Das Buch vom Verschwinden - Ibtisam Azem - E-Book

Das Buch vom Verschwinden E-Book

Ibtisam Azem

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Beschreibung

Was wäre, wenn um Mitternacht plötzlich die gesamte palästinensische Bevölkerung Israels auf unerklärliche Weise verschwände, als ob sie von Außerirdischen entführt worden wäre? Ariel, der Journalist, und Alaa, der Freelance-Kameramann, leben im selben Wohnhaus in Tel Aviv. Beide sind sie Israelis, Ariel jüdischer und Alaa palästinensischer Herkunft, beide lieben ihre Heimatstadt, in der sie aufwuchsen und Freunde geworden sind. Eines Morgens sind im ganzen Land die Palästinenserinnen und Palästinenser verschwunden. Der gesellschaftliche Verlust ist sofort spürbar, die Verwirrung riesengroß. Es fahren keine Busse mehr, im Spital fehlen Ärzte, der beste Hummusladen bleibt geschlossen. Handelt es sich um einen Generalstreik, einen geplanten Angriff? Oder gar um ein Wunder Gottes zur Rettung Israels? Auf der Suche nach Alaa findet Ariel in dessen Wohnung ein rotes Notizbuch, die Lebensgeschichte von Alaas Großmutter. Er nimmt sich vor, die Aufzeichnungen ins Hebräische zu übertragen und eine Chronik der Zeit vor dem Verschwinden zu verfassen. Ibtisam Azem gelingt ein eindrückliches, originelles Plädoyer wider das Vergessen und für ein friedliches Zusammenleben.

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Seitenzahl: 282

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www.lenos.ch

Ibtisam Azem

Das Buch vom Verschwinden

Roman

Aus dem Arabischenvon Joël László

Lenos Verlag

Die Autorin

Ibtisam Azem, geboren 1974 in Tayyibe (Israel), ist eine palästinensische Autorin und Journalistin. Sie studierte in Freiburg i. Br. Islamwissenschaften, Germanistik und Anglistik sowie in New York Sozialarbeit. In Berlin arbeitete sie für die Deutsche Welle. Seit 2012 lebt Ibtisam Azem in New York, wo sie als UNO-Korrespondentin für das Nachrichtenportal al-Araby al-Jadeed tätig ist. Sie ist Mitherausgeberin des Onlinemagazins Jadaliyya und hat zwei Romane veröffentlicht.

Der Übersetzer

Joël László, geboren 1982 in Zürich. Studium der Nahostwissenschaften und der Geschichte. Er lebt als freier Autor und Übersetzer in Basel. Längere Aufenthalte in Kairo sowie wissenschaftliche Publikationen zu neuerer türkischer und ägyptischer Geschichte. Seine Theaterstücke und Hörspiele wurden mehrfach ausgezeichnet.

Zur Erleichterung der Aussprache arabischer Namen wurden in der Übersetzung betonte lange Silben mit einem Zirkumflex (˄) versehen.

Der Übersetzer dankt der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia für die Unterstützung.

Titel der arabischen Originalausgabe:

Sifr al-Ikhtifâ’

Copyright © 2014 by Ibtisam Azem

E-Book-Ausgabe 2023

Copyright © der deutschen Übersetzung

2023 by Lenos Verlag, Basel

Alle Rechte vorbehalten

Coverfoto: Marc Comley

Printed in Germany

eISBN 978 3 03925 705 8

Für Tata Rasmijja.

Für Sidu Muhammad, Ichlâs, Abla und Salîm.

Für alle Jaffaner und Jaffanerinnen.

Inhalt

1. Alaa

2. Alaa

3. Alaa

4. Ariel

5. Blumenplantage

6. Bushaltestelle

7. Gefängnis 48

8. Krankenhaus

9. Ein Wohnhaus

10. Ariel

11. Ariel

12. Ariel

13. Hummus Sahtain

14. Flughafen

15. Ariel

16. Alaa

17. Alaa

18. Ariel

19. Ariel

20. Alaa

21. Alaa

22. Alaa

23. Ariel

24. Rothschild-Boulevard

25. Chez George

26. Ariel

27. Ariel

28. Rothschild-Boulevard

29. Chez George

30. Ein Mann und eine Erinnerung

31. Ariel

32. Ariel

33. Alaa

34. Alaa

35. Ariel

36. Ariel

37. An den Toren von Umm al-Gharîb

38. Ariel

39. Ariel

40. Ariel

41. Ariel

42. Ariel

43. Rothschild-Boulevard

44. Ariel

45. Ariel

46. Alaa

47. Ariel

48. Alaa

49. Ariel

1

Alaa

Mutter eilte mit zwei verschiedenen Schuhen aus dem Haus. Ihre Locken hatte sie mit einem schwarzen Haarband festgezurrt, so dass die Panik sich in ihrem Gesicht noch schärfer abzeichnete und ihre blauen Augen grösser wirkten. Das weisse Hemd quoll ihr auf der einen Seite wild aus dem grauen Rock. Ich folgte ihr. Sie schien wie von Sinnen, wie sie durch die Strassen des Adschami-Viertels hetzte und nach Grossmutter suchte. Als wolle sie sich selbst einholen, rannte sie schneller und schneller. Als sie meine Schritte hinter sich hörte, drehte sie sich um. Ihre Arme waren dünn wie ein Besenstiel.

Sie fuchtelte und gestikulierte: »Geh heim für den Fall, dass sie zurückkommt!«

»Papa ist doch zu Hause«, erwiderte ich.

