Das Ballett-Institut - William Prides - E-Book

Das Ballett-Institut E-Book

William Prides

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Beschreibung

Madame Elenor, ehemalige Tänzerin mit einer dunklen Lücke in ihrer Biographie, führt in ihrem Institut ein strenges, aber stilvolles Regime. Ihren Schützlingen läßt sie eine einzigartige Mischung aus Unterricht und Therapie zuteil werden. Sie fürchten Madame ebenso, wie sie sie insgeheim achten. Niemand ist ohne Grund dort, nicht wenige finden erst hier zu sich selbst. Die kleine Erzählung beschreibt die verschiedenen Schicksale an einem Ort, der kein Paradies ist, aber ein Zuhause sein kann. Es richtet sich an die Zielgruppe der LeserInnen mit kombiniertem Interesse an Ballettfetisch, Soft-BDSM und Transgender-Aspekten. Die Handlung führt den Leser auf spannende Weise zur geistigen Ebene, die zunächst hinter dem realen Geschehen verborgen bleibt.

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Seitenzahl: 131

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Inhalt

Vorwort

Kapitel 1 Das Institut

Kapitel 2 Die Neuaufnahmen

Kapitel 3 Die Mitglieder

Kapitel 4 Die Vergangenheit erwacht

Kapitel 5 Die Adoptivschwester

Epilog

Vorwort

Dieses Buch ist eine Ausgeburt der Phantasie. Es versucht eine Lücke zu schließen, von der Art wie sie entstehen, wenn mehrere Neigungen in einem Menschen wohnen, diese Schnittmenge aber so selten vorkommt, daß sich niemand ihrer annimmt. Ballett im kulturellen Sinne hat viel mit Disziplin zu tun, wird aber mit Disziplinierung im Sinne von BDSM nur selten in Verbindung gebracht, so wie auch klassische Ballettkleidung nicht oft als Fetisch angesehen wird. Wenn dann noch Transgender-Aspekte hineinspielen, glaubt man, damit alleine auf der Welt zu sein. Dem ist nicht so.

Es ist gilt, zwei Dinge vorab klarzustellen: Es geht nicht darum, die Kunst des Balletts oder Ähnliches in den Schmutz zu ziehen; vor den Leistungen der Menschen, die diese Dinge ausüben, sollte man Respekt haben. Es gibt in der Handlung Figuren, die erwachsen sind, sich aber in manchen Bereichen nicht so fühlen können oder wollen, was ein dementsprechendes Verhalten auslöst. Solche Schilderungen haben nicht einmal ansatzweise etwas mit Kinderpornographie zu tun, davon wird sich ausdrücklich distanziert.

1 - Das Institut

Madame Elenor saß alleine in ihrem Büro am großen Schreibtisch. Es war Sonntagnachmittag, in den Räumen des Instituts war es überwiegend ruhig. Elenor erledigte am Computer ihre Korrespondenz. Wenn man sich den Rechner und ihre moderne Brille, die sie nicht gerne in Gegenwart anderer trug, wegdenken würde, dann hätte man sich um Jahrzehnte zurückversetzt glauben können. Auf dem Schreibtisch standen Fotografien in kleinen Rahmen wie Familienportaits, an der Seite thronte ein Samowar. Elenor behielt es für sich, daß meistens ein hochprozentiger Tropfen dem Getränk beigemischt war. Eine altmodisches Schreibtischset aus Marmor samt längst überholtem Tintenfaß, zwei dunkle hölzerne Ablagen für Schriftstücke und ein modernes Telefon im Nostalgiestil vervollkommneten das Ensemble. Der Schreibtisch war alt, offensichtlich nachträglich war an der dem Stuhl abgewandten Seite die Öffnung zwischen den beidseitigen Schubladenkästen mit einem dezenten Flechtwerk versehen worden, welches dem Besucher Madames Beine zu verdecken versuchte, sie aber nicht gänzlich verbarg. Durch die Fenster drang, gedämpft durch halbgeschlossene Vorhänge, das Licht des Spätsommers, hell und freundlich, aber nicht mehr ganz so strahlend wie Wochen zuvor. Es fiel auf Akten- und Karteischränke, die auf einem Antikmarkt Liebhaber gefunden hätten, und deren Wucht durch Spitzendeckchen, Porzellanfiguren von Tänzerinnen und anderen von Frauenhand instinktiv geschickt drapierten Kleinigkeiten abgemildert wurde. An den Wänden hingen einige Kopien von Gemälden von Degas, darunter eher unbekannte Werke, die in einem modern anmutenden Breitwandformat gefertigt waren. Von der Decke hing ein Lüster aus Kristall, aus der guten alten Zeit vor der Erfindung der Energiesparlampe. Ein großer echter Perserteppich auf dem Parkettboden und ein im rechten Winkel zum Schreibtisch stehendes ausladendes Sofa trugen zu der heimeligen aber auch geschäftigen Atmosphäre ihres Wohnzimmerbüros bei.

