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Sie haben es wieder getan. Bereits zum vierten Mal erzählen Mitglieder der "AutorenGruppe Tödlich" (AGT) kurze, spannende Krimis. Sie werden in ausgesuchte Regionen entführt und erkennen: Das Böse lauert überall! Auf Burgen ebenso wie an Seen, im Wald oder am Rhein, ja selbst im Museum. Sie werden einen Botanischen Garten nie wieder unbefangen betreten können, und auch keine Altstadtvilla mehr betrachten, ohne an diese Geschichten zu denken. Natürlich enden auch die Erzählungen in Band 4 nur 'teilweise tödlich'.
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Seitenzahl: 270
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Das Böse kennt keine Grenzen
teilweise tödlich, Band 4
Krimi-Anthologie
Roland Blümel & Sabine Hennig-Vogel
Erstausgabe im Juli 2018
Alle Rechte beim Verlag
Copyright © 2018
Fehnland-Verlag
26817 Rhauderfehn
Dr.-Leewog-Str. 27
www.fehnland-verlag.de
Coverdesign: Tom Jay, unter Verwendung von Stockfotos:
© jakkapan - Fotolia.com
© Frannyanne / Shutterstock.com
Lektorat: Roland Blümel
Vorwort zum 4. Band
Die unbewohnte Stadtvilla
von Roland Blümel
Schlaflos
von Ulrike Braune
Verbotene Früchte
von Theo Brohmer
Gejagte Jäger
von Rosario Chriss
Ruhe in Frieden
von Geli Grimm
Das Licht von Angeln
von Sabine Meerle Gröne
Der Hahn ist tot
von Sabine Hennig-Vogel
Der Helle Wahnsinn
von Alva Henny
Darum ist es am Rhein so schön
von Helga Jahnel
Erpels Reich
von Eckard Klages
Tödliche Arena
von Cherry Loster
Bodenseesturmnacht
von Martina Schiller-Rall
Das Aufnahmeritual
von Neal Skye
Alte Sünden
von Gabriele Steininger
Unschuldig
von Andrea Storm
Kieler Karneval
von Katinka Weisenheimer
Die mittlerweile etablierte »Autorengruppe tödlich« setzt mit diesem Werk die bekannte und erfolgreiche Folge der teilweise-tödlich-Reihe fort. Da die Mitglieder der Gruppe weit verstreut über den deutschsprachigen Raum ihr Unwesen treiben, lag es nahe, die Tatorte weit zu verteilen, um zu beweisen: Das Böse kennt keine Grenzen.
Dass manche Regionen etwas überproportional vertreten sind, bedeutet dabei allerdings nicht, dass diese Gegenden besonders böse sind. Das Verbrechen könnte ebenso gut in Mecklenburg-Vorpommern oder im Saarland spielen. Vielmehr haben die Autoren ihre Tatorte zum großen Teil vor ihre eigenen Haustüren verlegt. Eventuell regt es Sie, lieber Leser, ja auch an, die beschriebenen Orte oder sogar den Autor zu besuchen. Aber Vorsicht, die »Autorengruppe tödlich« hat schon die Geschichten von Band 5 im Kopf und sucht noch Augenzeugen.
In diesem Sinne: Grenzenlose, kriminelle Unterhaltung wünscht im Namen der gesamten Gruppe
Roland Blümel, Hamburg im Juni 2018
Hamburg
Lange Jahre wurde gerätselt, wo sich die legendäre Hammaburg befindet, die der schönen Hansestadt ihren Namen gegeben hat. Nachdem lange Zeit scheinbar ergebnislos auf dem heutigen Domplatz gegraben wurde, wurde man im Jahr 2014 schließlich fündig. Die Auswertungen ergaben, dass die Hammaburg vermutlich bereits im 8. Jahrhundert genau dort errichtet worden war. Hier wohnten ab dem frühen 9. Jahrhundert adlige Burgherrn. Dort begann also die Historie der heutigen Metropole im Norden Deutschlands.
***
Ich hatte es mir angewöhnt, jeden Tag einen Spaziergang zu machen, denn Bewegung soll ja gesund sein, vor allem wenn man wie ich viel am Schreibtisch sitzt.
Wie so häufig führte mich mein Weg auch heute durch die ruhige Siedlung vorbei an kleinen Bungalows, die zumeist durch hohe Hecken vor neugierigen Blicken abgeschirmt wurden. Und da war sie wieder, diese heruntergekommene Stadtvilla, die schon bessere Tage gesehen hatte. An den Fenstern hingen keine Gardinen, an den Mauern rankte Efeu und sie machte auf mich einen unbewohnten Eindruck, seit ich sie bei meinen Wanderungen bemerkt hatte.
Der Wind war heute besonders kalt. Ich zog den Reißverschluss meiner Jacke noch etwas höher und ließ meinen Blick über die Villa schweifen. Etwas war anders heute. Plötzlich fiel es mir auf. Hinter einem der oberen Fenster brannte Licht. Mit klopfendem Herzen blieb ich stehen und spähte vorsichtig zum Haus. Der Vorplatz und die Auffahrt waren leer. Weder ein Auto, noch ein Fahrrad war zu erkennen. Kurze Zeit später erlosch das Licht. Ich setzte meinen Spaziergang fort, doch blieb ich nach ein paar Metern wieder stehen und wartete, ob jemand die Villa verlassen würde. Meine Neugier war geweckt. Es wurde dunkel, aber nichts passierte. Hatte ich mir das Licht eingebildet? Nein, ich war mir sicher. Nachdenklich kam ich zuhause an und beschloss, Näheres über diese Villa herauszufinden. Als Autor war ich immer auf der Suche nach Inspirationen.