»Dann geh zu ihrem Haus und danach zum al-Saa-Platz. Such dort weiter!«

Mutter lief von Tür zu Tür, sie wirkte wie eine verloren zappelnde Ameise. Als sie auf die Türen einzuschlagen begann, bekam ich Angst, dass sie sich die Hand bricht. Ohne Rücksicht auf Verluste hämmerte sie drauflos. Sie grüsste niemanden, sondern fragte sogleich nach Grossmutter. Wenn auf ihr Klopfen keine Antwort kam, atmete sie tief durch und brach vor der verschlossenen Tür in Schluchzen aus. Worauf sie zum nächsten Haus ging und sich dabei mit den Ärmeln Tränen aus dem Gesicht wischte.

Mutter ging voran, und ich folgte ihr wie ein Kind. Ich hatte ganz vergessen, wie schnell sie ist. Mit vierzig waren mir aus der Kindheit nur Erinnerungen geblieben, die plötzlich sehr weit entfernt schienen. Ich fürchtete, dass sie sich weh tut, nie zuvor hatte ich sie so verstört gesehen. Ab und zu drehte sie sich zu mir um und wunderte sich, dass ich ihr noch immer folgte. Weshalb ich nicht direkt neben ihr ging und stets ein, zwei Schritt Abstand hielt, weiss ich nicht. Mir fehlte die Kraft, diese Frau – meine Mutter – direkt zu konfrontieren. Ich bat sie, nach Hause zu gehen, und versprach, ganz Adschami Haus für Haus nach Tata abzusuchen. Wieder fuchtelte und gestikulierte sie, als wäre ich eine lästige Fliege, mit der sie in ihrem gerechten Zorn nichts zu tun haben wollte. Und sie kämpfte sich weiter, von einem Haus zum nächsten. Die Häuser jedoch spuckten sie aus.

Etwa eine Stunde zuvor war ich im Haus meiner Eltern eingetroffen, um den Sonnenuntergang von Jaffa aus zu sehen. Ich besuche sie zweimal pro Woche, gewöhnlich zwei Stunden vor Sonnenuntergang. Sobald wir alle müde geworden sind, fahre ich zurück in meine Wohnung in Tel Aviv. Tata war vor sechs Monaten zu meinen Eltern gezogen. Mutter hatte darauf bestanden, nachdem sie sie bewusstlos mit einem verrenkten Fuss im Bad aufgefunden hatte. Grossmutters Haus in Adschami liegt an der al-Kunt-Strasse, nicht mehr als zehn Gehminuten entfernt. al-Kunt ist der alte Name, Tata hat auf ihm bestanden, auch wenn ich an ihrem Briefkasten »Schaarei-Nikanor-Strasse« angeschrieben habe. Doch was rede ich, Tata hatte nicht darauf bestanden, diesen Namen zu verwenden, es war ihr Name … so hiess diese Strasse. Als ich ein Kind war, hörte sich al-Kunt sonderbar an. Doch irgendwann verstand ich, dass al-Kunt (Conte) ein Titel ist, den der Vatikan dem Palästinenser Talmâs für seine grosszügigen Spenden verliehen hatte, dank denen die maronitische Kirche gebaut werden konnte. Hier hatte er gewohnt, und so war die Strasse nach seinem Ehrentitel benannt worden. Seit Tata bei meinen Eltern wohnte, bestand sie darauf, jeden Morgen an ihrem alten Haus die Rosen zu giessen. Mutter bestand ihrerseits darauf, sie zu begleiten, und abends vor Sonnenuntergang wurde Tata entweder von ihr oder von Vater wieder abgeholt. An diesem Morgen hatte Tata vorgegeben, zu müde zu sein. Ungefähr eine Stunde nachdem Mutter weggegangen war, verliess sie das Haus auf eigene Faust, wie ich von Vater später erfuhr. Ein Umstand, der mich erstaunte, jedoch nicht dermassen in helle Panik versetzte wie Mutter, als sie von ihren Erledigungen und einem Besuch bei einer Freundin heimgekehrt war.

Der Tag verprasste seine letzten Minuten. Ich hatte genug davon, Mutter hinterherzurennen, also liess ich sie ziehen und eilte zum al-Saa-Platz, den Tata so liebte. Tata. So nannten wir sie, weil sie das andere Wort für Grossmutter – Sitti – nicht mochte. Schon nach wenigen Metern machte ich kehrt. Dort würde sie nicht sein, am al-Saa-Platz konnte man sich nirgends in Ruhe hinsetzen und Jaffa betrachten. Sie musste am Meer sein, und zwar nicht an dem Ufer, das bei Adschami liegt, sondern am Ufer nahe der Altstadt. Sie liebte diesen Ort, weshalb, weiss ich nicht. Also ging ich Richtung Meer, zum Hügel, auf dem Tata so gern sass. Um möglichst schnell hinzukommen, musste ich durch die Künstlergassen in der Altstadt, ich hasste diesen Weg.

