Das Beste, das uns je passiert ist - Maeve Haran - E-Book
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Das Beste, das uns je passiert ist E-Book

Maeve Haran

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Beschreibung

Vier Freundinnen im allerbesten Alter, ein Haus auf dem Land und ein Sommer voller Turbulenzen, Liebe und Humor!

Seit sie denken können, stellen sich die Freundinnen Claudia, Ella, Laura und Sal gemeinsam den Aufs und Abs des Lebens. Jetzt, mit sechzig Jahren, fragen sie sich: Was hält die Zukunft noch bereit? Etwa das Seniorenheim? Nein! Laue Sommernächte und spritzige Gartenpartys! Gemeinsam beschließen die Frauen, alle Einwände zu ignorieren und ein altes Herrenhaus auf dem Land zu kaufen, um es mit vereinten Kräften wieder flottzumachen. Doch Laura zögert: Seit sie den charmanten Gavin über eine Online-Dating-Plattform kennengelernt hat, beschleicht sie das Gefühl, dass das Schicksal noch weit mehr für sie bereithält. Wie gut, dass sie Freundinnen an ihrer Seite hat, die ihr beistehen, komme, was wolle …

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Seitenzahl: 590

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Autorin

Maeve Haran hat in Oxford Jura studiert, arbeitete als Journalistin und in der Fernsehbranche, bevor sie ihren ersten Roman veröffentlichte. »Alles ist nicht genug« wurde zu einem weltweiten Bestseller, der in 26 Sprachen übersetzt wurde. Maeve Haran hat drei Kinder und lebt mit ihrem Mann in London.

Buch

Seit sie denken können, stellen sich die Freundinnen Claudia, Ella, Laura und Sal gemeinsam den Aufs und Abs des Lebens. Jetzt, mit sechzig Jahren, fragen sie sich: Was hält die Zukunft noch bereit? Etwa das Seniorenheim? Nein! Laue Sommernächte und spritzige Gartenpartys! Gemeinsam beschließen die Frauen, alle Einwände zu ignorieren und ein altes Herrenhaus auf dem Land zu kaufen, um es mit vereinten Kräften wieder flottzumachen. Doch Laura zögert: Seit sie den charmanten Gavin über eine Online-Dating-Plattform kennengelernt hat, beschleicht sie das Gefühl, dass das Schicksal noch weit mehr für sie bereithält. Wie gut, dass sie Freundinnen an ihrer Seite hat, die ihr beistehen, komme, was wolle …

Von Maeve Haran bereits erschienen

Die beste Zeit unseres Lebens · Das größte Glück meines Lebens · Der schönste Sommer unseres Lebens

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Maeve Haran

Das Beste, das uns je passiert ist

Roman

Deutsch von Karin Dufner

Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »In A Country Garden« bei Pan Books an imprint of Pan Macmillan, London.

Das Zitat von Leonard Cohen wurde übersetzt von Andrea Kuepper.

Das Bibelzitat stammt aus »Die Bibel: 1.Mose 8,22«, zitiert nach https://www.bibleserver.com/EU/1.Mose8,22.

Das Zitat von William Shakespeare stammt aus »Sonett 18«, zitiert nach »Shakespeare-Almanach«, übersetzt von Gottlob Regis, Verlag von Veit, Berlin, 1836.

Das Zitat von William Shakespeare stammt aus »Sonett 116«, zitiert nach »William Shakespeares Sonette«, übersetzt von Friedrich Bodenstedt, Verlag der königlichen Geheimen Ober-Hofbuchdruckerei, Berlin, 1866.

Das Zitat stammt aus dem Film »My Fair Lady«.

Das Zitat aus dem Gedicht »Consolation« von Robert Louis Stevenson stammt aus »Collected Poems«, Rupert Hart-Davies, London, 1971 wurde übersetzt von Karin Dufner.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright der Originalausgabe © 2020 by Maeve Haran

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2020 by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Angela Kuepper

Umschlaggestaltung und -motiv: www.buerosued.de

DN · Herstellung: sam

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-24888-8

Für meine Freundinnen überall auf der Welt

Eins

»Raus mit der Sprache, Claudia. Wie waren die Flitterwochen? Redet das glückliche Paar noch miteinander?«

Nervös strich sich Claudia über ihr sorgfältig gefärbtes nussbraunes Haar (Grau kam für sie nicht infrage, nicht einmal die platinblonde Version von Helen Mirren), während sie überlegte, was sie auf die Frage über die Hochzeit ihrer Tochter Gaby antworten sollte.

Tatsache war, dass Gaby die Trauung beinahe abgeblasen hätte, und zwar mit der Begründung, die Ehe ihrer Eltern sei ihr ein schlechtes Beispiel gewesen.

Wie Claudia zugeben musste, war der Zeitpunkt ausgesprochen ungünstig gewählt. Ihre Tochter hatte sie in den Armen des knackigen Chorleiters ertappt, der die wöchentliche Probe leitete. Und noch dazu an demselben Tag, an dem sie auf E-Mails gestoßen war, die an ihren Vater gerichtet waren und von einer alten Flamme stammten. Claudia hätte sich damit herausreden können, dass sie ihren geliebten Lehrerberuf an den Nagel gehängt hatte und widerwillig aufs Land gezogen war, um sich um ihre hinfälligen Eltern zu kümmern. Sie hatte keine Ahnung, was Dons Ausrede war.

»Sie sind wohlbehalten zurück und sehr glücklich, abgesehen davon, dass sie ein Haus bauen wollen und kein Geld haben. Natürlich alles die Schuld unserer Generation, die die Immobilienpreise in die Höhe getrieben hat.«

»Aber klar doch.« Ella lachte. »Angefangen bei ausgebeuteten Uber-Fahrern bis hin zu überteuerten Zweizimmerwohnungen sind wir an allem schuld. Schließlich sind wir die egoistischen Babyboomer.« Sie blickte sich im Grecian Grove um, der schäbigen Kellerbar mit ihren schauderhaften Wandgemälden, die lüsterne Schäfer auf der Jagd nach gelangweilt wirkenden Nymphen darstellten, wo die Freundinnen sich einmal im Monat trafen. »Liegt es an mir, oder sehen diese Nymphen wirklich älter aus?«

Die Erkenntnis, dass sie nach vierzig Jahren Freundschaft nicht jünger wurden, brachte sie alle zum Lachen.

»Wie dem auch sei«, verkündete Claudia. »Don und ich haben beschlossen, noch einmal von vorne anzufangen und das Landleben und einander zu lieben.«

»Viel Glück dabei.« Ella erhob ihr Glas. »Erkundigt sich denn niemand danach, wie es mir geht? Offen gestanden ziemlich gut.« Ihre beiden Freundinnen Claudia und Laura musterten sie. Ella sah wirklich gut aus. Das Alter hatte ihrem koboldhaften Äußeren nichts anhaben können. Mit Ausnahme eines vereinzelten grauen Haars wirkte sie genauso frisch und strotzend vor Tatendrang wie immer. »Das Haus war im Nu verkauft. Ich bin schon in mein kleines Häuschen am Fluss gezogen.«

»Mannomann, Ella, das ging aber schnell!«, wunderte sich Claudia.

»Aber ist dir der Umzug nicht schwergefallen?«, fragte Laura, die mit den Tränen kämpfte. Ihr stand nämlich auch ein Umzug bevor, allerdings kein freiwilliger. Sie steckte gerade mitten in einem unschönen Scheidungsverfahren, und Simon, ihr schrecklicher Ehemann, beharrte darauf, dass sie jetzt verkauften, da das Urteil bald gesprochen werden würde. Ella war stets sehr stolz auf ihr hübsches georgianisches Haus gewesen. Es hatte ihr mehr bedeutet als nur Steine und Mörtel. Laura verstand nicht, wie Ella den Verlust so sachlich betrachten konnte. »Wie lange hast du dort gewohnt?«

»Es fühlt sich gar nicht so lange an, war es aber«, erwiderte Ella. »Damals, als ich als Anwältin anfing und Laurence seine Firma gründete, war das Haus genau richtig für uns. Wie meine Töchter mir ständig unter die Nase reiben, hat es weniger gekostet als ein Einzimmerapartment in Dalston heute.«

Einen Moment dachten sie über den wahnwitzigen Immobilienmarkt in London nach, wo Millionäre in gewöhnlichen Doppelhaushälften wohnten und sich nur russische Oligarchen ein frei stehendes Haus leisten konnten.

»Es muss traurig für dich gewesen sein, deine Erinnerungen an Laurence zurückzulassen.« Laura griff nach der Hand ihrer Freundin, wusste jedoch, dass sie im Grunde sich selbst meinte. Laurence war vor fünf Jahren bei einem Zugunglück ums Leben gekommen, ein schwerer Schlag für Ella.

Diese schüttelte den Kopf. »Das habe ich auch geglaubt. Ich habe gedacht, es würde mir das Herz brechen, alles aufzugeben und in ein kleines Häuschen zu ziehen. Aber es war erstaunlich befreiend. Es ist wie eine neue Lebensphase und eine schöne dazu. Und das Seltsame ist, dass ich gehört habe, wie Laurence mich darin bestätigt hat. Los, altes Mädchen, sagte er, Zeit für einen Neuanfang. Ich bin ziemlich aufgeregt. Und die beste Nachricht ist, dass meine ehemaligen Nachbarn ihren Kleingarten loswerden wollen. Es sieht ganz danach aus, dass ich die Warteliste überspringen und ihn kriegen kann.«

Trotz ihrer Niedergeschlagenheit musste Laura lachen. »Was ist nur aus uns geworden? Wollten wir nicht einmal die Welt verändern?« Das Lachen erhellte ihr noch immer hübsches Gesicht und erinnerte die anderen an die Laura, die sie mit achtzehn im ersten Jahr am College kennengelernt hatten.

»Ich bin damit zufrieden, die Welt dadurch zu verändern, dass ich Grünzeug züchte.« Ella kicherte.