Ich startete meinen Laptop und rief Google auf, um nach dieser Villa im schönen Eimsbüttel zu suchen. Bei Google findet man Pizzaservice, Prominews, alle möglichen nützlichen und weniger nützliche Informationen, aber über dieses Haus war nichts zu finden. Enttäuscht fuhr ich meinen Rechner herunter, setzte mich auf meinen Lieblingssessel und griff nach einem Buch. Ich versuchte zu lesen, aber die Begebenheit mit der Villa und dem geheimnisvollen Licht ging mir nicht aus dem Kopf. Ich bin zwar kein Abenteurer, aber mein Interesse war geweckt und ich beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen. Hätte ich es bloß gelassen.
***
Die nächsten Tage zog es mich immer wieder dorthin. Alles schien unbelebt. Mittlerweile wurde ich immer unsicherer, ob ich dort wirklich Licht gesehen hatte. Ich verlor das Interesse an der Villa und erkundete andere Gegenden auf meinen Spaziergängen und Ausflügen, die Stadtvilla hatte ich bald vergessen.
Nach einem arbeitsreichen Tag am Bildschirm hatte ich das Bedürfnis, mir noch einmal die Beine zu vertreten und machte nach langer Zeit einen Gang durch die kleine Siedlung. Ich kam natürlich erneut an der Stadtvilla vorbei. Wie beim letzten Mal dämmerte es bereits, als ich immer noch dort stand und wie gebannt auf das Haus schaute.
Ich sagte schon, dass ich nicht unbedingt wagemutig bin, aber dieses Haus zog mich magisch an. Plötzlich hatte ich das Tor geöffnet und stand auf dem Grundstück. Ich kam mir vor wie ein Einbrecher, aber meine Neugier überwog. Bisher hatte ich die Villa nur von der Seite gesehen, von vorn sah sie noch heruntergekommener aus. Ich lauschte. Außer dem Wind, der die Blätter bewegte, war es total still. Den Atem anhaltend stieg ich die Stufen zum Eingang hoch. Was hatte mich da bloß geritten?
In Zeitlupe drückte ich die Klinke herunter und tatsächlich ließ sich die Tür öffnen. Wieder horchte ich. Alles ruhig im Haus. Kein Licht. Mittlerweile war es so dunkel geworden, dass ich den Eingangsbereich nur noch schemenhaft erkennen konnte. Ich hätte eine Taschenlampe mitnehmen sollen, dachte ich. Aber ich hatte ja nicht geplant, in dieses Haus einzudringen.
Mein Smartphone mit der eingebauten Taschenlampe fiel mir ein. Mit zitternden Fingern zog ich mein Telefon aus der Tasche und startete die App. Der lang gezogene Flur war leer.
Wenn ich nun schon mal hier war, wollte ich mich zumindest mal umsehen. Vor mir führte eine Treppe mit einem gedrechselten Handlauf in den ersten Stock. Vorsichtig stieg ich hinauf. Die dritte Stufe zerriss mit lautem Knarren die Stille. Mein Herz raste. Ich blieb stehen und lauschte. Nichts! Ganz langsam setzte ich einen Fuß vor den anderen und stieg die restlichen Stufen hoch.
Im Lichtschein meines Smartphones erkannte ich fünf Türen. Welche führte zu dem Raum, in dem ich das Licht gesehen hatte? Nach kurzer Überlegung war ich sicher, dass es die zweite von links sein musste. Langsam tastete ich mich vorwärts, blieb kurz vor der Tür stehen, horchte. Dann legte ich meine Hand auf die Klinke und drückte sie herunter. Vorsichtig stieß ich die Tür auf, um in den Raum zu blicken. Genau in dem Moment ging meine Taschenlampe aus. Ich hatte vergessen, mein Smartphone aufzuladen. Vor Schreck zog ich die Luft geräuschvoll ein und hatte plötzlich das Gefühl, nicht allein im Raum zu sein. Da hatte sich etwas in dem Zimmer bewegt.
Voller Panik stürzte ich zurück in den Flur und stolperte die Treppe hinunter. An irgendetwas blieb ich hängen, stürzte die letzten Stufen und landete schmerzhaft auf dem Boden. Ich biss die Zähne zusammen, rappelte mich auf und riss die Haustür auf. Jeden Moment erwartete ich einen Verfolger, aber alles blieb still. Mein Herz schlug bis zum Hals und nun merkte ich den Schmerz im Knie. Humpelnd verließ ich das Grundstück und wagte nicht, mich umzublicken. So schnell es mit dem lädierten Knie möglich war, eilte ich nach Hause und besah mir die Blessur. Ein langer Riss zog sich durch meine Hose. Das Knie blutete nicht, war aber angeschwollen.