Würde ich sie finden? Würde ich Tata antreffen? Mein Herz verkrampfte sich. Mit stockendem Atem schlängelte ich mich durch die engen Gassen zwischen den Puppenhäusern, so nenne ich die Galerien der Künstler. Auf den Stufen der alten Gassen fühlte ich plötzlich einen Stich in der Brust, als würde sich die Lunge – den Gassen gleich – verengen. Als Kind hatte ich hier immer meinen eigenen Schatten beobachtet, wie er sich zwischen den anderen Schatten bewegte. Manchmal verliess er mich, manchmal verlor ich die Kontrolle über ihn, gerade so, als gehöre er einer anderen Person. Du bist verrückt, sagte ich mir und behielt das Geheimnis jahrelang für mich. Bis ich einmal mit Tata unterwegs war und sie bat, einen anderen Weg als den durch die Altstadt zu nehmen. Sie lachte und küsste meinen Kopf. »Keine Angst, Liebling«, meinte sie. »Alle Leute, die in Jaffa geblieben sind, sehen Geister neben sich, wenn sie durch die Altstadt gehen. Sogar die Juden geben zu, dass sie in der Nacht Stimmen hören … aber wenn sie nachschauen, ist da niemand.«

Ihre Geschichte half nicht gerade, meine Ängste zu überwinden. Im Gegenteil, sie ergriffen von mir Besitz und wuchsen noch an, je älter ich wurde. Ich gelangte an den grossen Platz, der aufs Meer geht, das teils von der Mar-Butrus-Kirche und teils von der al-Bahr-Moschee verdeckt wird. Das Meer überrascht mich jedes Mal aufs Neue, wenn ich endlich den Fängen der Altstadt entkommen bin. Ein rauer Wind berührte meine trockenen Lippen, wie in der Wüste. Das Meer breitete sich vor mir aus, und doch fühlte ich mich wie in der Wüste. Ich hob den Kopf und blickte gegen Norden über Jaffa hinweg; das Licht wurde von den Glasfassaden der anderen Stadt zurückgeworfen und drang mir in die Augen. Das Licht der Weissen Stadt, der Stadt aus Glas.

Ich stieg den kleinen Hügel neben der Mar-Butrus-Kirche hoch. Ich weiss nicht, weshalb ich plötzlich das Gefühl hatte, die Festungskirche sei so erschöpft wie ich. Festungskirche. Diesen Namen mag ich lieber als Mar Butrus, ich stelle mir vor, dass das Wort »Festung« der Kirche zusätzlichen Schutz verleiht.

Und dann sah ich sie!

Sie sass auf einer Holzbank und schaute aufs Meer. Mir entfuhr ein Schrei, Herz und Stimme tanzten vor Freude. »Tata … Taaataaaa … Tata!« Ich rannte zu ihr hin und schaute in ihr braunes Gesicht, das ganz in den Anblick des Meeres versunken war. Aus ihrem Kopftuch hatte sich eine schwarze Locke gelöst, als wollte sie mit dem Wind tanzen. Auf ihren Lippen lag ein leichtes Lächeln. Ich setzte mich neben sie und ergriff ihre Hand. »Du hast uns zu Tode erschreckt!« Ihre Finger waren trocken und wie aus Holz, obwohl ihr Körper nicht kalt war. Ich berührte sie an der Schulter, und sie sank ein wenig zur Seite. Noch einmal fasste ich sie mit zitternden Händen an der Schulter an. War sie vielleicht ohnmächtig geworden? Ich legte mein Ohr an ihre Brust, um zu prüfen, ob sie atmete. Es schnürte mir die Kehle zu, als müsste ich ganz Jaffa auf einmal runterschlucken. Ich fingerte mein Telefon aus der Tasche, um einen Rettungswagen zu rufen. Die Worte wollten mir kaum aus dem trockenen Mund kommen. All dieses Wasser … und mein Mund vollkommen ausgetrocknet.

Sie sass auf der alten Holzbank und schaute aufs Meer mit einem Blick, der mir plötzlich ausdruckslos vorkam. Um sie herum wogten Kinderstimmen und Geschrei. »Kinder sind die Vögel des Paradieses«, pflegte sie zu sagen. Worauf Mutter erwiderte: »Gott bewahre uns vor solchen Vögelchen und solchem Lärm … wird man denn nicht mal im Paradies seine Ruhe haben?« Niemand hatte ihren Tod bemerkt. Sie war gestorben, wie sie es sich gewünscht hatte: entweder am Meer oder im Bett. Immer hatte sie gehofft, dass sie auf niemanden angewiesen sein würde. »Gott, sorge dafür, dass ich niemandem zur Last werde«, hatte sie gebetet. »Herr, nimm mich zu dir, solange ich gesund bin!« Ich rückte näher und umarmte sie. Vielleicht war es auch sie, die mich umarmte. Ich spürte, dass dies unser letzter ungestörter Moment sein würde, bevor der Rettungswagen eintraf. Ich roch die mit Jasmin parfümierte Seife. Es war ihr Lieblingsgeruch, in unzähligen Flakons überall im Haus hatte sie sich mit ihm umgeben. Ich vergoss keine einzige Träne. Vielleicht weil ich noch gar nicht begriffen hatte, was passiert war. Vielleicht weil ich nicht glauben wollte, dass sie tot war. Tot. In diesem Moment hatte das Wort keine Bedeutung ausser dem sonderbaren Gefühl einer überwältigenden Leere. Ich rief Vater an. Er sagte, Mutter sei heimgekommen und halb verrückt vor Sorge. Wir verständigten uns darauf, dass sie mir ins Krankenhaus nachfahren sollten.

Bevor Tata aus dem Haus gegangen war, hatte sie noch ein Bad genommen. Als ginge sie an ihr eigenes Begräbnis.