»Wählst du nicht mal die Grünen?«

»Politik hat mich schon damals nicht interessiert. Claudia war unsere Radikale, die in Paris Pflastersteine geworfen hat.«

»Nur weil ein hinreißender junger Franzose mich dazu angestachelt hat.« Claudia seufzte. »In jener Zeit war die Welt eine andere. Die Jugend wusste, dass sie absolut frei war und niemand sie aufhalten konnte.«

»Nicht dort, wo ich aufgewachsen bin«, protestierte Ella. »Wusstet ihr, dass neunundneunzig Prozent der Menschen glauben, die sexuelle Revolution habe stattgefunden? Und achtundneunzig Prozent glauben, sie sei jemand anders passiert?«

Kurz dachten sie an die berauschenden Sechziger, als sie jung und sorglos gewesen waren und geglaubt hatten, niemals alt zu werden.

»Apropos Sex: Was ist denn aus dem netten Mann geworden, den du zu Gabys Hochzeit mitgebracht hast? Wir fanden ihn sympathisch, nicht wahr, Ella?«

»Ja, wirklich«, stimmte Ella zu. »Hübsche Augen.«

»Und hübscher Hintern«, ergänzte Claudia.

»Calum«, antwortete Laura knapp. »Mal im Ernst, Claudia, du klingst ja richtig unterversorgt. Er ist bloß ein Freund.«

»Ein Freund, der deinem baldigen Ex-Mann eine runterhaut, weil er nicht zu schätzen weiß, wie wundervoll du bist«, frotzelte Claudia, bevor sie sich wieder an Ella wandte.

»Dann kriegst du also endlich deinen Kleingarten. Das muss auf die Titelseite.« Sie blickte zur Tür. »Apropos Titelseite: Wo steckt Sal?« Sal war die Vierte im Bunde und Redakteurin bei einer Zeitschrift. Außerdem hatte sie eine Schwäche für Overalls mit Leopardenmuster und Lederjacken mit Nieten, obwohl sie wie die anderen über sechzig war.

»Vielleicht wollte sie ja nicht kommen. Schließlich ist ihre Operation noch nicht lange her«, meinte Laura. Sal hatte ihnen bei der Hochzeit einen mächtigen Schrecken eingejagt, als sie aus heiterem Himmel verkündet hatte, sie habe Brustkrebs und würde sich die Brust abnehmen lassen müssen. Keine von ihnen hatte etwas von ihrer Krankheit geahnt.

»Ich bin so froh, dass alles gut gegangen ist«, sagte Claudia.

Bei ihrer letzten Begegnung mit ihrer Freundin hatten sie sich an ihrem Krankenhausbett versammelt, während Sal verschiedene schrille Kopfbedeckungen anprobiert und mit dem Arzt gewitzelt hatte, sie werde Kahlköpfigkeit zum neuen Trend machen.

»Sal ist hart im Nehmen«, stellte Ella fest.

»Hat sie dir verziehen, dass du auf der Hochzeit so unhöflich zu ihr gewesen bist?«, fragte Laura.

Die sonst so ruhige und gelassene Ella besaß den Anstand zu erröten. In ihrem stark alkoholisierten Zustand hatte sie Sal Egoismus vorgeworfen, weil sie ihnen nicht schon früher von ihrer Krebserkrankung erzählt hatte.

»Oh Gott, erinnert mich nicht daran.« In aufrichtiger Reue schlug Ella die Hände vors Gesicht. »Ich fasse es nicht, wie ich so ein Miststück sein konnte.«

Allerdings war die Krankheit nicht die einzige Überraschung gewesen, die Sal an jenem Tag unter ihrer rosafarbenen Perücke hervorgezaubert hatte. Sie hatte ihnen eine junge Frau namens Lara vorgestellt und zum allgemeinen Erstaunen verkündet, es handle sich um ihre lange verloren geglaubte Tochter, die sie als achtzehnjähriges Au-pair-Mädchen in Oslo zur Adoption freigegeben habe.

»Wenn man von Der Teufel trägt Prada spricht – da ist sie!«

Alle erhoben sich staunend. Im Laufe ihrer langen Freundschaft hatte Sal mit einigen Überraschungen, einschließlich Lara, aufgewartet, doch nur wenige hatten dieser hier das Wasser reichen können. Sal sah aus wie ein völlig neuer Mensch. Fort waren die rosafarbene Perücke, die Pelzmütze und die Sonnenbrille, mit denen sie ihren Haarausfall getarnt hatte. Auch von Leopardenmuster fehlte jede Spur. Stattdessen stand eine hochgewachsene, elegante Frau mit grauem Stoppelhaarschnitt und großen modischen Ohrringen vor ihnen, die ein dezent geschnittenes Seidenkleid trug.

»Sal!«, entfuhr es Laura spontan. »Was, um alles in der Welt, hast du gemacht?«

»Das nennt man Krebsstyling«, erwiderte Sal mit einem breiten Grinsen. »Ein erwachsener Look, der zu meiner neuen Frisur passt. Niemand hat mir verraten, dass es lockig und mit einem Touch Annie Lennox nachwachsen würde.« Ohne auf die neugierigen Blicke der anderen Gäste zu achten, knöpfte sie ihr Kleid auf. Ehe die anderen ahnten, was sie im Schilde führte, zog sie ihren BH herunter und präsentierte stolz die dreißig Zentimeter lange Narbe, die dort verlief, wo ihre rechte Brust gewesen war.

»Beeindruckend, was?«, meinte Sal. »Schade, dass alternde Amazonenkriegerinnen heutzutage nicht hoch im Kurs stehen.«

»Sal! Setz dich hin.« Konventionell wie immer, versuchte Laura, Sal vor den faszinierten bis erschrockenen Blicken der anderen Gäste zu schützen.

»Als ob mich das einen Scheißdreck interessieren würde«, protestierte Sal. »Sittsamkeit ist das Letzte, was eine Rolle spielt, wenn an einem herumgefummelt wurde wie an mir. Schaut, was die mir gegeben haben.« Sie förderte ein ovales Schaumstoffpolster aus ihrem BH zutage und schwenkte es durch die Luft. »Ein falscher Busen! Wisst ihr noch, damals? Als wir eine Todesangst hatten, ein Junge könnte beim Rumknutschen den falschen Busen entdecken?«

Sie betrachtete Lauras wohlgeformte Brust. »Nein, du vermutlich nicht, Laura.«

»Nur Sal bringt es fertig, nach einer Brustamputation ans Rumknutschen zu denken.« Claudia kicherte. »Los, tu dir keinen Zwang an. Schildere uns die grausigen Einzelheiten.«

»Beim letzten Mal stand ich zu sehr neben mir, was?« Sal rückte ihre Kleidung zurecht und nahm Platz. »Erst malen sie einem mit Filzstift auf der Brust herum, als wäre man der Flipchart eines Marketingfritzen, und dann, hoppla, weg ist der Busen. Meiner war ja so flach, dass ich dachte, ich würde kaum etwas merken, aber es war eine elende Quälerei. Die liebe Lara hat mir bei den Übungen geholfen. Das Mädchen hat der Himmel geschickt.« Sie schenkte sich ein großes Glas Wein ein.

Ella und Claudia wechselten Blicke, wagten jedoch nicht zu fragen, ob der Arzt ihr Alkohol erlaubt hatte.

»Das Beste ist, dass ich nicht bügeln und staubsaugen darf. Befehl des Arztes. Das erledigt Lara alles für mich. Allerdings ist das arme Mädchen inzwischen sauer auf mich, weil ich die Sache nicht ernst nehme. Und das nur, weil ich mich bei dem Onkologen erkundigt habe, ob ich Auto fahren könnte. Als er Ja sagte, habe ich ›Ein Wunder ist geschehen, denn davor konnte ich es nicht‹ gewitzelt. Ich kann ihr einfach nicht klarmachen, dass ich nur deshalb lache, weil es so ernst ist.« Genüsslich nippte sie an ihrem Wein. »Lara ist so ein Schatz. Sie zwingt mich, sämtliche Krebs-Blogs zu lesen, da sie denkt, dass sie gut für mich sind und mich aufmuntern. Und sie hat recht. Sie sind spitze. Zum Kaputtlachen. Man möchte meinen, Krebs sei das Beste, was einem passieren kann!« Sie erhob ihr Glas. »Wer braucht schon einen Busen. Ich empfehle: Weg damit!«

Das Thema Blogs sorgte dafür, dass Sal sich an Ella wandte. »Ich hoffe, oh du Verräterin, dass du dein Versprechen nicht vergessen hast, eine Kolumne für meine Zeitschrift zu schreiben.«

Ella machte ein Gesicht, als hoffte sie ihrerseits, Sal könne es vergessen haben. »Glaubst du wirklich, es interessiert jemanden, was ich zu sagen habe?« Verlegen sah sie die anderen an. Vor einigen Monaten hatte sie einen humorvollen Blog angefangen, in dem sie die Erfahrungen ihrer Freundinnen in Sachen Altern, Scheidung und Ehebruch schilderte. Das hätte sie beinahe ihre Freundschaften gekostet. Da Ella technisch nicht sonderlich bewandert war, hatte sie gedacht, in einem Blog schreiben zu können, was sie wollte, weil es ohnehin niemand lesen würde.

»Natürlich interessiert es sie, was du zu sagen hast, Ella«, beharrte Sal. »Denn du bist wirklich urkomisch.«

»Solange du keine Witze mehr über uns reißt!« Laura hatte es noch immer nicht ganz verwunden, dass Ella Details ihrer hässlichen Scheidung preisgegeben hatte.

»Also, Laura …« Ella wirkte so verlegen, dass Claudia es für das Taktvollste hielt, das Thema zu wechseln. »Wo ziehst du denn hin?«

Zu spät erkannte sie an Lauras bedrückter Miene, dass der Themenwechsel keine gute Idee gewesen war.