Madame hatte einen Moment innegehalten, sich zurückgelehnt, einen Schluck aus ihrer Tasse genommen und versonnen die auf dem Schreibtisch stehenden Bilder betrachtet. Eines davon zeigte sie selbst, in jungen Jahren, in Schwarzweiß fotografiert, in einem schlichten schwarzen Trikot und weißen Ballettschläppchen. Die anderen Bilder zeigten in gewisser Weise ihre Familie, ihre Schützlinge, die ihr ans Herz gewachsen waren. Eine leibliche Familie nannte sie schon lange nicht mehr ihr eigen, obwohl einige Verwandte sicher noch nicht verstorben waren. Aber das war eine andere Geschichte. Madame ertappte sich bei dem Gedanken, daß sie trotz ihres Alters von Ende Vierzig genaugenommen immer noch Mademoiselle war, denn sie hatte nie geheiratet. Für den Respekt, den man ihr entgegenzubringen hatte, war es besser, mit Madame angesprochen zu werden, darum beließ sie es dabei. Einige Dinge würden sich bei ihr nie ändern, so wie die Briten verächtlich auf Veränderungen herabsehen.

Obwohl sie heute keinen Besuch erwartete, trug sie eine weiße Bluse, einen züchtigen, aber engen dunkelblauen knielangen Rock, und der sommerlichen Temperatur zum Trotz eine blickdichte hautfarbene Strumpfhose. Ihre schulterlangen schwarzen Haare hatte sie hinten zusammengesteckt, was den Ausdruck ihrer Mimik stets unterstrich. Sie konnte jemand ohne eine Regung ihres Gesichts anschauen, bis dieser weiche Knie bekam, sie konnte aber auch charmant und einnehmend lächeln, beides nahm man ihr aufgrund ihrer Ausstrahlung gleichermaßen ab. An ihrem Gesicht ließ sich ablesen, daß sie nicht mehr Zwanzig war, aber auch, daß ihr Inneres sich mit dem Gedanken ans Älterwerden noch einige Jahre Zeit lassen würde. Einziges Zugeständnis an die nachmittägliche Idylle waren die bequemen Gymnastikschuhe aus dunkelblauem Kunstleder an ihren Füßen, die unter dem Schreibtisch einem imaginären Betrachter jedoch durch die Blende aus Flechtwerk weitestgehend verborgen blieben, was schade war, denn das unbewußte Bewegen der Füße ergab zufällig manche reizende Pose.

Madame wollte sich wieder der Arbeit zuwenden, aber der Blick auf den Kalender, den sie heute schon öfter als üblich angesehen hatte, hielt sie davon ab. Sieben Jahre ist es nun her, dachte sie ganz still bei sich. Über einen Lebensabschnitt, der vor diesen sieben Jahre gelegen hatte, hatte sie für immer ein dunkles Tuch gelegt. Das Ende dieser Episode war gleichzeitig der Beginn des Instituts gewesen und der Grund dafür, daß sie heute an diesem Schreibtisch saß. Die Erinnerung bekam Elenor kurz in den Griff. Das Bild einer letzten Zusammenkunft, sein letzter Wunsch, sein Vermächtnis. Elenor nahm rasch einen stärkenden Schluck, stand auf und öffnete die Vorhänge ganz, um die Gespenster der Vergangenheit zu verscheuchen. Sie sah einen Moment hinaus, atmete durch und begab sich in ihren glänzenden Gymnastikschuhen mit entschlossen aufrechtem Gang wieder an ihren Schreibtisch, wo sie sich bis zum Abend erneut in ihrer Korrespondenz vergrub.

