Das Buch von Ascalon - Michael Peinkofer - E-Book
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Das Buch von Ascalon E-Book

Michael Peinkofer

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Beschreibung

1096: Die Welt des jungen Diebes Conn gerät aus den Fugen, als seine Geliebte Nia brutal ermordet wird. Kaum begibt er sich auf die Spur des Mörders, wird er zum Mitwisser einer tödlichen Verschwörung gegen den englischen Thron und damit selbst zum Gejagten. Auf der Flucht schließt Conn sich dem Kreuzfahrerheer an, das gen Jerusalem zieht. Dort begegnet er dem jüdischen Kaufmann Isaac und seiner Tochter Chaya. Sie hüten eine alte Schrift von unermesslichem Wert: Das Buch von Ascalon. Hinter diesem ist auch Nias Mörder her ...

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Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Handelnde Personen

Prolog

Buch 1

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

Buch 2

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

22.

23.

24.

25.

26.

27.

Buch 3

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

22.

23.

24.

25.

26.

27.

28.

29.

30.

31.

32.

Epilog

Nachwort des Autors

MICHAEL PEINKOFER

DAS BUCH VON ASCALON

Historischer Roman

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Originalausgabe

Copyright © 2011 by Michael Peinkofer und Bastei Lübbe AG, Köln

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Autoren- und Verlagsagentur Peter Molden, Köln

Lektorat: Judith Mandt und Stefan Bauer

Kartenzeichnung: Helmut W. Pesch

Illustrationen: Daniel Ernle

Umschlaggestaltung: Kirstin Osenau

Umschlagmotiv: © Shutterstock/Yampi, © bpk/SBB Carola Seifert

E-Book-Produktion: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN 978-3-8387-1015-0

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Für meine Eltern, die besten,

die ich mir wünschen konnte.

HANDELNDE PERSONEN

(in alphabetischer Reihenfolge)

Adhémar von MonteilBischof und päpstlicher Legat

Akiba Bar AkibaRabbiner der Kölner Gemeinde

Bahram al-Armeniarmenischer Offizier

Baldricnormannischer Ritter

Berengarein Benediktinermönch

Bernier de Castreprovenzalischer Ritter

Bertrandnormannischer Vasall

Bohemund von Tarentnormannischer Heerführer

Bovolothringischer Soldat

Brian de Villefortprovenzalischer Ritter

CalebSohn Ezra Ben Salomons

Chayaeine junge Jüdin

Conwulf, genannt Connein junger Angelsachse

Daniel Bar LeviParnes von Köln

Dov Ben AmosTuchhändler, Parnes von Acre

Duqaq, Abu Nasr al-MulukEmir von Damaskus

Eleanor de ReinGattin des Barons de Rein

Eustace de Privasein Edler aus der Provence

Ezra Ben SalomonKaufmann in Antiochia, Bruder von Isaac Ben Salomon

Godefroy de Bouillonlothringischer Heerführer

Guillaume de ReinSohn des Barons de Rein

Hassan al-KubhKommandant der Garnison von Acre

Hernautlothringischer Bogenschütze

Hugh le Chasseurlothringischer Ritter

Hugo von MonteilBruder Adhémars

Jakob LachischGabbai der Kölner Gemeinde

Jamal Ibn KhallikGelehrter und Sterndeuter

Isaac Ben Salomonjüdischer Kaufmann

Kalonymos Ben MeschullamOberrabbiner von Mainz

Kur-BaghaAtabeg von Mossul

Lethold de Tournayelothringischer Ritter

Mordechai Ben NeriKaufmann aus Köln

Niawalisische Sklavin

Ranulf FlambardBerater von William II.

Remynormannischer Vasall

Renald de Reinnormannischer Baron

Robert, Herzog der NormandieBruder von William II.

Stephen de Bloissein Schwager

William II. RufusKönig von England

Yaghi SiyanEmir von Antiochia

PROLOG

Der Schein einer Kerze, die fast herabgebrannt war, spendete nur spärliche Helligkeit. Längst reichte seine Kraft nicht mehr aus, um die ganze Kammer zu beleuchten. Das Zeichen jedoch schien das noch vorhandene Licht auf sich zu ziehen wie süßer Nektar, der die Bienen lockte. Zwei Dreiecke von vollendeter Gleichmäßigkeit und Form. Das eine einer Pyramide gleich, das andere auf dem Kopf stehend, beide ineinander verschlungen, verbunden im Licht der Ewigkeit.

»Nun, da mein Ende naht«, sagte die Stimme, die kraftlos geworden war und ihre einstige Autorität und Stärke nur mehr erahnen ließ, »begreife ich, was einst Abraham fühlen musste, als der Herr ihm auftrug, sein Liebstes zu geben. Denket nicht, dass ich nicht um die Bürde wüsste. In den Jahren, die kommen, werdet ihr oft an sie denken. Ihr werdet euch an diesen Augenblick erinnern und an die Pflicht, die ihr übernommen habt, und ihr werdet euch fragen, wann der Tag kommen wird, da der Herr sein Recht von euch fordert. Ihr werdet euer Leben leben, so wie ich das meine gelebt habe, werdet Familien gründen und Kinder haben. Über den Geschäften und Sorgen des Alltags werdet ihr bisweilen vergessen, was einst gewesen ist, und womöglich, wenn es dem Herrn gefällt, wird euer Leben zu Ende gehen, so wie das meine nun zu Ende geht, ohne dass er diese große Pflicht von euch gefordert hat. Vielleicht aber«, fügte die Stimme hinzu, schwach und kaum noch vernehmbar, »werden einst auch Zeiten kommen, die alles verändern, und auf diese Zeiten müsst ihr vorbereitet sein. Dies sollt ihr nie vergessen. Adonai segne und behüte euch, meine Nachkommen und Erben. Er lasse sein Angesicht über euch leuchten und sei euch gnädig. Er wende sein Angesicht euch zu und gebe euch…«

Der Segenswunsch erstarb auf den dünnen, blutleer gewordenen Lippen. Im selben Augenblick erlosch die Kerze, und die Kammer fiel in Dunkelheit.

East Sussex, EnglandIm Jahr der Eroberung, Oktober 1066

Der junge Ritter hatte aufgehört zu zählen. Das wievielte Dorf war es, dessen strohgedeckte Hütten in Flammen standen und dessen Bewohner in heller Panik umherrannten, schreiend und heulend, bis die Klingen oder die Pfeile der Angreifer ihrem Leben ein grausames Ende setzten? Er konnte es nicht sagen. Es war auch nicht seine Aufgabe, darüber nachzudenken oder gar den Befehl des Herzogs anzuzweifeln. Doch war ihm klar, dass sich alles, was seine Augen in diesen Tagen und Nächten erblickten, unauslöschlich in sein Gedächtnis einbrennen würde.

Er sah das Schwein, das quiekend über den Dorfplatz rannte und dabei lichterloh brannte; den Greis, der mit zitternden Händen versuchte, die blutigen Eingeweide, die aus seinem aufgeschlitzten Leib quollen, wieder zurückzustopfen; die blonde Frau, die wie von Sinnen schrie, während ein normannischer Kämpfer sie an den Haaren über den Boden schleifte; den Jüngling, der kaum den Kinderschuhen entwachsen war und sich dennoch mit einer Mistforke wider­setzte, ehe ein Schwerthieb ihm den Kopf halb von den Schultern schlug.

Tod und Sterben war überall. Der herbstfeuchte Boden war getränkt von Blut, die kalte Luft erfüllt vom Brausen der Feuer und dem Geschrei derer, die dahingeschlachtet wurden. Bei Sonnenaufgang würden nur noch schwelende Trümmer und verwesende Leichen an das Dorf erinnern, dessen Namen der Ritter noch nicht einmal kannte.

Das Schwert umklammernd, an dessen Schneide das Blut Unschuldiger klebte und das wie Blei in seinen Händen wog, stand er am östlichen Ende des Dorfes, wo es einen schmalen Flusslauf und eine Mühle gab. Ihr Strohdach brannte ebenfalls. Der Müller, dessen Frau und Kinder lagen erschlagen in ihrem Blut. Das Lodern der Flammen warf lange Schatten, die die Angreifer auf ihren schnaubenden Pferden wie Reiter der Apokalypse erschienen ließen, die Tod und Untergang brachten.

Tränen stiegen ihm in die Augen, und dies lag nicht nur am beißenden Rauch, der von den Häusern herüberzog. Trauer überkam den Ritter, als er das Elend der Dorfbewohner sah, über die so unvermittelt das Verderben hereingebrochen war. Trotz der Tränenschleier, die seinen Blick trübten, bemerkte er plötzlich, dass jemand auf ihn zurannte.

Es war ein junger Mann, ein iuvenis wie er selbst, allerdings war sein Haar blond und schulterlang, und er trug die wollene Kleidung eines Bauern. Er war verletzt, blutete aus einer Wunde an der Schläfe, und ein Pfeil, den ein normannischer Bogenschütze auf ihn abgeschossen haben mochte, hatte seinen linken Unterarm durchbohrt.

Hals über Kopf hielt er auf den Fluss zu, den er wohl überqueren wollte, um zu entkommen. Der Ritter tat, was ihm aufgetragen worden war, und stellte sich ihm in den Weg.