2

Alaa

»Ich habe allein gelebt«, pflegte sie zu sagen, obwohl ihr Haus fast immer voller Gäste gewesen war. So jedenfalls habe ich es in Erinnerung. Doch was ist die Erinnerung anderes als ein dicker Nebel, der sich mit zunehmendem Alter entweder verflüchtigt oder ausbreitet. Ich habe nie verstanden, weshalb sie von sich selbst so oft in der Vergangenheitsform sprach. Sogar wenn sie lachte – und sie liebte das Lachen wie das Leben –, sprach sie von sich selbst in der Vergangenheitsform. »Ich habe immer gerne gelacht. Himmel, was habe ich gerne gelacht!«

Tata ist tot.

Bei dem Gedanken schaudert mich. Tata ist tot. Ein Glück, dass sie bis zum Schluss auf niemanden angewiesen war. Trotzdem ist sie tot.

Sie ist tot.

Und hat ein Bad genommen, bevor sie aus dem Haus ging!

Als machte sie sich auf den Weg zur eigenen Beerdigung.

Auf die Bank am Meer hat sie sich gesetzt. In einem hellvioletten Plisseerock, darüber ein schwarzes Oberteil aus Chiffon mit einer Bluse im selben Ton wie der Rock. Ihre kleine schwarzglänzende Tasche hatte sie zu Hause gelassen. Oder hatte man sie ihr geklaut? Wie war sie überhaupt hierhergekommen? Das Haar war mit einem schwarzen, schwach durchscheinenden Tuch bedeckt. Nie hat sie ihr Haar weiss werden lassen, stets war es schwarz gefärbt. Auch mit über siebzig hat sie sich noch die Fingernägel gemacht und darauf geachtet, dass der Lack zur Kleidung passt. »Wir sind aus al-Manschijja, wir sind Leute des Meeres … niemand auf der ganzen Welt liebt das Leben so sehr wie wir«, pflegte sie zu sagen und machte sich über alle lustig, die nicht auf sich achtgaben. Als wüssten nur Städter und Leute aus Jaffa sich ordentlich zu kleiden.

Sie sass oft am Meer. In Jaffa sterben und auf keinen Fall weggehen, so hatte sie es für sich entschieden. Meistens sass sie am arabischen Strand bei Adschami. Den anderen Ort jedoch, wo ich sie aufgefunden habe, liebte sie noch mehr, besonders die leicht erhöhte Holzbank. Weshalb, habe ich nie herausgefunden. Und am Meer ist sie also gestorben. In Jaffa. Jedes Mal, wenn der Name der Stadt fiel, nahm sie einen tiefen Atemzug, als hätte die Stadt sie betrogen und ihr Herz in Flammen gesetzt. Jetzt, da ihr toter Körper aufs Wasser blickte, fühlte ich jäh, wie viele Fragen ich ihr noch hatte stellen wollen. Der Tod und die Zeit sind mir zuvorgekommen.

»Wie oft kann man sich denn wiederholen? Ich schwöre bei Gott, manchmal werde ich meiner selbst überdrüssig«, sagte sie mit einem Lächeln, wenn wir sie baten, eine ihrer alten Geschichten zu erzählen.

Die Sehnsucht nach ihr ist wie eine dornige Rose.

Mir fiel auf, dass sie mit ihrer rechten Hand etwas umklammerte. Als ich ihre Faust öffnete, sah ich das Perlencollier. Einige Perlen hatten sich vor langer Zeit gelöst, doch sie hatte sie nie wieder aufziehen lassen. Von Zeit zu Zeit nahm sie das in Baumwolle eingewickelte Collier aus einer alten Holztruhe und betrachtete es. Einmal hatte ich Mutter danach gefragt. Sie wisse nichts darüber und könne nicht einmal sagen, ob die Perlen echt seien, hatte sie zur Antwort gegeben. Ich weiss nicht, woher mein Gefühl kommt, dass Mutter mir nicht die ganze Wahrheit sagte.

Wie ein schwerer Edelstein zierte ein Muttermal ihre rechte Wange. Als ich klein war, streckte ich meinen Arm aus, um es zu berühren und zu küssen. Mutter hat ein ähnliches Mal, allerdings auf der linken Wange. Noch immer lag ein leichtes Lächeln auf Tatas Gesicht und entblösste einige ihrer Zähne. »Ich trage kein Gebiss«, sagte Tata immer. »Keiner glaubt mir, wenn ich sage, dass ich kein Gebiss trage, obwohl ich längst achtzig bin. Meine Füsse sind müde und schmerzen wegen der vielen Arbeit an der Nähmaschine. Die Zähne jedoch – wie Perlen! Und kein Gebiss!«

Weshalb hat Tata entschieden, allein am Meer zu sterben? Hat sie sich immer allein gefühlt, auch wenn sie mit uns zusammen war? Es gibt etwas, was alle Überlebenden für immer einsam macht.

»Ich laufe durch die Stadt, aber die Stadt erkennt mich nicht«, sagte sie einmal mit trauriger Stimme zu mir.

»Wie willst du denn, dass die Stadt dich erkennt, Tata?«, fragte ich. »Du bist doch nicht Alexander der Grosse. Städte sind etwas Lebloses, weisst du, sie sind nicht wie Menschen.«

»Halt mal, was soll das? Wer behauptet, dass Städte ihre eigenen Leute nicht erkennen?«, empörte sie sich. »Ihr versteht heute aber auch gar nichts mehr … Eine Stadt stirbt, wenn sie ihre eigenen Bewohner nicht wiedererkennt … Das Meer, das Meer ist die einzige Sache, die sich nicht verändert. Aber mal ehrlich, das Meer – was bringt das? So viel Flüssigkeit ohne jeden Sinn oder Geschmack …«

Sie lachte laut auf, nachdem sie das Meer als geschmacklos bezeichnet hatte. Die Beleidigung nahm sie jedoch rasch zurück, als wäre das Meer die letzte Sache, die loyal bleiben und sie nicht im Stich lassen würde.