Ich schimpfte mit mir selbst über meine ungewohnte Abenteuerlust und war wild entschlossen, in diese Villa keinen Fuß mehr zu setzen.
***
Die nächsten Tage pflegte ich meine Verletzung, wodurch ich auch nicht zu meinen Spaziergängen kam. Mittlerweile hatte ich mich von dem Schrecken erholt und fragte mich, wer oder was in diesem Raum auf mich gewartet hatte. War da jemand oder hatten mich meine Sinne getäuscht? Im Nachhinein betrachtet war ich mir gar nicht mehr sicher, ob ich mir das nicht nur eingebildet hatte. Warum sonst war es ruhig geblieben, als ich die Treppen hinuntergepoltert war? Hätte derjenige, den ich in dem Raum zu spüren glaubte, nicht die Verfolgung aufgenommen? So zog es mich einige Tage später doch wieder zu der Villa, die immer noch einen verlassenen Eindruck machte. Dieses Mal ging ich bei Tageslicht hin, und hatte zuvor mein Smartphone aufgeladen.
Als ich vor der Haustür stand, wunderte ich mich, dass diese geschlossen war. Ich war mir ganz sicher, dass ich sie offengelassen hatte, nachdem ich überstürzt aus dem Haus geflüchtet war. Jemand war zwischenzeitlich hier gewesen. Ich lauschte, doch wieder war nur das Rauschen der Blätter zu vernehmen. Vorsichtig drückte ich die Klinke herunter und stand im nächsten Moment wieder im Flur. Alles schien unverändert. Horchen. Alles still. Auf Zehenspitzen erklomm ich die Treppe, bemüht, so wenig Geräusche wie möglich zu machen. Auch die zweite Tür von links im ersten Stock war wieder verschlossen. Ganz langsam öffnete ich sie und spähte in den Raum. Was ich dann erblickte, ließ mir das Blut in den Adern erfrieren.
In der hinteren Ecke lag jemand auf einer Matratze. Ich konnte nicht genau erkennen, ob Mann oder Frau und ob er oder sie noch lebte. Sekundenlang stand ich dort und beobachtete die Person. Aber sie rührte sich nicht. Ganz langsam traute ich mich näher heran. Der Mensch war mit einer Wolldecke zugedeckt, nur der Kopf war ein kleinwenig zu sehen. Als ich nähertrat, fiel mir auf, dass dieses Bündel lange Haare trug. Zu meiner Erleichterung bemerkte ich, dass die Person atmete, ganz flach, aber deutlich. Erst jetzt stellte ich fest, dass sie an den Heizkörper gefesselt war.
»Hallo?«, flüsterte ich vorsichtig, aber es kam keine Antwort.
»Hallo?«, wiederholte ich, jetzt etwas lauter. Wieder nichts. Vor mir lag eine Frau und sie war bewusstlos. Was sollte ich tun?
Meine Gedanken wurden unterbrochen von deutlichen Geräuschen vor dem Haus. Jemand stand vor der Haustür und öffnete diese. Mir blieb fast das Herz stehen. Eilig schlich ich auf Zehenspitzen aus dem Raum und betrat das Nachbarzimmer rechts daneben. Zum Glück war es offen und leer. Beim Öffnen hatte es ein leichtes Quietschen gegeben und ich hoffte, dass die Person, die ins Haus gekommen war, dies nicht bemerkt hatte. Ich hörte Schritte auf der Treppe und wagte nicht, die Zimmertür zu schließen. Ich lehnte sie nur an und stellte mich dahinter, um zu verhindern, dass die Tür von allein aufgehen würde.
Nebenan hörte ich eine Männerstimme mit barscher Stimme zu der bewusstlosen Person sprechen.
»Aufwachen, du Schlampe. Hier kommt deine Mahlzeit.« Ich hörte klatschende Geräusche. Offenbar gab er der Frau ein paar Ohrfeigen, um sie wachzubekommen.
»Du musst was essen, um bei Kräften zu bleiben, Herzchen.«
Die eisige Stimme ließ mich erschaudern. Ich spürte, wie ich am ganzen Körper zitterte. Mein Zittern wurde immer stärker, sodass bereits der Fußboden bebte. Die Minuten zogen sich hin. Immer wieder hörte ich die Stimme des Mannes, der seinem Opfer zuredete, zu schlucken. Anschließend gab er ihr noch zu trinken, wobei sie sich heftig verschluckte.
»Na, langsam, du blöde Kuh. Nicht dass du mir hier noch erstickst.« Er stieß ein heiseres Lachen aus.
»So, Schlampe und jetzt wird wieder geschlafen.« Es folgte ein kurzer Aufschrei. Dann hörte ich Schritte aus dem Nachbarraum, die Tür wurde geschlossen und offensichtlich stieg der Mann die Treppe hinunter.
Ich wartete zehn Minuten, lauschte, ob der Mann sich noch irgendwo herumtrieb. Vorsichtig verließ ich den Raum und öffnete die Tür zum Nachbarzimmer. Die Frau lag wieder in die Decke gewickelt, wieder bewusstlos. Ich ging zu ihr hin, beugte mich über sie und drehte sie sanft zur Seite.