»Keine Ahnung. Ich kann mir nicht viel leisten.« Sie versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie niederschmetternd es für sie war, das Haus zu verlassen, in dem sie ihre Kinder großgezogen hatte, aber es war einfach zu viel. »Es ist so unfair! Obwohl ich das unschuldige Opfer bin, verliere ich dank dieser verdammten Scheidung mein Zuhause.«

Die Wahrheit lautete, dass Laura nach einem jahrelangen Familienleben eine Todesangst davor hatte, allein alt zu werden. »Schade, dass wir nicht alle wieder zusammenwohnen können wie an der Uni.« Sie lächelte wehmütig.

»Das wäre ein Spaß.« Claudia musste daran denken, wie gebrechlich ihre Eltern geworden waren. Es wäre wundervoll, von ihren Freundinnen unterstützt zu werden.

»Was meinst du mit Zusammenwohnen? In so einer dämlichen Senioreneinrichtung?«, hakte Ella nach. »Einem Rentnerdorf wie in Amerika mit Bingo am Nachmittag, Wassergymnastik und Golfkarren, damit man nie zu Fuß gehen muss?«

»Eher das Gegenteil«, antwortete Claudia, die sich für das Thema erwärmte. »Eine Mischung aus WG und Kibbuz. Nicht nur eine Altersgruppe. Ich würde es nicht aushalten, nur mit alten Leuten zusammenzuleben. Nicht einmal mit euch.«

»Wir sind doch nicht alt«, protestierte Laura. »Wir sind gerade mal über sechzig.«

»Es wird früher passieren, als du denkst.« Claudia lachte. »Überleg mal, wie schnell die letzten fünfzehn Jahre vorbeigerast sind. Noch mal fünfzehn, und wir sind achtzig.«

Schweigend und entsetzt ließen die vier Freundinnen diese Aussicht auf sich wirken.

»Man bräuchte jemanden, der sauber macht«, riss Ella sie aus ihren Grübeleien. »Erinnert ihr euch, was für ein Schweinestall die Wohnung war?«

»Schweinestall, das Wort habe ich schon lange nicht mehr gehört.« Claudia grinste. »Außerdem bräuchten wir nette, junge Pfleger, die uns den Hintern abputzen und mit Netflix umgehen können.«

»Und die uns die Haare frisieren. Vielleicht bleibe ich ja nicht für immer grau. Eigentlich schwebt mir ein Hauch von Grün vor. Der Look ›alternde Meerjungfrau‹. Und es muss dringend eine Bar her.« Sal nickte, als wäre es schon beschlossene Sache.

»Und ein Wellnessbereich«, fügte Laura träumerisch hinzu. »Natürlich mit Friseur und Fußpflege. Vielleicht sogar Botox. Und jemand, der uns den Damenbart entfernt.«

»Und tolle Musik. Die Eagles und die Grateful Dead auf Endlosschleife aus dem Lautsprecher.« Sal lachte. »Jemand hat mir eine Karte mit einem alten Typen im Rollstuhl drauf geschickt. Und der Pfleger sagt: ›Komm, Dave, Zeit für Van Morrison.‹«

»Was ist mit Männern?«, fragte Claudia.

»Die können wir bestimmt auf einer Webseite ordern«, verkündete Sal.

»Nein.« Claudia kicherte. »Ich meine Ehemänner. Don zum Beispiel. Er würde es verabscheuen. Ständig zitiert er Sartre: ›Die Hölle, das sind die anderen.‹«

»Bis dahin ist Don tot. Ansonsten kriegt er seinen eigenen Gebäudeflügel.«

»In Skandinavien machen sie es wirklich so«, merkte Sal beeindruckt an. »Das hat Lara mir erzählt. Acht Prozent aller Dänen leben in sogenannten geplanten Wohngemeinschaften.«

»Wir könnten eine ungeplante Wohngemeinschaft gründen«, schlug Claudia vor. »Voller uralter Hippies, die ihren Namen vergessen haben. Und natürlich wir.«

»Nehmt es nicht persönlich, aber ich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen.« Laura erschauderte.

»Ich weiß nicht.« Claudia fand, dass die Sache etwas für sich hatte. »Meiner Ansicht nach ist es eine tolle Idee. So hat man die Vorteile von beidem. Man hat seine besten Freundinnen um sich und jede Menge Spaß und passt aufeinander auf. Warum sollen wir auf die Weise alt werden, wie es die Leute momentan tun? Sabbernd in einem Pflegeheim vor dem Fernseher sitzen oder allein leben und vereinsamen? Wieso muss das alles so freudlos sein? Wir sind doch die Babyboomer, die Generation Ich. Wir machen alles anders. Weshalb nicht auch das Altwerden?« Plötzlich begeistert, grinste sie die anderen an. »Wir nennen es ›Seniorenstift für alte Weiber, Spaß und Dummheiten inbegriffen‹!«

»Und Inkontinenz«, wandte Sal ein. »Und vergesst unsere alte Freundin, die Demenz, nicht.«

Die drei Freundinnen starrten Sal entsetzt und zugleich amüsiert an.

»Tja«, sagte Sal, stellte ihr Glas beiseite und griff nach ihrer Tasche. »Das kommt überhaupt nicht infrage. Da könnt ihr mich gleich erschießen. Ich finde die Idee schauderhaft.«

»Bis auf die Golfkarren«, ergänzte Laura, als alle aufstanden, um sich auf den Weg zu machen. »Ich hätte zu gern meinen eigenen Golfkarren.«

»Ich persönlich hätte lieber ein selbst fahrendes Auto«, erwiderte Sal. »Dann kann ich meiner Mutter beweisen, dass sie falschlag, als sie mir 1969 geraten hat, den Führerschein zu machen.«

»Wartet’s nur ab«, drohte Claudia und schwenkte ihr Weinglas. »Ihr werdet es euch schon noch überlegen.«

Zwei

Als Ella die Vorhänge öffnete, stand bereits ein breites Lächeln auf ihrem Gesicht. Es war ein wunderschöner Morgen. Über dem Fluss hing noch der Dunst wie ein grauer Schleier. In ihrem alten Haus war sie von den rosigen Fingern des Morgengrauens geweckt worden, doch hier zeigte ihr Schlafzimmer in eine andere Richtung, sodass sie stattdessen dramatisch rote Sonnenuntergänge genießen konnte. Wie passend!

Sie war bereits unten gewesen und hatte sich eine Tasse Tee gekocht, eine lebenslange Gewohnheit. In letzter Zeit gönnte sie sich dazu einen Vollkornkeks mit Schokoglasur. Zum Teufel mit dem Gerede, dass man von einem Keks am Tag jährlich sechs Kilo zunahm. In ihrem Alter hatte man das Recht zu tun, wozu man Lust hatte. Wer wollte schon dreißig Jahre länger leben, wenn man dafür auf alles verzichten musste? Kein Wunder, dass man hundertzehn wurde, wenn man auf einem Hochplateau in Tibet wohnte und sich von Yakmilch und eingelegten Schafshoden ernährte. Nein, danke! Obwohl sie zugeben musste, dass sie sich in letzter Zeit nicht ganz wohlfühlte. Doch die robuste, pragmatische Ella weigerte sich einfach, sich damit zu beschäftigen. Laurence hatte sie immer damit aufgezogen, sie betrachte Krankheiten – insbesondere bei Männern – als ein Zeichen von Schwäche.

Als sie sich an Claudias wahnwitzigen Vorschlag erinnerte, musste sie lachen. Sosehr sie ihre Freundinnen auch liebte, wollte sie auf keinen Fall den Rest ihres Lebens mit ihnen verbringen.

Sie drehte sich um und ließ den Blick durch ihr neues Schlafzimmer schweifen. Im alten Haus war es in Pastelltönen gestrichen gewesen, die im Laufe der Zeit verblasst waren. Es hatte irgendwie gepasst. Das Haus selbst hatte allein durch sein Alter etwas Dramatisches beigesteuert und durch seine Holzvertäfelungen Wärme verbreitet. Außerdem waren Laurence und sie sich in Sachen Farbe nie einig gewesen. Er hatte das Unauffällige bevorzugt. Die dezenten Töne waren selbstverständlich der optimale Hintergrund für die schönen Dinge, die sie in all den Jahren angesammelt hatten: vergoldete Kronleuchter, hübsches Porzellan, ein bemalter Wandschirm und ein traumhafter Marmortisch, der die Vorhalle geziert hatte und auf dem stets ein Blumenstrauß prangte, der einen begrüßte, wenn man die Tür öffnete. Einige dieser Gegenstände hatte sie eingelagert oder ihren Töchtern angeboten. Julia, die Ältere, hatte fast alles als altmodisch abgetan, aber Cory, die Jüngere, hatte sich einige reizende Bilder ausgesucht, obwohl sie in einer winzigen Einzimmerwohnung lebte.

Ella hatte sich für die Dinge entschieden, an denen sie am meisten hing, und den Rest versteigern lassen. Als sie sich nun umblickte, war sie selbst überrascht, wie leicht ihr der Abschied gefallen war. Vielleicht war sie ja doch nicht zu alt für einen Neuanfang.

Seit ihrem Umzug hatte sie eine völlig neue Farbpalette entdeckt, von einem warmen Blau, das den Fluss draußen widerspiegelte, bis hin zu toskanischem Terrakottarot. Nach ihrem letzten Haus war es ihr so vorgekommen, als stattete sie eine Puppenstube aus. Liebte sie es deshalb so? Wegen des Gefühls, dass ein kleines Haus weniger Verantwortung bedeutete? Viel weniger Pflege?

