Das blaue Ende der Zeit - Victor Boden - E-Book

Das blaue Ende der Zeit E-Book

Victor Boden

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Beschreibung

Nach meinem fluchtartigen Sprung durch dieses flirrende Energienetz landete ich mehr tot als lebendig in einer zerstörten, offenbar asiatischen Stadt. Dort traf ich auf meine Frau und die Kinder, die angeblich nie existiert hatten. Doch Nora war nur gekommen, um mir den absurden Auftrag zu geben, die Erde und das Universum zu vernichten. Noch ahnte ich nicht, dass ich zur Schlüsselfigur einer kosmischen Krise mutiert und bereits die halbe Galaxis hinter mir her war.

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Victor Boden

Das blaue Ende der Zeit

AndroSF 126

Victor Boden

DAS BLAUE ENDE DER ZEIT

AndroSF 126

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© dieser Ausgabe: Januar 2022

p.machinery Michael Haitel

Titelbild: Victor Boden

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda

Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel

Herstellung: global:epropaganda

Verlag: p.machinery Michael Haitel

Norderweg 31, 25887 Winnert

www.pmachinery.de

für den Science Fiction Club Deutschland e. V., www.sfcd.eu

ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 260 7

ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 837 1

1: Spring in die Hölle!

Der erste Sprung beförderte mich, im Gegensatz zu meinem ersten Tod, direkt in die Hölle. Es ist mir bis heute unverständlich, wie ich ihn lebend überstehen konnte, während ich an anderer Stelle viel zu schnell starb.

Es passierte ungefähr drei Tage vor der Sache mit dem Alien. Ich war auf dem Weg in die Arrestzelle, als es neben mir auf der Wand auftauchte. Ein Netz aus Licht, blaugrün flimmernd. Es war das Fremdartigste, das ich jemals gesehen habe. Und dennoch schien es mir in diesem Moment der einzige Weg aus meinem Dilemma zu sein. Also schob ich all meine Bedenken beiseite und sprang.

Bevor ich wusste, wie mir geschah, platzte mir der Bierbauch und jemand riss mir in einem Stück die Haut vom Leib. Ich schrie, paradoxerweise war jedoch kein Laut zu hören. Starkstromleitung, dachte ich noch, ich bin in eine offene Starkstromleitung gelaufen!

Alles wurde blau. Blaues Blut floss über meine Augen. Dann schossen meine Augen aus dem Kopf und machten sich davon. Unsichtbare Hände von Riesen griffen nach meinen Innereien, rissen sie heraus und schleuderten sie ins Nirwana. Ich sah nichts, hörte nichts und nahm doch alles wahr. Eine Million Kreissägen arbeiteten sich durch meine nackten Sehnen, irrsinnig laut und doch unhörbar.

Träge und unendlich langsam kam ich wieder zu mir. Ich trieb in einem Meer aus Rasierklingen und Glassplittern. Der Körper zitterte unkontrolliert, jedoch nicht, weil es kalt war, im Gegenteil. Brodelndes Feuer umgab mich und war gleichzeitig in meinem Innern. In meinem Gehirn steckte eine Axt und auf meiner Brust absolvierte ein Elefant Liegestützen. Ich atmete nicht mehr. Zumindest fast nicht mehr, nur noch ein ganz klein wenig. Die Luft brannte und kratzte wie … Giftgas? Ich fragte mich, ob ich überhaupt noch in einem Stück war. Mein Gefühl sagte mir das Gegenteil. Der Sprung hatte mich innerhalb von einer Sekunde in sämtliche Einzelteile zerlegt. Von meinem Kopf aus, in dem die Axt saß, tastete ich mich Stück für Stück abwärts und horchte in meinen Körper hinein.

Die Hände kochten, aber sie waren immerhin wieder da. Ein Metzger hatte sie wie rohes Fleisch plattgeklopft und zurück an ihre Stelle gelegt. Er hatte auch meinen Magen umgestülpt und mit dem Darm verknotet. Meine Genitalien waren auf einem Grillfest gewesen und nun als Grillwürstchen mit Spiegelei zurückgekehrt. Die Beine hatte eine Dampfwalze überfahren. Alle Körperteile waren vorhanden, und jedes einzelne schrie vor Schmerz.

Doktor Morena.

Diese saublöde …

Wollte sie mich umbringen?

Stundenlang lag ich da, ohne mich zu bewegen. Als ich versuchte, die Augen zu öffnen, schliffen die Lider wie grobkörniges Sandpapier über die Iris und ich gab es schnell wieder auf.

Ich hatte keine Ahnung, wo ich war. Ich konnte nicht denken. Zu viele Rasierklingen. Zu viel Zittern. Zu heiße Feuer. Ich lag offensichtlich auf dem Rücken, das war alles, was ich feststellen konnte. Ich lag da und sehnte mich danach, wieder in die Bewusstlosigkeit abtauchen zu können.

————————————

War ich in der Arrestzelle gelandet? Ich erinnerte mich, dass ich zurück in die Arrestzelle geführt werden sollte.

Nachdem mich die Polizei verhört hatte.

»Fangen wir noch mal von vorne an: Name?«

Der Beamte hatte sich zurückgelehnt und seine Fingernägel betrachtet. Er hätte sich sicher auch etwas Besseres vorstellen können, als jemanden zu befragen, der offensichtlich nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte.

»Achim Brenner. Auch wenn Sie mich noch hundertmal fragen!«

»In ganz Berlin ist niemand unter diesem Namen gemeldet«, erklärte mir mein Gegenüber. »Vielleicht fehlt Ihnen etwas. Nehmen Sie regelmäßig Medikamente?«

Und ob mir etwas fehlte: Meine Papiere waren verschwunden, und wenn du keine Papiere hast, hörst du auf zu existieren. Ich konnte nicht einmal die einfachste Sache der Welt belegen.

»Keine Medikamente, keine Drogen, nicht mal ein Bier.« Zumindest konnte ich das, was ich da gestern getrunken hatte, kaum als ein solches bezeichnen. Er beugte sich vor und fixierte mich, als ob er an meinem Erscheinungsbild irgendwelche Anhaltspunkte für das Gegenteil meiner Angaben finden konnte. Vielleicht suchte er auch nach auffälligen Besonderheiten, wie sie manchmal auf Steckbriefen erwähnt wurden. Unwillkürlich blickte ich mich nach dem Schwarzen Brett um. Die beiden Gesichter, die ich dort aus der Terroristenfahndung finden konnte, hatten wenig mit mir gemein. Ich besaß ein kantiges Gesicht, kurz geschnittene, schwarze Haare und ich war stolz darauf, trotz meines Alters von fünfunddreißig Jahren noch kein Anzeichen einer Lichtung darauf entdeckt zu haben. Okay, meine Statur war im Laufe der Ehe etwas aufgedunsen und ich hatte einen Wanst angesetzt, was aber kaum eine Besonderheit darstellte.

»Verheiratet?«, stocherte er weiter, als hätte er meinen letzten Gedanken erraten und beugte sich wieder über sein Formular.

»Verheiratet und zwei Kinder. Die klassische Mühle«, stöhnte ich auf.

»Was meinen Sie mit klassischer Mühle?«

»Na, die Familie, der Job und der ganze Alltagstrott …«, versuchte ich meine Lebenssituation in einem Satz unterzubringen.

»Haben Sie denn einen Job?«

Langsam fragte ich mich, wofür mich der Mann eigentlich hielt. Sehe ich wie ein Penner aus? Job war vielleicht etwas zu lässig ausgedrückt, immerhin war ich Beleuchtungsmeister am Deutschen Theater, auch wenn es das Ende einer abenteuerlichen Karriereirrfahrt darstellte. Wenn man einmal von den Schauspielern und den Regisseuren absah, die sich für die wichtigsten Leute der Welt hielten, war die Sache am Theater gar nicht so schlecht, wenn auch zuweilen etwas monoton. Wenn nach der zwanzigsten Vorstellung die Monologe und Arien zu Ohrwürmern geworden waren, nisteten sie sich in meinen Träumen ein. All die unglücklichen Romeos und Julias suchten mich dann des Nachts heim und heulten sich in nervenzehrender Theatralik bei mir aus. Natürlich belästigte ich den Polizeibeamten nicht mit derlei Details, sondern nannte ihm lediglich meine Berufsbezeichnung.

»Beleuchtungsmeister …«, wiederholte er und zog dabei das Wort in die Länge, als ob er es zum ersten Mal hören würde. Er machte eine Notiz und ging zur nächsten Frage über: »Sie sagten, Sie wären verheiratet?«

»Seit dem 6.6.86.«

»Nettes Schnapsdatum …«, murmelte er trocken.

»Schnaps hatte eine tragende Funktion bei meiner ersten Begegnung mit meiner Frau gespielt«, erklärte ich ihm, auch wenn die Aussage nicht viel erklärte.

»Aha«, meinte er nur. Die nächste Frage bezog sich folgerichtig auf meine Frau.

»Nora Brenner«, antwortete ich wahrheitsgemäß und fügte hinzu: »Wir haben zwei Kinder, Peter und Lisa.«

Aber weder meine Frau noch eines der Kinder waren im Einwohner-Melderegister zu finden.

————————————

Waren es Stunden oder Tage, die ich in diesem Elend zubrachte? Ich hatte keine Ahnung. Als ob ich auf einen Bus warten würde, bewegte sich die Zeit nicht mehr. Zuweilen tauchte ich in erlösende Ohnmacht ab oder verfiel in fiebrigen Halbschlaf.

