Das Büro der einsamen Toten - Britta Bolt - E-Book

Das Büro der einsamen Toten E-Book

Britta Bolt

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Beschreibung

Er ist kein Polizist, kein Privatdetektiv - und trotzdem dreht sich in seinem Leben alles um den Tod. Im "Büro der einsamen Toten" bei der Stadt Amsterdam kümmert sich Pieter Posthumus um die einsamen Toten - Menschen ohne Angehörige, Menschen, die keiner vermisst - und richtet ihnen ein würdiges Begräbnis aus, mit Musik und Gedichten. Bei seinen Recherchen stößt er auf so manche Ungereimtheit. In der Prinsengracht ist die Leiche eines jungen Mannes gefunden worden. Die Umstände seines Todes sind mysteriös. Posthumus nimmt auf eigene Faust die Ermittlungen auf und gerät in ein Netz von Intrigen ...

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Britta Bolt

Das Büro der einsamen Toten

Roman

Aus dem Englischen von Kathleen Mallett und Heike Schlatterer

Hoffmann und Campe

Für Victor und für Christopher Chambers, der unserem Helden seinen Namen gab

Anmerkung der Autoren

Die Stadt Amsterdam kommt bei anonymen Leichen, die im Stadtgebiet gefunden werden, tatsächlich für die Bestattung auf und bereitet den Toten ein »einsames Begräbnis« mit Musik und Gedichten, die speziell für die Verstorbenen geschrieben werden, Blumen und Kaffee. Unser Buch ist jedoch Fiktion. Die Protagonisten weisen keine Ähnlichkeit mit realen Personen in Behörden auf, und das Amt für Katastrophenschutz und Bestattungen ist ebenso frei erfunden wie seine Struktur und Arbeitsweise. Entsprechend verhält es sich mit dem NASD, der zwar eine ähnliche Funktion hat wie der echte niederländische Geheimdienst AIVD, dessen Abteilung »Staatsschutz« jedoch frei erfunden ist, ebenso wie seine Mitarbeiter.

Prolog

Eine Straßenbahn donnert über die Eisenbrücke und übertönt jedes Geräusch, als der Körper ins Wasser fällt.

Amsterdam: 22.58 Uhr

Ein junger Mann. Schlank, bewusstlos, in der traditionellen marokkanischen Djellaba. Jeder Muskel zittert.

Der schmale Körper sinkt hinab, stößt am Grund des schlammigen Westelijk Marktkanaals gegen eine umgedrehte Kloschüssel, dreht sich, bleibt einen Moment liegen und steigt dann auf, weil sich Luft unter der Djellaba verfangen hat. Er gerät in den Strudel eines vorbeifahrenden Bootes und tanzt dicht unter der Wasseroberfläche Richtung Kanalmitte. Er zuckt und ruckt, die Lungen versuchen mit aller Macht, das Wasser loszuwerden und Luft zu bekommen, die zappelnden Arme erwecken für einen Augenblick den Eindruck, als würde jemand unter Wasser schwimmen.

Nach drei Minuten ist der Körper leblos.

Boudewijn Krijnen, der sich nach einem weinseligen Abend mit Freunden auf seinem neuen Boot ziemlich angeschlagen fühlt, flucht und wendet sein PS-starkes Motorboot, wobei er gefährlich nahe an die Kanalmauer kommt. Irritiert durch eine Kreuzung, bei der vier Grachten aufeinandertreffen, ist er auf der Kop-van-Jut-Seite in den Westelijk Marktkanaal gefahren, anstatt die Kostverlorenvaart zu nehmen, die zu seinem Liegeplatz außerhalb der Stadt führt. Er lässt das Boot einen Moment lang treiben, den Motor im Leerlauf, und schaut auf sein Navigationsgerät. Dann gibt er wieder Gas und fährt zurück zur Kreuzung. Das Boot kommt nur mühsam voran. Er gibt noch mehr Gas. Einmal abbiegen, die Kostverlorenvaart hinunter Richtung Nieuwe Meer. Der Motor heult auf, doch das Boot macht kaum Fahrt. Da muss sich Müll in der Schraube verfangen haben, denkt er und dreht den Gashebel auf volle 90PS. Das Boot macht einen Satz nach vorn, der Motor jault noch einmal kurz auf, dann klingt wieder alles normal. Boudewijn drosselt schnell den Motor in der Hoffnung, dass keine Polizei in der Nähe ist.