Der Jüngling erschrak, aber es war zu spät, um die Laufrichtung zu ändern. Flussaufwärts versperrte die brennende Mühle den Weg, flussabwärts ein hölzerner Zaun, den er in seinem Zustand nicht ohne Weiteres überwinden konnte. Also rannte er weiter, auf den Ritter zu, der Schwert und Schild hob und ihm entgegentrat.

Der Zusammenprall war ebenso kurz wie heftig.

Mit fürchterlichem Gebrüll stürzte der Jüngling sich auf ihn, schien ihn einfach über den Haufen rennen zu wollen. Doch der Ritter hielt dem Ansturm stand und wehrte den Angreifer mit dem Schild ab. Der junge Angelsachse prallte zurück, wankte kurz und ging dann nieder. Sofort war der Ritter über ihm, das Schwert zum Stoß erhoben, um ihn dem Befehl seines Herrn gemäß zu töten – aber er zögerte.

Denn in diesem Moment schaute der Jüngling zu ihm auf, und beider Blicke begegneten sich. Verzweiflung und Todesangst sprachen aus den Augen des Bauern, der wehrlos im Morast lag und aus dessen Pfeil- und Kopfwunde das Blut floss.

Das Schwert verharrte in der Luft, und für einen Moment kam es dem Normannen so vor, als würden die Schreie und das Tosen der Feuer um ihn herum verstummen. In der Stille, die plötzlich eintrat, konnte er den Angelsachsen etwas sagen hören. Der Ritter verstand die Worte nicht, aber sie klangen hilflos und flehend. Noch einen Augenblick lang zögerte er, dann besann er sich seines Eides – und seiner Pflicht.

Northumbria, EnglandSeptember 1080

»Verdammt.«

Osbert de Rein verzog missbilligend das Gesicht.

Er hatte sorgfältig gezielt und den Pfeil genau ins Ziel gelenkt – und nun sah es doch so aus, als müsste er auf die Beute verzichten.

Er stand am Rand der schroffen Steilwand, die an die zehn Mannslängen tief sein mochte und von Farn und Moos überwuchert war, und blickte hinab, den Bogen noch in der Linken und innerlich bebend vom Jagdeifer, der ihn ergriffen hatte.

Auf dem Grund der Schlucht, unweit des schmalen Wasserlaufs, der sie plätschernd durchfloss, lag der Hirsch. Der Pfeil war beim Aufprall abgebrochen, und der Kopf des Tieres war in grotesker Überstreckung nach hinten gebogen. Ansonsten war der Kadaver jedoch unversehrt – und ganz sicher zu schade, um ihn dort unten verrotten zu lassen. Zumal Osbert Geweih und Fell des Tieres Guillaume versprochen hatte.

Fieberhaft suchten die Augen des Jägers die Felswand ab. Es gab nur eine Reihe schmaler Vorsprünge, die ihm als Tritte dienen konnten. Da es geregnet hatte, war das Gestein glitschig, ebenso wie das Moos, das es an vielen Stellen bedeckte. Er würde sich also vorsehen müssen – oder der arme Guillaume würde an diesem regnerischen Oktobertag mehr als nur eine herbe Enttäuschung erleben.

Ein verwegenes Grinsen zeigte sich in Osbert de Reins glatt rasiertem Gesicht, als er zurück zu seinem Pferd ging und den Strick holte, der am hölzernen Sattelknauf des Tieres hing und den er eigentlich mitgebracht hatte, um seiner Beute die Läufe zusammenzuknoten und sie sicher auf sein Reittier zu packen. Damit musste er sich nun wohl noch gedulden – zunächst einmal galt es, den Hirsch vom Grund der Schlucht zu bergen.

Mit geschultem Blick wählte Osbert einen Baum aus, schlang das eine Ende des Stricks herum und verknotete es. Dann trat er wieder an die Steilwand und ließ sich langsam hinab, indem er den Hanf mit den ledernen Handschuhen umfasste. Dabei kam ihm in den Sinn, wie viel einfacher es gewesen wäre, wenn Guillaume ihn auf der Jagd hätte begleiten dürfen. Den Jungen am Seil hinabzulassen hätte kaum eine Schwierigkeit dargestellt, und Guillaume, der Osberts Begeisterung für die Jagd teilte und darin einiges Geschick besaß, hätte sicher keine Probleme gehabt, die Beute sachgemäß zu verschnüren und sie so zu befestigen, dass Osbert sie mühelos hinaufziehen konnte. Doch sein Bruder hatte anders entschieden, und damit musste Osbert wohl oder übel leben.

Seine Stiefel suchten nach Halt und fanden ihn. Vorsichtig ließ er sich weiter hinab, wobei er das Gewicht seines Körpers gegen die Felswand stemmte.

Plötzlich drangen von oben Geräusche zu Osbert. Pferdeschnauben und das dumpfe Stampfen von Hufen waren deutlich gegen das Plätschern aus der Tiefe auszumachen.

»Wer …?«, rief Osbert hinauf, als über der Steilwandkante ein vertrautes Gesicht erschien.

»Du?«, fragte er verwundert.

Eine Antwort erhielt er nicht, dafür weiteten sich seine Augen, als plötzlich eine Hand erschien, die eine blitzende Klinge hielt.

»Was hast du …?«

Osbert de Rein sprach den Satz nie zu Ende. Der Dolch durchtrennte den gespannten Strick mit einem Streich, und mit einem gellenden Schrei stürzte der Jäger in die Tiefe.

Jerusalem15. Juli 1099

Die Zeit schien stillzustehen.

Es war, als hätte der Atem Gottes, der die Stadt über Jahrtausende hinweg am Leben gehalten und vor Widrigkeiten bewahrt hatte, plötzlich innegehalten. Der dumpfe Einschlag der Geschosse, die die Katapulte der Angreifer wieder und wieder gegen die nördlichen Mauern und Türme geworfen hatten, war verstummt. Eigenartige Stille hatte sich über die Stadt gebreitet, eine unheilvolle Ruhe, die vom nahen Untergang zu künden schien.

Schon viele Angreifer hatten die Mauern berannt, deren Grundfesten bis in die Tage König Salomons reichten: die Babylonier, die die Stadt geschleift und ihre Bevölkerung in die Sklaverei verkauft hatten; später die Römer, die sie unterworfen und ihrem Herrschaftsbereich eingegliedert hatten; schließlich die Muselmanen, die wie ein Sturm von Südwesten herangefegt waren und ihren Glauben mit Feuer und Schwert verbreitet hatten. Doch weder sie noch das große Beben, das 66 Jahre zuvor über die Stadt gekommen war und einige Viertel dem Erdboden gleichgemacht hatte, waren mit derartiger Zerstörungswut über Jerusalem hereingebrochen wie die fremden Krieger, die im Zeichen des Kreuzes fochten.

Einen Monat währte der Angriff bereits, der vor allem von Norden vorgetragen wurde, aber auch aus südlicher Richtung, wo das Tor von Zion lange Zeit allen Anfechtungen getrotzt hatte. Dann jedoch waren die fremden Aggressoren dazu übergegangen, Steingeschosse und Brandpfeile gegen die Mauern zu schießen, die die Verteidiger einschüchterten und schwächten. Und seit sie große hölzerne Türme errichtet hatten, die sie im Schutz der Nacht heranführten, damit deren Besatzungen die Mauern überwanden, war es nur noch eine Frage der Zeit, bis Jerusalem unter dem Ansturm des Feindes fallen würde.

Die Luft über den Kuppeln und Dächern der Stadt schien von Angst durchsetzt zu sein, und der Wind, der von Norden heranwehte, trieb den bitteren Odem von Rauch und den Gestank des Todes durch die Gassen, als Vorboten der grässlichen Ereignisse, die über die Stadt hereinbrechen würden. Und schließlich wurde die bleierne Stille von entsetzten Schreien durchbrochen …

»Hört ihr das auch?«

»Der Nordwall muss gefallen sein.«

»Dann möge Gott sich dieser Stadt und ihrer Bewohner erbarmen.«

Vier Gestalten hasteten im ersten Licht des Tages durch die schmalen, wie ausgestorben wirkenden Gassen des jüdischen Viertels. Die steinernen Häuser, die sie dabei passierten, waren allesamt verbarrikadiert worden. Die Bewohner versteckten sich in der Dunkelheit und hofften auf die Gnade der Eroberer.

Vergeblich, wie Conwulf vermutete.

Den Griff seines Schwertes fest umfassend, zwang er sich, an etwas anderes zu denken, während er atemlos weiterrannte. Der Auftrag, den das Schicksal ihm erteilt hatte, musste erfüllt werden, um jeden Preis, denn sein Ausgang mochte über Wohl und Wehe entscheiden, nicht nur von Christen, von Juden oder von Sarazenen, sondern über das aller Kinder Gottes.

Ein jeder der vier Gefährten, die an jenem Morgen im Jahr des Herrn 1099 den Weg zum Tempelberg beschritten, fühlte, dass noch ungleich mehr auf dem Spiel stand als das Schicksal einer einzelnen Stadt. Denn während auf den Zinnen und Wehrgängen der Kampf um Jerusalem die entscheidende Wendung genommen hatte, war ein anderer Konflikt, dessen Ursprung weit in die Vergangenheit reichte, bis an den Anbeginn der Zeit, noch längst nicht entschieden.

1.

Drei Jahre zuvorLondon Mai 1096

Es war kühl an diesem Morgen.

Harscher Wind strich von Osten heran, und die zähen Nebelschwaden, die während der Nacht über dem Fluss gelegen hatten, krochen die Uferbänke herauf und in die Gassen der Stadt.