Ich blickte in ein junges, hübsches Gesicht, dessen Wangen rot glühten, sicher eine Folge der Ohrfeigen. Die Frau lag dort wie tot, aber ich spürte ihren flachen Atem. Höchst wahrscheinlich hatte ich ein Entführungsopfer vor mir. Die Frau zu befreien hatte wenig Aussicht auf Erfolg, denn wie sollte ich die Bewusstlose hier herausbekommen?
Meine Hände zitterten wie Espenlaub als ich mein Smartphone aus der Tasche zog. Ich wählte die Nummer der Polizei, bekam aber keine Verbindung. Ein Funkloch! Ich stürmte aus dem Raum, schlich die Treppe hinunter und verließ die Villa. Draußen probierte ich es noch mal, aber bevor ich eine Verbindung bekam, entdeckte ich einen Mann, der an der Pforte stand, rauchte und mich erstaunt anblickte.
Am anderen Ende meldete sich gerade die Polizei, als ich bemerkte, dass der Mann die Pforte öffnete und auf mich zukam. War das etwa derjenige, der die Frau entführt hatte? So bedrohlich, wie er sich mir näherte, lag dieser Gedanke nahe. Verzweifelt blickte ich mich nach einem Fluchtweg um. Da war ein Loch im Zaun zum Nachbargrundstück. Ich stürmte los. Zweige peitschten mir ins Gesicht, ich stolperte mit dem einzigen Ziel, so schnell wie möglich Distanz zwischen mich und meinen Verfolger zu bringen.
Aus meinem Smartphone hörte ich eine Stimme. »Hallo, wer ist denn da?«
Ich hatte keine Zeit, das Gespräch zu führen, auch wenn ich merkte, dass sich mein Vorsprung vergrößert hatte. Mittlerweile war ich über das Nachbargrundstück auf eine belebtere Seitenstraße gelangt, traute mich trotzdem nicht, mich umzusehen. Ich erreichte die Hoheluftchaussee und verlangsamte meinen Schritt. Zum Glück waren hier Menschen unterwegs, sodass ich mich halbwegs sicher fühlte. War mir dieser Typ noch auf den Fersen? Vor einem Laden blieb ich stehen und wagte es zum ersten Mal, mich umzuschauen. Von dem Mann war nichts zu sehen. Hatte er die Verfolgung aufgegeben? Erleichtert griff ich zu meinem Telefon und versuchte noch einmal, die Polizei anzurufen. Vor Anstrengung und Aufregung gelang es mir erst nach mehreren Versuchen, die Nummer einzutippen. Sofort meldete sich die Polizei. In kurzen Sätzen schilderte ich meine Beobachtung. Meine Gesprächspartnerin hörte zu, machte sich anscheinend Notizen und forderte mich dann auf, zur nächstgelegenen Dienststelle zu kommen.
Nach dem Gespräch atmete ich erst einmal durch. Langsam machte ich mich auf den Weg, schaute mich dabei immer noch um, ob ich den Mann irgendwo entdecken konnte. Bei jeder Person, die auch nur eine ähnliche Statur wie dieser Typ hatte, bemerkte ich, wie sich mein Puls beschleunigte. Als ich die Polizeiwache betrat, atmete ich auf. Wo konnte man sich sicherer fühlen, als in einer Polizeistation? Ich ging zu dem diensthabenden Beamten und erzählte aufgeregt von dem Abenteuer, das ich mir eingebrockt hatte. Andererseits hatte ich dadurch eine Entführung aufgedeckt. Völlig außer Atem sprudelte es nur so aus mir heraus, froh, endlich alles loszuwerden, was ich gesehen und erlebt hatte.
Eine Stunde später verließ ich die Polizeiwache und machte mich auf den Weg nach Hause. Ich hatte getan, was ich tun konnte. Doch meine Nerven waren so angespannt, dass ich mich den ganzen Weg über vorsichtig nach allen Seiten rückversicherte, dass mir niemand folgte. Langsam wirst du paranoid, schimpfte ich mich selbst. Zuhause angekommen setzte ich mich an meinen Schreibtisch, um diese Geschichte aufzuschreiben. Ich war so vertieft in meinen Text, dass ich zusammenzuckte, als es an der Tür klingelte. Wer konnte das sein? Ich erwartete keinen Besuch. Mit klopfendem Herzen blickte auf den Bildschirm, der mir die Personen zeigte, die vor dem Haus standen. Zwei Uniformierte.
»Ja bitte?«, fragte ich durch die Anlage.
»Herr Homann, Polizei! Wir hätten noch ein paar Fragen an Sie. Können wir kurz hereinkommen?« Sie zeigten ihre Dienstausweise.
Ich betätigte den Summer und kurze Zeit später standen sie vor meiner Tür.
»Was gibt es denn noch?« Ich war verunsichert, denn ich hatte doch ausführlich berichtet, was in diesem Haus passiert war.
»Sie sind sicher, in dem Haus eine bewusstlose Frau gesehen zu haben?«
»Ja, natürlich!« Was sollte diese bescheuerte Frage? Doch ich ärgerte mich über mich selbst, dass ich vor Aufregung vergessen hatte, Fotos von dem Opfer zu machen.