Irgendwann ließ der Schmerz etwas nach, wenn auch das Zittern noch hartnäckig blieb. Mir gelang es, die Augen zu öffnen, ohne sie zu zerraspeln. Eine schmutzige Betondecke schälte sich aus der Dunkelheit. Wie es aussah, befand ich mich in einem geschlossenen und dämmrigen Raum. Mehr konnte ich nicht erkennen und ich war nach wie vor nicht in der Lage, mich zu bewegen. Die beißende Luft zerkratzte mir die Atemwege. Unmöglich, einen klaren Gedanken zu fassen.

All das hatte doch erst heute Morgen angefangen? Es gibt Tage, an denen man mit dem falschen Fuß aufsteht. Dann gibt es Tage, da sollte man das Bett besser gar nicht erst verlassen. Doch heute Morgen war bereits alles zu spät gewesen. Ich war komplett aus dem Bett gefallen.

Nicht nur meine Papiere verschwunden, auch meine Frau hatte sich verflüchtigt. Und zwar mitsamt den beiden Kindern. Meine ganze Familie hatte sich in Luft aufgelöst. Hatte mich der Beamte anfangs als Penner eingestuft, so musste er mich langsam für durchgeknallt halten.

Es war natürlich ein Fehler gewesen, die Polizei um Hilfe zu rufen, das war mir irgendwann während des Verhörs klar geworden, doch was hätte ich tun sollen? An wen hätte ich mich wenden können?

Etwa an Doktor Morena? Diese Ärztin war mir von Anfang an suspekt gewesen. Wollte mir glattweg eine Psychose einreden. Ich und Psychose!

»Was wollten Sie denn in der Cunostraße?«, wollte der Beamte wissen und unterbrach damit meine Gedanken. Diese Frage stellte er mir mittlerweile zum fünften Mal und ich fragte mich, ob er möglicherweise dämlich war.

»Was ich dort wollte? Ich wohne dort!«, herrschte ich ihn an.

»Die Wohnung steht seit vierzehn Tagen leer. Weder eine Familie noch eine Einzelperson namens Brenner waren dort jemals gemeldet.«

»Dann fragen Sie die Nachbarn!«, schlug ich vor.

»Das haben wir. Wir haben bislang niemanden gefunden, der Sie kennt.«

»Aber … meine Möbel, ein Teil von ihnen steht doch noch da!«

»Haben Sie die Möbel in die Wohnung gestellt?«

»Natürlich …!

»Sie schlafen in diesem halben Bett, das wir dort vorgefunden haben? Wie machen Sie das, ohne herauszufallen?«

»Gestern war es ja noch ganz!«

»Und dieser Schrank?« Der Polizist beugte sich vor und sah mir forschend in die Augen. »Was genau haben Sie mit diesem Schrank gemacht?«

»Ich habe gar nichts gemacht!«

»Offensichtlich kann oder will er sich an nichts erinnern!«, mischte sich jetzt sein Kollege ein.

»Verweigerung der Identität, kein bekannter Wohnsitz, Einbruch in eine fremde Wohnung und mögliche Sachbeschädigung«, fasste mein Freund und Helfer meinen Tatbestand zusammen und hielt es so in seinem Formular fest.

Ich hatte mich in der letzten Stunde offensichtlich mit einem Betonschädel unterhalten und war nahe daran, von meinem Stuhl aufzuspringen und loszuschreien, wie es sich für einen echten Psychotiker gehört. Es gab nur einen einzigen, winzigen Gedanken, der mich davon abhielt: Vielleicht hatte diese Frau Doktor ja recht. Wahnvorstellungen hatte sie gesagt, etwas von irgendwelchen Symptomen und einem Unfall von vor zwei Wochen erwähnt. Ich konnte mich an nichts dergleichen erinnern. Angeblich hatte ich nie eine Familie. Wäre alles nur Einbildung gewesen.

»Na schön«, sagte ich resigniert zu dem Polizisten, »anscheinend habe ich hier wirklich irgendetwas nicht mitbekommen, fragen Sie doch mal bei dieser Frau Doktor Morena nach, die weiß anscheinend mehr als ich.«

»Doktor Morena? Wer ist das?«, fragte der Beamte, der das Formular gerade auf einen Ablagestapel legen wollte.

————————————

Diese Frage beschäftigte mich ebenso: Wer war diese Frau Doktor eigentlich? Ich kannte sie überhaupt nicht. Morena. Möglicherweise hatte ich diesen seltsamen Namen mal in einem alten Gruselfilm gehört, doch niemals im echten Leben. Sie hatte mich heute Morgen angerufen, um sich nach meinem Wohlbefinden zu erkundigen.

»Na, wie geht es uns denn heute, Herr Brenner?«

Der Kalender zeigte den 29. Juni 1998 an und mein Leben war zu Ende. Nichts war mehr wie zuvor. Der Tag begann damit, dass ich um 6.45 Uhr aus dem Bett rutschte. Schuld daran war, dass das Ruhelager eine ungewöhnliche Schieflage eingenommen hatte und das lag wiederum daran, dass die zweite Hälfte des Doppelbettes fehlte. Sie war einfach nicht mehr da, das Bett stand nur noch auf zwei Beinen. Natürlich war ich sofort hellwach und rappelte mich hoch. Nicht nur die Hälfte meines Bettes fehlte, sondern auch sein Inhalt: Meine Frau samt Decke und Kissen. Sie war auch nirgends in der Wohnung zu finden. Die beiden Kleinen, Peter und Lisa, waren ebenfalls fort. Wie ein aufgeschrecktes Huhn lief ich durch sämtliche Zimmer, doch sie waren alle weg. Was die Sache noch unheimlicher machte, war die Tatsache, dass auch die Möbel fast alle verschwunden waren.

Zuerst dachte ich, Nora hätte mich sitzen gelassen und wäre über Nacht ausgezogen. Aber wie hatte sie es fertiggebracht, das Bett in der Mitte auseinanderzusägen, ohne dass ich davon aufgewacht war? Und ein kompletter Auszug mitten in der Nacht? Frauen sind ja zu allem fähig, aber das …?

Dann sah ich diesen Schrank. Es waren nicht alle Möbel verschwunden. Meine Doppelbetthälfte im Schlafzimmer war ja geblieben, ebenfalls noch vorhanden waren im Wohnzimmer Couch und Fernseher, im Esszimmer der Computer, ein paar Teile in der Küche, ein paar Stühle hier und da, das Telefon und dieser Schrank im Flur. Das heißt, er war eigentlich nicht so richtig da. Er pulsierte durchsichtig, als wäre er gerade dabei, sich in Luft aufzulösen, konnte sich aber letztendlich nicht so recht dazu entschließen.

Als Nächstes stellte ich fest, dass ich eingeschlossen war. Jemand hatte die Haustür abgesperrt und ich konnte den Schlüssel nicht finden. Im Schlafzimmer hingen noch meine Sachen vom Vortag über dem Stuhl, doch der Hausschlüssel, der normalerweise in meiner Hosentasche steckte, war nicht da.

Nora, du Miststück, dachte ich mir, du hast wirklich an alles gedacht. Ich zog mich an, ging zum Telefon und rief die Nepperles an. Wahrscheinlich war Nora mit den Kindern bei unseren Freunden untergetaucht. Doch die gaben vor, mich überhaupt nicht zu kennen. Ganz klar: Nora hatte sich mit denen verschworen, denn als Scherz war das ziemlich übertrieben. Die Verschwörung nahm immer größere Ausmaße an, als ich den technischen Leiter im Theater anrief. Trotz meiner Panik fiel mir noch ein, dass heute Abend Warten auf Godot auf dem Plan stand. Das fehlte mir gerade noch. Unter diesen Umständen konnte ich kaum zur Arbeit gehen.

»Kennen wir uns?«, fragte Eddie am anderen Ende der Leitung. Ich entgegnete ihm, er solle seine Scherze lassen, ich hätte hier ein ernsthaftes Problem und erklärte ihm, dass meine Frau mitsamt den Kindern (und Möbeln) verschwunden war, aber es interessierte ihn kein bisschen. Eddie blieb standhaft dabei, mich nicht zu kennen, obwohl wir seit vier Jahren Kollegen waren. Bevor er auflegte, gab er mir noch den Rat, mich an die Polizei zu wenden, wenn ich vermisste Personen zu melden hätte. Das tat ich dann auch.

»Kein Problem«, kam die beruhigende Antwort des Polizeibeamten am anderen Ende der Telefonleitung, »wir schicken gleich jemanden vorbei.« Na, wenigstens einer, der einem beisteht.

Dachte ich.

Ich sah zu dem Schrank, der pulsierend und halb durchsichtig im Flur stand. Vorsichtig näherte ich mich ihm, streckte die Hand aus, um ihn zu berühren, fasste jedoch durch ihn hindurch, ohne auf ein Hindernis zu stoßen. In meinem Kopf purzelte alles Mögliche durcheinander, aber nichts ergab einen Sinn. Wohin war Nora mit den Kindern, den Möbeln, meinem Haustürschlüssel und anscheinend auch mit meinen Papieren verschwunden? Und was zum Henker sollte dieses Kunstwerk von einem durchsichtigen Schrank hier im Flur?

In diesem Moment klingelte das Telefon und eine mir völlig unbekannte Doktor Morena erkundigte sich nach meinem Wohlergehen: »Na, wie geht es uns denn heute, Herr Brenner?«

»Wie es mir geht? Meine Frau und meine zwei Kinder sind spurlos verschwunden …«, begann ich, doch dann stockte ich. »Wer sind Sie überhaupt?«

Ihre Stimme irritierte mich, sie klang so tief und warm, dass mir für einen kurzen Moment der Verdacht kam, mit einer Telefonsexnummer verbunden zu sein. Jedenfalls handelte es sich um eine Stimme, die ich sofort wiedererkannt hätte, hätte ich sie jemals zuvor gehört.