Zum Glück hatte ihre jüngere Tochter Cory sich um alles Technische gekümmert. Breitband und etwas, das man Glasfaserkabel nannte. Was das sein sollte, wusste nur der Himmel. Wie ein Autofahrer, den es nicht interessierte, was unter der Motorhaube vor sich ging, nutzte Ella diese Errungenschaften gern, ohne sie verstehen zu müssen. Sie hatte sich bei Facebook eingeloggt, um zu sehen, was ihre Enkel Harry und Mark so trieben (oder was sie ihr zeigen wollten), und natürlich war sie eine leidenschaftliche Bloggerin. Was, um alles in der Welt, sollte sie für Sals Zeitschrift schreiben? Insbesondere jetzt, da sie nichts mehr verwenden durfte, was ihre Freundinnen ihr anvertraut hatten?

Ihre Gedanken wanderten zu ihrer anderen Tochter Julia. Töchter, die einen herumkommandierten. Das wäre doch ein wunderbares Thema. Im Geist versetzte Ella sich einen Klaps aufs Handgelenk. Aber es stimmte, verdammt. Nachdem Julia jahrelang genörgelt hatte, sie solle sich verkleinern, hatte sie plötzlich zu jammern angefangen: »Wie konntest du einfach hinter unserem Rücken unser Elternhaus verkaufen?«

Und als Ella begonnen hatte, in drei Jahrzehnten angesammelte Habseligkeiten auszumisten, hatte Julia sämtliche Wertgegenstände zurückgewiesen, dafür aber bei jedem Plastikspielzeug protestiert, das ihre Mutter wegwerfen wollte. Absurderweise hatte sie sogar wegen eines Tamagotchi geweint, das eigentlich ihrer Schwester gehört hatte. Vielleicht bist du ja ein harter Knochen, sagte sich Ella. Möglicherweise war sie nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes nicht länger in der Lage, ihr Herz an Objekte zu hängen. Wenn einem aus heiterem Himmel so etwas zustieß, spielte Materielles keine Rolle mehr.

Konnte sich Julia aus demselben Grund nicht von ihrer verlorenen Kindheit lösen? Als sie Julia deshalb hatte umarmen wollen, war sofort wieder deren herrische Seite zutage getreten. Ob Ella nicht bemerkt habe, wie absurd steil die Treppe in ihrem neuen Haus sei? Wie wolle sie das schaffen, wenn sie einmal älter wäre? Warum habe sie sich keine praktische Parterrewohnung gekauft?

Allerdings stellte für Julia eine Sache alle anderen Fehler ihrer Mutter in den Schatten: der Wahnwitz, dass das neue Haus genau am Fluss stand, wo dieser in den Grand Union Canal mündete. Erinnerte sie sich nicht mehr an das Themse-Hochwasser? War sie völlig übergeschnappt?

Tatsächlich war Ella so übergeschnappt, dass sie schnurstracks zu ihrer CD-Sammlung gegangen war (sie hatte tatsächlich noch eine) und Leonard Cohen aufgelegt hatte. Das Stück, in dem er von Suzanne und ihrem Platz am Fluss sang, wo sie ihn mit Tee und Orangen bewirtete, die den ganzen weiten Weg aus China gekommen waren. In ihrer Jugend hatte sie Leonard Cohen verabscheut und seine Musik als etwas bezeichnet, bei dem man sich die Pulsadern aufschlitzen konnte. Doch dann hatte eine seltsame Veränderung stattgefunden. Seit sie älter war, liebte sie seine melancholischen Lieder mit den poetischen Texten und war sogar in einem seiner Konzerte gewesen.

Aus unerklärlichen Gründen erinnerten sie seine traurigen Balladen über verrückte Musen an ihre Jugend. War es nicht in den Nachrichten gekommen, dass er einen Brief an seine frühere Geliebte Marianne geschrieben hatte, als er erfuhr, dass sie im Sterben lag? Und da sie nun einmal Ella war (verrückt, wie Julia betonen würde), klappte sie ihren Laptop auf und googelte »Marianne«. Auf dem Bildschirm erschien ein großes Foto von Leonard und Marianne, beide jung und strahlend, wie sie Hand in Hand über die griechische Insel Hydra schlenderten. Ella musste sich setzen. Sie war mit achtzehn selbst auf Hydra gewesen und hatte sich weltgewandt und mutig gefühlt. Das Leben war ein Abenteuer, das gerade erst begann.

Cohens zärtliche Worte füllten den Bildschirm: Nun, Marianne, ist die Zeit gekommen, da wir wirklich so alt sind und unsere Körper verfallen, und ich denke, ich werde dir schon sehr bald folgen. Du sollst wissen, dass ich so dicht hinter dir bin, dass du, wenn du die Hand ausstreckst, die meine wohl berühren kannst … Lebe wohl, meine alte Freundin. Unendliche Liebe, wir sehen uns wieder auf unserem Weg.

Ella stellte fest, dass sie weinte, und schüttelte sich. Herrje, sie war erst vierundsechzig! Was nicht hieß, dass der Tod sich nicht jederzeit auf sie stürzen könnte, wie sie sehr wohl wusste. Wie hatte die geniale Nora Ephron es ausgedrückt? Wenn man über sechzig ist, ist der Tod ein Heckenschütze.

Trotzdem war das möglicherweise die Inspiration, die sie für ihren Blog für Sal gesucht hatte: Was können wir von Leonard Cohen lernen, um gut zu leben? Nicht schlecht.

Sal überlegte, wie es wohl sein würde, wieder zur Arbeit zu gehen, und stellte fest, dass sie sich wirklich darauf freute. Für Ella und Claudia mochte es ja in Ordnung sein, den Ruhestand zu genießen, aber sie brauchte die aufgeladene Atmosphäre am Arbeitsplatz, ganz zu schweigen vom Geld. Ihr war bewusst, dass sie von dem Kleeblatt ihrer Freundinnen am schlechtesten aufgestellt war. Anders als Ella besaß sie keine Immobilie, die sie verkaufen konnte, und hatte auch keine Pension und keinen Ehemann wie Claudia. Laura mochte in der Bredouille stecken, weil Simon, dieser Mistkerl, sich von ihr scheiden lassen wollte, doch sie würde zumindest die Hälfte des gemeinsamen Hauses bekommen. Sal, die zur Miete wohnte und das Leben in vollen Zügen genossen hatte, hatte nur ihr Talent und ihren Verstand.

Allerdings war Sal Optimistin und fest entschlossen, positiv zu denken. Sie liebte ihren Job und hatte ihre Tochter Lara wiedergefunden, auch wenn diese inzwischen zu ihrem Mann und ihren Kindern nach Norwegen zurückgekehrt war.

Aber das war in Ordnung, denn Sal fühlte sich wieder besser und hatte immerhin ihre Freundinnen und die Zeitschrift. Keiner hatte den Kontakt abreißen lassen.

Womit sie nicht gerechnet hatte, als sie die Harrow Road zur Redaktion von New Grey an der Kreuzung Ladbroke Grove entlangging, war eine Willkommensparty. Doch Rose McGill, die lebhafte achtzigjährige Herausgeberin, und die fröhliche Empfangsdame erwarteten sie bereits.

»Sal!« Rose begrüßte sie überschwänglich und schloss die schlanke Sal in ihre kräftigen Arme. »Nicht zu fassen!« Sie schob Sal auf Armeslänge von sich, um ihr neues Äußeres zu begutachten. »So kurzhaarig und elegant. Ich hätte dich gar nicht wiedererkannt.«

»Ja.« Sal grinste. »Ich nenne es Krebs-Styling. Glaubst du, es wird ein Trend? Oder ist es zu geschmacklos? Ich konnte das noch nie gut unterscheiden.«

»Klingt nach einem wunderbaren Thema für die Zeitschrift«, versicherte Rose. »Mein Gott, was haben dich alle vermisst. Nun, ich offen gestanden nicht, weil ich während deiner Abwesenheit redigieren durfte. Aber alle anderen. Insbesondere Michael.« Michael war der Geschäftsführer und focht ständig Machtkämpfe mit Rose aus. Da Rose das Blatt gehörte, hätte sie diese mühelos gewinnen können. Doch Michael wusste es zu schätzen, eine so engagierte Herausgeberin zu haben, vor allem in einer Zeit schwindender Anzeigeneinnahmen und Konkurrenz von Google und Facebook. Die beiden empfanden einen tiefen Respekt voreinander.

»Komm in mein Büro. Ich erzähle dir, was alles los war.«

Sal folgte der schillernden Rose den Flur entlang, an dessen Wänden die Titelseiten der Zeitschrift prangten, und lauschte dem vertrauten und Geborgenheit auslösenden Stimmengewirr von Menschen, die am Arbeiten waren. Wie hatte sie das in den drei Monaten Krankheitspause vermisst! Das Geplauder an der Kaffeemaschine. Die Drinks nach der Arbeit, die sich in ausgelassene Abende verwandelten. Der Tratsch in der Damentoilette. Das war Sals Lebenselixier.

»Cappuccino? English Breakfast? Chai?«, sagte Rose, als sie in ihrem hübschen, exzentrischen Büro angelangten.

Sal setzte sich in einen Lehnsessel. Sie kam zu dem Schluss, dass Rose vermutlich das einzige Büro im ganzen Land besaß, das aussah wie eine Mischung aus Landhausbibliothek und einer Filiale der Sandwich-Kette Pret a Manger. Auf dem Tisch am Fenster stand eine Nespresso-Maschine aus schimmerndem Edelstahl, derzeit Roses ganzer Stolz. Man konnte sich fast vorstellen, dass George Clooney (der Sal stets an einen sexy Zahnarzt erinnerte) aus dem Nichts erschien und einem eine Tasse anbot.

»Cappuccino, bitte.«

»Dann meidest du wohl keine Milchprodukte?«, fragte Rose.

»Nein«, erwiderte Sal mit Nachdruck. »Ich meide auch keinen Alkohol und fange nicht mit Yoga an. Ich habe auch keine Lust, Eat Pray Love zu lesen, selbst wenn ich jemanden fände, der sich für eine einbrüstige Frau über sechzig interessiert. Ich bin dieselbe Sal wie früher, nur ohne Haare und hoffentlich ohne Tumor.«

»Sally Grainger, ich bin so froh, dass du wieder da bist. Alle unter sechzig sind so politisch korrekt.«

Sie stießen mit ihren Tassen an. »Auf New Grey. Wollen sich die Amerikaner übrigens noch finanziell am Verlag beteiligen? Soll ich in die USA fliegen?«, erkundigte sich Sal.