Träge treibt die Leiche in die Mitte des Westelijk Marktkanaal, gerät dann aber ins Stocken, als eine langsam drehende Schiffsschraube den Schulterriemen der Umhängetasche aus Leinen erfasst, die der Tote trägt. Die Schiffsschraube packt sich den Riemen, der schräg über der Brust des Toten liegt. Ihre Beute fest im Griff, dreht sie sich schneller, bohrt sich ins Fleisch, zerreißt die Djellaba und zerrt den Leichnam um eine Biegung in die Kostverlorenvaart. Dort beißt sie wieder zu, dieses Mal noch heftiger, gräbt sich ins Fleisch und durchschneidet den Trageriemen, wickelt ihn um die leblose Schulter und den Hals, bevor das Boot vorwärts schießt und davonfährt. Im Kielwasser wird die Leiche dorthin zurückgespült, von wo sie herkam, bis die Strömung nachlässt und der Tote wieder hinabsinkt.

23.20 Uhr

In der schwachen Strömung der Kostverlorenvaart vom Nieuwe Meer Richtung Stadtzentrum gleitet der Leichnam zurück zur Gabelung der vier Kanäle. Er driftet sanft dahin, nur manchmal ruckt er vorwärts, wenn ein vorbeifahrendes Boot das Wasser aufwirbelt oder sich um einen Müllhaufen am Grund der Gracht ein Strudel bildet, der ihn hin- und herschiebt. Und so treibt er allmählich von der Kostverlorenvaart in eine Gracht, die zum Stadtzentrum führt.

Mitternacht

Zeeburg, am nordöstlichsten Rand von Amsterdam. In der städtischen Pumpstation springen gigantische Turbinen an und sorgen dafür, dass frisches Wasser in die Stadt gelangt. Während die Leiche langsam unter Wasser dahintrieb, haben Mitarbeiter der städtischen Wasserwerke sämtliche Schleusentore der Stadt geschlossen. Wimmernd und scheppernd schließen sich die Tore und geben den Weg frei für das saubere Wasser aus dem IJ, das den Dreck aus den Grachten von Amsterdam spült. Die einsetzende Strömung aus Zeeburg treibt den jungen Mann vor sich her. Das Wasser der Grachten entwickelt ein Eigenleben, die Oberfläche kräuselt sich, es strömt und fließt. Eine Viertelmillion Kubikmeter Wasser in Bewegung. Fünf Stunden lang. Stark strömend drängt sich das Wasser durch eine breite Gracht, schiebt sich in eine schmalere, trifft auf das Wasser, das aus einer weiteren Gracht heranbraust, wird aufgewühlt und schleudert den jungen Mann hin und her, seine Glieder zappeln in einem verrückten Unterwassertanz.

Gegen 4.30 Uhr

Die Leiche ist am Ende ihrer Reise angekommen, sie hat sich in einem Fahrradrahmen verfangen, der im Schlamm am Grund der Prinsengracht in der Nähe der Westerkerk steckt.

8.45 Uhr

Vor dem Anne Frank Haus wartet bereits eine lange Schlange. Die Touristen sehen halb gelangweilt, halb fasziniert zu, wie eine flache Barkasse mit einem mechanischen Arm Müll aus der angrenzenden Gracht fischt. Jemand schreit. Zwischen den Fahrrädern, die der Greifarm aus dem Wasser hievt, hängt ein Körper. Verrenkt. Fast nackt. Und sehr tot.

Mittwoch, 11. Mai

1

Pieter Posthumus hatte einen schweren Tag. Drei Leichen vor dem Mittagessen waren mehr als genug. Mehr als sonst in einer ganzen Woche. Normalerweise. Und jetzt auch noch dieser besserwisserische Grünschnabel von der Polizei, der meinte, er müsse einen lahmen Scherz über Posthumus’ Nachnamen und seinen Beruf durchs Telefon flöten. Posthumus reagierte nicht darauf, verabschiedete sich kurz angebunden und legte auf.