Doktor Morena gab sich aber ganz im Widerspruch zu ihrer erotischen Stimme als meine behandelnde Ärztin aus und bestätigte dies auch sogleich mit einer Ferndiagnose: »Wie es scheint, haben sich Ihre Symptome verschlechtert.«

»Symptome? … Welche Symptome? Hier löst sich alles auf!«, stotterte ich. Die Frau Doktor versuchte mich zu beruhigen, indem sie so Dinge sagte, wie: »Alles wird gut«, und schlug vor, ich solle zu ihr in die Klinik kommen.

»Ein paar Tests würden nicht schaden.«

»Tests …?«

»Sie projizieren gewisse Wahnvorstellungen und leiden unter einem extremen Gedächtnisverlust. Das alles hat mit dem Unfall vor zwei Wochen zu tun«, erklärte sie mir.

Unfall? »Vor zwei Wochen?«, stammelte ich.

»Kommen Sie zu mir in die Klinik, ich möchte Sie umgehend untersuchen!«

»Ich kann mich an keinen Unfall erinnern!«

»Natürlich nicht, das ist ja gerade Ihr Problem!«

Ein Unfall, das klang irgendwie einleuchtend, trotzdem erklärte das nicht ganz diese absurde Situation.

»Meine Familie ist verschwunden, und mit ihr alle Möbel … das Kinderzimmer ist vollkommen leer!«, begann ich wieder von vorne.

»Herr Brenner, Sie haben überhaupt keine Familie. Das bilden Sie sich nur ein!«

Ich blickte auf eine weiße Wand. Gestern hing da noch ein Bild mit Nora, auf dem sie unseren kleinen Peter (der auf dem Bild vielleicht gerade ein Jahr alt war) freudig auf dem Arm getragen hatte. Der helle, rechteckige Fleck auf der Tapete war klar zu erkennen.

»Ich lass mich doch nicht von Ihnen verarschen!«, schnauzte ich in den Telefonhörer. Selbstverständlich hatte ich eine Familie! Zumindest hatte ich gestern noch eine. Will diese angebliche Ärztin mir ernsthaft erzählen, ich lebe hier alleine in einer leeren Fünfzimmerwohnung?

»Und dieser Schrank hier, der sich halb auflöst? Bilde ich mir den auch ein?«, fragte ich sie.

»Die Wahrnehmung Ihrer Umwelt ist gestört, Herr Brenner. Das sind aber nur die kleineren Nebenwirkungen Ihres Traumas.«

»Was soll denn das für ein Unfall gewesen sein?«

»Ich habe hier Ihre Krankenakte vorliegen, in denen die Ereignisse der letzten zwei Wochen festgehalten sind. Kommen Sie zu mir und ich kann Ihnen alles in Ruhe erklären.«

»Doktor Mu… Morelli … ich kenne Sie doch überhaupt nicht!«

»Doktor Morena. Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie. Vor zwei Wochen wurden Sie bei mir eingewiesen.«

Doktor Morena. Ein wirklich seltsamer Name aus einem Gruselfilm.

————————————

Das Einzige, worauf ich in meinem unbeweglichen Zustand starren konnte, war diese verrottete Betondecke. Von der Seite drang diffuses Licht herein und aus Richtung meiner Füße raschelte etwas. Zusätzlich vernahm ich ein röchelndes Geräusch, ebenfalls aus unmittelbarer Nähe. Irgendein Tier lag da neben mir und ich bildete mir ein, seinen Atem zu spüren. Nach wie vor lag ich auf dem Rücken und wagte nicht, den Kopf zu drehen. Mein Hals fühlte sich immer noch so an, als hätte jemand den Kopf dreimal um die eigene Achse gedreht. Was um Himmels willen hatte dieses Lichtgitter mit mir gemacht und wo war ich hier?

Selbstverständlich hatte ich eine Familie. So etwas kann man sich nicht einfach einbilden. Vor dreizehn Jahren hatte ich Nora kennengelernt und seitdem bildeten wir ein gutbürgerliches Paar wie aus dem Bilderbuch. Es war sicher keine glückliche Ehe, aber immerhin war es eine. Vor allem mochte ich meine Kinder.

Und nun soll ich plötzlich einen Unfall gehabt und mir all das nur eingebildet haben? Mein ganzes Leben zu einer Illusion verpufft, ein kompletter Gedächtnisverlust, habe gehört, so was soll’s geben.

Langsam verstärkte sich das Gefühl, dass mir der Boden unter den Füßen weggezogen wurde.

Sie haben überhaupt keine Familie.

»Also noch mal: Doktor Morena, wer soll das sein?«

Der Polizeibeamte sah mich auffordernd an.

»Sie ist … meine Ärztin …«, antwortete ich. Vielleicht stimmte es sogar.

Der Beamte nickte seinem Kollegen zu: »Überprüfe das!«

»Habe mir doch gleich gedacht, dass der irgendwo entlaufen ist«, murmelte dieser und blätterte in einem Telefonbuch.

Unfallopfer. Gehirnschaden. Läuft seit zwei Wochen verwirrt herum und bildet sich ein, eine Familie zu haben. Bildet sich ein, Beleuchter zu sein und seit vier Jahren am Deutschen Theater zu arbeiten. Kann sich nicht an seinen Namen erinnern. Kann sich nicht an sein Leben erinnern. Vielleicht war es wirklich so einfach.

Aber da war noch etwas.

Die Fahndung … der Mord.

Dieser Japse ohne Kopf.

Warum hatte mich der Polizist eigentlich noch nicht danach gefragt?

Es kam sogar im Fernsehen.

Am Ende unseres Telefonats hatte Frau Doktor Morena mit der erotischen Stimme noch eine weitere Überraschung auf Lager: »Da ist noch etwas, das Sie wissen sollten, Herr Brenner. Sie werden gesucht!«

»Sonst noch was?«, fragte ich.

»Sie stehen unter Mordverdacht.«

Dann hatte sie aufgelegt.

Mord, na klar! Als ob ich heute noch nicht genug um die Ohren gehabt hätte. Instinktiv suchte ich die Wohnung nach einer Zeitung ab. Wenn da was dran war, müsste es in der Zeitung stehen, doch ich glaubte keine Sekunde daran. Natürlich war keine Zeitung zu finden, selbst das Altpapier hatte jemand entsorgt. Doch immerhin war der Fernseher noch da, inklusive der Fernbedienung. Ich zappte ein paar Kanäle durch und verwünschte mich dabei, dass ich wegen dieser unsinnigen Behauptung so nervös geworden war, bis ich auf eine Nachrichtensendungstieß. Das unschöne Foto einer kopflosen Leiche wurde soeben eingeblendet. Sie war in einen Bademantel gehüllt und lag neben einem Swimmingpool. Der Blutstrom aus dem kopflosen Hals hatte sich in das Becken ergossen und eine rote Wolke im Wasser hinterlassen. Die Sprecherin faselte etwas von ungeklärten Motiven und Umständen.

»… in der Mordsache Iwashita Toshiro gibt es noch immer keine neuen Erkenntnisse. Der Konzernmagnat wurde vor zwei Wochen im Obergeschoss seines Firmensitzes auf bestialische Art getötet …«

Vor zwei Wochen schoss es mir durch den Kopf.

Es folgte eine Videoaufzeichnung, die einer Überwachungskamera entnommen sein musste. In schräger Vogelperspektive und in schwarz-weißem Geflimmer konnte man darauf eine Gestalt erkennen, die am Rande des Swimmingpools stand. Vermutlich das Opfer, wenige Augenblicke vor dem Verbrechen. Der Mann war unverkennbar Asiate und steckte in demselben Bademantel, in dem er sterben würde, in seiner Hand hielt er ein Glas. Er schien mit jemandem zu reden, der jedoch außerhalb des Bildes stand. Plötzlich, von einem Moment auf den anderen war sein Kopf verschwunden. Man konnte nicht erkennen, ob er abgetrennt, weggeschossen oder sonst irgendwie entfernt worden war. Vermutlich haben die da was rausgeschnitten. Der Typ wedelte mit den Armen und sank zu Boden, während aus seinem Hals das Blut sprudelte. Ich fragte mich, seit wann die so etwas im Vormittagsprogramm zeigten. Die Sprecherin kommentierte die Szene sachlich und kühl: »… wurde dem Opfer in Sekundenschnelle der Kopf abgetrennt. Mit welcher Waffe dies bewerkstelligt wurde, ist jedoch nicht bekannt. Die Polizei schließt einen Ritualmord nicht aus, da der Kopf am Tatort nicht mehr aufzufinden war und die Polizei annimmt, dass ihn der Täter mitgenommen hat.«

Als das Opfer zu Boden ging, sah man eine zweite Gestalt mit einer Waffe in der Hand in das Bild laufen. Ganz offensichtlich jene Person, mit der das Opfer noch kurz zuvor gesprochen hatte. Die Videoaufzeichnung wurde angehalten und das Gesicht des Mannes vergrößert. Ich fiel rückwärts auf das Sofa, denn dieser Typ da im Fernsehen war ich!

»Der Täter hatte bis auf eine versteckte Videokamera sämtliche Sicherheitsanlagen umgangen und den größten Teil der Wachmannschaft getötet. Dabei ist er ungemein geschickt und brutal vorgegangen. Er handelte offensichtlich allein …« Das kann nicht ich sein, versuchte ich mich zu beruhigen. Doch dann kam es:

»Er ist circa ein Meter achtzig groß, hat kurze, dunkle Haare, ein kantiges Gesicht und trägt eine Waffe bei sich …«

Jetzt war ich völlig am Ende. Gedächtnis verloren und einen Mord begangen!