»Wir sind gerade in der von Ihnen beschriebenen Villa gewesen und haben alle Zimmer durchsucht. Das Haus ist unbewohnt und völlig leer.«
»Das kann nicht sein, ich habe sie doch mit eigenen Augen gesehen.«
Der Blick des einen Beamten wanderte durch den Raum. »Sie sind Schriftsteller?«
Ich nickte nur. Was hatte das damit zu tun?
»Krimis, oder?« Langsam schwante mir, worauf er hinauswollte.
»Hören Sie. Ich habe das nicht erfunden.«
Der Beamte nickte und grinste dabei. »Sicher«, antwortete er wenig überzeugt.
»Und was machen Sie jetzt?«, fragte ich ihn, ahnte die Antwort aber schon.
»Nun, so lange keine Straftat vorliegt, können wir nichts unternehmen.« Die beiden Beamten erhoben sich und gingen in Richtung Tür. »Tut mir leid«, fügte der Polizist hinzu und öffnete.
»Aber irgendjemand muss doch diese Frau vermissen«, rief ich verzweifelt.
»Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag«, antwortete er und beide verließen die Wohnung.
Fassungslos schaute ich auf die geschlossene Tür. Das konnte doch nicht sein. Wie hatte dieser Verbrecher die Frau nur so schnell verschwinden lassen können? Lange saß ich nur da und dachte nach. Dann stand mein Entschluss fest. Ich konnte die Frau doch nicht ihrem Schicksal überlassen. Gleich morgen würde ich etwas unternehmen. Irgendjemand musste etwas gesehen haben. Das war ich der Frau schuldig und außerdem wollte ich die Behauptung nicht auf mir sitzen lassen, dass die Fantasie mit mir durchgegangen war.
***
Nach einer unruhigen Nacht und einem kleinen Frühstück ohne Appetit machte ich mich auf den Weg, ohne wirklich zu wissen, wie ich vorgehen wollte. Als ich das Haus verließ und auf die Straße trat, sah ich im Augenwinkel einen Mann, der etwa 30 Meter hinter mir ging. Die Statur ähnelte der des Typen, den ich vor der Villa gesehen hatte. Konnte das sein? Hatte er herausbekommen, wo ich wohnte? War er den beiden Beamten von der Villa aus gefolgt, als diese mich gestern Abend aufgesucht hatten, um mir von der erfolglosen Suche zu berichten?
Ich zwang mich, meine Schritte nicht zu beschleunigen, um den Mann nicht zu warnen, dass ich ihn bemerkt hatte. Ich war mir noch nicht sicher, ob er es wirklich war, aber er folgte mir. Zufall? Ich wechselte die Straßenseite. Er auch. Ich bog in die nächste Seitenstraße ein und stand vor einem Supermarkt. Drinnen würde ich sicher sein, überlegte ich und betrat den Markt. Eilig schlüpfte ich zwischen zwei Regalen hindurch und sah zum Eingang. Tatsächlich, auch der Mann kam in den Markt. Nun war ich mir sicher, dass er es war. Meine Hände zitterten, als ich aus meinem Versteck heraus Fotos schoss und hoffte, dass brauchbare dabei wären.
Anschließend schlich ich in den hinteren Bereich des Marktes, immer darauf achtend, dass der Typ mich nicht sehen würde. Suchend durchkämmte mein Verfolger die Regalreihen. Eindeutig suchte er nicht nach Lebensmitteln. Inzwischen hatte ich mich wieder in Richtung Ausgang gearbeitet, quetschte mich an der Kasse vorbei. Dabei hob ich die Hände, um zu zeigen, dass ich nichts gekauft hatte, und verließ den Supermarkt. Glücklicherweise lag die Polizeiwache genau auf der gegenüberliegenden Straßenseite, sodass ich schnell dorthin gelangen konnte.
Ich blickte mich noch einmal um und sah den Mann gerade noch aus dem Supermarkt stürmen. Hatte er mich gesehen?
Auf der Wache hatte derselbe Beamte wie beim letzten Mal Dienst, sodass ich nicht viel erklären musste.
»Dieser Kerl, der das Mädchen entführt hat, ist mir gefolgt. Der muss Ihren Kollegen gefolgt sein, als sie von der Villa aus zu mir gekommen sind«, begann ich atemlos zu erzählen. Erst jetzt fiel mir ein, dass die Beamten mir nicht geglaubt hatten.
»Wirklich!«, fügte ich deshalb noch mal hinzu.
Der Beamte nickte. »Herr Homann, jetzt mal ganz langsam. Der Mann, den sie in der Villa gesehen haben, ist Ihnen gefolgt? Sie sind ganz sicher, dass das derselbe ist?«
»Er ist mir die ganze Zeit von zuhause gefolgt, sogar in den Supermarkt und hat ganz offensichtlich nach mir gesucht.« Ich blickte den Polizisten verzweifelt an.
»Also ganz langsam«, begann dieser. »Zunächst einmal möchte ich mich bei Ihnen entschuldigen, dass meine Kollegen Ihre Aussage in Zweifel gezogen haben. Zwar war in der Villa wirklich nichts zu sehen, aber …«, machte er eine kurze Pause. »Vorhin haben wir einen Hinweis bekommen, dass eine junge Frau entführt worden ist.«
Also doch!
