Impulse über winzige Elektroden messen. Das bei gesunden Menschen zu versuchen, wäre natürlich höchst unethisch. Exakte Daten für die Neurobiologie der Lust werden daher zunächst am Rattengehirn erhoben, während die Ratte etwas Angenehmes tut, und dann mit weniger angenehmen Erfahrungen verglichen. Womit sich ein zweites Problem stellt: Woher weiß ich, dass die Ratte Lust empfindet? Dazu könnte man messen, wie bereitwillig eine Ratte sich anstrengt, indem sie beispielsweise einen Knopf drückt oder zu einer Belohnung flitzt. Aber wir wissen auch, dass sich Ratten (und Menschen) auch ohne unmittelbare Aussicht auf Lust große Mühe geben können (Kapitel 4 geht näher darauf ein). Wie also messe ich, ob einem Tier etwas gefällt? Hier kommt die Mimik ins Spiel. Schon zu Darwins Zeiten wurde der »genießerische« Gesichtsausdruck beschrieben, der sich bei Menschen, Primaten oder auch Ratten beobachten lässt.38 Dieser Ausdruck zeigt sich, wenn man einer Ratte (oder einem Baby) Zuckerwasser auf die Zunge träufelt. Beide strecken sofort rhythmisch die Zunge heraus und lecken sich die Lippen. Als Wissenschaftlerin kann ich die Lust einer Ratte also bestimmen, indem ich beispielsweise zähle, wie oft sie sich die Lippen leckt, gleichzeitig prüfen, welche Elektroden im Gehirn dabei Signale geben, und – voilà! – schon ist das Gehirnareal für Lust im Rattenhirn gefunden.

Diese Methode hat allerdings gewisse Grenzen. Was ist, wenn die Ratte sich nicht nur aus Lust die Lippen leckt? Oder wenn nicht jede Lust dieses Verhalten auslöst, sondern nur solche Lust, die mit Nahrung zu tun hat? Das Problem beim Interpretieren vom Züngeln als Lustsignal ist, dass man die Ratte nicht fragen kann. Wir wissen nicht, ob sie den Geschmack wirklich mag. In diesem Experiment muss man den Mentale-Inferenz-Fehlschluss einbeziehen, mit dem sich die Neurowissenschaftlerin Lisa Feldman Barrett gründlich befasst hat.39 Weil Tiere uns nicht sagen können, was sie denken, ist unsere Projektion einer Erfahrung (Lust) auf einen beobachtbaren Messwert (Zunge vorschieben) definitionsgemäß nur eine sehr grobe Schätzung.

Dieses Experiment funktioniert also nur, wenn man genau weiß, wie sich das Versuchstier dabei fühlt: Wir müssen prüfen, ob es Glück, Unglück, Ekel, Ärger oder Genuss empfindet. Wenn man solche Experimente am Menschen durchführen könnte, würde uns dies die Sache deutlich erleichtern. Menschen können wir nach Lustempfindungen fragen und hoffen, dass sie uns die Wahrheit sagen. (Ich selbst habe mich bei allen meinen Experimenten für ebendiesen Weg entschieden, was mir das Leben deutlich leichter macht.)

Allerdings stoßen wir bei der Messung von Lust und Genuss beim Menschen bald auf neue Hindernisse. Beim Menschen kann die Neurowissenschaft nämlich nicht einfach das Feuern einzelner Hirnzellen messen – außer in ganz speziellen Fällen, zum Beispiel bei Kontrollen im Rahmen von Gehirnoperationen. Stattdessen nutzen wir verschiedene Bildgebungstechniken, um die elektrische Aktivität im Gehirn oder vergleichbare Parameter unter Realbedingungen zu messen.

Anfänglich wurden solche Experimente mittels Positronenemissionstomografie (PET) durchgeführt, mit der man unter anderem die Stoffwechselaktivität im Gehirn bestimmen konnte, die in etwa der neuronalen Aktivität entspricht. Für eine PET-Aufnahme werden vorab radioaktive Marker injiziert. Bereiche mit hoher Stoffwechselaktivität fallen dann im Gehirn (oder im Körper) durch hohe Radioaktivität auf, die aufgezeichnet und als Bild rekonstruiert werden kann. So sieht man annähernd, wo die Neuronen im Gehirn aktiv waren.