Iwashi was? Auch diesen Namen hatte ich noch nie gehört. Und seit wann kann ich Sicherheitsanlagen umgehen?

Die Polizei musste jeden Moment da sein! Ich Idiot hatte sie auch noch gerufen! Mir blieb keine Wahl, ich musste die Haustür eintreten und schnellstens von hier verschwinden.

Auf dem Weg zur Tür klingelte erneut das Telefon. Am Apparat war abermals die Frau Doktor. Sie machte keine Umschweife und packte die nächste Abartigkeit aus: »Gehen Sie in das Kinderzimmer. In einer Minute wird dort eine Art Energiefeld entstehen. Es wird für zwanzig bis dreißig Sekunden stabil sein. Springen Sie hinein!«

Ich begriff überhaupt nichts mehr.

»Seid ihr jetzt alle völlig übergeschnappt? Ich soll einen Iwashi Dingsda getötet haben? Wer ist das überhaupt?«, schrie ich außer mir.

»Wenn Sie bei mir sind, kann ich Ihnen all Ihre Fragen beantworten, jetzt haben wir aber keine Zeit dazu! Gehen Sie in das Kinderzimmer zu dem Energiefeld!«

»Energiefeld? … Was denn für ein Energiefeld?«, stammelte ich. Jemand klingelte an der Tür und eine Männerstimme ertönte von draußen: »Herr Brenner, sind Sie da drin?«

»Die Bullen!«, rief ich voller Panik.

»Gehen Sie in das Kinderzimmer, schnell«, gab mir die Frau die erneute Anweisung und beendete die Verbindung. Einen Moment lang starrte ich auf den Hörer in meiner Hand. Ritualmord schoss es mir durch den Kopf. Habe nie eine Familie gehabt. Energiefeld. Kinderzimmer. Ich rannte auf den Flur, blieb dabei am Kabel hängen und riss das Telefon scheppernd zu Boden.

»Wir sind jetzt da. Warten Sie einen Moment, wir öffnen gleich die Tür.«

Ich hörte, wie die Bullen an dem Schloss zu fummeln begannen.

»Nicht nötig!«, schrie ich. »Alles in Ordnung!«

»Dann machen Sie uns bitte sofort die Tür auf!«

Energiefeld. Kinderzimmer. Das von Peter oder von Lisa?

Dieser pulsierende Schrank stand immer noch da. Von der Haustür kamen dumpfe Schläge. Sie werden sie jeden Moment aufbrechen. Ich rannte in Lisas Zimmer. Lisa, die nur in meiner Fantasie existierte. Ein leeres Zimmer. Gestern lag sie noch hier in ihrem Bettchen. Energiefeld? Was sollte dieser Quatsch? Wieder trommelten Schläge gegen die Haustür. Die Stimmen wurde lauter und bestimmter. »Öffnen Sie sofort die Tür!«

Ich rannte in Peters Zimmer und tatsächlich, da war etwas. Ein Loch in der Wand, in dem ein Netz aus Licht flimmerte. Noch so ein modernes Kunstwerk. Es schrumpfte gerade in sich zusammen. Von der Haustür kam der Lärm von splitterndem Holz und einer auffliegenden Tür, gefolgt von Schritten und knappen Befehlen. Ich wirbelte herum und sah zwei Polizisten mit gezückten Waffen in der Kinderzimmertür auftauchen. Als ich mich wieder der Wand zuwendete, war das Loch verschwunden.

»Ganz ruhig bleiben!«, sagte eine Stimme hinter mir.

————————————

Der Polizeibeamte wendete sein Formular hin und her, als ob er etwas Wichtiges vergessen hätte. Warum fragte er mich nicht nach diesem kopflosen Japaner? Wurde ich nun gesucht oder nicht? Ich unternahm einen beiläufig klingenden Anlauf: »Suchen Sie eigentlich immer noch nach diesem Ritualmörder?«

Der Beamte blickte auf.

»Wen?«

»Den Typ, der diesen japanischen Konzerntyp geköpft hat … kam heute noch mal im Fernsehen …«

Der Polizeibeamte drehte sich zu seinem Kollegen um, dieser zuckte lediglich mit der Schulter. Was ging hier eigentlich vor? Die haben überhaupt keine Ahnung! Doch dann beugte er sich abermals zu mir vor und sah mir tief in die Augen.

»Ein Ritualmord! Ah ja! Jetzt kommen wir der Sache schon näher. Erzählen Sie uns etwas darüber!«

Ich schluckte. Hätte ich bloß meine Klappe gehalten.

»Keine Ahnung … Habe es nur im Fernsehen gesehen, ist doch irre, oder?«

Der Kollege schüttelte den Kopf. Er schien seine Recherche beendet zu haben, ohne fündig geworden zu sein. Er hatte es nochmals über den PC versucht, nachdem seine Suche im Telefonbuch erfolglos geblieben war. »Es gibt in ganz Berlin keine Ärztin, die sich Doktor Morena nennt!«

Ehrlich gesagt wunderte mich das nicht. Der Beamte beugte sich über den Schreibtisch und redete jetzt zu dem Papier, das vor ihm lag: »Wir werden ihn morgen dem psychologischen Dienst vorführen. Sollen die sich ihn vorknöpfen.«

Die denken, ich habe eine Schraube locker.

Das Telefon auf dem Schreibtisch klingelte, mein Gegenüber hob ab, meldete sich ordnungsgemäß, lauschte einen Moment lang in die Leitung hinein und reichte mir anschließend den Hörer: »Ihr Rechtsanwalt möchte mit Ihnen sprechen!«

Na prima.

»Ich habe überhaupt keinen Rechtsanwalt«, entgegnete ich.

————————————

Nein, das hier war nicht die Arrestzelle. Dafür war die Decke zu weit entfernt. Außerdem wäre in der Zwischenzeit längst mal einer der Polizisten aufgetaucht. Da, wo ich jetzt lag, ließ man mich gerade sterben. Irgendwo raschelte es und neben mir vernahm ich dieses röchelnde Geräusch. Die Luft brannte in meinen Lungen. Alles in mir vibrierte.

Die Schmerzen vergingen nur langsam, während sich meine Körperteile anschickten, wieder zusammenzuwachsen. Der Elefant auf meiner Brust mauserte sich allmählich zu einem Pferd. Allmählich hob sich ein einzelner Schmerz aus der Masse ab, der vom linken Bein ausging. Etwas bohrte sich in den Unterschenkel. Ich versuchte, den Kopf zu heben, kam aber nicht weit. Ich hätte mich auf die Ellenbogen stützen müssen, um zu meinen Füßen sehen zu können, doch als ich die Arme anwinkeln wollte, hielt mich etwas an meiner rechten Hand fest. Langsam drehte ich den Kopf auf die Seite. Zu meinem Erstaunen war mein Arm heil. Ich hatte erwartet, auf einen völlig zerschundenen Körper zu blicken, aber es war nicht einmal eine Spur von Blut zu entdecken. Dennoch hielt mich etwas fest. Da war noch ein zweiter Arm, der zu jemand anderes gehörte. Er steckte in einer Polizeiuniform. Doch nicht er hielt mich fest, es waren die Handschellen, mit denen wir aneinandergekettet waren.

Ich erinnerte mich, dass ich nach dem Verhör zurück in die Arrestzelle gebracht werden sollte. Der Polizeibeamte hatte sein Formular endgültig auf einen Stapel geworfen, sein Nachbar war aufgestanden und hatte ihm etwas ins Ohr geflüstert, wobei ich die Wörter Ritualmord, möglicherweise gemeingefährlich und entlaufen heraushörte.

»Herr äh … Brenner, oder wie auch immer Sie heißen mögen«, wandte sich mein Gegenüber an mich, »die Anzeige auf Einbruch in eine fremde Wohnung bleibt bestehen. Sie bleiben unser Gast, bis wir Ihre Identität geklärt haben!«

Meine Identität. Gute Frage. Sein Kollege kam an meine Seite, dann hörte ich es klicken.

Ich ging also diesen Gang entlang. Besser gesagt, ich wurde gegangen. Wir waren auf dem Weg in die Arrestzelle und ich war mit Handschellen an den Kollegen gefesselt. Vielleicht hätte ich besser nicht nach dem Ritualmord fragen sollen. Hinter uns ging der Polizist, der mich vernommen hatte. Vor uns wurde eine Gittertür aufgesperrt.

»Die dritte Zelle«, hatte mein Anwalt am Telefon gesagt. »Achten Sie genau auf die Wand zwischen der zweiten und der dritten Zelle!«

Wir kamen an ein paar Türen vorbei, hinter denen eher Toiletten und Besenkammern zu vermuten waren.

Als mir der Polizeibeamte den Telefonhörer überreicht hatte, vernahm ich eine weitere unbekannte Stimme, dieses Mal die eines Mannes: »Herr Brenner, hier Mayer-Rammsberg. Ich soll Ihnen einen schönen Gruß von Doktor Morena ausrichten. Geben Sie jetzt um Himmels willen keinen Laut von sich und hören Sie mir genau zu!«

Ich fragte mich, was das jetzt wieder für ein Typ war. Er schien mit dieser Ärztin zusammenzuarbeiten. Die Tatsache, dass er mich auf dem Polizeirevier angerufen hatte, machte mich stutzig. Woher zum Teufel wussten die, dass ich genau in diesem Moment hier saß? Hatten sie von der Polizei von meiner Verhaftung erfahren? Und wer waren diese Leute überhaupt? Steckte da eine ganze Bande dahinter? Eine Organisation? Die Mafia?