Stets beklagte sie sich, die Strassen seien leer. Voller Menschen und doch leer. »All die Leute hier haben ihre Heimat verlassen und sind zu uns gekommen. Wozu? Sie verstopfen alles und haben keinen Funken Respekt. Ich hasse es, am Morgen durch eine volle Strasse zu gehen, wo ich kein einziges Gesicht kenne. Kaum einer von uns ist übrig, kaum jemand, den ich noch grüssen kann … Komm, gehen wir zur Apotheke und wünschen Abu Jûssuf einen guten Morgen.«

Ich ging mit ihr oft zur al-Kamâl-Apotheke. Sobald wir sie betreten hatten, begann sie sich bei Abu Jûssuf über ihre Knie zu beschweren. Ich sagte ihr, dass Abu Jûssuf kein Arzt sei, er jedoch meinte, ich solle sie ausreden lassen. Bei Alteingesessenen wurde sie wieder zum jungen Mädchen. Endlos redeten sie über »dieses Jahr« oder »jenes Jahr« und was damals alles geschehen war. Was hatte ich mich als Jugendlicher über diese Apotheke und ihre grüne Täfelung lustig gemacht. Und heute liebe ich sie, Rezepte löse ich nur dort ein. Ich sehe Tata vor mir, wie sie in der Apotheke steht oder wie sie sich setzt und sich mit Abu Jûssuf unterhält. Und immer über die alten Jaffaner. Über diesen oder jenen, lauter Namen, bis sich mir als Kind alles drehte.

»Wir müssen los, hat er gesagt, und zwar sofort. Er hat alles organisiert. Los, nach Beirut, bevor sie uns alle umbringen! Sobald die Lage sich beruhigt hat, kommen wir zurück. Ich sagte ihm, dass ich nirgendwohin gehe, dass ich im sechsten Monat schwanger bin. Fortgehen? Und was, wenn unterwegs etwas passiert, was sollen wir dann tun? Und überhaupt, wie soll das gehen, Jaffa verlassen, wie bitte? Was zum Teufel soll ich in Beirut? Dort gibt’s ja überhaupt nichts. Sowieso mag ich’s nicht. Da lebt man in Jaffa, und dann soll man ernsthaft darüber nachdenken, nach Beirut zu gehen? Ich habe die Stadt nie gemocht. Keine Ahnung, was die Leute an Beirut finden, ich finde gar nichts daran.«

Immer, wenn wir auf Sidu zu sprechen kamen, änderte Tata die Details nach Lust und Laune. Manchmal war Beirut zwar schön, aber einfach nicht ihre Stadt, weshalb sie auf keinen Fall dorthin wollte. Ein andermal war Beirut die Hölle selbst, banal und uninteressant. Punkt.

»Weshalb hattest du keine Angst?«, fragte ich Tata.

»Wer sagt, dass ich keine Angst hatte?«, antwortete sie. »Eine Woche bevor sich dein Sidu und meine Familie aus dem Staub gemacht haben, war ich mir noch sicher, dass ich eine Fehlgeburt haben würde. Überall Kugeln und Lärm. Du weisst genau, wie sie auf jeden geschossen haben, der einen Fuss vor die Tür gesetzt hat. Wir waren wie Mäuse, unsere Leben hatten keinen Wert. Wie sonst willst du eine ganze Stadt entvölkern? Kaum einer ist geblieben. Weisst du, weshalb mein Bruder Rubîn, meine Schwester Sumajja und alle meine Onkel weg sind? Wer geht denn schon einfach so? Genug jetzt, Enkel, quäl mich nicht länger!«

Ich wartete zwei Tage, dann fragte ich sie nach dem Haus ihrer Familie und wo es gestanden hatte. In al-Manschijja, antwortete sie und erzählte, wie das Haus ihrer Familie bombardiert worden und über all seinen Bewohnern zusammengebrochen war. Nur sie und die Ihren hatten Glück gehabt. Da sie plötzlich starke Unterleibsschmerzen gehabt hatte, hatte die ganze Familie an jenem Abend bei ihr übernachtet. Als sie am nächsten Morgen heimgingen, fanden sie kein Haus und keine Nachbarn mehr. Alle lagen sie unter den Trümmern begraben. Das Haus war gestorben und mit ihm seine Bewohner. Ihre Familie überlebte aus reinem Zufall. Mein Grossvater und ihre Familie beschlossen, nach Beirut zu gehen und abzuwarten, bis die Dinge sich beruhigten. Sie aber weigerte sich. Ihr Mann ging und war sich sicher, dass Tata bald nachkommen würde. Ihre Mutter und ihre Geschwister gingen mit ihm. Nur ihr Vater blieb, er hoffte wohl ebenso, bald zu den anderen zu stossen, oder aber dass der Rest der Familie demnächst zurückkehrte. Doch die anderen konnten nicht mehr zurückkehren, und Tata wollte nicht weg. Den Dickschädel hatte sie vom Vater geerbt. Grossvater wartete in Beirut zehn Jahre lang auf Tata, sie aber blieb dabei: »An mir liegt’s nicht, ich bin nie weg von zu Hause. Er ist derjenige, der gegangen ist.«