»Könnten Sie sich bitte dieses Foto ansehen. Ist dies die junge Frau, die sie in der Villa gesehen haben?« Er schob mir die Aufnahme einer jungen, hübschen Frau zu. Ich sah mir das Bild genau an und versuchte, mich an das Gesicht der Person aus der Villa zu erinnern. Sie sah zwar erschöpfter aus als auf dem Bild und war rot wegen der Ohrfeigen, doch ich war mir ziemlich sicher, dass es die gleiche Frau war.
»Ich glaube, sie ist es. Sie sah natürlich ziemlich fertig aus, aber sie sieht der Frau auf dem Foto sehr ähnlich.«
»Okay.« Der Beamte nickte zufrieden. »Können Sie jetzt den Mann beschreiben, den Sie bei der Villa gesehen haben?«
Ich zückte mein Smartphone. »Ich habe ihn sogar fotografiert.« Die meisten Aufnahmen waren verwackelt, aber auf einem war er relativ klar zu erkennen.
Der Polizist nahm das Smartphone an sich und überspielte das Foto auf seinem PC.
»Sehr gut, das hilft uns weiter.«
»Und jetzt?«, fragte ich. »Wie geht es jetzt weiter? Der Typ verfolgt mich und scheint es auf mich abgesehen zu haben.«
»Haben Sie jemanden, wo Sie für ein paar Tage bleiben können?«
Ich schaute ihn fassungslos an. »Der Typ ist mir gefolgt und wartet eventuell vor der Tür auf mich. Kann ich nicht Polizeischutz bekommen, oder so?«
Mein Gegenüber schüttelte mit dem Kopf. »So einfach ist das nicht. Wir können Ihnen nur vorschlagen, dass Sie irgendwo unterkommen, bis die Sache aufgeklärt ist.«
Mir fiel die Ferienwohnung meiner Schwiegereltern an der Ostsee ein. Ich konnte nur hoffen, dass mir der Verbrecher dort nicht auch auflauern würde.
Ein Uniformierter begleitete mich zu meiner Wohnung, wo ich ein paar Sachen zusammenpackte. Anschließend fuhr ich in die Tiefgarage und fuhr los.
Die nächsten zwei Tage verbrachte ich ausschließlich in der Ferienwohnung. Jedes Geräusch im Treppenhaus, jede Bewegung im Garten ließen mich zusammenzucken. Meine Nerven lagen blank.
Der Polizist hatte mir versprochen, sich zu melden, sobald das Verbrechen aufgeklärt war.
Am dritten Tag klopfte es an die Tür. Ich schreckte hoch, mein Herz raste und meine Hände waren schweißnass. Sollte der Verbrecher mich auch hier aufgespürt haben? Wieder wurde an die Tür geklopft. Dieses Mal heftiger.
»Herr Homann, bitte machen Sie auf. Hier ist die Polizei.«
Im ersten Moment spürte ich Erleichterung, aber dann meldeten sich Zweifel. Warum hatten die nicht angerufen? Mit klopfendem Herzen ging ich zur Tür.
»Kann ich bitte Ihren Dienstausweis sehen?«, rief ich und spähte durch den Spion. Der Mensch, der dort stand, hatte von der Statur her Ähnlichkeit mit meinem Verfolger, trug aber Polizeiuniform. Er hob seinen Ausweis hoch. Eindeutig ein Dienstausweis. Sein Kollege neben ihm zeigte ebenfalls seinen Ausweis. Vorsichtig öffnete ich die Tür.
»Entschuldigen Sie die frühe Störung, aber wir haben den Auftrag, Sie zu bitten, nach Hamburg zurückzufahren.«
Was hatte das nun zu bedeuten? Ich war unsicher. »Warum?«
»Das werden Ihnen die Hamburger Kollegen erzählen.«
Telefonisch ließ ich mir von den Hamburger Kollegen bestätigen, dass ich wirklich dorthin kommen sollte. Dann packte ich meine Sachen zusammen und fuhr zurück nach Hamburg.
Auf der Wache in Eimsbüttel begrüßte mich der bereits bekannte Beamte und bot mir einen Platz an. Mein Gesicht war ein einziges Fragezeichen, was ihn sichtlich zum Schmunzeln animierte.
»Herr Homann, entschuldigen Sie diesen Überfall, aber wir haben einen Verdächtigen festgenommen und müssen Sie bitten, diesen zu identifizieren.«
»Aber Sie haben doch sein Foto«, erwiderte ich.
»Das stimmt, aber das ist etwas unscharf und da Sie ihn ja gesehen haben, wäre es für uns sehr wichtig.«
Er stand auf und ich folgte ihm in einen Raum, von dem aus ich in ein Nebenzimmer blicken konnte, in dem vier Männer ähnlicher Statur standen. Der zweite von rechts war ganz eindeutig derjenige, den ich bei der Villa gesehen hatte. Ich deutete auf den Mann und der Polizist nickte.