Das Institutsgebäude, in dem Madame am Schreibtisch saß, war bestimmt hundert Jahre alt und hatte schon die verschiedensten Nutzungen erlebt. Im Laufe der Geschichte war es in besseren Zeiten Schule, Gerichtsgebäude und Amt gewesen, in schlechteren Zeiten hatte es leergestanden und war dem Verfall preisgegeben. Zuletzt hatte sich ein Investor damit verhoben, dem die Denkmalschutzbehörde von der Form der Dachziegel bis zu den Kacheln im Treppenhaus alles vorgeschrieben hatte. Einen Großteil der Restaurierung konnte er abschließen, doch dann ging ihm die Luft aus. Trotz frischer Farbe atmete das Gemäuer immer noch den angenehmen Hauch der Vergangenheit. Es gab mehrere verschieden große Säle, etliche kleinere Stuben, eine Küche, einige als kleine Wohnungen zusammengelegte Zimmerfluchten, umfangreiche kaum genutzte Kellerräume und einen Dachboden, der Kafka zur Ehre gereicht hätte. Nach dem letzten Leerstand hatte die Stadt endlich erkannt, daß zuviele Auflagen potentielle Interessenten in die Flucht schlagen würden, und für die Restarbeiten weniger strenge Auflagen in Aussicht gestellt. Trotzdem wagte sich monatelang niemand an dieses große Objekt, und die Stadtväter befürchteten schon, erneut ein Geisterhaus nahe des Zentrums vorzufinden. Doch dann ersteigerte eines Tages ein bevollmächtigter Rechtsanwalt das Gebäude im Namen einer Stiftung. Deren Zweck war nicht leicht zu erfassen, aber es hatte mit Kultur und Therapie zu tun und offensichtlich nichts mit politischen oder religiösen Motiven, so daß die Stadt auf ihr Vorkaufsrecht verzichtete, als der Tag der Zwangsversteigerung gekommen war. Es mag auch am leeren Stadtsäckel gelegen haben, daß man nicht zu genau nachfragen wollte. Fortan konnte man beobachten, daß die restlichen Arbeiten zu Ende geführt wurden, und daß das Gebäude anschließend gut unterhalten wurde, doch zunächst tat sich dort sonst rein gar nichts. Allenfalls wäre einem aufmerksamen Beobachter hin und wieder abends ein Mann aufgefallen, der es langsamen Schrittes betrat, nachdem alle anderen fort waren.

Anderntags hatte Madame den externen Finanzmanager zum Termin gebeten. Die Satzung war bezüglich des Zwecks der Stiftung recht allgemein gehalten. Madame gehörte zu denen, die den tieferen Sinn darin kannten, und die sich nicht vom oberflächlichen Mischmasch der Begriffe Ballettunterricht, Tanztherapie, körperbezogene Selbstfindung, Unterweisung in Selbstdisziplin etc. blenden ließ. Gerade dieser Eintopf barg aber auch Chancen. Mit ihrem Berater ging Madame gezielt auf die Suche nach nationalen oder EU-Fördertöpfen, die es mittels gekonnter Antragstellung anzuzapfen galt. Auch die Formulierungen für andere Geldquellen, von Krankenkassen über Spenden von Selbsthilfegruppen bis hin zu Mitteln aus der Gerichtskasse aus eingenommenen Strafgeldern mußten wieder einmal auf den neuesten Stand gebracht werden.

Madame hatte keine kaufmännische Ausbildung genossen, aber einen gesunden Menschenverstand, einen kreativen Geist und die Fähigkeit, die Dinge wenn nötig deutlich beim Namen zu nennen. So trafen bei diesen Besprechungen immer zwei Welten aufeinander. Der von seiner Ausbildung her überlegenere und erfahrene Finanzmann hatte in Gegenwart von Madame das Empfinden, bloß keinen Fehler machen zu wollen und sie nicht zu verärgern, so wie ein Schüler, der weiß, daß er bei seiner Klassenlehrerin vorgemerkt ist. Vielleicht hatte es auch nur damit zu tun, daß Madame ihn ablenkte, und schlimmer noch, daß er sich nie sicher war, ob es Zufall war oder ob sie ihn absichtlich anregte. Wie dem auch sei, es lag auf der Hand, daß er sie nie darauf ansprechen würde und schon gar nicht, daß er eine körper-liche Annäherung hätte wagen dürfen.

"Monsieur Paul, was meinen Sie, ob wir uns für das Projekt zur Förderung von jungen Frauen mit Eßstörungen mittels Selbsterfahrung durch Tanztheater bewerben sollten?"