Die ersten, die sich auf dem Richtplatz einfanden, waren die Krähen. Ihr sicheres Gespür dafür, wann und wo es etwas zu fressen gab, lockte sie zu der Wiese, die sich östlich der Stadt erstreckte, zwischen dem hingeworfenen Gewirr der strohgedeckten Häuser und der steinernen Mauer, die vom Fluss gen Norden verlief und noch aus römischer Zeit stammte. Kreischend ließen sich die Vögel auf dem grob gezimmerten Galgenbaum nieder und warteten. Fünf Silhouetten, die sich unheimlich im Nebel abzeichneten, schwarzen Todesboten gleich – bis ein Stein durch die Luft flog und eine von ihnen traf.

Während die anderen Tiere aufschreckten und davonflatterten, kippte die getroffene Krähe rücklings von ihrem hohen Sitz und stürzte auf die morschen Planken. Vergeblich versuchte sie, ihre Schwingen auszubreiten und ihren Artgenossen zu folgen – der Stein hatte ihr einen Flügel gebrochen. Aufgeregt kreischend rannte sie im Kreis, solange, bis ein weiterer Steinwurf sie traf und vom Podest des Galgens fegte.

Johlendes Gelächter war die Folge. Der Straßenjunge, der den Stein mit einer primitiven Schleuder geworfen hatte, riss triumphierend die Arme empor, und seine Kumpane, die alle ebenso zerlumpt, schmutzig und abgemagert waren wie er selbst, beglückwünschten ihn zu dem Meisterschuss. In neugieriger Erwartung des Ereignisses, das sie an diesem frühen Morgen zu sehen bekommen würden, setzten sie sich in das noch feuchte Gras rings um den Galgenbaum.

Sie blieben nicht lange allein.

Weitere Schaulustige – Bauern, Mägde und Tagelöhner, aber auch Handwerker und Händler – fanden sich auf der Henkersweide ein. Unter den wenigen Zerstreuungen, die das Leben den einfachen Leuten bot, war eine Hinrichtung immer noch die aufregendste. Und wenn es, wie an diesem Tag, auch noch eine belustigende Angelegenheit zu werden versprach, dann war dies umso besser. Je mehr Menschen kamen und je höher die Sonne über den Saum des Waldes stieg, der sich jenseits der Stadtmauer erstreckte, desto begieriger blickte jeder Einzelne zu der großen Burg, die südlich des Richtplatzes aufragte und dem König als Herrschersitz diente, sofern er nicht in Winchester oder an anderen Orten des Reiches weilte.

Schon unter seinem Vater William war der Bau begonnen worden, der die alte Römermauer miteinbezog, nach Norden und Westen jedoch von hölzernen Palisaden umgeben war. Inmitten der Ummauerung war im Lauf der vergangenen Jahre ein gewaltiger Turm aus Stein in die Höhe gewachsen, der im Vergleich zu den gedrungenen Häusern der Stadt so trutzig und einschüchternd wirkte, dass man ihn schlicht nur den »Turm von London« nannte. Mehr als fünfzehn Mannslängen maß er bereits, und er war noch immer nicht fertiggestellt – ein weiteres Monument normannischer Baukunst, von denen es in England inzwischen so viele gab, steingewordener Beleg dafür, dass die Eroberer vom Festland ihre Beute niemals wieder aufzugeben gedachten.

Nur die wenigsten Bürger von London wussten, wie es jenseits der Mauern und Palisaden der Burg aussah. Aber wie es hieß, war der große Turm mit allem nur denkbaren Prunk ausgestattet: einer großen Halle, die den Soldaten und Hausbediensteten als Unterkunft diente, und einer weiteren, darüberliegenden, in der der König Hof hielt und seine Getreuen empfing. Sogar eine eigene Kapelle gab es, in der der Herrscher dem Allmächtigen huldigte und in der sein Kaplan Ranulf von Bayeux zum vergangenen Osterfest eine Heilige Messe abgehalten hatte. Zahlreiche Edle des Landes waren zu diesem Anlass nach London gekommen, wohl nicht nur Gott, sondern vor allem dem König zu Ehren, wie Conn feixend vermutete.

Er verstand nicht viel von solchen Dingen, und sie waren ihm auch einerlei. Der Herr, so seine Erfahrung, half jenen, die sich selbst zu helfen wussten – vorausgesetzt, er hatte überhaupt ein Ohr für die Elenden und Niedrigen, die Armen und Unfreien, die in den Gassen der Stadt ein schäbiges Dasein fristeten. Sie vermochten weder die Bibel zu lesen wie die Mönche der Abtei von Westminster, noch konnten sie Kirchen und Klöster stiften wie die normannischen Edlen, um sich ihr Seelenheil zu erwerben. Alles, was ihnen blieb, war das Hier und Jetzt, und das war hart genug – über die Ewigkeit, das war Conns Überzeugung, konnte er sich auch später noch den Kopf zerbrechen.

Inmitten eines weiteren Pulks von Schaulustigen kam er auf der Henkersweide an. In seiner schäbigen Kleidung mit den wollenen, an zahllosen Stellen ausgebesserten Hosen und der löchrigen, von einem Strick zusammengehaltenen Tunika unterschied er sich in nichts von den übrigen Zaungästen, die die angekündigte Hinrichtung auf den Plan gerufen hatte. Eine Gugel bedeckte sein vom langen Winter noch dunkelblondes Haar, das ihm bis in den Nacken reichte, ein verwilderter Kinnbart verbarg seine Jugend. Das blaue Augenpaar jedoch, das unter der Kapuze hervorlugte, blickte nicht in sensationslüsterner Neugier wie bei den anderen, sondern voller Wachsamkeit.

Inzwischen hatte sich der Richtplatz mit Menschen gefüllt. Conn schätzte, dass es gut dreihundert Zuschauer waren, die sich eingefunden hatten, um Tostigs letzten Gang zu begaffen. Aufgeregt tuschelten sie miteinander, lachten und deuteten nach dem Galgen, an dem der glücklose Dieb in Kürze baumeln würde.

Als sich das Nordtor der Burg öffnete, wurde es schlagartig still auf dem Platz. Das Getuschel und das raue Gelächter verstummten, und zwei bewaffnete Wachen traten hervor, gefolgt von einem Mann, der hoch zu Ross saß. Er trug einen Helm mit Nasenschutz und einen wollenen Umhang, um sich vor der Kälte des Morgens zu schützen. Die silberne Fibel, die das Kleidungsstück hielt, erweckte Conns Aufmerksamkeit, aber mit Blick auf die beiden Wachen und das normannische Langschwert, das griffbereit in der Scheide des Reiters steckte, verwarf er den Gedanken gleich wieder.

Sofort bildete sich in der Menge der Schaulustigen eine Gasse, die den Reiter und seine Männer passieren ließ. Ihnen folgte ein Ochsenkarren, wie er gewöhnlich zum Heutransport benutzt wurde. Darauf kauerte eine verloren wirkende Gestalt, der man ein Eisen um den Hals gelegt hatte.

Tostig.

Tostig der Eierdieb, wie er spöttisch genannt wurde, weil sein Mut nie dazu ausgereicht hatte, sich an etwas anderem zu vergreifen als an ein paar Rüben oder Eiern, um seinen hungrigen Bauch zu füllen. Vor ein paar Tagen jedoch hatte er Äpfel von einem Karren gestohlen, der auf dem Weg zur Burg gewesen war. Und wer seine Hand an das Eigentum des Königs legte, den traf die härteste Strafe.

Obwohl Tostig nur wenige Jahre älter war als Conn, war sein Gebiss faulig und sein Haar bereits schütter. Die Flecken und Schrammen, die seine blasse Haut überzogen, verrieten, dass er im Gefängnis geschlagen worden war, und die dunklen Ränder unter seinen Augen ließen darauf schließen, dass er lange nicht geschlafen hatte.

Inmitten der Schaulustigen sah Conn zu, wie der Karren in Richtung Galgen rumpelte. Die Straßenjungen verspotteten Tostig und trieben derbe Scherze mit ihm, indem sie die Hände an die Hälse legten und ihm mit verdrehten Augen und heraushängenden Zungen vorspielten, was ihn erwartete. Die Menge fand das komisch und lachte laut, worauf Tostig in Tränen ausbrach, was die Leute nur noch mehr erheiterte.

Conn lachte nicht.

Er kannte Tostig nicht gut genug, um echtes Mitleid zu fühlen, dennoch verspürte er Beklemmung. Unwillkürlich fragte er sich, ob die Bürger von London ihm einen ähnlich freundlichen Empfang bereiten würden, wenn es zur Richtstatt ging.

Dem Karren folgten ein Mönch der Abtei Westminster, der den Blick gesenkt hatte und ein Kreuz in den Händen hielt, sowie der Büttel, der das Urteil vollstrecken würde – ein fetter, kurzbeiniger Kerl, dessen Augen so tief lagen, dass sie zwischen der vorspringenden Stirn und den feisten Wangen kaum zu sehen waren. Obwohl der Tag noch jung und es entsprechend kühl war, hatte er bereits Schweiß auf der Stirn, dabei verdiente er seinen Lohn auf denkbar einfache Weise. Und genau um diesen Lohn gedachte Conn ihn zu erleichtern.