»Leider waren Sie bei dem Versuch, Ihr Leben zu retten, etwas zu langsam. Wir versuchen es jetzt noch einmal, aber denken Sie daran, eine dritte Chance wird es nicht geben!«

»Wer spricht denn da …?«, fragte ich verwirrt.

»Halten Sie Ihre verdammte Klappe und hören Sie mir zu!«, schnauzte mich der Mann am anderen Ende der Leitung an. Der Polizeibeamte musterte mich schon wieder so seltsam.

»Hören Sie, Brenner, es bleibt uns leider nicht die geringste Zeit für irgendwelche Erklärungen. Ich werde erneut versuchen, ein Energiefeld zu generieren, durch das Sie gehen müssen. Lassen Sie sich von der fremdartigen Erscheinung nicht irritieren. Es ist für Sie die einzige Möglichkeit, aus Ihrer misslichen Lage zu entkommen.«

Eine weitere Gittertür wurde aufgeschlossen.

»Wenn Sie es dieses Mal wieder nicht schaffen, kann Ihnen niemand mehr helfen! Zwischen der zweiten und dritten Zelle, merken Sie sich das! Es ist Ihre letzte Chance!«

Wir kamen gerade an der ersten vorbei. Schwere Stahltüren mit kleinen Sichtklappen.

Was blieb mir übrig? Die Polizei hatte meine Identität für nichtig erklärt, für die existierte ich nicht mehr. Meine Familie war weg. Nora, Peter, Lisa, alle waren verschwunden. Möglicherweise hatte ich einen Mord begangen.

Die Gittertür hinter mir fiel klappernd ins Schloss, das Rasseln des Schlüsselbundes hallte von den Betonwänden wieder. Neben mir wanderte gerade Zelle Nummer zwei an mir vorbei.

»Wir sprechen uns auf der anderen Seite wieder!«, hatte der Typ am Telefon zum Abschied gesagt. Andere Seite? Was sollte das heißen, auf der anderen Seite?

Und dann sah ich es, wie es sich neben mir in der Wand bildete. Besser gesagt, neben dem Polizisten, der mich abführte.

»Was zum Teufel ist das? He, Kurt, siehst du das?« Natürlich hatten es auch die Bullen bemerkt. Der hinter mir torkelte rückwärts und begann, an seinem Halfter zu fummeln.

Vor mir lag der Korridor eines Gefängnisses, die nächste Tür würde meine Arrestzelle darstellen. Neben meinem Führer hatte sich ein Loch in der Wand gebildet, gefüllt mit einem blaugrünen Gitter aus Licht. Meine Gedanken rasten. Wer war dieser Rechtsanwalt? Was hatte er mit der Frau Doktor zu tun? Unfall? Gedächtnisverlust? Ich konnte mich an die letzten zwei Wochen ziemlich deutlich erinnern, und natürlich an mein ganzes Leben davor. Nora! Die Kinder! Wir führten ein ganz normales Leben, was war nur passiert? All das soll nur eine Wahnvorstellung gewesen sein? Kein Zweifel, ich konnte weder einer Doktor Morena noch irgendwelchen Rechtsanwälten trauen.

Blöd, wie ich war, sprang ich dennoch.

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Nichts ergab irgendeinen Sinn, doch ich sprang in dieses Netz aus blaugrünem Licht und hellen Höllenqualen. Und meinen Aufpasser hatte ich dabei mitgenommen. Letztendlich hatte er keine andere Wahl gehabt, als mich zu begleiten, denn erstens stand er genau vor dem Energiefeld und zweitens waren wir aneinandergekettet.

Da lag er nun neben mir, mein Aufpasser. Es schien ihm nicht besser als mir ergangen zu sein, denn er war es, von dem das Röcheln stammte.

»Verf…«

Er versuchte etwas zu artikulieren, jedoch reichte es nicht für ein komplettes Wort.

»Sch…«

Mein Fuß. Irgendetwas Verdammtes bohrte sich in meinen Fuß! Ich versuchte noch einmal, mich aufzurichten und stützte mich auf meinen freien Ellbogen. Ich zitterte wie Espenlaub und mein Bierbauch verdeckte mir die Sicht, doch ich sah zumindest den Rand von etwas Pelzigem.

Plötzlich hatte ich wieder eine Stimme und schrie los, während ich versuchte, das Ding mit dem Fuß wegzustoßen. Gleichzeitig begann ich mit den Armen zu rudern und zerrte dabei an meinem Nachbarn. »Du du … A… A… Ar…«, hörte ich von rechts.

Dann erkannte ich eine unglaublich fette Ratte. Das Biest biss mir gerade ein Stück aus dem Unterschenkel. Ich bäumte mich auf, während tausend Messer auf mich einstachen.

»Eine verdammte, fette Ratte versucht gerade, mich aufzufressen!«, wollte ich meinem Nachbarn zurufen, heraus kam jedoch nur ein heiserer Husten aus brennender Kehle und ein geröcheltes »Da… a… a!« Dann sah ich noch eine zweite und dritte Ratte im Halbdunkeln, die auf etwas herumkauten.

Endlich schien auch mein Nachbar die Viecher entdeckt zu haben, denn plötzlich wurde er lebendig. Die zweite Ratte wollte einen Nachschlag und kam näher. Ich versuchte, mich rückwärts wegzuschieben, doch durch die Fesselung an meinen Begleiter bewegte ich mich im Halbkreis. Der Polizist ächzte und stöhnte und zerrte in die entgegengesetzte Richtung. Ein plötzlicher und lauter Knall ließ beinahe mein Trommelfell platzen. Die Ratte vollführte einen Salto und blieb tot liegen. Mein Begleiter hielt seine Dienstwaffe in zitternden Händen.

»Verfickte …« Das war immerhin sein erstes komplettes Wort.

Er feuerte noch vier- bis fünfmal auf die anderen Ratten und sackte anschließend wieder weg. Nichts raschelte mehr, es war totenstill geworden. Nur noch unser beider Atmen war zu hören.

Während die allgemeinen Schmerzen langsam abebbten, schickte jetzt speziell mein Bein Feuerstöße durch mich hindurch.

»Was … ist … das … hier?« Mein Aufpasser schien langsam seine Sprache wiederzufinden.

»Verdammt … was in aller Welt … ist das hier?«, wiederholte er.

Ich sah mich um und versuchte, Einzelheiten zu erkennen. Aus einem schmalen Fenster hoch oben drang matt schmutzig braunes Licht herein. Auffällig viel Müll häufte sich um uns herum, hier hatte seit Jahrzehnten niemand mehr aufgeräumt. Die fetten und jetzt toten Ratten passten ausgezeichnet in dieses Bild. Eigentlich waren die Tiere gar nicht fett, sie waren nur um einiges größer, als man es gewohnt war. Wenn man sie genauer betrachtete, sahen sie sogar ziemlich mager aus.

In der betonierten Wand führte ein Durchbruch, in dem einmal eine Tür gesessen haben mochte, in einen angrenzenden Raum. Dort war noch mehr Müll zu sehen, allerdings war es dort auch etwas heller. Das Ganze sah ziemlich verkommen aus und ich fragte mich ernsthaft, ob die Polizei ihren Keller als Müllhalde benutzte. Und vor allem, wo kam diese ätzende Luft her?

Und warum kam eigentlich niemand hier herunter? Die Schüsse müsste doch jemand gehört haben? Ich fühlte die Mündung der Pistole an meiner Schläfe.

»Du … blödes … Rindvieh! …. Was soll das hier?«

Mein Bein kochte, meine Lungen brannten und ich vibrierte wie ein Presslufthammer. Ich hätte in diesem Zustand nicht allzu viel dagegen gehabt, wenn mich mein Freund und Helfer aus diesem Elend befreit hätte.

»Sag schon …« Ein neuer Hustenanfall schüttelte ihn. Die Tatsache, dass er sogleich auf jegliche Höflichkeitsform verzichtete und mir die Pistole ins Gesicht drückte, verriet mir, dass er wie ich am Rande eines Nervenzusammenbruchs entlang schlitterte. Leider verriet es mir auch, dass er ebenfalls nicht die geringste Ahnung hatte. Dies hier stellte somit nicht den Keller des Polizeireviers dar. Als sich sein Anfall gelegt hatte, versuchte ich ihm klarzumachen, dass wir im selben Boot saßen: »Keine … Ahnung!«

»Das Licht … durch das du uns … gezogen hast …«

Ich sagte es ihm noch einmal: »Keine … Ahnung!«

Ich blickte auf meine Uhr, es war zwei Uhr nachts. Das Licht, das durch das Kellerfenster zu uns hereindrang, entstammte demnach einer Straßenlaterne. Ich bemerkte eine Bewegung, ein Schatten verdunkelte die Öffnung.

»He!«, rief mein Nachbar und begann abermals zu husten. Es war nicht auszumachen, ob das da oben ein Mensch war. Mein Begleiter machte Anstalten, noch einmal zu rufen, ließ es dann aber bleiben. Vielleicht handelte es sich um eine weitere Riesenratte. Irgendetwas war hier schließlich grundfaul und es war besser, vorsichtig zu sein. Erst mal herausfinden, wo wir uns überhaupt befanden. Mein Begleiter schien zu demselben Entschluss gelangt zu sein, denn er steckte die Pistole weg und bemühte sich, auf die Beine zu kommen. Ich versuchte, mit ihm mitzuhalten, wobei wir uns mit unseren aneinandergeketteten Händen gegenseitig behinderten. Auch er wurde von Schmerzen und Zittern gepeinigt, doch es war mein angefressenes Bein, das den Versuch vereitelte. Ich rutschte weg, verlor das Gleichgewicht, stürzte auf den Polizisten und riss ihn wieder mit zu Boden.