Deshalb ist Mutter ohne Vater aufgewachsen, sie hat ihn nie kennengelernt. Sidu heiratete eine andere Frau, nachdem er sich von Grossmutter hatte scheiden lassen. Nach Dutzenden von Briefen schrieb er einen letzten, der Tata über das Rote Kreuz erreichte. Darin teilte er ihr mit, dass er noch bis zum Ende des Jahres warten werde. Wenn sie bis dahin nicht nachkomme, würde er die Scheidung einreichen, damit sie wieder eine freie Frau sei. Und so kam es, auf dem Papier jedenfalls. Einmal fragte ich sie, ob die Perlenkette ein Geschenk von ihm sei. Sie lachte und blieb mir eine Antwort schuldig. Als ich sie fragte, wann die Kette gerissen war, gab sie mir eine Antwort, wenn auch keine konkrete. »Menschen wurden vertrieben, das Land blieb zurück, ganze Seelen wurden zerrissen, und du fragst mich nach einer Perlenkette? Ich bin erschöpft … quäl mich nicht, für heute Abend ist’s genug.«

Hätte ich doch viel mehr Fragen gestellt. Hätte ich doch nur mehr Zeit mit ihr verbracht!

*

Alaa legte den Stift auf das Holztischchen, dessen kurze Beine tief in den Sandstrand eingesunken waren. Der Rücken schmerzte ihn, und so lehnte er sich auf dem orangenen Stuhl weiter zurück. Er blickte ins Blau des Meeres. Links sah er die Lichter der Mar-Butrus-Kirche und der al-Bahr-Moschee. Noch einmal las er durch, was er geschrieben hatte. Seine chaotische Handschrift erinnerte ihn daran, was Grossmutter zu sagen pflegte, wenn sie ihn schreiben sah: »Dein Gekritzel schaut aus wie Hühnermist … was machst du nur, mein Schatz? Du hättest mal die Schrift meines Vaters sehen sollen, ein richtiger Kalligraph!«

Alaa hatte gerade damit begonnen, seine Erinnerungen in das rote Heft zu notieren. Im Schreibwarengeschäft an der Allenbystrasse war ihm die Farbe ins Auge gestochen. Er hatte das Heft gekauft und auf dem Weg zum Café Tsfoni in der Weissen Stadt beschlossen, seine Erinnerungen zu Papier zu bringen.

Erschöpft schloss er seine grossen blauen Augen. Einen Moment lang wollte er dem Meer lauschen, sonst nichts, doch der Lärm der anderen Gäste und das Reggae-Geplärre aus den riesigen Lautsprechern am Strand übertönten alles. Vergeblich versuchte er, dem Rhythmus der Wellen zu lauschen.

3

Alaa

Ich kehre zu dir zurück, nachdem ich vor zwei Wochen erstmals etwas ins rote Heft notiert habe. Weshalb ich dich heute direkt anspreche, weiss ich nicht. Es ist, als wärst du bei mir oder als würdest du lesen, was ich niederschreibe. Dabei weiss ich nicht einmal, ob es ein Leben nach dem Tod gibt. Ich weiss auch nicht, wohin unsere Seelen gehen, nachdem sie den Leib verlassen haben. Gut möglich, dass du wütend wirst, weil ich solche Sachen sage. Aber eher lachst du. Ja, das passt zu dir! Erst Gott um Verzeihung bitten und dann laut loslachen mit den Worten: »Alles wird gut.« Weisst du noch, wie mich dieser Ausdruck in Rage versetzt hat? Wie kann jemand mit deinen Erfahrungen so etwas sagen? »Wenn es am Anfang nicht gut ist«, fragte ich dich, »wie soll es dann später plötzlich gut werden?« Du hast gelacht und gemeint: »Schluss jetzt, mein Lieber. Such dir etwas anderes, worüber du dich aufregen kannst, und geh mir nicht länger auf die Nerven … Ist das alles, was ihr an der Universität lernt? Bring’s endlich hinter dich, und such dir eine Frau, bei Gott.«

Schon wieder sitze ich im Café Tsfoni. Weshalb ich so gern hierherkomme, weiss ich nicht. Vielleicht weil es direkt am Strand liegt? Ich streife mir die Schuhe ab und vergrabe die Füsse im Sand. Vor mir nur das Meer. Jaffa ist zu meiner Linken, das Meer liegt vor mir, Tel Aviv habe ich hinter mir gelassen. Ich sehe es nicht mehr, und es sieht mich nicht. Die Gebäude und der Lärm sind weg. Das Meer übertönt die Stadt. Ich weiss, dass Tel Aviv hinter mir liegt, aber in diesen Momenten kümmere ich mich nicht mehr darum.

Obwohl wir nicht viel Zeit miteinander verbracht haben, fühle ich deine Präsenz überall in diesem Land. Aber was heisst das schon – viel? Immer wollte ich dich einmal zu diesem Plätzchen bringen. Hast du es auch gekannt, in einer fernen Vergangenheit, bevor Grossvater weggegangen ist? Der Grossvater, den ich nie kennengelernt habe. Vielleicht seid ihr beide einst hier spazieren gegangen? Dein Haus in al-Manschijja ist ja nicht weit weg.