Inzwischen bevorzugt die Wissenschaft eine etwas neuere Technik, die anatomisch spezifischer messen kann, die funktionale Magnetresonanztomografie (fMRT). Solche Aufnahmen haben Sie vielleicht schon gesehen: fMRT-Bilder erzeugen bunte Flecken an verschiedenen Stellen einer MRT-Aufnahme. Wenn Sie also von speziellen Funktionen bestimmter Gehirnregionen hören, leiten sich diese Aussagen normalerweise aus dem Durchschnitt vieler Messungen bei einer Person ab, die im Gerät liegt und dabei beispielsweise eine Abfolge ähnlicher Bilder ansieht. Dieser Durchschnitt wird dann mit dem Durchschnitt anderer Versuchspersonen verglichen (aus statistischen Gründen idealerweise möglichst vieler).

Bei der fMRT wird im ganzen Gehirn der Sauerstoffgehalt im Blut bestimmt und daraus auf die Neuronenaktivität geschlossen. Die entstehenden Bilder haben eine höhere Auflösung als PET-Scans, in manchen Arealen bis auf einen Kubikmillimeter. Allerdings steigt und fällt die Sauerstoffsättigung im Blut sehr langsam, nämlich über Sekunden, wohingegen Neuronen weitaus schneller feuern. fMRT kann also unmöglich mit dem tatsächlichen Tempo der Hirnaktivität mithalten, sondern gibt Auskunft über die ungefähre Gehirnaktivität innerhalb von Zeit und Raum. Wegen dieser technischen Grenzen des fMRT (und anderer Bildgebungstechniken für das Gehirn) arbeitet die Neurowissenschaft eng mit der Physik zusammen, die weiß, wie man die vom MRT-Gerät erzeugten Magnetfelder für die bestmöglichen Bilder justiert und optimiert. Doch selbst nach Überwindung dieser technischen Hürden hat die fMRT ihre unüberwindlichen Grenzen: Auch sie misst nicht unmittelbar die chemisch-elektrische Aktivität der Gehirnzellen und verfügt nicht über die nötige Auflösung, um Signale einzelner Hirnzellen aufzuzeichnen. Ein Kubikmillimeter Gehirn (eine respektable Auflösung für fMRT-Experimente am Menschen) enthält immerhin rund eine Million Neuronen. Die überzeugendste Evidenz ist somit die konvergente Validität, bei der ein Experiment am Menschen etwas bestätigt, was sich auch im Tierexperiment zeigt.

Was uns zu unserem Lustexperiment zurückführt: Wie finden wir Regionen, die das Gefühl »Lust« erzeugen? Für konvergente Validität im Kontext Lust sind tatsächlich zwei Experimente erforderlich: Das eine misst die präzise Gehirnaktivität bei Ratten, allerdings mit einem unpräzisen Maßstab für Lust. Das andere misst ebenso unpräzise die ungefähre Gehirnaktivität beim Menschen, allerdings mit einem verifizierten, subjektiven Maßstab für Lust.

Jetzt müssen Sie festlegen, was den freiwilligen Testpersonen zuverlässig Lust vermittelt. Eine beliebte Methode ist ein Schluck Kakao direkt in den Mund – nachdem zuvor überprüft wurde, ob alle Testpersonen Schokolade mögen. (Auf Partys ist dieser Test mitunter auch mit Alkohol beliebt, auch wenn das nicht die optimale Umgebung für wissenschaftliche Experimente ist.) Die Flüssigkeit direkt in den Mund zu verabreichen, hat in Bezug auf ein MRT den unvergleichlichen Vorteil, dass die Person nicht kauen oder sich anderweitig bewegen muss. Nur wenn jemand absolut stillhält, bekommt man ein hochwertiges, klares MRT-Bild – denn würde die Person beispielsweise einen Donut kauen, wären die Aufnahmen sehr verwaschen.