Die Wachen und der Reiter hatten unterdessen den Galgenbaum erreicht. Ohne vom Pferd abzusteigen, wies der Behelmte seine Schergen an, den Gefangenen aufs Schafott zu führen, was sich als schwieriger erwies als gedacht. Denn sobald Tostig die Schlinge erblickte, begann er laut zu schreien und zerrte mit aller Kraft an den Fesseln, mit denen ihm die Hände auf den Rücken gebunden waren. Da jemand seine Arbeit offenbar nachlässig gemacht hatte und die Stricke locker waren, gelang es ihm tatsächlich, die Hände freizubekommen. Mit aller Kraft klammerte er sich daraufhin an die Gitterstäbe des Heuwagens, sodass die Wachen – sehr zur Erheiterung der Zuschauer – ihn zunächst nicht zu fassen bekamen und der Büttel sich genötigt sah einzugreifen.

»Willst du wohl loslassen?«, rief er schwer atmend, packte das Eisen, das der Gefangene um den Hals trug, und zog mit aller Kraft daran, um ihn wie einen Hund vom Wagen zu zerren. Doch ungeachtet des rostigen Metalls, das in seinen Hals schnitt, schrie Tostig weiter und hielt sich verzweifelt fest, so als könnte ihn dies vor dem traurigen Ende bewahren, das man ihm zugedacht hatte. Die Menge indes lachte nur noch lauter.

Der Normanne auf dem Pferd brüllte ungeduldig, Tostig solle den Unsinn lassen und sich seiner gerechten Strafe stellen, doch sein Appell verhallte ebenso ungehört wie die beruhigenden Worte, die der Mönch dem Verurteilten zusprach. Daraufhin lenkte der Reiter sein Pferd nach vorn und zückte kurzerhand das Schwert.

Conn senkte den Blick.

Er sah nicht, wie die Klinge des Normannen niederfuhr und Tostigs rechtes Handgelenk durchtrennte, er hörte nur den gellenden Schrei, der über den Richtplatz drang. Ein Raunen ging durch die Menge, die nicht damit gerechnet hatte, an diesem Morgen Blut zu sehen, aber auch nichts dagegen einzuwenden hatte.

Seinen Widerstand hatte Tostig aufgegeben, dafür schrie er wie ein Schwein auf der Schlachtbank, den ganzen Weg vom Wagen bis zum Galgenbaum. Blut schoss aus dem Stumpf an seinem rechten Arm und besudelte die Wachen und den Büttel, der ungerührt seiner Arbeit nachging, den Verurteilten erneut fesselte und ihm anschließend den Strick um den Hals legte. Tostig brüllte weiter, auch dann noch, als der Mönch vortrat, um seine sündige Seele dem höchsten Richter zu empfehlen. Erst als der Henker ihn nach vorn ins Leere stieß, verebbte sein Geschrei und ging in ein grässliches Gurgeln über.

Es dauerte lange, bis Tostig von seinen Qualen erlöst wurde, so sehr klammerte er sich an das Leben. Zappelnd hing er am Strick, während weiterhin Blut aus dem Stumpf triefte. Anfangs wurde hier und dort noch gescherzt und schadenfroh gekichert, dann wendeten die Ersten den Blick ab. Als Tostig der Eierdieb sein irdisches Dasein schließlich beendet hatte, lachte niemand mehr – außer dem Büttel, dem der Mann zu Pferd einen Beutel klingenden Geldes zuwarf.

Der Feiste bedankte sich mit einem Nicken, und während der Reiter und seine Schergen sich abwandten und in die Burg zurückkehrten, blieb er zurück, denn auch das Abnehmen und Begraben des Hingerichteten gehörte zu seinen Pflichten.

Die Meute der Gaffenden löste sich ebenfalls auf, nun, da es nichts mehr zu sehen gab, und der Augenblick, auf den Conn gewartet hatte, war gekommen.

Wenn die Erfahrung ihn etwas gelehrt hatte, dann dass es keinen Sinn hat, zu bescheiden zu sein. Natürlich musste man ein offenes Auge haben und sich gut überlegen, wen man um seine Habe erleichtern wollte und wen nicht, aber Tostigs grässliches Schicksal bewies, dass Bescheidenheit nicht vor Strafe schützte, ebenso wie zu große Vorsicht. Wer zögerte, der lief nur Gefahr, entdeckt und womöglich geschnappt zu werden, und beides wollte ein Dieb tunlichst vermeiden.

Die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, bahnte sich Conn einen Weg durch die abziehende Menge und arbeitete sich an den Büttel heran, der am Fuß des Galgens stand und, seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, mit dem Ergebnis seiner Arbeit durchaus zufrieden war. Mit dem Handrücken fuhr er sich über die Stirn und verwischte dabei das Blut, mit dem er besudelt war. Der Feiste jedoch schien es nicht einmal zu bemerken – das Ledersäckchen, das er an seinem Gürtel befestigt hatte, entschädigte ihn für alle Mühen.

Inzwischen war Conn fast heran, nur noch wenige Schritte trennten ihn vom Galgen. Mit flinken Blicken wog er seine Möglichkeiten ab und handelte kurz entschlossen.

Ein vierschrötiger Mann, der an ihm vorbei wollte, wurde unversehens zum Komplizen. Conn tat so, als hätte er ihn nicht gesehen, und rempelte ihn an. Der Fremde, den Schwielen an den Händen und den muskulösen Oberarmen nach ein Schmied, ließ sich das nicht gefallen und stieß ihn zurück, nicht ohne ihm eine bittere Verwünschung mit auf den Weg zu geben – und Conn, nur dem Augenschein nach von der Macht des Zufalls geleitet, prallte gegen die massige Gestalt des Büttels.

»Verdammt! Kannst du nicht aufpassen?«

»Verzeiht, Herr«, beeilte sich Conn zu versichern und senkte das Haupt in einer Geste, die unterwürfig wirken sollte, in Wahrheit jedoch dazu diente, seine Gesichtszüge zu verbergen. »Es wird nicht wieder vorkommen.«

»Das hoffe ich, du Schmeißfliege! Pack dich fort, hörst du?«

»Natürlich, wie Ihr wollt, Herr«, beteuerte Conn und verbeugte sich noch einmal, während er sich bereits entfernte. Dann wandte er sich blitzschnell um und war im nächsten Moment zwischen anderen Zuschauern verschwunden, die in die Stadt zurückkehrten, um ihr Tagwerk zu beginnen.

Eine Weile lang ging Conn mit ihnen, dann bog er in eine Seitengasse ab, die schmal und dunkel genug war, um kein Aufsehen zu erregen, und in der es so streng roch, dass er sicher unbeobachtet bleiben würde. Erst hier griff er unter seine Tunika, zog den kleinen Beutel aus Wildleder hervor, der unbemerkt seinen Besitzer gewechselt hatte, öffnete ihn und betrachtete den Inhalt.

Es waren fünf Pennys.

So viel also, dachte Conn beklommen, war das Leben eines Diebes wert.

2.

KölnZur selben Zeit

Die Stadt hatte sich verändert.

Niemandem, der innerhalb der alten Mauern lebte, die die Römer hinterlassen hatten und die im Lauf der Jahrhunderte zum Fluss hin erweitert worden waren, konnte dies entgangen sein. Chaya war es ebenfalls nicht verborgen geblieben, obwohl sie das Haus seit dem Tod ihrer Mutter nur selten verließ und dann meist nur in Begleitung ihres Vaters.

Auch jetzt ging der alte Isaac neben ihr her, die von schlohweißem Haar umrahmten Züge angespannt und von tiefen Falten durchfurcht. »Was bedrückt dich, meine Tochter?«, wollte er wissen, während sie gemeinsam den Marktplatz passierten, in dessen Budengassen an diesem Morgen rege Betriebsamkeit herrschte.

»Ich weiß nicht, Vater. Die Stadt ist voller Menschen in diesen Tagen.«

»Wie in jedem Frühsommer«, konterte der Alte.

»Dennoch ist etwas anders«, beharrte sie. »Hast du die Kettenhemden nicht gesehen? Die Helme? Die Waffen? Es sind keine Kaufleute, die in Scharen an den Rhein kommen.«

»Nein«, gab Isaac zu, »und ihre Sprache ist auch nicht die des friedlichen Handels. Der Sturm, der in Frankreich entfesselt wurde, hat sich noch längst nicht gelegt.«

»Du glaubst, dass es wie zu Pessach werden könnte?« Chaya schaute ihren Vater fragend an. Im Frühjahr waren schon einmal Soldaten in die Stadt gekommen, Kämpfer aus dem ganzen Reich, fünfzehntausend an der Zahl, und die Bevölkerung von Köln hatte sich bereit erklärt, sie zu versorgen. Zwar waren die Soldaten schon nach wenigen Tagen wieder abgezogen, aber es hatte fast den Anschein, als wäre dieser erste Aufmarsch nur der Anfang von etwas noch sehr viel Größerem gewesen. Etwas, das vor fünf Monden im fernen Clermont seinen Anfang genommen hatte.