Ich bin wütend auf dich! Die Erinnerungen, die du mir mitgegeben hast, sind löchrig. Bin ich es, der sich nicht mehr genau erinnert, oder konnte mein Verstand nicht alles erfassen? Als ich deinen Geschichten zu lauschen begann, war ich klein. Als ich später zu deinen Geschichten zurückkehrte, entdeckte ich die Löcher. Ich fragte dich aus, und du fingst an, die Sachen durcheinanderzubringen. Vielleicht aber war auch ich es, der mit den Fragen alles durcheinanderbrachte. Gut möglich, dass es nur natürlich ist, dieses Durcheinander. Als Kind etwa war ich davon überzeugt, dass es eine zweite Stadt gibt, genau über der Stadt, in der wir lebten. Die eine wurde getragen von der anderen. Ich war davon überzeugt, dass die Stadt, von der du sprachst und die genau denselben Namen trug, keinerlei Beziehungen zu der Stadt unterhielt, die mich umgab. Sie glich ihr bloss auf eine verrückte Art und Weise. Ihre Namen, die vielen Gerüche, das al-Hamra-Kino, das Apollo, die Hochzeiten, das Nabî-Rubîn-Fest, die Iskander-Awad-Strasse, die al-Nusha-Strasse, al-Hilwa-Strasse, die Nahr-al-Dscharîscha-Plantage, der al-Saa-Platz … Woher kamen all diese Namen? Wir gingen Strassen entlang, und du nanntest Namen, die auf keinem Schild zu finden waren. Ich war gezwungen, mit deinen Augen sehen zu lernen. Und all die Leute, ach, diese Leute! Leute, deren gesamte Probleme ich kenne, ihre Witze. Von denen ich weiss, wie sie aus Jaffa vertrieben wurden. Ganze Leben voller interessanter wie belangloser Details. Und all das, ohne auch nur einen einzigen dieser Menschen jemals gesehen zu haben. Wahrscheinlich werde ich das auch nie. Dein Jaffa gleicht meinem. Und doch ist das eine nicht wie das andere. Zwei verschiedene Städte, die sich einander anverwandeln. Deine Namen haben sich in meine Stadt eingeschrieben, so dass ich selbst zu einer Art Rückkehrer aus der Geschichte wurde. Müde wandert der Rückkehrer durch sein eigenes Leben wie ein Geist. Ja, als Geist lebe ich in deiner Stadt. Und auch du bist ein Geist, der in meiner Stadt lebt. Und beide Städte nennen wir Jaffa.

Ich kenne niemanden wie dich. Wenn Menschen von einem Schicksalsschlag ereilt werden, dann sprechen sie nicht darüber. Stossen sie Jahre später das Tor zur Erinnerung auf, dann höchstens einen Spaltbreit. Du hast das Gegenteil gemacht. Als ich dich ein letztes Mal danach fragte, wie ihr aus al-Manschijja vertrieben worden und nach Adschami gekommen wart und wie es gewesen war, mit der ungarischen Familie zusammenzuwohnen, die man zu euch ins Haus gesteckt hat, da meintest du: »Mein Mund ist ganz schlaff, verschon mich. Wir hatten Glück, die ungarische Familie ist nicht lange geblieben … Schluss jetzt, Enkel, was soll die ganze Fragerei? Mit dir werden sogar die Worte vom Reden müde!«

Du erzähltest immer, wie du morgens spazieren gingst und weder die Stadt noch die Strassen wiedererkennen konntest. Als wären die Strassen mitsamt der Vertriebenen vertrieben worden. Damals habe ich versucht, mir die Szene in meinem kindlichen Geist genau vorzustellen. »Als hätte die Dunkelheit alles und alle verschlungen«, sagtest du. »Als hätte das Meer sie alle zu Geiseln genommen.« So hast du mir jene Tage beschrieben und den Umstand, dass Leute ins Land hinter dem Meer flüchteten. Was du nicht erwähntest: dass die Einwohnerzahl von Jaffa über Nacht von gut hunderttausend auf knapp viertausend einbrach. Du hast mir von einer Stadt erzählt, die du nicht wiedererkanntest. Von den Zahlen sagtest du nichts. War es ein wenig so, wie eine Waise zu werden? Mein Verstand ist nicht in der Lage, diese Zahlen zu erfassen. Oder zu verstehen, was es bedeutet, wenn eine Stadt fast ihrer kompletten Bevölkerung beraubt wird. Wie könnte ich auch? Ich, der ich in Jaffa geboren und aufgewachsen bin, nachdem man es aus sich selbst vertrieben hatte.

Gierig hast du Orangen verschlungen. Immer dachte ich, dass du sie magst, und ich war überrascht, als du meintest, dass du sie nicht ausstehen kannst und erst isst, seit ihr aus al-Manschijja nach Adschami vertrieben worden seid. Adschami, das sie mit Stacheldraht umzäunt und zur geschlossenen Militärzone erklärt hatten. Es war mir unerklärlich, dass du Orangen isst. Weshalb isst man etwas, was man nicht ausstehen kann? War es eine Art Racheakt an den Geflohenen, die sich auf der anderen Seite des Meeres nach Jaffas Orangen sehnten? Von den Zypressen am Strassenrand hast du gesagt, dass sie seit »jenem Jahr« zwar gross, aber gänzlich bedeutungslos geworden seien. »Da stehen sie und tun nichts, ausser den Himmel zu fegen!«, pflegtest du zu sagen und lachtest, als ob dir vollkommen klar wäre, wie paradox das klingen musste. Dennoch hast du darauf beharrt: Die Bäume sind gross und bedeutungslos geworden! Du erzähltest, wie du schon als Kind Orangen nicht ausstehen konntest, wie du zwar ihre Blüten und ihren Geruch mochtest, den Geschmack aber nicht. »Nachdem die Leute weg waren«, sagtest du, »bekam alles einen anderen Sinn oder wurde überhaupt sinnlos … Und plötzlich liebte ich es, anderen beim Orangenessen zuzuschauen. Den Geschmack konnte ich auch jetzt nicht ausstehen … wirklich, ich ass sie, und gleichzeitig hasste ich sie … Uff, genug, mein Enkel, diese Sachen ermüden mich. Lass uns über etwas anderes reden. Ei, ei, du stellst ganz schön viele Fragen, mein Lieber.«