Das Amt für Katastrophenschutz und Bestattungen war eine seltsame Behörde innerhalb der Amsterdamer Stadtverwaltung. »Leichen und andere Katastrophen« wurde es von den Mitarbeitern genannt. Und Posthumus war dort in einem besonders obskuren Bereich tätig – im Bestattungsteam, von den Amsterdamern »Büro der einsamen Toten« getauft. In Amsterdam hatte es seit Jahrzehnten keine größere Katastrophe mehr gegeben. Natürlich war das Amt trotzdem gewappnet, spätestens seit dem Anschlag auf das World Trade Center vor zehn Jahren. Die Hauptaufgabe aber waren die »Leichen«. Sie ging auf die jahrhundertealte Verpflichtung des Amsterdamer Bürgermeisters zurück, sich um namenlose Tote im Stadtgebiet zu kümmern – Menschen ohne Angehörige. Heutzutage waren das hauptsächlich Obdachlose und Junkies oder einsame alte Männer und Frauen, die keinen Kontakt mehr zu ihren Familien hatten, dazu noch der eine oder andere Tourist, der auf der Straße tot umfiel, oder eine der Prostituierten mit falschen Papieren, die hinter den Fenstern des Rotlichtviertels saßen. Häufig auch ein Opfer einer Unterweltfehde. Ein Toter, den plötzlich niemand mehr kennen wollte.

Alex Tomassi steckte den Kopf durch den Türspalt und flüsterte verschwörerisch: »Ganz schön viel los heute Morgen! Such dir einen aus.« Posthumus grinste. Er war allein im Büro. Alex kam herein, schnitt eine Grimasse hin zu Maya Wesselings leerem Stuhl und setzte sich auf die Ecke von Posthumus’ Schreibtisch. Den Rücken gerade, die Hände über dem Knie gefaltet, posierte sie als devote Sekretärin. Posthumus’ Laune besserte sich schlagartig. Alex war eine echte Schönheit. Ihr Vater stammte aus Sizilien. Das erklärte die schwarze Lockenmähne und die dunklen Augen – den sahnig weißen Teint hatte sie von ihrer holländischen Mutter geerbt. Und schlau war sie obendrein, studierte neben ihrem Job noch Philosophie. Posthumus mochte Alex.

»Madame ist noch bei einer Einäscherung, sie kommt später. Von mir aus kann sie gleich ganz wegbleiben.« Alex blickte zum anderen Schreibtisch. »Geht’s Sulung besser?«

»Hab heut Morgen mit ihm telefoniert. Er meinte, er kommt morgen wieder.«

»Dann liegt er also gemütlich daheim vor der Glotze, während wir mit drei neuen Fällen zu kämpfen haben? Also wirklich, Sulung!« Alex gab sich selbst einen tadelnden Klaps aufs Handgelenk. »Aber im Ernst, welchen hättest du denn gern?«

»Tja, rate mal.« Posthumus legte die vier Stifte auf seinem Schreibtisch akkurat nebeneinander, die Spitzen zeigten alle in dieselbe Richtung.

»Die Mansarde?«

Er schaute auf und musste wieder grinsen. »Du kennst mich gut.« Neben ihrer Tätigkeit am Empfang war Alex zuständig für ›Traffic‹, das heißt, sie koordinierte die Termine der drei Teammitarbeiter. Sie wusste, wer wann eine Beisetzung organisierte und wann der- oder diejenige wieder zurück war. Außerdem stellte sie die Paare für die Hausbesuche zusammen (die Regel der Abteilung lautete: »Gemeinsam hin, gemeinsam heim«, weil sich in den Wohnungen der Verstorbenen eventuell Geld oder andere Wertsachen befanden). Alex erledigte ihre Arbeit sehr effizient und verhielt sich immer angemessen – aber sie hatte eindeutig ihren Liebling im Team.

Da seine Kollegen heute Morgen nicht im Büro waren, hatte Posthumus zahlreiche Anrufe erledigt und kurze Zusammenfassungen zu den verschiedenen Fällen geschrieben. Er hatte die üblichen zwei Anfragen zu jedem Fall losgeschickt (per Fax, das war immer noch so üblich): die eine Anfrage ans Einwohnermeldeamt, die andere ans Nachlassgericht. Wenn sich so keine Familienmitglieder ausfindig machen ließen, bedeutete das: Hausbesuch.