Als Sal ihre Krebserkrankung entdeckt hatte, hatte sie beschlossen, es allen zu verheimlichen. Ihren Freundinnen. Ihren Kollegen. Ja, sogar Rose, insbesondere als diese verkündet hatte, Sal müsse sich vielleicht in New York mit einem möglichen Investor treffen. Als ihr schließlich klar geworden war, dass sie die Wahrheit würde beichten müssen, war Rose – schlau wie immer – bereits dahintergekommen und hatte Sal versprochen, ihr die Stelle freizuhalten. Sal war unbeschreiblich erleichtert gewesen.

»Das wird nicht nötig sein«, erwiderte Rose.

»Gut.« Sal musste zugeben, dass sie sich über die Nachricht freute. Obwohl sie sich von Tag zu Tag besser fühlte, war die Vorstellung, nach Amerika zu reisen und das Konzept der Zeitschrift einem mit allen Wassern gewaschenen New Yorker Geschäftsmann zu verkaufen, ein wenig beängstigend. Ihr wurde sogar leicht übel dabei.

»Lou Maynard kommt nämlich her. Seine Tochter lebt in Surrey und hat gerade ein Baby gekriegt. Deshalb ist er einverstanden, die Gespräche hier in London zu führen, damit du nicht hinfliegen musst. Wahrscheinlich will er Trump entfliehen! Lou ist ein hundertprozentiger Demokrat.«

»Spitze.« Sal förderte ihren Laptop zutage und öffnete die Liste der Ideen, an denen sie gearbeitet hatte.

Rose lachte. »Ich sehe, du hast deine Genesungszeit ernst genommen.«

Eine halbe Stunde später steckte Michael, der Geschäftsführer, den Kopf zur Tür herein. »Sal! Toll, dass Sie wieder da sind. Haben Sie es geschafft, Roses Klauen die Macht zu entreißen?«

Er zwinkerte ihr zu, um seinen Worten die Schärfe zu nehmen.

»Michael, Sie sollten die Medienberichte besser verfolgen«, meinte Rose in gespieltem Ernst. »Hänseleien im Büro, insbesondere, wenn sie sich gegen Vorgesetzte richten, gelten inzwischen als unprofessionell.«

»Schwachsinn«, entgegnete Michael grinsend und trollte sich.

»Mit Michael habe ich Fortschritte gemacht. Früher war er so überkorrekt.«

»Du übst einen schlechten Einfluss auf ihn aus, Rose.«

»Danke. Das betrachte ich als Kompliment.«

Laura hatte das Haus aufgeräumt, bevor der Makler mit den Kaufinteressenten erschien. Nun ließ sie sich aufs Sofa fallen. Sie war entsetzlich verwirrt. Offenbar war es ihr nicht gelungen, sich einzureden, dass sie bereit für einen Umzug war und dass dieses Haus, wo in jedem Winkel glückliche Erinnerungen lauerten, sie nur trauriger machte, so als würde man ständig einem alten Liebhaber begegnen, der einem die Vergangenheit vor Augen hielt.

Ihre Tochter Bella war bereits mit Nigel und dem Baby ausgezogen. Auch ihr Sohn Sam würde bald fort sein. Sie waren keine Kinder mehr, die die Geborgenheit eines Elternhauses brauchten. Sie sollte mehr wie Ella sein, der es gelungen war, loszulassen und sich über ihr neues Haus zu freuen. Doch plötzlich konnte sie das nicht mehr.

Sie starrte auf den Blumenstrauß, den sie gekauft und in eine Vase gestellt hatte. Warum, zum Teufel, schmückte sie ihr Haus für Leute, die sie vor die Tür setzen wollten? Sie nahm die Blumen und warf sie in den Müll.

Da hörte sie, dass draußen Schritte auf dem Kies knirschten. Dann läutete es.

Grinsend presste Laura sich an die Wand der Vorhalle. Nur über ihre Leiche würde sie diese Menschen ins Haus lassen.

Wieder läutete es, diesmal beharrlicher, während der Makler eine in Lauras Augen unhöflich lange Zeit auf den Klingelknopf drückte. Noch ein Läuten. Der Makler begann, sich bei dem Paar zu entschuldigen. Offenbar überprüften alle ihre Smartphones auf E-Mails, die den Termin bestätigten.

Laura fühlte sich wie die Hauptdarstellerin in einem Spionagefilm, als sie nach ihrem Telefon griff und es auf stumm schaltete, bevor sie sie anrufen konnten.

Es fing an zu vibrieren. Laura lächelte und achtete nicht darauf.

Fünf Minuten später gingen sie. Kurz darauf näherten sich wieder knirschende Schritte der Haustür. Anscheinend wollte der Makler sich nicht kampflos geschlagen geben.

Sie hörte, wie er sein Büro anrief. »Hey, Stu, ich bin in der Shirley Avenue. Niemand da. Ich musste die Interessenten wegschicken. Die waren nicht gerade erfreut, das kann ich dir verraten. Ich wollte ihnen die Umstände nicht erklären, denn manchen Leuten wird mulmig bei dem Gedanken, ein Haus infolge einer Scheidung zu kaufen. Meistens den Frauen.« Er lachte hämisch. Laura malte sich ein Wieselgesicht aus. Zweifellos gehörte er zu den Männern, die fanden, man müsse es einer Frau nur richtig besorgen. »Hoffentlich haben wir es nicht mit einer verdammten Scheidungsboykotteurin zu tun. Die sind ein Albtraum. Ich bin in fünf Minuten zurück.«

Lächelnd stand Laura hinter der Tür. Ihr gefiel die Vorstellung, eine Scheidungsboykotteurin zu sein. Vielleicht konnte sie ja eine Ein-Frau-Bewegung gründen.

Sie holte die Blumen aus dem Müll, dumm, sie zu verschwenden, und schenkte sich ein Glas Wein ein. An einem Mittwochnachmittag um vier. Sie kam sich wundervoll sündig vor. »Auf die Scheidungsboykotteurinnen auf der ganzen Welt!«, rief sie aus und machte sich auf die Suche nach einer unterhaltsamen DVD zu ihrem eisgekühlten Sauvignon.

Claudia schlenderte die Hauptstraße von Little Minsley entlang und dachte, wie sehr es Agatha Christies St. Mary Mead ähnelte. Oder vielleicht Midsomer in Inspector Barnaby.

Die Häuser mit ihren strohgedeckten Dächern, den sich um die Türen rankenden Rosen und den Gärten mit ihren wippenden Malven vor einem strahlend blauen englischen Himmel waren beinahe zu malerisch, um wahr zu sein. Eigentlich erinnerte sie das ganze Dorf an das bestickte Tuch auf dem Frühstückstablett ihrer Mutter. Was ist nur aus den Tüchern auf den Tabletts geworden?, fragte sich Claudia. Irgendwo gibt es gewiss einen Flohmarkt, der alle Tücher dieser Welt feilbietet.

Als sie London verlassen hatte, waren ihre Freundinnen schockiert gewesen, weil sie nicht richtig auf dem Land leben würde, sondern in einem Dorf, wo es von neugierigen Nachbarn, die alles durch einen Ritz im Vorhang beobachteten, und bohrenden Blicken nur so wimmelte. Doch im Grunde ihres Herzens mochte Claudia Dörfer. Sie hatten genau die richtige Größe, man konnte sich einbringen und wusste, dass die Nachbarn einen unterstützen würden. Alle Altersgruppen mischten sich auf eine Weise, wie es in Städten selten vorkam, wo sich alles danach richtete, was die Leute von Beruf waren und welche Schulen ihre Kinder besuchten.

Nein, es war kein Schock gewesen, London den Rücken zu kehren. Das war eher untertrieben. Anfangs hatte sie sich gefühlt, als fiele sie in ein schwarzes Loch, in das auch ihre vierzig Jahre als Lehrerin, ihre Kollegen, ihre Schüler, die netten und die unsympathischen, das Grecian Grove und ihre engsten Freundinnen gestürzt waren. Die Beinahe-Affäre mit Daniel, dem sexy Chorleiter, war ein Versuch gewesen, mit ihrem von Grund auf veränderten Leben im Herzen von Surrey zurechtzukommen. Ansonsten hätte sie den Verstand verloren.

Zum Glück hatte ihre Tochter Gaby sie gerade noch rechtzeitig zur Vernunft gebracht. Claudia und ihr Mann Don hatten einander einen Neuanfang versprochen. Claudia war nur noch immer nicht dahintergekommen, was genau das bedeutete.

Nicht, dass sie nicht gewusst hätte, was ein älteres Ehepaar erwartete. Die wohlhabende Stadt Manningbury ganz in der Nähe war offenbar von Stepford-ähnlichen grauhaarigen Frauen und Männern bevölkert, die den ganzen Tag Händchen hielten. Händchen haltend saßen sie in den Cafés, spazierten die Straße hinunter und besuchten die vergünstigte Nachmittagsvorstellung im Kino, wo sie in der Dunkelheit sicherlich ebenfalls Händchen hielten. Claudia hätte sich bei diesem Anblick übergeben können. Sie wusste, wie schrecklich das war. Es hieß, dass sie sich in ein zynisches altes Weib verwandelt hatte. Doch Don und sie hatten nie viel fürs Händchenhalten übrig gehabt. Trotzdem mussten sie einen Weg finden, ihr Versprechen aneinander einzulösen.

Claudia stellte fest, dass sie ins Fenster des Singing Kettle starrte, eine der vielen Teestuben in Minsley. Manchmal hatte sie den Eindruck, dass Minsley die Teestubenhauptstadt der Welt war. Offenbar ließen viele Ex-Londoner das Rattenrennen hinter sich und erfüllten sich den Traum, in Little Minsley ein weiteres Café zu eröffnen. Plötzlich bemerkte sie, dass von drinnen jemand ihren Blick erwiderte.