Monsieur schwebte gerade in einer anderen Welt. Vorgebend, genau wie Madame in Unterlagen zu blättern, hatte er in den letzten Minuten nur noch heimlich Elenor betrachtet. Sie saßen nebeneinander auf dem Sofa, und auf einem davorstehenden niedrigen Tisch mit Glasplatte, der überhaupt nicht in das Ambiente paßte, sich aber als nützlich erwiesen hatte, stapelten sich Aktenordner und Papiere. Madame leitete heute selbst einige Kurse und war in einer Mischung aus Businesslook und Tanzkleidung erschienen. Im Ausschnitt ihres beigen Blazers und beim Hochrutschen des Hosenbeins, als sie die Beine übereinanderschlug, war zu erkennen, daß sie darunter einen silbrig glänzenden Lycra-Ganzanzug trug. Unten war er mit Fußstegen ausgebildet. Ihre Füße verbargen sich in weißen Ballettschuhen. Sie hatte die umlaufende Kordel eng verknotet, ein quer über den Spann verlaufendes Gummiband verlieh zusätzlichen Halt. Die Schuhe schienen recht stramm zu sitzen, Paul konnte die Kontur ihrer Zehen vorne an der weichen Schuhspitze erkennen. Die Form ihrer Füße war hübsch, die Zehen nicht perfekt gerade, sondern leicht gebogen, schwer zu sagen, ob durchs Tanzen oder den übermäßigen Genuß eleganten hochhackigen Schuhwerks. Elenor hatte mit Größe 38 ohnehin das Maß, von dem viele träumten, aber wenn man so die enganliegenden Schuhe ansah, oder vorhin, als beim Gehen die schmale Ledersohle kurz zu sehen war, dann wirkten sie noch zierlicher und anziehender. Paul hatte selbst ein Faible für Lycrakleidung und trug diese auch öfter unbemerkt unter seiner Alltagskleidung, heute allerdings nicht. Obwohl es offensichtlich bei ihr und bei ihm ganz verschiedene Gründe gab, Lycra angenehm auf der Haut zu fühlen, gaukelte ihm sein Wunschdenken eine Seelenverwandtschaft vor und ein Glückstropfen benetzte seinen Slip.

"Ich glaube nicht, daß es Sinn macht, denn der Topf ist relativ klein, da fällt für Randgruppen wie uns nichts mehr ab" antwortete er, sich wieder fassend, und griff absichtlich nach einem Ordner auf dem Tisch, um sich selbst dazu zu bringen, seine Blicke weg von Madame zu lenken. Glücklicherweise gelang es ihm, und die Besprechung nahm ihren gewohnten Lauf. Wenn nur dieses unterschwellige Knistern nicht in der Luft gelegen hätte. Madame spürte es ganz genau und genoß es, so wie sie ihre Kleidung nur scheinbar zufällig aus dem Moment heraus trug. Es gefiel ihr, und warum sollte sie etwas an der Situation ändern? Was sie auch versuchen würde, der Zauber würde verfliegen. Manche Dinge sollte man so genießen, wie sie waren und nicht versuchen, sie zu ändern.

Das Personal des Instituts war eine bunt zusammengewürfelte Truppe. Von Alter, Bildung, Fähigkeiten und Aussehen her sämtlich Individualisten, denen jeder Personalberater auf den ersten Blick Nicht-Teamfähigkeit bescheinigt hätte. Nur daß es hier im Institut auf wundersame Weise doch ein funktionierendes Miteinander gab. Das verbindende Element und gleichzeitig der innere Antrieb war die Toleranz gegenüber Menschen, die "anders" waren und die Sensibilität, darauf einzugehen, ohne sich davon wiederum vereinnahmen zu lassen. Jeder aus dem Personal hatte seine eigene Biographie, die erst die Anlagen dazu geschaffen hatte, hier arbeiten zu können, manchmal auf schmerzhafte Weise. Darüber wurde untereinander nicht viel gesprochen, lieber kümmerte man sich um die Betreuung anderer. Madame alleine kannte alle Fakten und hielt sie im verschlossenen Karteischrank wohlverwahrt. Sie war stark genug, diese Truppe zu führen und zu motivieren.