Komisch, gleich drei Tote an einem einzigen Morgen, dachte Posthumus. Andererseits, so seltsam war das auch wieder nicht, das gab es eben manchmal. Ganz unterschiedliche Schicksale. Eine Frau über neunzig, im Altenheim Zonhof. Ein typischer Fall: Demenz, Freunde und Bekannte alle schon tot. Sie war nicht verheiratet gewesen, daher gab es wahrscheinlich auch keine Familienangehörigen. Ein paar öde Telefonate, dann ein stilles Begräbnis mit ein paar alten Omis aus dem Heim.

Der zweite Tote hatte allein in einer Wohnung im Osten der Stadt gelebt, in der Madurastraat. Nachbarn hatten den Gestank gemeldet. Seit einer oder zwei Wochen tot. Die Wohnung war wahrscheinlich abbruchreif. »Ein richtiger Saustall«, hatte die Frau vom Sozialamt am Telefon gesagt. »Berge von Müll. Überall Kartons, haufenweise Plastiktüten, eine ganze Flut von Zeitungen. Das können Sie sich gar nicht vorstellen!« Oh doch, das konnte er. Posthumus kannte solche Typen zur Genüge. Der absolute Albtraum, wenn man nach einem Testament, nach Kontoauszügen oder einer Versicherungspolice suchen musste – irgendetwas, das einen Hinweis auf noch lebende Freunde oder Familienangehörige geben konnte oder darauf, ob Geld für die Bestattung da war. (Bei den vielen Kürzungen heutzutage wurde die Stadtverwaltung immer knauseriger.) Nein danke.

Doch der dritte Fall faszinierte ihn. Bart Hooft, ein jüngerer Mann. Nun ja, Ende vierzig, also etwa sein Alter. Typ Einzelgänger mit Depressionen. Hatte als Untermieter in einer kleinen Mansarde gelebt und sich dort erhängt. Kein Abschiedsbrief, aber das war nicht weiter ungewöhnlich. Augenscheinlich keine Unstimmigkeiten – die Polizei hatte den Fall als Selbstmord abgeschrieben. Der allzu muntere Jungpolizist vorhin am Telefon hatte ihn darüber informiert. Allerdings wusste der Wohnungsbesitzer nichts über irgendwelche Angehörige oder Freunde. Das war ein Fall ganz nach Posthumus’ Geschmack.

»Also gut, dann die Mansarde«, lächelte Alex.

Posthumus nickte. »Für mich ist das der Sinn dieser Tätigkeit«, sagte er. Er hatte sich den Job nicht ausgesucht. Ebenso wenig hatte er vorgehabt, bei seiner vorigen Abteilung, der Internen Revision, aufzuhören, die über die Einhaltung professioneller Standards wachte und Dienstvergehen verfolgte. Das war jetzt neun Monate her. Eine diskrete Versetzung in eine weniger wichtige Abteilung. Das Verhältnis zu seinem Chef war schon länger schwierig gewesen. »Unkooperativ, nicht teamfähig«, lautete das offizielle Urteil über Posthumus. Er konnte einfach nicht loslassen. Vor allem nicht in Sachen Korruption. Wenn seine Kollegen einen Fall schon längst ad acta gelegt hatten, stieß Posthumus oft auf eine einzelne Unstimmigkeit – nicht einmal einen eklatanten Widerspruch, eher etwas, das nicht so ganz ins Bild passte. Allzu häufig hatte er auf eigene Faust ermittelt, hatte nachgebohrt, aber nichts zutage gefördert. Er sprengte Zeitvorgaben und stand im Ruf, sich zu verzetteln und sinnlose Recherchen anzustellen. Die wenigen Fälle, in denen sich seine Beharrlichkeit ausgezahlt hatte – etwa ein Skandal um Schmiergeldzahlungen bei der Vergabe von Bauvorhaben –, hatten den Unmut seines Chefs nur noch verstärkt. Am Ende hatte sich der Chef durchgesetzt, und Posthumus wurde abgeschoben. Nein, er war nicht erfreut gewesen, als er zu »Leichen und andere Katastrophen« versetzt wurde, aber wo er schon mal hier war, wollte er jetzt auch das Beste daraus machen.