Du hast erzählt, wie du mit deinem Vater durch die Strassen spaziert bist. Wie du laut gelacht hast. Dabei wart ihr schon mehr als zehn Jahre von Stacheldraht umschlossen. Kein Hinauskommen aus Adschami ohne offizielle Erlaubnis. Sogar der Name Jaffa wurde beschlagnahmt, als man die Stadt administrativ Tel Aviv einverleibte. Ist das der Grund, weshalb ich Tel Aviv nicht mag? Weshalb es mir jedes Mal das Herz zusammenzieht? Habe ich das von dir geerbt? Was nur habe ich hier noch zu suchen? »Weshalb solltest du nicht hier wohnen?«, sagtest du. »Es ist genauso Palästina … diese Plätze und Ortschaften, das alles ist Jaffa, und es wird für immer unser sein.« Dann verstummtest du, als wäre jedes weitere Wort schmerzlich.

Schierer Wahnsinn, sagtest du, wie du mit deinem Vater einfach so hinausgegangen bist. Ihr seid umhergelaufen, und du hast wildfremde Menschen gegrüsst, nur um ihn im Glauben zu lassen, dass es stimmte, was er sagte – dass tatsächlich alle nach Jaffa zurückgekehrt seien. Du hast mir erzählt, wie sein Geist sich mehr und mehr verwirrte. Wie er die Menschen von früher tatsächlich vor sich sah. Zehn Jahre waren vergangen, und er hatte sich noch immer nicht an das neue Jaffa gewöhnt … Aber kann der Mensch sich an sein Unglück, kann er sich wirklich an die Nakba gewöhnen? Sie kamen und tauschten die Namen der Strassen gegen Nummern! Als wäre es ein Gefängnis. Und ein Gefängnis ist es. Namen gegen Nummern, um alle ständig daran zu erinnern, dass sie in einem Gefängnis namens Jaffa lebten. Als ob jemand diese Erinnerung nötig gehabt hätte. Du hast mir erzählt, wie dein Vater den Bus der Linie 6 pünktlich kommen sah. Wie er glaubte, seinen alten Partner Ziko in ihrem Einrichtungshaus Mobilia zu treffen, wo er von ihm die Schlüssel zum Lager erhielt. Mobilia. Du hast dieses Wort geliebt und kaum je »Möbel« gesagt. Wenn ich nicht das Foto gesehen hätte, das deinen Vater mit Ziko zeigt, würde ich nicht glauben, dass es diesen Ziko wirklich gab, sondern denken, dass er eure Erfindung ist. Ziko, was ist das überhaupt für ein Name? Ist es ein Spitzname? Ich habe dich danach gefragt. Du wusstest es nicht. Ziko war der Partner deines Vaters, gemeinsam unterhielten sie mehrere Möbelgeschäfte in Jaffa. »Sie sind gekommen und haben Land und Leute konfisziert. Was denkst du, glaubst du wirklich, dass sie ein Möbelgeschäft in Frieden gelassen hätten? Was fragst du mich, mein Lieber, was die Juden mit Mobilia gemacht haben? … Wie oft habe ich jetzt schon gesagt, dass du mich mit diesen Fragen in Ruhe lassen sollst … Vater wurde von diesem Moment an immer verwirrter und starb bald darauf an seinem Kummer. Was nützt es, darüber zu reden, was fragst du immer wieder die gleichen Sachen? Hör auf, Liebling, bei Gott, Schluss jetzt …« Damit nahmst du dein schmerzerfülltes Schweigen wieder auf und liessest es wuchern.

Als dein Vater an einem kühlen Morgen an deine Tür klopfte und erklärte, Ziko habe ihn in der Nacht besucht und ihm mitgeteilt, dass man die Möbel aus dem Lager holen und die Geschäfte wieder eröffnen könne, da wusstest du, dass sein Verstand sich verwirrt hatte. Du hast dazu geschwiegen. Wenn er dich angeschrien und darauf bestanden hat, endlich nach Hause zu gehen, dann hast du nicht mit ihm gestritten. Und wenn du ihm gesagt hast, er sei zu Hause, dann hat er dich eine Lügnerin genannt. Anfangs hast du nicht begriffen, wovon er spricht. Dann wurde dir mit einem Mal klar, dass er den Verstand verliert. Und schlagartig wurde dir auch bewusst, dass er bald sterben würde. An seinem letzten Morgen nahmst du ihn bei der Hand und gingst mit ihm spazieren. »Wir liefen, und es fühlte sich an wie der Gang zum Schafott. Die Israelis hätten uns jederzeit töten können. Man durfte damals nicht einfach so auf die Strasse. Überall war Stacheldraht … Wir lebten in einem Gefängnis, er aber wollte um jeden Preis weg aus Adschami. Gott hat uns gerettet, ich weiss nicht, wie, aber er hat uns gerettet … Den ganzen Spaziergang über habe ich den Thronvers rezitiert … Ich hatte solche Angst.«