Da gab es Yurek, inzwischen 53 Jahre alt und bereits ergraut, der früher im Ostblock ein angesehener Tänzer gewesen war. Nach Ende seiner Karriere wurde er wie so viele Ballettlehrer, aber dann geriet der kleine Staat in den Sog des Zusammenbruchs der Sowjetunion. Obwohl Ballett in seinem Land einen ungleich höheren Status hatte als im Westen, war von heute auf morgen kein Geld mehr dafür da. Wer es sich leisten konnte, verließ das Land, so daß auch bald kein privater Unterricht mehr nachgefragt wurde. Er fand vorübergehend wenigstens menschliche Ansprache, indem er bei der letzten noch aktiven Compagnie als Gnadenbrot mittrainieren durfte.

Als diese dann zu einer längeren Tournee aufbrach, tat man ihm aufgrund seiner früheren Bekanntheit im Osten einen letzten Gefallen und nahm ihn mit, wobei man ihn als Maskenbildner deklarierte. Im Westen stand er vor dem Nichts, politisches Asyl hätte man ihm nicht gewährt, trotzdem blieb er und schlug sich anfangs mehr schlecht als recht als Illegaler mit Gelegenheitsjobs durch. Seinem Instinkt folgend trieb er sich überall dort herum, wo Kontakt zu Menschen vom Theater oder Ballett zu erwarten war. Er hing einen Zettel mit seiner Telefonnummer am schwarzen Brett der Kunstakademie aus und bot in schlechter Landessprache und in seiner Muttersprache Unterricht und Mithilfe beim Ausarbeiten von Choreographien an. Er schaute, welche Angebote dort aushingen, und stieß auf eines des Instituts. Ihm fiel auf, daß scheinbar großer Wert auf pädagogische Fähigkeiten gelegt wurde, und er dachte bei sich, daß er damit trotz seines Alters vielleicht eine Chance haben könnte. Mit seiner Trainingskleidung und seinen beiden letzten beiden Paaren Ballettschuhen im Rucksack machte er sich kurzentschlossen mit der Straßenbahn als Schwarzfahrer auf den Weg zum Institut.

Ein anderes Personalmitglied war Ingrid. Ihre äußere Erscheinung, insbesondere im Beintrikot mit Stulpen und langärmeligem rosa Lycrabody, war eher die der Pummelfee als die des grazilen Schneeflöckchens. Schon als Kind hatte sie heimlich davon geträumt, Tänzerin zu werden, ahnend, daß es mit ihrem Körper nicht möglich sein würde. Dem inneren Druck nachgebend, hatte sie sich einmal getraut, sich Karneval in einen Gymnastikanzug zu zwängen, schwarze Gymnastikschuhe anzuziehen und sich von ihrer Mutter aus Gardinenresten und Stärke einen weißen Tutu machen zu lassen. Der an sich geschickte Versuch endete in einer Katastrophe, denn nichts kann grausamer sein als Kinder. Sie wurde ausgelacht und die Übermacht aus Cowboys und Indianern hatte nicht Besseres zu tun, als einen Baum zum Marterpfahl zu erklären und sie dort mit einer aus dem Haushalt entwendeten Wäscheleine festzubinden. Zwar bekamen die Eltern Wind davon und gaben sich Mühe, sie zu trösten und die weißen und roten Übeltäter für ihr nichtsnutziges Treiben zu strafen, aber das Gefühl, in der Rolle, die sie selbst so liebte, verstoßen zu werden, saß tief und wich nie mehr ganz.

Sie wollte einen Schutzpanzer gegen die grausame Welt aufbauen und legte dadurch noch mehr zu. Sie nahm sich fest vor, anderen Menschen mit ähnlichen Sorgen zu helfen, wenn ihr in ihrem Leben solche begegnen würden. Dazu bot sich mit dem Älterwerden Gelegenheit, und das festigte ihr Selbstvertrauen. Endgültig überwunden hatte sie ihr Kindheitstrauma in dem Moment, als sie während ihres Soziologiestudiums bei einer Studenten-Theatertruppe bewußt in einer übergewichtigen Nebenrolle als Aerobic-Parodie auftrat und feststellte, daß sie das Publikum zum Lachen bringen konnte, aber nicht ausgelacht wurde. In den Wochen danach ging ihr dieses neue Gefühl, selbstbewußt mit ihrer bis jetzt als negativ empfundenen Körperfülle umgehen zu können, nicht mehr aus dem Kopf und vermischte sich mit ihrem Bedürfnis, für andere Menschen da sein zu wollen. Bessere Voraussetzungen hätte sie für das Institut nicht mitbringen können.