Posthumus schob den Schreibtischstuhl zurück und streckte die Arme über den Kopf. Er wollte nicht, dass Alex schon wieder ging.

»Das klingt jetzt vielleicht verschroben, aber ich glaube wirklich, dass man da etwas tun kann«, sagte er. »Bei den richtigen Einzelgängern, meine ich. Oder den anonymen Toten. Ihnen ein letztes bisschen Würde geben, einen persönlichen Abschied, selbst wenn sonst niemand da ist, der das mitbekommt. Damit sie nicht einfach nur so abgewickelt werden.«

»Tja, damit stehst du ziemlich allein da«, meinte Alex. »Ich finde es wunderbar, wie du das machst, aber du solltest etwas aufpassen.« Sie nickte zu Mayas Stuhl hin. »Ich krieg ja den Tratsch an der Kaffeemaschine mit.«

Posthumus gab sich nicht damit zufrieden, einfach nur ein Testament, Adressbücher oder Kontoauszüge aufzustöbern. Er ging weiter. Er durchsuchte Bücherregale, kramte in CD-Sammlungen und las sogar Tagebücher, um sich ein Bild von den Menschen zu machen, die er seine »Klienten« nannte. Wenn schon keine Freunde oder Familienangehörigen auftauchten, hatte er wenigstens etwas Musik, einen Text oder sogar eine kurze Rede parat. Etwas, das den Moment in der leeren Friedhofskapelle oder im Krematorium weniger funktional wirken ließ. Maya Wesseling war natürlich der Ansicht, dass Posthumus damit nur Zeit vergeudete.

Er schaute aus dem Fenster. Ein Smart der Abteilung quetschte sich auf einen Parkplatz vor dem Grachtenhaus aus dem 17. Jahrhundert, in dem ihre Büros untergebracht waren.

»Wenn man vom Teufel spricht.«

»Nichts wie weg«, sagte Alex, schwang ihren Po von seinem Schreibtisch und verschwand eilig durch die Tür runter zum Empfang. Posthumus lächelte vor sich hin. Alex verstand ihn. Sie war ihm auf Anhieb sympathisch gewesen, weil sie nicht den üblichen blöden Scherz über seinen Namen gemacht hatte. Sie hatte bloß gesagt: »Oh, ich hatte mal einen Lehrer, der so hieß.« Sein Name war in Holland auch gar nicht ungewöhnlich. Er überlegte, wie alt Alex wohl war. Zweiundzwanzig? Dann könnte er ja beinah ihr Vater sein. Vor zweiundzwanzig Jahren, da war er fünfundzwanzig. Das reichte. So alt waren seine Eltern gewesen, als sein Bruder Willem auf die Welt kam. Willem …

Posthumus starrte immer noch aus dem Fenster, schaute abwesend über die Hausboote hinweg auf die geschwungenen Giebel auf der anderen Seite der Amstel, als seine Kollegin Maya hereinpolterte.

»Anscheinend haben wir heute ja sehr viel zu tun«, sagte sie spitz und ohne ein Wort der Begrüßung. Alle Mitarbeiter des Bestattungsteams waren gleichgestellt und direkt dem Abteilungsleiter verantwortlich. Maya gab sich trotzdem gern als Vorgesetzte.

»Ich habe die Faxe verschickt. Ich nehme an, Alex wird sich melden, sobald sie etwas hört«, antwortete Posthumus und griff zum Telefon. »Ich muss nur noch ein paar Sachen erledigen. Irgendetwas am Bloemstraat-Fall lässt mir keine Ruhe.« Er hatte Maya ein paar Tage zuvor bei dem Hausbesuch begleitet. »Am Schlüsselbund waren drei Schlüssel, stimmt’s? Aber wir haben nur zwei gebraucht, um reinzukommen …«

»Herrgott noch mal, Pieter«, schnauzte Maya ihn an. »Was weiß denn ich. Abstellraum. Fahrrad. Kannst du denn nie loslassen? Die Sache ist erledigt. Wir haben die Familie ausfindig gemacht, sie kümmert sich um die Beerdigung. Das ist jetzt nicht mehr unsere Sache. Der Fall ist abgeschlossen.«

»Es war ein Wohnungsschlüssel«, sagte Posthumus. Er wandte sich um und sprach ein oder zwei Minuten ruhig ins Telefon, legte auf und reagierte dann endlich auf Mayas forschenden Blick. »Alles in Ordnung. Wahrscheinlich der Ersatzschlüssel der Nachbarin.«

Maya antwortete nicht, schaute nur auf ihre Uhr und widmete sich weiter ihren E-Mails.