Entsetzt betrachtete Claudia das lachende Gesicht von Daniel Forrest, dem sexy Chorleiter. Wenn sie sich instinktiv und rasch abgewandt hätte, hätte sie wie die schüchterne, pummelige Sechzehnjährige gewirkt, die sie einmal gewesen war. Deshalb bemühte sie sich um einen hochmütigen Gesichtsausdruck à la Lauren Bacall, zog abfällig die Augenbraue hoch, kramte ihr Telefon, der beste Retter in peinlichen Situationen, aus ihrer Handtasche und tat, als schickte sie jemandem eine dringende Nachricht.

Betty Wilshaw, über achtzig und ebenfalls Mitglied des Chores, tauchte in ihrem lebensgefährlichen Elektrorollstuhl namens Henry auf und eilte ihr zu Hilfe. Dank ihres geschulten Blicks erkannte sie rasch den Ernst der Lage.

»Claudia!«, rief sie. »Dich schickt der Himmel. Komm mit ins Postamt und hilf mir, das Hundefutter aus dem oberen Regal zu holen.«

»Danke, Betty«, flüsterte sie, als sie die altmodische Tür mit den zwölf Scheiben aufschob. »Du hast mir das Leben gerettet.«

»Und nicht nur das Leben.« Betty grinste Claudia anzüglich an.

»Du weißt ganz genau, dass die Gefahr gebannt ist«, erwiderte Claudia.

»Ist sie das?«

Sie beobachteten, wie Daniel aus der Teestube trat und über die Straße auf sie zusteuerte. Ein laszives Lächeln zeichnete sich auf seinem attraktiven Gesicht ab.

Claudia versteckte sich hinter dem Ständer mit den Geburtstagskarten und tat, als studierte sie die schauderhafte Auswahl, die entweder ekelerregend sentimental oder haarsträubend vulgär war.

Gerade wollte Daniel die Tür des Postamts öffnen, als Claudias Mann Don aus dem Oxfam-Laden auf der anderen Straßenseite kam. Entgeistert starrte Claudia ihn an. Erst heute Morgen hatte er in seiner üblichen schlabbernden Jeans und einem Pullover das Haus verlassen, der mit seinen vielen Löchern aussah, als hätte er als Mitternachtsimbiss für Motten herhalten müssen.

Nun stand er da und überprüfte sein Telefon. Er trug eine rostrote Cordhose, ein Tweedsakko und ein Jeanshemd und hatte einen bunten Seidenschal um den Hals geschlungen wie ein modebewusster Italiener. Claudia fiel die Kinnlade herunter. Don sah tatsächlich elegant aus!

Ohne auf Daniel zu achten, hastete Claudia über die Straße. »Wo hast du diese Klamotten her?«, begrüßte sie ihren Mann voller Bewunderung.

»Dieses Wort weckt Erinnerungen. Carnaby Street. Eigentlich habe ich nur ein Jeanshemd gesucht, doch dann sind die Pferde mit mir durchgegangen.«

»Du siehst spitze aus.«

Daniel Forrest, der diese plötzliche Konkurrenz, und das ausgerechnet von einem Ehemann, nicht zu schätzen wusste, verdrückte sich zu Claudias großer Erleichterung in die Bäckerei.

»Da fast nichts mehr im Kühlschrank ist, würde ich ein Mittagessen im Pub vorschlagen«, meinte Don.

Claudia beschloss, dem Beispiel der Stepford-Rentner zu folgen, und griff nach seiner Hand.

Durch das Fenster des Postamts sah sie, dass Betty beide Daumen hochreckte.

Einige Sekunden später entzog Don ihr unter dem Vorwand, ihr etwas zeigen zu wollen, seine Hand.

Claudia blickte ihm in die Augen, ausgesprochen froh, dass er genauso ungern Händchen hielt wie sie. »Weißt du, Don, ich liebe dich. Wir haben so viel gemeinsam.«

Don hob eine Augenbraue. »Das höre ich zum ersten Mal. Ich weiß, dass deine Freundinnen mich Don, den Langweiler, nennen.«

»Unsinn. Wir stehen am Anfang eines großen Abenteuers.«

»Nein, das stimmt nicht, Clo«, erwiderte er liebevoll. »Ich würde eher behaupten, dass wir etwa drei Viertel hinter uns haben.«

Als Laura am nächsten Morgen aufwachte, fühlte sie sich schon nicht mehr so mutig. Eigentlich hätte sie sich am liebsten die Decke über den Kopf gezogen, hätte ihr geliebter Sohn Sam ihr nicht eine Tasse Tee gebracht.

»Wunderbar. Danke.«

»Heute ist doch dein Vorstellungsgespräch, oder?«, fragte er und stellte die Tasse ab. »Bei der Geschäftsführerin, die fand, dass du Potenzial hast.«

»Stimmt.« Nachdem Simon sie wegen einer jüngeren Kollegin verlassen hatte, hatte er ihr charmanterweise mitgeteilt, sie solle nicht mehr auf ihrem Hintern herumsitzen, sondern sich, verdammt noch mal, einen Job suchen. Er war vor Wut fast geplatzt, als sie eine Hilfstätigkeit angenommen und bei LateExpress, dem Supermarkt gleich um die Ecke von seinem Büro, Regale eingeräumt hatte. Es war eine sehr befriedigende Erfahrung gewesen, dass all seine Kollegen schockiert reagiert hatten. Simon hatte getobt, denn er war überzeugt gewesen, dass sie das nur getan hatte, um ihn zu blamieren.

Obwohl Laura sich nicht von einer gewissen Schadenfreude freisprechen konnte, hatte sie ihrem untreuen Mann spitz mitgeteilt, es sei nicht so einfach, eine Arbeit zu finden, nachdem man fünfundzwanzig Jahre lang Hausfrau und Mutter gewesen sei. Außerdem war der Job zwar bescheiden, doch das Arbeitsklima war sehr angenehm und ihr in ihrem derzeitigen labilen Zustand gerade recht.

Das heutige Vorstellungsgespräch war zustande gekommen, weil sie einen konkurrierenden Supermarkt mit ihren Managementqualitäten beeindruckt hatte.

Nach dem letzten Schluck stärkenden Tees stand sie auf und begann, sich anzukleiden. Plötzlich war sie unsicher, was sie anziehen sollte. Ein Bürokostüm besaß sie nicht. Sie hatte von karitativen Organisationen gelesen, die mittellose junge Frauen für Vorstellungsgespräche einkleideten. Wie wunderbar. Sie wünschte, es hätte so etwas für früher überprivilegierte Frauen gegeben, die nach einer langen Pause wieder ins Management einsteigen wollten. Das Regaleeinräumen bei LateExpress hatte ihr Freude gemacht, und sie hatte die Kameradschaft dort mehr genossen als erwartet. Außerdem hatte sie dazu nur eine Nylonschürze über das ziehen müssen, was sie gerade anhatte. Das hier war etwas anderes. Schließlich entschied sie sich für ein schwarzes Kleid, eine Strickjacke und schlichte Pumps mit flachem Absatz, in der Hoffnung, dass sie professionell wirkte und nicht, als wäre sie gerade unterwegs zu einer Beerdigung.

Sie schlang ihr Frühstück hinunter und war erleichtert, als Sam feststellte, sie sehe hübsch aus. Gerade nahm ihr Selbstbewusstsein wieder zu, als das Telefon läutete.

Es war Simon. »Was, zum Teufel, führst du im Schilde, Laura?«, lautete seine Begrüßung. »Der Makler hat gerade angerufen und sich erkundigt, ob wir das mit dem Hausverkauf wirklich ernst meinen. Offenbar war gestern ein sehr interessiertes Paar da und konnte nicht rein, weil du nicht die Gnade hattest, zu Hause zu sein.«

»Wahrscheinlich hat der Makler etwas verwechselt«, entgegnete Laura, bemüht, die Ruhe zu bewahren und sich nicht von Simon verunsichern zu lassen, was seine Spezialität war. »Wenn die Nächsten kommen, bin ich sicher da.«

»Spar dir die Mühe. Er hat mich gebeten, sie reinzulassen.«

»Du wohnst nicht mehr hier, Simon«, hielt sie ihm mit fester Stimme vor Augen. »Du hast mich wegen Suki verlassen, schon vergessen?«

Die Wahrheit war, dass er einfach angenommen hatte, er könne zu ihr zurückkehren, als es mit seiner Beziehung mit Suki bergab gegangen war. Er war außer sich gewesen, als sie sich geweigert hatte.

»Das Haus wird verkauft, Laura«, verkündete er in gehässigem Ton. »Ob es dir nun passt oder nicht.«

Bevor sie antworten konnte, griff Sam nach dem Hörer. »Lass das, Dad. Ist es nicht schlimm genug, dass Mum ihr Zuhause verliert, weil du dich aus lauter Egoismus von ihr getrennt hast?«

Laura schüttelte den Kopf und entwand ihrem Sohn sanft den Hörer. Sie kannte Simon nur zu gut. Je mehr man ihm widersprach, desto starrsinniger wurde er. Nicht zu fassen, dass sie ihn einmal geliebt hatte.

»Auf Wiedersehen, Simon«, sagte sie so nachdrücklich wie möglich und versuchte, sich ihre Gefühle nicht anmerken zu lassen. »Ich spreche später mit dem Makler. Tschüss.«

Sie legte den Hörer neben das Telefon, damit er nicht noch einmal anrufen konnte, und schaltete ihr Handy ab.