»Mein Bein …«, entschuldigte ich mich.

Erst jetzt schien mein Begleiter meine blutende und angefressene Wunde wahrzunehmen. Mit seiner freien Hand zog er den Gürtel aus den Laschen meiner Jeans und band damit notdürftig den Unterschenkel ab. Den Schlüssel für die Handschellen trug er dummerweise nicht bei sich. Wie er mir sagte, hatte den sein Kollege eingesteckt.

Wir versuchten es auf allen vieren. Stück für Stück krochen wir schwerfällig dem Durchbruch entgegen. Die gürtellose Hose rutschte mir bei jeder Bewegung langsam über den Hintern.

Ätzender Dampf oder Gas hing hier in der Luft. Es kratzte im Hals und brannte in der Lunge. Vermutlich verzichtete mein unfreiwilliger Begleiter nur deshalb auf weitere Fragen, um das Sprechen zu vermeiden. Nur einmal entwich ihm eine kleine Zwischenbemerkung, als er strauchelte: »Ver…fickt!« Schien sein Lieblingswort zu sein. Am Fenster bewegte sich erneut ein Schatten. Als ich nach oben blickte, war er verschwunden.

Zentimeter für Zentimeter erreichten wir den Durchgang. Der nächste Raum war tatsächlich mit noch mehr Müll zugeschüttet. Dosen, zerbrochene Flaschen, Stoff- und Pappkartonreste, Plastik und kaputte und nicht identifizierbare Elektrogeräte. Ein ganzer Berg ergoss sich durch einen weiteren türlosen Durchgang, der etwas höher gelegen war, ins Innere. Als wir näher kamen, stießen wir unter dem Müll auf die Reste einer Treppe. Hinter dem Durchgang erkannten wir nichts als noch mehr braunen Nebel. War hier eine Gasleitung explodiert? Falls es einmal Türen und Rahmen gegeben hatte, so waren diese längst verschwunden. Unwillkürlich wurde ich von einem Hustenanfall geschüttelt.

Endlich erreichten wir den Ausgang, der auch ins Freie führte. Meine gürtellose Jeans war mir dabei endgültig über den Hintern weggerutscht. Meine Uhr ging falsch, musste ich mir eingestehen. Es war zwar nicht gerade taghell, aber auf keinen Fall mitten in der Nacht. Eher kurz vor Sonnenuntergang, wie ich die Lichtverhältnisse einschätzte. Nebel zog über die abschüssige Straße und ließ dabei hin und wieder die Silhouette eines Gebäudes durchscheinen. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Nur eine Ratte kam auf uns zu. Mein Begleiter erledigte sie mit einem Schuss. Wohin man auch sah, alles war mit Müll und Dreck übersät. Blechgerippe, die kaum noch als Autos zu erkennen waren. Unter einem verdreckten Stofffetzen ragte eine Knochenhand hervor. Schwarze Flocken schwebten wie Schnee durch den Nebel. Hier war mehr als nur eine Gasleitung explodiert.

»Himmel … was ist … das hier?«, meldete sich mein Freund wieder zu Wort. Hatte uns jemand eine Atombombe auf den Kopf geworfen? Das würde all die plötzliche Zerstörung und die dicke Luft erklären. Wir waren in dieses Energiefeld gesprungen und in diesem Moment musste es passiert sein.

Dann war das hier das Ende der Welt. Die Dämmerung war zu einem Dauerzustand geworden, der noch für die nächsten Jahrzehnte oder Jahrhunderte halten würde. Als sich der Nebel etwas lichtete, erkannte ich an der Hauswand gegenüber ein schräg hängendes Schild mit asiatischen Schriftzeichen. Keines der Häuser war zerstört. Sie wirkten, als wären sie vor langer Zeit verlassen worden. Zerbrochene Glasscheiben, verwüstete Auslagen, alles war von einer dicken Staubschicht bedeckt. Also keine Atombombe, aber vielleicht eine von diesen Neutronenbomben. Wie war das? Die töten Menschen, verschonen aber die Gebäude? Und Ratten anscheinend auch.

Umständlich zog ich mir die Hose wieder hoch. Wortlos krochen wir die dreckige Straße entlang.

Die Situation erinnerte mich an jenen Albtraum aus meinen Kindertagen, der mich immer wieder heimgesucht und mich jedes Mal schweißgebadet hatte aufwachen lassen: Ich schlief, doch im Traum erwachte ich und fand mich inmitten einer Sandwüste wieder. Ich lag zwar immer noch in meinem Bett, nur stand das Bett nicht mehr in meinem Kinderzimmer, sondern unter freiem Himmel. Rings um mich breitete sich eine unendliche Wüste aus. Außer mir gab es keinen Menschen weit und breit. Ich rief nach meiner Mutter, doch meine Mutter war nicht da. Genauso war es jetzt: mutterseelenallein. Na gut, bis auf den Polizisten an meiner Seite. Aber irgendwie am falschen Ort aufgewacht.

Allmählich beruhigte sich das Zittern und setzte zumindest zeitweise aus. Dennoch fühlte ich mich immer noch wie durch den Fleischwolf gedreht. In das Bein stachen nach wie vor eintausend Wespen. Verdammte Ratte. Von Hunger und Durst, die mich seit Stunden plagten, gar nicht zu reden.

Das dämmrige Licht und der Nebel hielten die menschenleere Szenerie in gespenstischem Halbdunkel. Mir fiel auf, dass alle noch halbwegs lesbaren Schilder und Reklametafeln mit asiatischen Schriftzeichen versehen waren. Auch so manch eine Dose, der Rest einer Verpackung, oder was sonst so auf der Straße herumlag.

Chinatown … aber wo …?

Am Ende der Häuserzeile gähnte neben der Straße ein Abhang. Wir krochen an seinem Rand entlang, um zu sehen, was sich dort unten befand, doch der Fuß des Abhangs verschwand in der braunen Suppe. Ich wollte mir gerade die Hose wieder hochziehen, als plötzlich diese beiden Gestalten vor uns standen. Sie trugen silbrig glänzende Schutzanzüge. Als ob sie gerade aus einem radioaktiv verstrahlten Atomkraftwerk gekommen wären.

Feuerwehr – endlich die Rettung, war mein erster Gedanke. Dann bemerkte ich, dass das keine Wasserschläuche waren, die sie in ihren Händen hielten. Die beiden sprachen für uns unhörbar über Funk miteinander. Einer von ihnen lachte und zeigte auf uns. Dann zielte er mit seinem Gewehr abwechselnd auf mich und meinen Begleiter. Bestimmt wollten sie uns nur Angst einjagen, ein kleiner Scherz am Rande. Doch dann schoss der Spaßvogel einen Meter vor mir in den Boden und lachte so laut, dass ich es durch seinen Helm hören konnten. Reflexbedingt zuckten wir zusammen und warfen uns zur Seite. Das war kein normales Gewehr, mit dem er geschossen hatte. Statt eines Projektils war ein Lichtstrahl aus dem Teil gezuckt. Laser? So etwas gab es doch nur in Science-Fiction-Filmen. Die Waffe hatte eine rauchende Mulde aufgerissen. Mein Begleiter hatte im Fallen seine Dienstwaffe aus dem Halfter gezogen und schoss nun ohne Vorwarnung auf den Mann. Das Lachen verstummte, der Getroffene drehte sich um seine Achse und kippte um, während ihm das Lasergewehr aus der Hand flog. Mein Begleiter zielte noch in derselben Sekunde auf den zweiten Silbermann. Doch als er abdrückte, gab die Waffe nur noch ein Klicken von sich. Das Magazin war leer, er hatte alles auf die Ratten verschossen und dummerweise vergessen, nachzuladen.

Der zweite Silbermann brannte meinem Freund und Helfer mit einem gleißenden Lichtstrahl die Lunge aus der Brust. Durch die Wucht des Strahls wurde er nach hinten geschleudert und riss mich mit sich. Gemeinsam stürzten wir den Abhang hinunter, überschlugen uns und fielen übereinander. Während ich meine Knochen krachen hörte, jagte uns der Silbermann weitere Lichtstrahlen hinterher.

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»Achim!«

Ich schlug die Augen auf und blickte in Noras Gesicht.

Ich war tot. Oder ich träumte. Oder ich war endgültig verrückt geworden.

Verzweifelt versuchte ich aufzuwachen, doch es war zwecklos. Ich war offenbar bereits wach. Sie stand direkt vor mir und sah mich mit diesem treudoofen Gesichtsausdruck an, der so typisch für sie war. Peter und Lisa waren ebenfalls da. Lisa nuckelte wie immer an ihrem Daumen und hielt sich an Noras rechter Hand fest. Peter hatte seine Hände lässig in seinen Hosentaschen vergraben und stand etwas versetzt hinter seiner Mutter.

Ich sah mich um, versuchte es zumindest, doch ich lag ziemlich verrenkt da. In Unterhosen, wie ich feststellte. Meine Jeans war bis zu den Knien weggerutscht. Ich lag in einem Straßengraben. Ich erinnerte mich, wie wir den Abhang hinuntergestürzt waren, nachdem der Typ im Silberanzug auf meinen Begleiter geschossen hatte. Ich konnte den Unbekannten nirgends entdecken. Vermutlich war ihm der Abhang für einen Abstieg zu steil, doch er musste noch ganz in der Nähe sein. Alles schmerzte wieder einmal höllisch, nur dieses Mal anders, fast angenehmer, irgendwie realer. Mein Bein, meine Knochen, meine Lunge, alle Einzelteile trompeteten ihre Schmerzsymphonien kreuz und quer durch mich hindurch. Durch den Sturz hatte ich mir sicher noch zusätzlich mindestens zwei oder drei Rippen gebrochen. Ich suchte nach meinem Aufpasser, bis ich merkte, dass ich auf ihm lag. Langsam rollte ich mich von ihm herunter und blickte anschließend in seinen ausgebrannten Brustkorb. Er war mausetot.