»Alles klar, vielen Dank. Sie können dann jetzt wieder nach Hause.«
Ich zögerte. »Was ist jetzt? Ist die Gefahr vorbei? Die junge Frau gefunden?«
Ich erntete einen ernsten Blick. »Für Sie ist die Gefahr vorüber, aber die junge Frau suchen wir mit Hochdruck.«
Mehr war aus ihm nicht herauszubekommen und ich verließ die Polizeiwache.
Wie ich es mir in den letzten Tagen angewöhnt hatte, behielt ich meine Umgebung auf dem ganzen Weg im Auge, aber anscheinend folgte mir niemand.
***
In den kommenden Tagen traute ich mich kaum aus dem Haus, verließ meine Wohnung nur, um etwas einzukaufen.
Und dann klingelte es plötzlich an meiner Tür. Dort stand ein mir unbekanntes Paar.
»Ja bitte?«, fragte ich misstrauisch. Mittlerweile traute ich niemandem mehr.
»Herr Homann? Hammaburg. Wir würden Sie gern kurz sprechen und uns bedanken.« Die Stimme des Mannes klang tief, aber gleichzeitig sanft.
»Bedanken? Wofür?«
»Können wir vielleicht kurz reinkommen?«
Ich drückte auf den Türsummer, kurze Zeit später standen beide vor meiner Wohnungstür und ich ließ sie eintreten.
»Herr Homann, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar wir Ihnen sind«, begann er mit leicht zittriger Stimme. Seiner Frau stiegen Tränen in die Augen.
»Wir sind die Eltern von Sibylle. Wenn Sie nicht gewesen wären, dann würde unsere Tochter vermutlich nicht mehr leben.«
Ich schluckte. »Die entführte junge Frau ist Ihre Tochter?«
Herr Hammaburg nickte, seine Frau brach nun vollends in Tränen aus.
»Wie geht es Ihr?«
»Sie ist noch sehr schwach, aber die Ärzte sind sicher, dass sie sich vollständig erholen wird.« Und dann brach es aus ihm heraus. Seine Tochter war plötzlich verschwunden. Kurz darauf hatten sie ein Schreiben des Erpressers bekommen mit einer Geldforderung und der Warnung, dass sie die Polizei nicht einschalten sollten. Die erste Geldübergabe hatte nicht funktioniert, weil der Erpresser mich entdeckt hatte und Sibylle schnell woanders hinbringen musste. Sie waren dann doch zur Polizei gegangen. Den Eltern wurde das Foto des Mannes gezeigt. Sie konnten ihn als ehemaligen Mitarbeiter in der Firma des Vaters identifizieren. Der Mann hatte nach seiner Verhaftung zunächst alles abgestritten. Deshalb hatten sie mich zur eindeutigen Identifizierung geholt. Nach weiteren Verhören war er zusammengebrochen und hatte das Versteck verraten.
»Ich weiß nicht, wie wir uns bei Ihnen bedanken können«, schloss der Vater und schaute mich hilflos an.
»Ich bin froh, dass ich helfen konnte«, antwortete ich lächelnd.
Als die beiden gegangen waren, setzte ich mich an meinen Computer und schrieb den Anfang meines neuen Romans. Es war bereits dunkel, als ich die letzte Zeile der ersten Kapitel geschrieben und den Computer heruntergefahren hatte. Ich ging spazieren und als ich an der Stadtvilla vorbeikam, blieb ich dort einen Moment stehen und lauschte.
Wenn mein nächstes Buch ein Bestseller werden würde, könnte ich diese Villa vielleicht kaufen. Schmunzelnd setzte ich meinen Weg fort.
Es war eine sternenklare Nacht. Das Licht des vollen Mondes ließ die eisige Luft glitzern und erhellte selbst den Boden des kahlen Waldes.
Dennis drängte sich dichter an den Felsen, in dessen Schatten er sich versteckte. Fluchend rieb er sich die Hände, um Wärme in seine Finger zu bringen. Er hasste den Winter. Eigentlich hätte er längst in der Südsee sein sollen. Dort hätte er jetzt einen Cocktail schlürfen und den hübschen Mädchen beim Baden zusehen können.
Doch sein unfähiger Bruder hatte mal wieder alles verdorben. Wie konnte man nur so dumm sein und die Alarmanlage auslösen? Dabei hatte der Idiot die Beute schon in den Händen gehalten.
Kopfschüttelnd sah er zu Stefan, der nervös von einem Fuß auf den anderen tänzelte. Nein, sein Bruder war sicherlich nicht die beste Wahl, wenn man nach einem Komplizen suchte, doch es gab keine andere Möglichkeit. So schnell war niemand aufzutreiben, der besser war – und dem er vertrauen konnte. Er musste das hier also mit ihm durchziehen.
Zum Glück hatte er erfahren, wo leichte Beute zu machen war. Reichtümer waren hier zwar nicht zu erwarten, aber wenn er es clever anstellte, würde er bald genug zusammen haben, um das Ticket in die Südsee zu lösen – ohne seinen Bruder natürlich. Es sollte ja schließlich Urlaub werden.
Bei dieser Vorstellung konnte sich Dennis ein Grinsen nicht verkneifen. Vorsichtig lugte er aus seinem Versteck zum Torhaus. Wie versprochen war die Tür nicht verschlossen. Sie mussten nur noch warten, bis der Nachtwächter seine Runde beendete. »Halt dich bereit!«, raunte er Stefan zu.