»Kopf hoch, Mum.« Als Sam grinste, erinnerte er sie an den Schuljungen mit den schmutzigen Knien, der er einmal gewesen war. »Bald bist du ihn los.«

So nah am Fluss nahm Ella die Natur ganz besonders stark wahr. Ihre Töchter bogen sich vor Lachen, wenn sie davon schwärmte, dass sie einen Reiher beobachtet oder eine Lerche gehört hatte, aber Ella genoss diese Dinge. Vielleicht hatte es ja mit dem Alter zu tun. In ihrer Jugend war sie viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, vor Gericht wichtige Prozesse zu gewinnen und den Männern zu beweisen, dass Frauen durchaus dazu in der Lage waren, vielen Dank auch. Offen gestanden waren sie in der Hälfte der Fälle noch fähiger. Die Natur hatte sie erst später entdeckt, und sie löste eine tiefe Zufriedenheit in ihr aus.

Seit fast einem Jahr pflegte sie nun schon den Kleingarten ihrer Nachbarn, die wie wiedergeborene Hippies um den Globus tingelten, ohne zu bemerken, dass er ein wichtiger Bestandteil ihres Lebens geworden war. Als sie sich an diesem Morgen auf den Weg machte, war der Himmel wolkenlos blau. Bis auf ein paar Paddelboote und ein Ruderboot war auf dem Fluss nichts zu sehen. Als sie kurz stehen blieb, stellte sie fest, dass sie sich nur anderthalb Meter vor einem ziemlich zerfledderten Schwanennest befand, das die Brutsaison des letzten Jahres irgendwie überlebt hatte. Daneben hatten sich, feindselig und besitzergreifend, zwei wunderschöne Schwäne aufgebaut. Nur ein paar Meter entfernt bemerkte sie eine einsame Gans, genauso weiß wie die Schwäne, allerdings ohne den langen Hals, der sie auszeichnete. Ella verharrte und beobachtete die Szene eine Viertelstunde lang, aber die Gans rührte sich nicht.

Plötzlich wurde Ella von Trauer ergriffen. Hielt die Gans sich für einen Schwan? Das einsame Tier erinnerte Ella daran, dass sie selbst allein war. Seit Laurence’ Tod hatte sie sich nicht mehr um eine Beziehung bemüht. Speed-Dating für Leute über sechzig war nichts für sie. Ebenso wenig wie der verzweifelte Versuch, das Bridgespielen zu lernen, um so einem Mann zu begegnen. Sie hatte gedacht, der Umzug in ein kleineres Domizil würde die Sache erleichtern. Kein Herumräumen mehr in einem Haus, das für eine Familie erbaut worden war. Doch sosehr sie ihr Häuschen auch liebte, konnte es die Lücke nicht füllen, die Laurence’ Tod hinterlassen hatte.

Hör auf, dich selbst zu bemitleiden, Ella, schalt sie sich und marschierte raschen Schrittes zur Kleingartenanlage. Sue und Sharleen, ihre Freundinnen aus dem Nachbargarten, hielten im Graben inne und winkten ihr zu. Mr. Barzani, der alte Zypriote, der hier zu wohnen schien, grinste ihr zu wie ein Gnom. Der allgegenwärtige Bill mit seiner Pudelmütze, für sie inzwischen der Schutzgeist dieses Ortes, unterbrach kurz die Debatte mit seinen beiden Kumpeln Stevie und Les, in der es um die Gefahren der Kartoffelfäule, möglicherweise aufziehendes schlechtes Wetter (angesichts des makellos blauen Himmels höchst unwahrscheinlich) und darum ging, ob es wegen der Wurzelfliege zu früh war, um Karotten auszusäen, und begrüßte sie.

Ella lächelte allen zu und machte sich daran, die Erdbeeren ihrer Nachbarn zu pflücken, um daraus Marmelade zu kochen. Seit Monaten sammelte sie schon Bonne-Maman-Gläser mit den hübschen rotweißen, mit Baumwolle überzogenen Deckeln und hatte sich heftig mit ihrer Tochter Julia gestritten, die beim Umzug darauf beharrt hatte, dass sie sie wegwarf.

Ich und Marmelade kochen. Ella grinste in sich hinein. Früher hätte sie so etwas als Betätigung für den christlichen Frauenverein abgetan, doch sie hatte festgestellt, dass es ihr große Freude bereitete. Überhaupt empfand sie es durch die Nähe zur Natur als äußerst befriedigend, ihre Nahrung selbst anzubauen. Seit sie den Kleingarten von Viv und Angelo versorgte, war sie ein Teil dieser bunt zusammengewürfelten Gemeinschaft geworden, die neben Sal, Laura und Claudia ihr soziales Netzwerk bildete. Eigentlich war es die Nähe zur Kleingartenanlage gewesen, die den Ausschlag gegeben hatte, das neue Haus zu kaufen.

Gerade hatte sie die Erdbeeren gepflückt und wollte Bohnen und etwas Frühlingskohl ernten, als sie bemerkte, dass sich eine Delegation, bestehend aus Bill, Stevie und Les, näherte. Sie hatten einen Blumenstrauß bei sich, was seltsam war. Ella wusste, dass sie es ablehnten, wertvolle Beete an überkandidelte Blumen zu verschwenden. Die Erde war ausschließlich für Gemüse bestimmt, und sein Geld für Blumen zum Fenster hinauszuwerfen kam überhaupt nicht infrage.

»Die haben wir für dich gekauft.« Bill, normalerweise der Sprecher der drei, hielt ihr schüchtern die Blumen hin.

»Sie sind wunderschön.« Ella nahm sie entgegen. Diese unerwartete, großzügige Geste rührte sie. »Aber warum? Ich habe nicht Geburtstag, außer ich werde senil und habe ihn vergessen.«

»Wegen der Entscheidung des Vorstandes.« Bill wirkte plötzlich verlegen.

»Was für eine Entscheidung?«

»Haben deine Freunde es dir nicht erzählt? Tolle Freunde sind das, nachdem du dich hier mit so viel Herzblut reingekniet hast. Du, eine nette, kultivierte Dame und nicht mehr die Jüngste, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf.«

»Darfst du. Ich habe nur keine Ahnung, wovon du redest.«

»Dieser gottverdammte Vorstand«, beharrte Bill, wobei der Bommel an seiner Mütze vor Empörung wippte. »Eine Horde von Besserwissern, die überall ihre Nase reinstecken. Lauter kleine Tyrannen sind das. Sie haben den Antrag deiner Freunde abgelehnt, dir den Kleingarten zuzuteilen, und ihn jemandem gegeben, der weiter oben auf der Warteliste steht.«

Endlich begriff Ella, was sie ihr mitzuteilen versuchten. Sie würde ihren Kleingarten verlieren. Entsetzt darüber, wie sehr sie das erschreckte, betrachtete sie die Blumen. Dieser Ort war ihr Rückzug und eine sinnliche Freude gewesen und hatte ihr emotionale Unterstützung geboten. Die Warteliste war so lang, dass sie frühestens mit achtzig einen eigenen Garten bekommen würde. Oder wenn sie tot war.

»Hier, Stevie.« Ella drückte ihm den großen Behälter voller frisch gepflückter Erdbeeren in die knorrigen, mit Erde beschmierten Hände. »Die sind für dich. Gib sie deiner Frau. Die kann bestimmt etwas Leckeres daraus zaubern.«

Plötzlich hatte sie keine Lust mehr, Marmelade einzukochen.

Drei

Der Morgen war so schön, dass Sal beschloss, zu Fuß zu ihrem Termin mit Lou Maynard in seinem Hotel zu gehen, was sie nur selten tat. Zu ihrer Überraschung wohnte er nicht in einem der großen konventionellen Hotels und auch nicht in einem schicken Boutiquehotel, sondern im Brook’s Hotel in der Portobello Road, berühmt für sein ausgeflipptes Dekor.

Das Brook’s war früher die Lieblingsabsteige der Rockstars der Sechziger gewesen. Doch irgendwann waren diese erwachsen und dann alt geworden und zogen heute die hochflorigen Teppichböden und den Service des Ritz den schwarzen Wänden und der grassierenden Chinoiserie des Brook’s vor, die Jimi Hendrix so geliebt hatte.

Der Mann war ihr schon jetzt sympathisch.

»Verzeihung«, wandte sie sich an den exzentrisch wirkenden Mann am Empfang, der das Dekor an jeder sichtbaren Stelle seines Körpers fortgesetzt zu haben schien. »Könnten Sie Mr. Maynard mitteilen, dass ich da bin?«

»Der sitzt auf der Terrasse und frühstückt.«

Nachdem es halb zwölf war, konnte Sal nur annehmen, dass Lou Maynard nicht zu den Leuten gehörte, die ihre Tage auf Geschäftsreisen von früh bis spät mit Terminen vollpackten. Da der Rezeptionist ihr offenbar nicht den Weg zeigen würde, bog Sal in den nächstbesten Flur ein, der zufällig an den Toiletten vorbeiführte. Sie konnte der Versuchung nicht widerstehen, einen raschen Blick in den Spiegel zu werfen, und schlüpfte in die Damentoilette.

Es überraschte Sal noch immer, dass ihr eine elegante kurzhaarige Frau entgegenblickte, wenn sie in einen Spiegel sah. Sie musterte sich – nicht schlecht – und schminkte sich dann die Lippen nach. Sie hatte ihre violetten und roten Lippenstifte weggeworfen und benutzte nun einen Rostton, so warm und natürlich, dass er sogar vor Bobbi Browns Augen Gnade gefunden hätte. Sie hatte sogar mit dem Gedanken gespielt, sich bei Selfridges von einer der netten jungen Kosmetikerinnen zum Thema altersgerechtes Make-up beraten zu lassen. Doch sie wusste, dass sie ihr wahrscheinlich »mehr ist weniger« empfehlen würden, und dazu war Sal noch nicht bereit. »Mehr ist genau, wie ich es mag« war eher nach ihrem Geschmack.