Isaac Ben Salomon erwiderte ihren Blick, und seine ohnehin schon sorgenvollen Züge verfinsterten sich noch mehr. »Ich weiß es nicht, meine Tochter, aber ich ahne, dass unsichere Zeiten vor uns liegen. Und mir missfällt der Gedanke, dass du in jenen Zeiten allein und ohne Schutz sein könntest.«

»Deine Fürsorge ehrt dich, Vater«, erwiderte Chaya, »und ich weiß, worauf du hinauswillst. Aber ich habe meine Entscheidung getroffen, wie du weißt.«

»Deine Entscheidung?« Ein mildes Lächeln spielte um die Lippen des alten Kaufmanns. »Du weißt, dass ich deiner Zustimmung in dieser Sache nicht bedürfte.«

»Das ist mir klar, Vater«, entgegnete sie ohne Zögern. »Aber ich weiß auch, dass dir mein Glück wichtiger ist als alles andere. Und ich würde nicht glücklich an der Seite eines Mannes wie Mordechai.«

»Mordechai Ben Neri entstammt einem guten Haus. Er verfügt über großen Einfluss und ist ein wohlhabender und geachteter Merkant.«

»Genau wie du«, konterte Chaya schnaubend. »Andernfalls hätte er wohl kaum noch am Tag von Mutters Begräbnis um meine Hand angehalten und noch dazu angeboten, dein Kontor für einen Spottpreis von dir zu erwerben.«

»Es war ein guter Preis«, widersprach Isaac ruhig.

»Wofür? Für das Kontor? Oder für mich?«

Isaac blieb stehen und schaute seine Tochter an. Längst hatten sie die Obenmarspforten passiert und befanden sich wieder innerhalb des Judenviertels, das sich westlich des Marktplatzes erstreckte. Hier würden sich ihre Wege trennen. Während Chaya nach Hause ging, würde ihr Vater seine Schritte zur Synagoge lenken, um einer Sitzung des Gemeinderates beizuwohnen, dem er als einer der sieben Vornehmen des Viertels angehörte – Männer, die aufgrund ihres Besitzes und ihres Einflusses über besonderes Ansehen in der Gemeinde verfügten.

»Tochter«, seufzte er, während er ihr in die dunklen Augen blickte und ihr über das schwarze Haar strich, das sie als noch ledige Frau unverhüllt trug. Ihr Teint war vergleichsweise dunkel, genau wie bei ihrer Mutter, und sie trug ein schlichtes Kleid aus dunkelgrünem Leinen, das ihre natürliche Schönheit noch unterstrich. »Warum machst du es mir nur so schwer?«

»Das liegt nicht in meiner Absicht, Vater«, versicherte sie und senkte den Blick, schaute an ihrer schlanken Gestalt herab. »Was wirst du Mordechai also mitteilen?«, fragte sie leise und ohne aufzusehen. »Wirst du sein Angebot doch annehmen? Willst du mich ihm zur Frau geben?«

»Ich werde das tun«, erwiderte der alte Isaac müde, »was am besten für dich ist, meine Tochter, darauf vertraue getrost. Und nun geh nach Hause.«

Sie schaute auf, und für einen kurzen Moment flackerte jener Trotz in ihren Augen, den auch ihre Mutter bisweilen an den Tag gelegt hatte. Dennoch nickte sie. Isaac küsste sie zum Abschied sanft auf die Stirn und schlug dann den Weg zur Synagoge ein.

Zunächst tat Chaya so, als würde sie seiner Anweisung folgen. Sie wandte sich um und ging einige Schritte die Straße hinab. Dann jedoch blieb sie stehen, wandte sich um – und folgte ihrem Vater in sicherem Abstand.

Die rege Betriebsamkeit, die auf dem Vorplatz der Synagoge herrschte, erlaubte es ihr, sich fortzubewegen, ohne weiter aufzufallen: Handwerker, die hölzerne Karren hinter sich herzogen, Mägde, die Wasser vom nahen Brunnen holten, Geschäftsleute und Händler, dazu ein mit Gemüse beladener Ochsenkarren.

Aus der Ferne konnte sie sehen, wie ihr Vater im Eingang der Synagoge verschwand. Vorbei an einer Schar schreiender Maultiere, die aus Richtung Bäckerei kamen und mit großen Körben voller Brot beladen waren, eilte Chaya zur Rückseite des ehrwürdigen Gebäudes, das die Mitte des jüdischen Viertels einnahm; dort gab es einen zweiten Zugang, der mit etwas Glück …

Chaya atmete innerlich auf, als sie sah, dass die normalerweise von innen verriegelte Tür einen Spaltbreit offenstand. Nurit, die Frau des Rabbiners, hatte Wort gehalten.

Mit einem verstohlenen Blick nach beiden Seiten huschte Chaya unter den niedrigen Sturz, öffnete vorsichtig die Tür und trat in das dahinter liegende Halbdunkel. Kühle Stille umfing sie, als sie die Tür hinter sich schloss und den Lärm der Straße aussperrte. Eine schmale Treppe lag vor ihr, die nur von einem schmalen Oberlicht erhellt wurde und an deren oberen Ende es eine weitere Tür gab. Lautlos stieg Chaya hinauf und öffnete sie. Die Kammer, die sich dahinter befand, wies zur Rückseite hin einige schmale Fensteröffnungen auf – die Galerie, von der aus Frauen die Gebete im Gotteshaus verfolgen durften.

Mit pochendem Herzen schloss Chaya die Tür. In gebückter Haltung, damit sie von unten nicht gesehen werden konnte, huschte sie zu einem der Fenster und kauerte sich darunter. Augenblicke lang verharrte sie so und lauschte dem verhaltenen Stimmengewirr, das aus dem Hauptraum der Synagoge heraufdrang. Dann fasste sie allen Mut zusammen und erhob sich, um einen vorsichtigen Blick zu riskieren.

Sie konnte den Thoraschrein sehen, der sich an der Stirnseite befand, die Bima, von der aus die Weisung Gottes verlesen wurde, sowie die Sitze der Räte, die in einem weiten Kreis aufgestellt waren. Soweit sie es beurteilen konnte, waren bereits alle Angehörigen des Gemeinderates eingetroffen, dem neben den sieben einflussreichsten Mitgliedern der Gemeinde auch deren gewählter Vorsteher, ein Buchführer sowie der Rabbiner und dessen beide Gehilfen angehörten. Chaya fand die Räte in angeregte Gespräche vertieft, während sie ihre Plätze einnahmen. Ihr Herzschlag beschleunigte sich weiter, als sie unter den Anwesenden auch ihren Vater ausmachte, der einige Worte mit Mordechai Ben Neri wechselte – dem Mann, der um ihre Hand angehalten hatte.

Erschrocken fuhr sie hinter die Leibung des schmalen Fensters zurück und ermahnte sich zur Ruhe, ehe sie einen weiteren Blick riskierte. Was, so fragte sie sich bange, mochte ihr Vater Ben Neri sagen? Würde er sein Angebot doch annehmen, wider ihren ausdrücklichen Wunsch?

Mordechai war älter als sie, wenn auch nur um einige Jahre, und von kräftigem Körperbau. Schwarzes Kraushaar und ein Kinnbart umrahmten seine undurchschaubaren, von einem listig funkelnden Augenpaar beherrschten Züge. Erst vor zwei Wintern hatte er das Kontor seines verstorbenen Vaters geerbt, diese wenige Zeit jedoch genutzt, um es zu einem der größten und gewinnbringendsten von ganz Köln zu machen. Den dadurch erworbenen Reichtum stellte er gerne zur Schau, indem er samtene Mäntel und silberne Ringe trug, so auch an diesem Tag.

Atemlos beobachtete Chaya, wie die beiden Männer miteinander redeten, und zu ihrem Entsetzen konnte sie sehen, wie sich Mordechai Ben Neris Mund zu einem gewinnenden Lächeln dehnte – das jedoch im nächsten Augenblick auf seinen Zügen zu gefrieren schien. Sein Blick wurde eisig, und er blieb wie erstarrt stehen, als sich Isaac mit einer höflichen Verbeugung empfahl und seinen Ratssitz aufsuchte.

In diesem Moment hätte Chaya ihre Zurückhaltung am liebsten aufgegeben und wäre hinausgestürmt, um ihren Vater zu umarmen und ihm auf den Knien dafür zu danken, dass er Mordechais Angebot ausgeschlagen hatte. Sie wusste nun, was sie hatte erfahren wollen. Von einer Woge der Dankbarkeit getragen, zog sie sich von der Galerie zurück und wollte zurück zur Treppe schleichen, als Daniel Bar Levi, der Parnes der Gemeinde, das Wort ergriff.

»Meine Freunde«, hörte sie ihn sagen, »ich danke euch, dass ihr euch zu dieser Versammlung eingefunden habt. Böse Kunde ist es, die uns in diesen unheilvollen Tagen aus anderen Gemeinden erreicht.«

Chaya, die ihre Hand schon am Türgriff hatte, hielt plötzlich inne. Wovon sprach der Vorsteher? Von welcher bösen Kunde war die Rede? Sie hatte bemerkt, dass ihr Vater in den letzten Tagen angespannt gewesen war und weniger gesprochen hatte als sonst, es aber auf die Trauer um ihre Mutter zurückgeführt, obgleich die Zeit der Schiwa längst verstrichen war. Sollte dies nur die halbe Wahrheit gewesen sein?

»Unheilvoll?«, hörte sie eine schneidende Stimme fragen, die zweifellos Mordechai Ben Neri gehörte. »Ist es erlaubt zu fragen, wovon Ihr sprecht?«

»Ist das nicht offensichtlich?« Chaya zuckte zusammen, als sie ihren Vater sprechen hörte. Sie konnte nicht anders, als vorsichtig zum Fenster zurückzuhuschen und hinabzuspähen. »Unser geschätzter Parnes spricht von den Soldaten, die aus dem ganzen Reich zusammenströmen. Jeden Tag werden es mehr, niemandem, der offenen Auges durch die Straßen geht, kann dies entgehen.«

»Ganz recht, alter Freund«, bestätigte Bar Levi und neigte zustimmend das kahle, nur von der Kippa bedeckte Haupt.