»Achim …!«

Nora. Sie stand immer noch da mit ihren, unseren Kindern. Sie hatte dieselbe weiße Hose und den rosaroten Pulli an wie an jenem Abend, als ich sie zum letzten Mal gesehen oder zu sehen geglaubt hatte. Ich erinnerte mich noch ziemlich genau daran. Es war doch erst gestern oder mittlerweile vorgestern gewesen. Wie so oft war es spät geworden, als ich abends von der Probe nach Hause gekommen war. Alles hatte mal wieder länger gedauert und ich hatte ziemlichen Kohldampf.

»Was gibt’s denn heute?«, fragte ich, als sie mir im Flur über den Weg lief.

»Nichts mehr, du kommst zu spät!«

Das hat man davon, wenn man Überstunden macht, es war immer dasselbe. Ich würde mir wieder einmal ein paar trockne Wurstbrote machen müssen. Irgendetwas aber war heute anders an Nora und ich wusste zunächst nicht, was. Nicht die Art ihrer Reaktion, das war Tradition. Erst später in der Nacht, als ich zu ihr ins Schlafzimmer kam, fiel es mir auf: »Was hast du denn heute für eine komische Frisur?«

»Mach das Licht aus, wenn’s dir nicht gefällt!«, schleuderte sie mir entgegen, wobei sie sich die Bettdecke über den Kopf schlug.

Sie war beim Friseur gewesen, das war es, und nun stand sie genauso vor mir. Die blonden Haare glattgebügelt, auf halbe Länge gestutzt und nach hinten schräg zugeschnitten. Wenn ich sie länger betrachtete, sah es sogar gar nicht so schlecht aus. Man gewöhnt sich schließlich an alles. Aber die Frage war im Moment natürlich eine ganz andere:

»Wwws …«, röchelte ich. Ich konnte kaum sprechen.

»Du bist gut! Du bist wirklich gut!«, begann sie. Dasselbe hätte ich ihr zurückgeben können. Sah sie nicht, dass es hier mit mir gerade zu Ende ging?

»Ich weiß jetzt, dass du der Richtige bist!«

Wo zum Teufel kam sie eigentlich so plötzlich her? Der Richtige? Alles schmerzte, dennoch schaffte ich es, mit heruntergelassenen Hosen vor ihr zu knien.

»No…«, begann ich in dem Versuch, ihren Namen zu artikulieren.

»Manchmal entwickeln sich die Dinge anders als vorhergesehen, aber nun ist es klar geworden: Du wirst es zu Ende bringen!«, sagte sie.

Zu Ende bringen? Was denn zu Ende bringen? Was redest du da für Zeug? Nora?!

»Mach dir keine Sorgen, Schatz, Morena und Kyrill werden dir alles erklären!«

Morena? Diese Frau Doktor Morena versucht mir doch einzureden, dass es dich gar nicht gibt! Und woher zum Teufel kennst du jetzt plötzlich diese Doktor Morena? Und wer ist jetzt bitte Kyrill?

»Nor…«

»Aber ich warne dich, du darfst ihnen nicht trauen!«

Ich verstehe nur Bahnhof! Kann dieses Weibsstück vielleicht mal Klartext reden?

»Nora …«

»Wir sind gekommen, um dir das Leben zu retten, Achim.«

Na, das war doch mal was Vernünftiges! Sie ließ Lisa los, kam auf mich zu, beugte sich zu mir hinunter und sah mir in die Augen.

»Küss mich!«

Ich stöhnte auf. Drehte sie jetzt völlig durch? Wir hatten uns seit Jahren nicht mehr geküsst. Was war nur in sie gefahren? Ich lag hier im Sterben und sie wurde plötzlich romantisch. Ihr Gesicht kam immer näher, bis ihre Lippen meinen Mund berührten. Sie fühlten sich kalt an. Dann hielt sie meinen Kopf zwischen ihren Händen fest und schob ihre Zunge in meinen Mund.

Das war nicht Nora! Unser letzter Zungenkuss war über zehn Jahre her. Ich habe Zungenküsse sowieso nie gemocht, dieses Herumgeschlabbere, aber das, was jetzt kam … Als ihre Zunge meine Zähne berührten, durchzuckte es mich, als hätte ich auf Aluminium gebissen, und als sich unsere Zungen berührten, stieß ich auf tiefgefrorenes Eis und klebte daran fest. Augenblicklich erstarrte mein Mund zu einem Eisklumpen. Ich wollte mich von ihr lösen, doch sie hielt meinen Kopf eisern fest. Die Kälte wanderte von meiner Zunge durch die Adern meines Körpers bis in die Fingerspitzen und hinunter zu den Zehen. Innerhalb einer Minute war ich tiefgefroren und konnte mich nicht mehr bewegen. Nora, oder wer auch immer das war, nahm ihre Zunge wieder aus meinem Mund, löste sich von mir und ging einen Schritt zurück. Ich sah sie nur noch am Rande meines Blickfeldes, denn auch meine Augen waren starr geworden. Ich war tot und doch nicht tot.

»Du bist jetzt unsterblich!«, hörte ich sie sagen. »Leihweise, versteht sich!«, fügte sie noch hinzu.

Oh ja, tiefgefroren hält man wirklich lange frisch. Tatsächlich dauerte dieser Zustand jedoch nur wenige Augenblicke, dann fühlte ich bereits, wie die Wärme in meinen Körper zurückgekrochen kam. Langsam taute ich wieder auf. Das Herz begann wieder zu schlagen, die Lungen füllten sich mit Luft und langsam konnte ich auch wieder einzelne Körperteile bewegen.

Du durchgeknallte Kuh! Was sollte denn das darstellen?

»Keine Sorge, Achim, wenn du deinen Job erledigt hast, werde ich dir diese Last wieder abnehmen!«

Aha. Ich soll also einen Job erledigen. Soll ich Regale in der Küche aufhängen oder was?

»Es ist sehr wichtig, dass du diese Sache zu Ende führst.«

Ich bewegte meinen Mund: »Was … füh…?« Ich konnte immer noch nicht richtig sprechen.

»Du musst das hier alles beenden.«

»Was … bee…?«

»Alles! Die Erde, das Universum, alles! Es muss zerstört werden!«

————————————

Erneut begann ich zu zittern, dieses Mal jedoch, weil ich tatsächlich fror, und zwar von innen. Ich war zwar wieder aufgetaut, hatte aber dennoch das Gefühl, als würden Millionen kleiner Eiskristalle in meiner Blutbahn schwimmen.

Nora hatte die kleine Lisa an der Hand genommen und war mit ihr und Peter im Nebel verschwunden.

Scheißkuh.

Lässt mich hier liegen, halb verblutet, halb erfroren und halb verhungert. Ich war im Delirium. Ja, das war’s! Ich fantasierte. Sie hatte nur wirres Zeug geredet: Du bist jetzt unsterblich und musst das Universum vernichten! Alles klar, oder? Als ob ich nicht schon tief genug in der Scheiße sitzen würde.

Und jetzt kam auch noch dieser Typ in seinem Silberanzug auf mich zu. Er muss einen Umweg genommen haben, die Silhouette des Schutzanzuges, die aus dem Nebel auftauchte, war nicht zu verwechseln.

Ich war unfähig zu fliehen. Abgesehen davon, dass ich in meinem Zustand kaum davonrennen konnte, war da immer noch dieser Polizist, der zwar jetzt tot, aber an den ich immer noch gefesselt war. Der silberne Typ brachte seine Waffe in Anschlag, während er weiter auf mich zusteuerte. Hektisch sah ich mich nach etwas um, das mir helfen könnte. Die Pistole hatte mein Begleiter während des Absturzes verloren, denn ich konnte sie nirgends entdecken. War sowieso leergeschossen, fiel mir ein … obwohl, da an seinem Gürtel, das könnten Ersatzmagazine sein! Ohne Pistole waren die nur ziemlich nutzlos.

Die Gestalt war mittlerweile ein ganzes Stück nähergekommen und eröffnete mit seinem futuristischen Lasergewehr das Feuer. Tja, meine liebe Nora, das mit der Zerstörung des Universums wird wohl nichts mehr, rechts und links von mir schlugen die Strahlen Löcher in den Boden. Als der Typ noch zehn Meter entfernt war, geschah jedoch etwas Seltsames: Wie eine Rakete flog er plötzlich senkrecht in die Höhe, beschrieb einen Bogen und verschwand durch ein Fenster im zweiten Stock des gegenüberliegenden Hauses. Ich hörte noch einen entfernten Schrei, dann war es still. Das Ganze sah aus, als wäre er mit einem Raketenrucksack davongesegelt, der eine Fehlzündung gehabt hatte.

Im ersten Moment atmete ich auf, so unverhofft gerettet worden zu sein, doch dann bedauerte ich es fast. Der Typ hätte mich besser erschießen sollen, denn jetzt war ich zum Verhungern verurteilt, und das war wesentlich unangenehmer.

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Die Handschellen rieben mir das Fleisch an den Handgelenken auf. Mit der freien Hand versuchte ich mir die Jeans wieder über den Hintern zu ziehen, was sich als unmögliche Akrobatik herausstellte. Schließlich gab ich es wieder auf.