Nach der Entscheidung für die Lustquelle wird beobachtet, was sich im Gehirn der Testpersonen abspielt, während diese Lust empfinden. Dafür schieben wir unsere Freiwilligen nacheinander in das Gerät und analysieren deren fMRT-Aufnahmen. (Das dauert ewig und passiert im Gegensatz zur Darstellung in Fernsehserien nicht parallel zum Scan.) Und, heureka!, bei allen Testpersonen werden bei dem Schluck Kakao dieselben Hirnregionen aktiv. Das sind demnach die Lustzentren im Gehirn.

Etwas später erwähnen Sie Ihre großartige Entdeckung beim Feierabendbier gegenüber einer Kollegin, und es stellt sich heraus, dass genau diese Kollegin gerade Experimente an Schlaganfallpatienten durchführt, bei denen ausgerechnet eine der Regionen geschädigt ist, die Sie bei Ihrem Schokolustnetzwerk identifiziert haben. Die Schlaganfallgeschädigten sollten demnach keine Lust mehr empfinden. Nun bitten Sie Ihre Freundin, diese Hypothese in ihren Experimenten zu überprüfen, und stellen fest, dass die Betroffenen ein in jeder Hinsicht normales Lustempfinden zeigen. Die ermittelte Gehirnregion korrelierte demnach zwar erkennbar mit dem Erlebnis »Ich trinke Kakao« aus Ihrem ersten Experiment, war aber nicht für die Generierung von Lust zuständig. Denn ihr Verlust behinderte nicht das Erleben von Lust.

Der Grund dafür ist ein klassischer statistischer Fehler, den Menschen mit einem Faible für Statistik (jedoch keinem für soziale Interaktion!) prompt einwerfen, wann immer er ihnen auffällt: »Korrelation ist nicht Kausalität!« Dass zwei Dinge gleichzeitig auftreten, lässt leider keinen Rückschluss auf einen kausalen Zusammenhang zu. Es ist also wichtig, bei jeder Meldung über Gehirnregionen oder Botenstoffe im Gehirn, die angeblich ein Erleben oder Verhalten »hervorrufen«, daran zu denken, dass dies möglicherweise nicht stimmt, sofern man diese Region oder diese Substanz nicht durch gezielte Manipulation, wie zum Beispiel durch Medikamentengabe oder Hirnstimulation, verändern und ebendieses Ergebnis provozieren kann. Bildgebung reicht dafür nicht aus. Es kommt immer darauf an, diverse Experimente einzubeziehen. Nur so lässt sich mit größerer Sicherheit feststellen, welche Hirnregionen oder Substanzen Lust, Schmerz und andere Empfindungen erzeugen können. Natürlich betrifft dieses Problem nicht nur die Bildgebung. In diesem Buch geht es immer wieder um starke, glaubhafte Korrelationen beim Menschen oder überzeugende kausale Evidenz beim Tier, die in Bezug auf die psychische Gesundheit des Menschen nicht unbedingt kausal sind.

Bei der nächsten Meldung, dass (beispielsweise) Schokoladenverzehr gegen Depressionen hilft, weil er das Gehirn verändert, sollten Sie sich somit fragen: Gibt es wirklich einen kausalen Zusammenhang zwischen Schokoladengenuss und weniger Depressionen? Oder essen glückliche Menschen einfach mehr Schokolade? Und wenn doch eine Kausalität bestünde – gilt das nur für Schokolade oder für alle Süßigkeiten? Und was könnte bei Schokolade ausschlaggebend sein, der Geschmack oder ein spezieller Inhaltsstoff?

Es wurden schon viele Experimente wie unser hypothetischer Kakaoversuch durchgeführt. Dabei zeigte sich, dass mit einem angenehmen Geschmack viele Gehirnregionen assoziiert sind. Die Neuronen im orbitofrontalen Cortex, der Hirnregion hinter den Augen, analysieren zum Beispiel sorgfältig, wie gut uns etwas schmeckt. Ihre Aktivität ist eng an Lust gekoppelt (Korrelation). Allerdings bezieht sich diese Koppelung mit lustvollen Aktivitäten nicht nur auf schmackhaftes Essen. Viele Menschen dürften die berauschende Freude kennen, die bestimmte Musik hervorruft. Vor 20 Jahren bestimmten Anne Blood und Robert Zatorre mittels PET