»Und?«, fragte Mordechai, dessen Kontor am äußeren Rand der Judengasse lag und der entsprechend viel mit den Andersgläubigen verkehrte. »Wo ist das Unheil, von dem ihr sprecht? All diese Soldaten warten doch nur auf ihren Marschbefehl und werden, sobald sie ihn erhalten haben, wieder abziehen, so wie schon zu Pessach. Und bis dahin«, fügte er mit einem breiten Lächeln hinzu, das von niemandem in der Runde erwidert wurde, »lasst uns die Zeit nutzen, um mit ihnen Geschäfte zu machen wie mit allen anderen in dieser Stadt.«

»Euer Geschäftssinn in allen Ehren, Mordechai«, hielt Daniel dagegen, der anders als die übrigen elf Mitglieder des Rates nicht auf seinem Hocker saß, sondern auf einen hölzernen Stab gestützt aufrecht stand, als bedürfe er dieser Hilfe, um unter der drückenden Last seiner Sorgen nicht niederzugehen. »Es ist bekannt, dass Ihr bevorzugt Geschäfte mit Christen macht, und das sei Euch unbenommen. Aber ich fürchte, dass Eure Freude am Gewinn Euren Blick für die Wirklichkeit trübt. Oder habt Ihr vergessen, was das Vorhaben all dieser Soldaten ist, die in so großer Zahl an den Rhein kommen?«

»Einen Krieg gegen die Ungläubigen zu führen, gegen Sarazenen und Muselmanen«, erwiderte der Kaufmann aus der Enggasse ohne Zögern. »Ich sehe nicht, was dies mit uns zu tun haben sollte.«

»Dann seid Ihr entweder ein Narr oder von der Aussicht auf lohnende Geschäfte geblendet, Mordechai«, beschied ihm der Vorsteher in seltener Schärfe. »Schon zu Pessach ist es zu Drohungen gegen unsere Leute gekommen, wisst Ihr nicht mehr? Peter von Amiens, den sie den ›Einsiedler‹ nennen, berichtete von Übergriffen auf die jüdischen Gemeinden in Franken und in der Normandie…«

»… für die es nicht einen einzigen wirklichen Beweis gegeben hat«, warf der andere ein. »Dennoch haben wir bereitwillig die Börsen geöffnet und dem Einsiedler mehrere Hundert Silbermark mit auf den Weg gegeben, damit er sein Heer versorgen konnte. Tatsächlich glaube ich, dass es weder damals noch heute eine wirkliche Bedrohung für unsere Leute gegeben hat. Der Zorn der Christen mag gegen andere gerichtet sein, uns trifft er nicht.«

»Und wenn ich dir sagte, Mordechai Ben Neri, dass es neuerliche Berichte von Übergriffen auf Juden gibt?«, fragte Bar Levi. Furcht sprach dabei aus seinen faltigen Zügen, die sich rasch auf die übrige Versammlung auszubreiten schien. Mit Unbehagen sah Chaya, dass sich auch auf die Züge ihres Vaters ein dunkler Schatten senkte.

»Was für Übergriffe?«, wollte Akiba wissen, der Rabbiner der Gemeinde, während seine Gehilfen beunruhigte Blicke tauschten.

»Ein Graf aus Leiningen, Emicho mit Namen, hat ein neues Heer aufgestellt«, berichtete der Parnes mit bebender Stimme. »Die Männer, die er unter seinen Fahnen versammelt, sind größtenteils nur Arme und Bettler, aber sie sind nicht weniger von ihrer Mission überzeugt als jene, die im Frühjahr in der Stadt waren. Ein Mönch namens Folkmar, der sich in Emichos Gefolge befindet, hält vor dem Volk flammende Reden, und mit jeder Stadt, die sie erreichen, wird die Schar ihrer Anhänger größer. In Trier, wo sie bereits waren, soll es dabei auch zu Drohungen gegen die jüdische Gemeinde gekommen sein, und in Speyer haben sie angeblich geplant, am Sabbat die Synagoge zu überfallen.«

»Und haben sie es getan?«, erkundigte sich Mordechai und hob fragend die dunklen Brauen.

»Nein«, räumte Bar Levi ein. »Weil sich unsere dortigen Brüder an den Bischof gewandt und in seinen Schutz begeben haben.«

»Und ist der Bischof etwa kein Christ?«, verlangte der Kaufmann zu wissen. »Wenn es so wäre, wie ihr sagt, und der Zorn jener Soldaten sich auch gegen uns richten würde, wäre dann nicht der Bischof der Erste, der ihnen dabei zur Hand gehen müsste?«

Die Frage wurde rings von allgemeinem Nicken begleitet. Den Mitgliedern des Rates war anzusehen, dass sie den Beschwichtigungen Mordechais größeren Glauben schenken wollten als den beunruhigenden Berichten ihres Vorstehers. Schon deshalb, vermutete Chaya, weil die Sichtweise des Kaufmanns es ihnen gestattete, ihr Leben fortzuführen, ohne sich Sorgen zu machen oder sich gar vor etwas ängstigen zu müssen. Lediglich ihr Vater enthielt sich der Zustimmung – wohl weil er Daniel Bar Levi lange und gut genug kannte, um zu wissen, dass der Parnes nur dann seine Stimme erhob, wenn es vonnöten war, und dass er die Mitglieder des Rates und der Gemeinde niemals grundlos in Aufregung versetzt hätte.

»Wir wissen, dass die Christen, der Botschaft ihres Glaubens und ihrer eigenen Gebote ungeachtet, selten untereinander einig sind«, wandte er ein. »Und wir wissen auch, dass die Privilegien, die wir uns im Lauf einer langen Zeitspanne erworben haben, nicht die Folge der Nächstenliebe sind, die ihre Priester predigen, sondern vielmehr der klingenden Münze, mit der wir dafür bezahlt haben. Die Erfahrung lehrt uns, dass was immer die Christen tun, vom Streben nach Vorteil bestimmt ist. In dem geschilderten Fall mag es dem Bischof günstig erschienen sein, die jüdische Gemeinde seinem Schutz zu unterstellen – aber können wir damit rechnen, dass eine solche Hilfe auch uns zuteil wird, wenn wir ihrer bedürfen?«

»Was schlagt Ihr stattdessen vor, Isaac?«, fragte Mordechai in unverhohlener Ablehnung. Auch ein Hauch von Spott schwang in seiner Stimme mit. »Wollt Ihr vor dem herannahenden Pöbel die Flucht ergreifen? Ihr habt selbst gehört, dass jener Graf Emicho nichts als Bettler und Tagelöhner unter seinen Fahnen versammelt hat.«

»Pöbel dürfte es auch gewesen sein, der den Propheten Jeremia gesteinigt hat«, brachte Rabbi Akiba in Erinnerung. »Das wollen wir nicht vergessen.«

»Unser Freund Mordechai«, fügte Isaac mit betonter Gelassenheit hinzu, »spricht mit dem Ungestüm der Jugend. Wir Älteren hingegen wissen, dass von jenen, die nichts zu verlieren haben, bisweilen größere Gefahr auszugehen pflegt als von den Wohlhabenden. Zumal wenn letztere von ihren Geschäften mit uns profitieren.«

»Das ist nur zu wahr«, pflichtete Bar Levi ihm bei und sandte ihm einen dankbaren Blick.

»Was wollt ihr also tun?«, bohrte Mordechai weiter, ohne auf den Einwand einzugehen oder auch nur den Versuch zu unternehmen, ihn zu entkräften. »Wollt ihr die Stadt verlassen? Wollt ihr aufgeben, was wir hier durch unseren Fleiß und unserer Hände Arbeit aufgebaut haben, nur weil ihr euch fürchtet?«

»Zumindest wäre es eine Überlegung wert«, antwortete der Vorsteher ohne Zögern, was zu Chayas Bestürzung bewies, dass er sich bereits darüber Gedanken gemacht hatte. »Wir könnten bei den Gemeinden anderer Städte um Aufnahme bitten und dort so lange bleiben, bis die Aufrührer wieder abgezogen sind.«

»Niemals!«, widersprach Mordechai entschieden und sprang auf. Sein weiter Mantel raschelte, als er die Arme effektheischend ausbreitete. »Wisst ihr, was ich viel eher denke?«, fragte er in die Runde.

»Was?«, wollte Isaac wissen.

Ein hintergründiges Lächeln spielte um die bärtigen Züge des Jüngeren. »Es ist kein Geheimnis, dass unsere Kontore in Konkurrenz zueinander stehen, Ben Salomon«, sagte er dann. »Und natürlich wisst Ihr genau wie ich, dass die Anwesenheit der Soldaten in der Stadt gute Geschäfte bedeutet. Ob Wein, Tuch, Stahl oder Leder – die Nachfrage nach diesen Gütern ist in den vergangenen Wochen sprunghaft angestiegen und hat uns beiden wachsende Einkünfte beschieden. Ist es nicht so?«

»Was hat das eine mit dem anderen zu tun?«, fragte Isaac.