Was sollte ich jetzt tun? Mittlerweile hatte ich tatsächlich einen Bärenhunger. Ich konnte mich jedoch nicht vom Fleck bewegen. Abgesehen von meinem völlig demolierten und geschwächten Körper war ich immer noch an diesen Polizisten gefesselt. Wohin sollte ich auch gehen? Jede Richtung sah gleichermaßen trostlos aus.

Nach einer Weile entdeckte ich die Pistole. Sie lag keine fünf Meter von mir entfernt am Rande des Abhangs im Müll. Mein Bewacher muss sie bis zum Schluss in der Hand gehalten haben. Robbend versuchte ich sie zu erreichen, wobei ich den Leichnam mit mir zerrte. Mit der Waffe könnte ich mich immerhin erschießen, sollte es zu schlimm werden.

Fast hatte ich sie erreicht, als mich ein Stiefel zu Boden drückte. Die gebrochenen Rippen stachen in meine brennende Lungen.

»Eine interessante Waffe!«, hörte ich eine Stimme hinter mir. Eigentlich hörte ich etwas, dass sich so ähnlich wie »Omoshiroi buki da« anhörte, doch ich wusste, dass es eine interessante Waffe bedeutete. Ich tippte auf Japanisch, hatte aber in meinem ganzen Leben noch kein einziges Wort Japanisch gesprochen. Wer war das jetzt überhaupt? Hatte der silberne Typ seinen Senkrechtstart letztlich überlebt?

»Yosomono, koroshite shimae!« Das bedeutete: Ein Tourist, machen wir ihn tot!

Das war die Stimme eines anderen gewesen und klang wie die eines Kindes. Sie waren also zu zweit. Ich konnte den Kopf kaum bewegen. Zwei barfüßige Beine kamen in mein Blickfeld geschlurft und eine Kinderhand fischte die Pistole vor meiner Nase aus dem Müllberg.

»Furukute mezurashii!« Alt und außergewöhnlich!

Warum reden die plötzlich japanisch und vor allem, warum verstehe ich das? Die Welt verstand ich ja schon längst nicht mehr, aber dafür jetzt japanisch? Als sich die Gestalt vor mir umdrehte, sah ich in ein dunkles und halbes Gesicht. Ein Hautlappen wuchs dem Kerl aus der Stirn und verdeckte die Hälfte seiner Physiognomie. Ich schluckte trocken. Er war wohl kaum zehn Jahre alt und steckte in armseligen Lumpen. An seiner Hüfte baumelte ein rostiges Krummschwert.

»Sieht fertig aus, der hat keine Chance!«, sagte er in seiner fremdartigen und doch so seltsam vertrauten Sprache. Dann fing er an, mich und die Leiche zu durchsuchen.

»Immerhin haben sie einen Touristen gekillt!«, sagte die Stimme hinter mir. Der Stiefel drückte mich immer noch zu Boden. Eine weitere Gestalt mit asymmetrischem Gesicht und extrem mongoloiden Augen lief in mein Blickfeld. Die Zähne sichtlich verfault, die Haare, wenn denn jemals welche existiert hatten, waren ausgefallen. Er war vielleicht fünfzehn und mit einer Eisenstange bewaffnet. Damit waren sie mindestens zu dritt.

»Hast dich verlaufen, feiner Pinkel?«

»Ja, vermutlich«, wollte ich antworten, doch heraus kam: »Hai, boku wa … dato omou.«

Mittlerweile konnte ich zwar wieder halbwegs artikulieren, doch mit meiner Sprache stimmte etwas nicht. Nun ja, möglich war ja alles: Doktor Morena hatte ja gesagt, ich hätte mein Gedächtnis verloren, vielleicht habe ich ja tatsächlich mal Japanisch gelernt. Habe gehört, das soll gar nicht so einfach sein.

»Hat sich verlaufen, der Ärmste!«

»Dein Freund ist tot, du bist jetzt ganz alleine!«

»Töten wir ihn!«

»Ja, Menschenfleisch!«, gesellte sich noch eine Mädchenstimme hinzu.

Die Welt hatte sich völlig verändert. Plötzlich versuchte jeder, jeden umzubringen. Minderjährige japanische Missgeburten haben Berlin überfallen, nachdem eine Neutronenbombe alles Leben ausgelöscht hatte (mit Ausnahme der Ratten). Ich musste vorsichtig mit dem sein, was ich sagte.

»He, Jungs, lasst uns … friedlich miteinander … reden!«, versuchte ich röchelnd einen Annäherungsversuch.

»Warum sollten wir mit einem verdammten Touristen reden wollen, ha?«, fragte mich das Halbgesicht. »Aus welcher Stadt haben sie euch überhaupt rausgeworfen?«

»Wieso … rausgeworfen?«, stöhnte ich.

»Ein verdammter Tourist!« Der Mongoloide spuckte mir etwas Grünes auf den Kopf. Touristen waren hier anscheinend nicht willkommen.

»Wie funktioniert dieses Ding?«, wollte Halbgesicht wissen und meinte damit die Dienstwaffe des Polizisten, die er in seiner Hand abwog.

»Wenn er uns zeigt, wie die Knarre funktioniert, lassen wir ihn am Leben!«, kam es von dem Stiefel in meinem Rücken. Ich selbst hatte zwar noch nie so eine Waffe in der Hand gehalten und kannte diese Dinger nur aus den Fernsehkrimis, doch dort schien es immer ganz einfach zu sein. Altes Magazin raus, neues rein, irgendwo war noch eine Sicherung, so ähnlich erklärte ich es den schlecht gekleideten Halbwüchsigen. Das Halbgesicht fuchtelte solange an der Knarre herum, bis sich ein Schuss löste und den Mongoloiden in den Kopf traf.

Volltreffer. Er war auf der Stelle tot.

»Ich hab’s! Ich hab’s!«, jubelte er.

»Du Trottel hast Ryu gekillt!«, kam es von hinten. Endlich nahm er seinen Stiefel von meinem Rücken und kam nach vorne. In seinen Händen hielt er ein Lasergewehr in der Art der Silbermänner und schlug mit dem Kolben das Halbgesicht zu Boden.

»Vollidiot!«

Er schulterte das Gewehr und hob die Pistole vom Boden auf, die dem Meisterschützen aus der Hand gefallen war. Dann drehte er sich zu mir um. Sein Kopf wurde von einem Tuch verdeckt, zwei Löcher für die Augen und eines für den Mund ließen Schreckliches erahnen. Abgesehen davon machte er den hellsten Eindruck der Bande und schien aus diesem Grund wohl auch der Anführer zu sein.

»Besonders schlau bist du nicht gerade, eher lebensmüde«, meinte er zu mir und zielte mit der geladenen Pistole auf mich. Ich hörte ein Wimmern und bemerkte etwas abseits ein Mädchen, das einen Säugling im Arm trug. Das Baby war knallrot und ich war mir nicht sicher, ob es überhaupt mit einer Haut überzogen war.

»Scheiß drauf!«, hustete ich dem Vermummten entgegen, denn langsam, aber sicher war mir alles egal.

»Aber bevor du mich abknallst … könntest du Klugscheißer mir wenigstens verraten, was hier … eigentlich los ist? Wer oder was … seid ihr eigentlich?«

Der Vermummte schien irritiert: »Sag mal … was ist denn das jetzt für eine Frage?«

Im Hintergrund richtete sich das Halbgesicht wieder auf. Ich versuchte mein Japanisch so deutlich wie möglich zu artikulieren: »Wo – bin – ich – hier?«

»Du hast dich wirklich verlaufen, was? Das hier ist Hachioji. Kofu liegt im Westen, Okowa 7 im Nordwesten und Shin Tokyo im Süden.«

»Klingt alles irgendwie … japanisch«, vermutete ich.

»Wie soll’s denn sonst klingen, Idiot?«

Japan. Ich bin in Japan gelandet. Muss ganz schön weggetreten gewesen sein. Aber wer sollte einen Polizisten mit seinem Gefangenen um den halben Erdball fliegen, um sie dann in einem verrotteten Slum abzuladen? Das ergibt keinen Sinn! Und diese Zerstörung hier? Ich hatte doch gestern oder vorgestern noch die Nachrichten gesehen: Erdbeben in der Türkei, Kämpfe im Kosovo, Krieg in Äthiopien, doch kein Wort über einen Atom- oder Neutronenangriff.

»Wo kommst du denn her?« Das Mädchen mit dem rot leuchtenden Baby im Arm unterbrach meine Gedanken.

»Berlin«, flüsterte ich, »ich komme aus Berlin!« Ich konnte kaum sprechen.

»Also doch ein Tourist!«, bellte das Halbgesicht und betastete sich das verbliebene Auge, mit dem er noch hätte klar sehen können, wenn es jetzt nicht dick und blau geworden wäre.

»Oder ein Fernfahrer, der seinen Transporter verloren hat«, meinte das Mädchen.

»Fernfahrer, du dummes Huhn! Berlin liegt irgendwo auf dem nordamerikanischen Kontinent!«

»West-Eurasia! Berlin liegt in West-Eurasia!«, korrigierte der Vermummte.

»Bist du sicher?«

West-Eurasia? Sie schienen sich auch nicht so recht auszukennen. Ich versuchte es mit einer neuen Frage: »Was ist hier passiert?«

Auch auf diese Frage reagierten sie verständnislos. Sie kannten die Welt um sich herum nicht anders. Nach ihrer Ansicht war es schon immer so gewesen: Zerstört, verlassen, schmutzig und radioaktiv.

Mir kam noch ein anderer, schrecklicher Gedanke: »Was für einen Tag haben wir heute?«