***
Anna erschrak. Hatte sie gerade ein Geräusch gehört? Nachts war es hier zwar nie wirklich still, schon allein wegen der schlurfenden Schritte des Wachmanns, doch irgendetwas hatte ihre Aufmerksamkeit geweckt.
Unsicher sah sie sich um: Die Wände ihres Zimmers, vertraut und kalt; das regelmäßige Muster auf dem Boden, der vom Mondlicht erhellt wurde – alles schien wie immer zu sein.
Seufzend erhob sie sich. An Schlaf war nicht mehr zu denken. In ihrem Alter schlief man nicht so leicht wieder ein, wenn die Ruhe gestört wurde. Vielleicht würde ihr ein Spaziergang über den Hof guttun. Bewegung und frische Luft hatte ihr der Arzt jedenfalls empfohlen.
Sie streckte die alten Glieder, schlüpfte in ihren Mantel und trat dann nach draußen. Einen Moment hielt sie inne und lauschte. Doch außer dem Wind, der um die Türme strich, war nichts zu hören.
Anna zuckte mit den Schultern und setzte sich in Bewegung. Im Mondlicht waren die Umrisse der Burg gut zu erkennen. Wie sehr sie diese alten Mauern hasste. Doch August hatte darauf bestanden, herzuziehen. Auch wenn sie ihn in früheren Zeiten mühelos hatte um den Finger wickeln können – in dieser Sache war er unerbittlich gewesen.
Leise streifte Anna durch den dunklen Burghof. Sie hatte das Gefühl, jeden Stein zu kennen. Wie oft schon hatte sie sich ausgemalt, zu fliehen, diesem verfluchten Ort für immer den Rücken zu kehren, doch stets hatte sie im letzten Moment der Mut verlassen. Wohin sollte sie auch gehen?
Sie passierte den kleinen Durchgang neben dem Seigerturm. Tagsüber hörte sie manchmal die Besucher, die dort im Café saßen, scherzten und sich den Kuchen schmecken ließen. Sie hatte nie verstanden, warum man das Gelände für den Pöbel geöffnet hatte, doch so kam wenigstens etwas Abwechslung in ihre ewig gleichen Tage.
Zumindest in der Nacht war sie ungestört. Nur dem Wächter, der einsam seine Runden drehte, begegnete sie manchmal, doch an seine Präsenz hatte sie sich gewöhnt. Im Gegenteil, sie war ihm sogar dankbar, dass er sie und die Burg bewachte. Vielleicht sollte sie ihm einen Besuch abstatten. Die einfachen Gemüter brauchten ab und an Anerkennung und Ermutigung. Dem Lichtschein nach zu urteilen, hielt sich der gute Mann gerade im Johannisturm auf.
***
Inzwischen hatten die Brüder das Torhaus erreicht. Planmäßig musste der Nachtwächter jetzt im Johannisturm sein. Dennis spähte über den Vorplatz. Tatsächlich waren die Lichter im Kornhaus gegenüber zwar an, doch in den Fenstern war kein verräterischer Schatten zu sehen. Die Chancen standen gut. So nutzten die jungen Männer die Gelegenheit und rannten über den Vorplatz zum Eingang.
Dort blieben sie einige Sekunden lang stehen, in der Erwartung, eine aufgebrachte Stimme zu hören, doch der Burghof blieb still. Mit einem schiefen Grinsen auf dem Gesicht holte Dennis seinen E-Pick heraus und setzte ihn am Schloss an. Sofort machte sich das kleine Gerät an die Arbeit und suchte surrend nach der richtigen Position zum Öffnen der Tür.
»Glaubst du wirklich, dass das eine gute Idee ist?«, hörte Dennis die Stimme seines Bruders hinter sich.
Ungerührt setzte er seine Arbeit fort. »Natürlich, sonst wären wir ja nicht hier.«
Stefan erinnerte sich nur ungern an ihren letzten Plan, bei dem er beinahe im Gefängnis gelandet wäre. Er hatte keine Lust, wegen ein paar Scheinen diesmal geschnappt zu werden. Doch Dennis konnte sehr überzeugend sein, wenn er etwas wollte. »Aber was, wenn der Nachtwächter kommt?«
»Der ist jetzt auf seiner Runde«, erwiderte sein Bruder sichtlich genervt. »Und um Mitternacht macht er immer seine Kaffeepause. Das verschafft uns zusätzlich Zeit.«
Stefan schien nicht überzeugt. »Sagt deine Quelle …«
Das feine Klicken des Schlosses verriet den Erfolg von Dennis’ Bemühungen. »Genau, sagt meine Quelle. Und die ist sicher. Nun komm schon!«
Mit diesen Worten trat er ein. Nach kurzem Zögern folgte ihm Stefan.
***
Mühelos erklomm Anna die Stufen der Wendeltreppe. Anscheinend schlug die Therapie des Arztes doch an, denn so leicht wie heute war sie schon lange nicht mehr zu den ehemaligen Wohnräumen im Johannisturm gelangt. Natürlich würde sie das ihm gegenüber nicht zugeben. Der alte Wichtigtuer war schon eingebildet genug.