»Wisst Ihr es wirklich nicht? Oder gebt Ihr Euch nur unwissend, um Eure wahren Beweggründe zu verschleiern?«

»Was für Beweggründe?« Chaya kannte ihren Vater gut genug, um zu sehen, dass es ihm inzwischen schon schwerer fiel, die Fassung zu wahren. Auch sie selbst konnte fühlen, wie ihr Blut in Wallung geriet. Was führte Mordechai im Schilde?

»All die Gewinne, die Ihr in den letzten Wochen verzeichnen konntet, hätten noch ungleich höher ausfallen können, hättet Ihr sie nicht mit Euren Konkurrenten teilen müssen«, führte dieser bereitwillig aus, worauf er nach beiden Seiten schielte, um zu sehen, was seine Worte bei den anderen Ratsmitgliedern und Vornehmen bewirkten. »Was aber, wenn Ihr sie mit einem geschickten Winkelzug aus dem Feld räumen und auf diese Weise ganz allein Geschäfte mit den Soldaten machen könntet?«

»Das traut Ihr mir zu?« Fassungslosigkeit sprach aus den Zügen ihres Vaters, und Chaya musste an sich halten, um ihre Empörung über diese gemeine Unterstellung nicht laut hinauszuschreien. Auch die übrigen Räte schienen betroffen. Blicke wurden gewechselt, hier und dort leise getuschelt, aber nur einer verlieh seiner Erschütterung tatsächlich Ausdruck.

»Mordechai Ben Neri«, sagte Bar Levi im Tonfall eines Lehrers, der einen Schüler schalt, »dass Ihr Euch nicht schämt, im Haus Gottes einen derart abscheulichen Verdacht zu äußern! Noch dazu, wo Ihr genau wisst, dass unser geschätztes Ratsmitglied Ben Salomon noch immer den schrecklichen Verlust betrauert, der über ihn und seine Tochter gekommen ist.«

»Der Tod Eurer Gattin hat uns alle tief getroffen, Ben Salomon«, räumte Mordechai ein, »und natürlich gehört Euch in diesem Jahr der Trauer mein ganzes Mitgefühl…«

»Ich danke Euch«, sagte Isaac.

»… aber selbst der Schmerz über den Verlust eines geliebten Menschen darf nicht zwischen uns und der Wahrheit stehen«, fuhr der Jüngere fort. »Würdet Ihr, wenn die Dinge umgekehrt lägen, nicht einen ähnlichen Verdacht hegen? Alle hier wissen um die Rivalität unserer Familien, die Generationen zurückreicht. Mein Vater und Ihr, Isaac Ben Salomon, sind erbitterte Konkurrenten gewesen. Ist es da nicht nachvollziehbar, dass ich mich frage, ob Ihr die Gelegenheit womöglich nutzen wollt, um die Geschäftsverhältnisse in der Stadt zu Euren Gunsten zu beeinflussen? Wenn es nicht so ist, so nehmt meine Entschuldigung dafür, dass ich so dachte. Aber sollte es so sein, seid versichert, dass ich dies niemals zulassen werde.«

In der Synagoge war es so still geworden, dass nur noch das leise Fauchen der Kerzen zu hören war, die im kreisförmigen Leuchter unterhalb der Deckenkuppel brannten und die der Windzug fortwährend flackern ließ. Dabei tauchten sie den Thoraschrein und die Bima in unstetes Licht, und es sah aus, als würden sich die Tierfiguren, mit denen die Wände bemalt waren, bewegen. Aller Augen hatten sich auf Isaac gerichtet, der auf seinem Hocker saß und tief aus- und einatmete, sich mühsam zur Ruhe zwingend. Natürlich waren die Vorwürfe völlig aus der Luft gegriffen, und vermutlich wusste Mordechai dies auch. Aber er schien keinesfalls gewillt, der Argumentation Isaacs und Daniel Bar Levis zu folgen, und Chaya hegte den dumpfen Verdacht, dass es entgegen seiner Beteuerungen nicht nur geschäftliches Interesse war, das ihn so handeln ließ, sondern auch der gekränkte Stolz eines Mannes, dessen Brautwerbung zurückgewiesen worden war.

Mit einem Mal fühlte sie sich schuldig an dem, was dort unten im Rat geschah. Gebannt schaute sie auf ihren Vater, der in diesem Moment zu einer Erwiderung ansetzte.

»Mordechai Ben Neri«, entgegnete er und schien jedes einzelne Wort mit Bedacht zu wählen, »ich führe es auf Eure Jugend und Eure Unerfahrenheit zurück, dass solche Worte über Eure Lippen kommen, und werde sie deshalb nicht als das werten, was sie tatsächlich sind, nämlich eine gemeine Verleumdung. Es stimmt, dass Euer Vater mein ärgster Konkurrent gewesen ist und mir manches lohnende Geschäft vor der Nase weggeschnappt hat. Aber selbst Euch müsste klar sein, dass ich eine Situation wie diese, in der sich dunkle Wolken über unserem Volk zusammenziehen, niemals nutzen würde, um daraus Gewinn zu schlagen, und dass ich die Überlegungen unseres geschätzten Parnes nur deshalb unterstütze, weil ich mich wie er um das Wohl unserer Gemeinde sorge.«

»Wollt Ihr mir unterstellen, das täte ich nicht?«, fragte Mordechai, und im angriffslustigen Funkeln seiner Augen hatte Chaya für einen Moment das Gefühl, seinen Vater zu erblicken. Die erstaunliche Fähigkeit, jemandem das Wort im Mund herumzudrehen, hatte Mordechai fraglos von ihm, und wie der allgemeinen Entrüstung zu entnehmen war, zeigte sie noch immer Wirkung. »Ich habe die Nachfolge meines Vaters in diesem Gremium nicht angetreten, weil ich nach Einfluss oder Anerkennung dürste«, tönte er fort, »sondern weil ich als wohlhabendes Mitglied dieser Gemeinde Verantwortung trage für unser aller Wohlergehen. Und diese Verantwortung sagt mir, dass es falsch wäre, sich der Furcht zu ergeben, sondern dass wir auf das vertrauen sollten, was wir uns über eine lange Zeit hinweg mühevoll erarbeitet haben, nämlich die Freundschaft und die Anerkennung jener, in deren Städten wir leben, denen wir Tribut entrichten und die geschäftlich mit uns verkehren.«

»Freundschaft?« Isaac schaute ihn durchdringend an. »Glaubt Ihr wirklich, die Christen wären uns freundschaftlich verbunden? Ihr verwechselt den Respekt, den sie uns entgegenbringen, mit Liebe. Vielleicht, weil Ihr den Unterschied nicht kennt.«

Chaya hielt den Atem an. Ihr war klar, dass ihr Vater nicht nur vom Verhältnis Mordechais zur Gemeinde sprach – und Mordechai wusste es vermutlich auch. Seine Augen verengten sich, seine Lippen begannen vor Wut zu beben. »Spitzfindigkeiten«, rief er und machte eine unwirsche Handbewegung. »Respekt oder Liebe, was gilt es mir? Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Christen ihr gutes Verhältnis zu uns leichtfertig gefährden oder es gar aufs Spiel setzen würden.«

»Ich ebenso wenig«, pflichtete Jakob Lachisch bei, der Gabbai und Buchführer der Gemeinde. Auch von den anderen Sitzen kam Zustimmung, sodass die Stimmabgabe, um die der Vorsteher schließlich bat, nur noch eine Sache der reinen Form war.

Nur drei der zwölf Mitglieder des Rates waren dafür, Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen und andere Gemeinden um Hilfe zu bitten. Die überwältigende Mehrheit hingegen schloss sich Mordechais Argumentation an und stimmte dafür, alles beim Alten zu belassen und den Sturm, der sich vielleicht über anderen Städten, ganz sicher aber nicht über Köln zusammenbrauen mochte, vorüberziehen zu lassen. Lediglich allgemeine Schutzmaßnahmen wurden beschlossen – so wollte man eine Empfehlung aussprechen, die den Mitgliedern der jüdischen Gemeinde nahelegte, das eigene Viertel nur zu verlassen, wenn die Notwendigkeit es verlangte, keinesfalls jedoch nach Einbruch der Dunkelheit. Außerdem wurde auf Drängen Rabbi Akibas ein allgemeines Fasten angeordnet, mit dem man Gott um Beistand bitten wollte.

Chaya blieb nicht mehr lange genug, um zu hören, wie der Parnes ein Dankgebet sprach und die Versammlung auflöste – was sie betraf, so hatte sie genug erfahren. Auf leisen Sohlen schlich sie von der Galerie und verließ die Synagoge, um noch vor ihrem Vater zu Hause zu sein. Was sie gehört hatte, ließ sie jedoch nicht mehr los.

In vergleichsweise gelöster Stimmung hatten die Ratsmitglieder das Gotteshaus verlassen, augenscheinlich sehr zufrieden mit dem, was erreicht worden war. Lediglich Daniel Bar Levi und Isaac Ben Salomon blieben zurück, und es war offensichtlich, dass sich in ihren faltigen Mienen dieselbe Sorge spiegelte.

»Wie ich sehen kann, mein Freund, teilt Ihr die Erleichterung der anderen nicht«, stellte der Vorsteher der Kölner Gemeinde ohne jede Genugtuung fest. Den Stab in seiner Rechten schien er mehr denn je zu benötigen, so als hätte der Verlauf der Beratung ihn abermals um Jahre altern lassen.