Lou zu erkennen war nicht weiter schwierig, denn erstens war er der einzige Mensch auf der Terrasse, und zweitens hatte sie ihn natürlich gegoogelt. Sie wusste, dass er vierundsiebzig und der Inhaber einer millionenschweren Firma in Brooklyn war, die sich auf Lofts spezialisiert hatte. Außerdem war er dreimal geschieden und hatte fünf erwachsene Kinder. Hinzu kam, dass er in der Geschäftswelt für Furore gesorgt hatte, denn er hatte vor Kurzem eine radikale Lokalzeitung gegründet, die selbst in Zeiten sinkender Anzeigeneinnahmen und wachsender Konkurrenz durch die sozialen Medien ziemlich erfolgreich war.

Er saß halb versteckt hinter zwei rosafarbenen Orchideen und nippte lächelnd an seinem Kaffee. Bekleidet war er mit schlabberigen Chinos, einem terrakottafarbenen Hemd und einer hellbraunen Strickjacke. Auf den ersten Blick wirkte er eher wie ein freundlicher Großvater als wie ein gewiefter Geschäftsmann.

»Mr. Maynard? Ich bin Sally Grainger.«

Lou erhob sich. Obwohl sie etwa fünf Zentimeter größer war als er, wirkte er wie ein Mann zum Anlehnen. Außerdem strahlte er Tatendrang aus, was sie schon oft bei sehr erfolgreichen Menschen erlebt hatte. Sie brachten jeden Raum, den sie betraten, zum Leuchten und hatten ein Funkeln in den Augen, was bei Lou Maynard eindeutig zutraf.

»Bitte setzen Sie sich.« Er wies auf den Stuhl neben seinem. »Und wie gefällt Ihnen mein Hotel?« Er deutete auf eine eingetopfte Palme, wie man sie in den Sechzigern in jedem eleganten Wohnzimmer vorgefunden hatte, inzwischen jedoch kaum noch sah. »Es ist so altmodisch wie ich, was ich als beruhigend empfinde. Außerdem mag ich ein wenig kitschige Eleganz. Mein ganzes Zimmer erinnert an eine Szene aus British Raj. Dunkelgrüne Wände und Vorhänge und, oh, habe ich die Elefanten erwähnt? Einer ist hinter meinem Bett an die Wand gemalt, der andere tut, als wäre er eine Lampe. Kommen Sie, ich zeige es Ihnen.«

Sal erhob sich ein wenig schockiert.

»Keine Angst.« Lou grinste. »Ich bin zu alt, um Ihnen gefährlich zu werden. Wie sagen die Briten noch mal? Dem kann man im Taxi nicht über den Weg trauen? Das finde ich großartig.« Er führte sie an einem Käfig vorbei, in dem zwei Turteltauben gurrten.

»Guten Morgen, Jungs. Begrüßt Sally.«

»Eigentlich nennen mich alle Sal.«

»Klingt spitze. Also begrüßt Sal.«

Die Turteltauben gurrten sie gehorsam an.

Sie folgte ihm zum Aufzug. »Keine Sorge«, beruhigte er sie. »Wir müssen nicht auf dem Bett sitzen. Ich habe eine Suite. Außerdem können die Elefanten als Anstandsdamen herhalten.«

Sein Zimmer, oder besser die Suite, entpuppte sich als Wunderwerk. Neben den Elefanten gab es eine Wand mit einer Szene, in der Hunderte von Würdenträgern ein Kricketspiel beobachteten und dabei offenbar Gin Tonic tranken, während ihre Diener ihnen mit Federn Kühlung zufächelten.

»Fantastisch, oder? Ich muss zugeben, dass ich das Tudor-Zimmer abgelehnt habe. Auch das mit den schwarzen Wänden, das Jimi am liebsten hatte. Man fühlt sich darin wie in einem Sarg. Ich bin meinem eigenen so nah, dass ich nicht von einem Hotelzimmer daran erinnert werden möchte. Wir können uns da drüben hinsetzen.« Er wies auf ein gewaltiges weiches Sofa, dessen Bezug eine Tigerjagd darstellte. »Zum Glück haben sie sich die Couchtische mit Elefantenfüßen gespart. Okay, und jetzt zum Geschäftlichen.«

Sal bemühte sich um eine sittsame Sitzposition, eine ziemliche Herausforderung, denn das Sofa war so tief, dass man unfreiwillig mehr Bein zeigte als beabsichtigt.

Sie stellte fest, dass Lou sie grinsend beobachtete.

»Sie erinnern mich an jemanden«, meinte sie in der Hoffnung, dass das nicht zu vorwitzig war.

»Ed Asner«, erwiderte er wie aus der Pistole geschossen. »Den Typen, der im Fernsehen Lou Grant gespielt hat. Das sagen alle. Vermutlich ist es die Namensgleichheit, die das Unbewusste der Leute anregt.«

»Ich habe diese Sendung geliebt! Lou Grant, der hart gesottene Journalist bei der LA Tribune! Seinetwegen wollte ich Reporterin werden!«

»Jetzt übertreiben Sie mal nicht, Sal.« Wieder grinste er. »Vergessen Sie nicht, dass ich nicht er bin.«

»Sie erstaunen mich, denn schließlich war er eine erfundene Figur, während Sie meiner Ansicht nach echt sind. Und Sie haben eine Zeitung gegründet. Vielleicht geistert er auch in Ihrem Unbewussten herum.«

»Mag sein. Möglicherweise hat es mich ja gelangweilt, in der Immobilienbranche Millionen zu scheffeln, weshalb ich ein wenig Unfrieden stiften wollte. Wissen Sie, ich hasse Langeweile. Außerdem habe ich eine sehr kurze Aufmerksamkeitsspanne. Eine meiner schlechtesten Eigenschaften.«

»Interessieren Sie sich deshalb für New Grey?«

»Vielleicht. Es gibt viele Magazine, die sich an die Babyboomer richten, aber ich fand, dass New Grey in einer höheren Liga spielt. Außerdem könnte man meiner Ansicht nach eine Menge damit machen, was Rose nicht tut. Ferienreisen. Versicherungen. Kreuzfahrten. Möglicherweise sogar intelligente Seniorenwohnanlagen. Das ist derzeit eine aufstrebende Branche.«

Sal dachte an Claudias Vorschlag einer Anti-Seniorenresidenz und lachte auf.

»Sie lachen. Habe ich etwas Lustiges gesagt?«

»Meine Freundin Claudia, die in Surrey wohnt, das ist ein bisschen wie Westchester County …«

»Ich kenne Surrey.« Lou nickte. »Meine jüngste Tochter lebt dort.«

»Nun, sie hatte die Idee, dass ich und meine besten Freundinnen eine Anti-Seniorenresidenz gründen sollten, wenn wir älter sind. Eine Mischung aus Studenten-WG und Kibbuz, wie sie es ausgedrückt hat.«

»Spitze! Ich habe mit achtzehn selbst in einem Kibbuz gearbeitet.« Lous Augen funkelten spitzbübisch. »Drei Monate lang habe ich fröhlich Bananen gepflückt, bis sie mich zum Latrinenschrubben verdonnert haben, um mir die Arroganz auszutreiben.«

»Wo war denn Ihr Kibbuz?«

»Kaum zu fassen, in der Nähe des Sees Genezareth. Wobei ich nicht Zeuge irgendwelcher Wunder geworden bin. Apropos Wunder. Warum kommen Sie nicht mit zum Brunch? Dann berichte ich Ihnen von meinen Erfahrungen. Ich hatte vorhin nur einen Kaffee.«

In Gedanken ging Sal ihren Tag durch. Um drei hatte sie eine Redaktionssitzung, doch darauf war sie gut vorbereitet. Würde es Rose lieber sein, wenn sie sich mit Lou einen Brunch genehmigte? Oder sollte sie – ein von Journalisten bevorzugter Ausdruck – einen wichtigen Termin vorschützen?

Plötzlich wurde Sal klar, dass sie sehr gerne mit Lou essen wollte. Sicher würde es unterhaltsam werden.

»Mit Vergnügen.«

»Ausgezeichnet. Obwohl alles auf das Gegenteil hinweist, ist das Essen hier ausgesprochen gut.«

Als sie beide aufstanden, spürte Sal, dass Lou zu den seltenen Menschen gehörte, die genug Charisma ausstrahlten, um sich beinahe die Hände daran zu wärmen.

»Folgen Sie mir.« Lou lächelte. »Ich glaube, wir brauchen nicht zu reservieren. Wahrscheinlich werden wir die Einzigen sein.«

Er behielt recht. Sie waren die einzigen Gäste im ganzen Restaurant. Außerdem war so wenig Personal vorhanden, dass sie von dem tätowierten Rezeptionisten bedient wurden.

Sal studierte die kurze Speisekarte und entschied sich sofort für Eier Benedict.

»Ich mag es, wenn eine Frau entschlussfreudig ist. Eier Benedict sind die einzige Möglichkeit. Das, was sie hier als Eier Florentiner Art bezeichnen, schmeckt grauenhaft. Aber Sie müssen eine Bloody Mary dazu trinken. Die ist beinahe so gut wie zu Hause.«

Sal lachte. Warum auch nicht?

Lou bestellte ein blutiges Steaksandwich, das er mit Senf und Ketchup überschüttete, und trank dazu Brooklyn Lager. »Ein Glück, dass ihr hier endlich richtiges Bier entdeckt habt. Anstatt der Pisse, die ihr Bitter nennt. Kein Wunder, dass ihr die Kolonien los seid.«

»Und was genau interessiert Sie an New Grey?«, fragte Sal, kühn geworden von dem Wodka in der erschreckend starken Bloody Mary. »Werden Sie wirklich in uns investieren?«

»Das könnte in der Tat passieren. Jetzt, in meinem reifen Alter, habe ich festgestellt, dass es mich fasziniert, das Leben in vollen Zügen auszukosten.«

»Das hat mir Rose erzählt. ›Lou liebt das Leben‹, lauteten ihre Worte.« Als Sal ihm nun gegenübersaß, bemerkte sie, dass das eindeutig zutraf.