»Nein«, gab Isaac zu. »Denn anders als Mordechai habe ich Zweifel, was die guten Absichten jener fremden Krieger betrifft. Und ich fürchte, dass Fasten allein sie nicht fernhalten wird.«

»Auch ich hege diese Zweifel«, pflichtete der Vorsteher bei, »doch wie du gesehen hast, wollte sie niemand hören. Die Mehrheit unserer Brüder zieht es vor zu glauben, dass stets alles so bleiben wird, wie es gewesen ist.«

»Nur ein Narr denkt so«, sagte Isaac bitter.

»Mein Freund«, erwiderte Bar Levi und legte mitfühlend eine Hand auf seine Schulter, »ich weiß, dass es der erlittene Verlust ist, der Euch so sprechen lässt, denn noch vor einiger Zeit wähntet auch Ihr Euch sicher und behütet, ehe der Tod Eures Weibes Euch aus diesem Traum erwachen ließ. Nicht Narrheit, sondern die menschliche Natur ist es, die unsere Brüder so sprechen lässt. Mit aller Macht klammern sie sich an das, was Gottes Gunst und ihrer Hände Arbeit ihnen eingetragen haben, und wiegen sich in vermeintlicher Sicherheit. Doch das Gedächtnis unseres Volkes reicht weit in die Vergangenheit, und wenn die Erfahrung uns eines lehrt, dann dass es immer wieder Zeiten gab, da wir alles verloren. Man hat uns versklavt und unterjocht, uns aus der alten Heimat vertrieben und in die Fremde geschickt.«

»Und Ihr fürchtet, es könnte wieder so werden?«, fragte Isaac leise, fast flüsternd.

Ein Lächeln glitt über die Züge des Vorstehers, aller Sorge zum Trotz. »Wer weiß zu sagen, was Gott plant? Aber wenn es so ist, darf uns der Feind nicht unvorbereitet finden wie einst. Wenn der dunkle Schatten sich über uns breitet, so müssen wir handeln. Versteht Ihr, was ich meine?«

Isaacs von Trauerfalten durchfurchte Züge wurden noch finsterer, als der Parnes ihn an das Versprechen erinnerte, das er vor langer Zeit gegeben hatte. Freilich war er in jenen Tagen noch ein anderer gewesen, unbelastet von Sorge und bar der Erfahrungen, die er seither gemacht und die sein Leben geprägt hatten.

Doch das Wort, das er gegeben hatte, band ihn heute wie damals, auch wenn sich alles in ihm dagegen wehrte und er sich nicht vorstellen konnte, dass …

»Ich verstehe, Rabbi«, hörte er sich selbst sagen, und mehr noch als an allen anderen Tagen, die seit ihrem Tod vergangen waren, wünschte er sich seine Frau zurück.

3.

»Nia? Wo bist du?«

Conn blickte sich suchend um. Er schlich durch den Wald, der sich nordöstlich der Stadtmauern erstreckte, ein grünes Dickicht aus Buchen, Eschen und uralten Eichen, zwischen denen Beerensträucher und üppiger Farn gediehen. Schäfte von honigfarbenem Sonnenlicht fielen durch das grüne Blätterdach, tauchten den Wald in lieblichen Schein und machten die Nähe der lärmenden, betriebsamen, aus allen Poren stinkenden Stadt beinahe vergessen. Nur das Summen der Bienen war zu hören und von fern das Klopfen eines Spechts. Von Nia jedoch fehlte jede Spur, sodass Conn nichts übrigblieb, als abermals ihren Namen zu rufen, wenn auch nur halblaut und verstohlen.

»Nia?«

Erneut bekam er keine Antwort, und ihn befiel jähe Enttäuschung. Natürlich konnte es sein, dass sie woanders hingeschickt worden war, aber für gewöhnlich war dies der Tag, an dem sie die Burg verlassen durfte, um im Wald Kräuter zu sammeln, und es war die Stunde, die sie beide die ganze Woche über herbeisehnten.

Auf einer kleinen Lichtung blieb Conn stehen und schaute sich abermals suchend um. Als er noch einmal Nias Namen rief, konnte er plötzlich ein leises Kichern hören und einer der großen Farnbüsche, die die Lichtung wie ein grüner Wall umgaben, regte sich verdächtig.

»Nia?« In einer Mischung aus Ärger und Erleichterung verdrehte Conn die Augen. »Sag, dass das nicht wahr ist!«

Das Kichern wurde zu ausgelassenem Gelächter, und aus dem dichten Gewirr der Farnblätter tauchte ein Gesicht auf, das schöner war als alles, was Conn sich auf Erden vorzustellen vermochte.

Ebenmäßige Züge mit geröteten Wangen und einer kleinen, keck hervorspringenden Nase, darunter ein herzförmiger Mund mit rosigen Lippen und ein schmales, vielleicht ein wenig zu spitz geratenes Kinn, das ihrer Schönheit aber keinen Abbruch tat. Glattes kastanienfarbenes Haar, das ihr bis auf die Schultern fiel, umrahmte Nias Gesicht. Ihre braunen Augen, deren Lebenslust und Heiterkeit ansteckend war, leuchteten wie Sterne in einer klaren Sommernacht.

Conn konnte nicht anders, als von diesem Anblick verzaubert zu sein. Er lächelte und breitete die Arme aus, worauf sie ihr Versteck verließ und zu ihm eilte. Sie umarmten sich innig, und er genoss es, ihre schlanke Gestalt an sich zu pressen, ehe sich ihre Lippen in einem langen Kuss begegneten.

»Du hast mich vermisst«, stellte sie lächelnd fest, als sie sich wieder voneinander trennten. Ihr fremder Akzent war unüberhörbar – nur eines der vielen kleinen Dinge, die er an ihr liebte.

»Was bringt dich denn auf den Gedanken?«

»Ich habe dein Gesicht gesehen. Du hattest Angst, ich könnte nicht gekommen sein.«

»Unsinn.« Conn schüttelte den Kopf.

»Du konntest den Gedanken, mich eine weitere Woche lang nicht zu sehen, nicht ertragen«, beharrte sie.

»Von wegen«, widersprach Conn, der ihr den Triumph nicht gönnen wollte. »Ich wäre einfach zurück in die Stadt gegangen und nächste Woche wiedergekommen.«

»Du lügst. In Wahrheit denkst du in jedem Augenblick an mich, und die Vorstellung, mich eine ganze Woche lang nicht zu sehen, ist dir unerträglich, nicht wahr? So jedenfalls«, fügte sie leiser hinzu, »geht es mir.«

Statt etwas zu erwidern, zog er sie abermals an sich und küsste sie. Das Glück, das er in diesem Augenblick empfand, machte alle Gefahr und alles Elend um sie herum vergessen – bis ein erneutes Rascheln im Gebüsch ihre Ruhe störte.

Conn fuhr herum und sah ein weiteres Frauengesicht aus dem Farn auftauchen, blasser und herber und – zumindest in seinen Augen – nicht annähernd so schön wie Nias. Es gehörte Emma, ihrer Aufseherin und wahrscheinlich der einzigen Freundin, die sie auf Erden hatte.

»Pst, ihr beiden«, sagte die Magd, die anders als Nia kein Eisen um den Hals trug. »Ich störe euch nur ungern, aber ihr solltet euch vorsehen. Wenn de Bracy euch entdeckt…«

»De Bracy ist weit weg«, entgegnete Conn geringschätzig.

»Außerdem wird in der Burg Besuch erwartet, wie du weißt«, fügte Nia feixend hinzu, »da hat er sicher anderes zu tun, als nach den Leibeigenen zu sehen.«

»Wie ihr meint.« Emma schnitt eine Grimasse. »Aber treibt es nicht zu bunt, ihr beiden, hört ihr?«

»Nun hau schon ab!«, zischte Nia und wedelte mit der Hand, als wollte sie ein lästiges Insekt verscheuchen. Die Magd wurde daraufhin noch ein bisschen röter im Gesicht und verschwand kichernd zwischen den Bäumen.

»Sie wird aufpassen, wie jedes Mal«, war Nia überzeugt, während sie sich wieder Conn zuwandte. »Und sie wird dafür sorgen, dass mein Korb gefüllt ist, wenn ich am Abend in die Burg zurückkehre, damit de Bracy nichts bemerkt.«

Conn nickte dankbar. Guy de Bracy war ein Edler am Königshof, ein in die Jahre gekommener Kämpfer, der schon unter dem alten König William gedient und dabei einen Arm verloren hatte. Daraufhin war er mit dem Posten des Seneschalls betraut worden, zu dessen Pflichten auch die Aufsicht über die Sklaven gehörte, die in der Burg ihren Dienst versahen.

So wie Nia.

Sie war noch ein Kind gewesen, als sie aus ihrem walisischen Heimatdorf verschleppt worden war. Im Zuge des Eroberungskrieges, den des Königs Soldaten in den Westen der Insel getragen hatten, hatte ein normannischer Edler einen Vorstoß unternommen, der den britannischen Feind einschüchtern und ihn in die Schranken weisen sollte. Mehrere Dörfer waren niedergebrannt, die Männer hingemetzelt, die Frauen geschändet und die Kinder verschleppt worden – so auch Nia, die schließlich auf den Sklavenmarkt von Birmingham gelangt war, wo sie mehrfach den Besitzer gewechselt hatte und schließlich an einen Getreuen des Königs verkauft worden war.