»Übrigens, sie will ihn wieder zurückhaben«, fügte Posthumus hinzu.

Donnerstag, 12. Mai

2

Die beigefarbene Baumwollhose würde gehen. Dazu die braunen Budapester, die er sich in London gekauft hatte, handgenäht, aber schon ein bisschen ramponiert. Zu gut gekleidet durfte man auf keinen Fall sein. Man wusste schließlich nie, was einen bei diesen Hausbesuchen erwartete. Posthumus besaß keine Jeans, und Turnschuhe trug er nur zum Sport. Er suchte ein Hemd aus, zog es schnell an, leerte die Tasse mit seinem Wachmach-Espresso und schlängelte sich die metallene Wendeltreppe hinunter, die sein Schlafzimmer unterm Dach mit der restlichen Wohnung verband. Er ging zum Vorderfenster und schaute auf die Gracht hinaus. Ein schöner Tag. Ein sanfter Amsterdamer Morgen, der die ganze Stadt in warmes Licht tauchte, wie auf einem Gemälde von Vermeer. Jeder Giebel entlang des Krom Boomssloot war von einer zarten Aureole gekrönt. Die Sonne gab den Backsteinbögen einen rosigen Schimmer und tanzte auf den Verzierungen der Brückengeländer. Aus der Gracht vor seinem Haus stieg leichter Dunst auf, das Wasser bewegte sich kaum merklich und glänzte im Morgenlicht. Er lebte jetzt schon mehr als zwanzig Jahre in Amsterdam, aber an einem Morgen wie diesem konnte die Schönheit der Stadt ihn entzücken, als sähe er sie zum ersten Mal. Er seufzte und schaute auf die Uhr. Er sollte sich jetzt wirklich beeilen, frühstücken konnte er irgendwo unterwegs.

Posthumus nahm ein Jackett von der Garderobe direkt neben der Wohnungstür – ein weiches schokoladenbraunes von Ermenegildo Zegna, das er günstig auf dem Flohmarkt gekauft hatte. Schon in seiner Zeit als Hausbesetzer, damals in den Achtzigern, als er in einem großen Haus mit Künstlern, Revoluzzern und diversen ungepflegten Erscheinungen lebte, hatte er sich immer elegant gekleidet – und sich damit den Spitznamen »Schnieker Pieter« eingebrockt. Heutzutage kaufte er seine Sachen neu, anstatt sich ein klassisches Outfit aus Second-Hand-Fundstücken zusammenzustellen, aber sein Gespür für Schnäppchen hatte er nicht verloren.

Keine dreißig Sekunden später war er die drei Stockwerke hinuntergestürmt und stand draußen am Recht Boomssloot, einer kleinen Gracht, die zum Nieuwmarkt führte, dem Marktplatz in der alten Innenstadt. Ein Lastkahn, der mit Backsteinen beladen war, glitt lautlos unter der Brücke hindurch, ein goldener Labrador am Bug reckte die Nase in die frische Morgenluft. Posthumus gefiel es, dass knapp die Hälfte aller Amsterdamer zu Fuß zur Arbeit gingen oder mit dem Rad fuhren. Er überquerte die Brücke und marschierte zügig den Krom Boomssloot hinunter, der senkrecht auf die Gracht stieß, an der er wohnte. Erstaunlich, wie still diese Ecke der alten Innenstadt jetzt war – abends und nachts ging es nämlich hoch her am Nieuwmarkt, der nur wenige Minuten entfernt lag. An der letzten Brücke bog er links ab, dann wieder rechts am windschiefen alten Schleusenwärterhaus, das heute ein Café beherbergte, vorbei am Rembrandthaus, wo der Maler seine besten Zeiten verbracht und einige seiner größten Meisterwerke geschaffen hatte, und dann die Stufen hinunter zum Waterlooplein, wo eben die Flohmarktverkäufer ihre Stände aufbauten. Secondhand-Kleider, Kunstgewerbe, nicht ganz echte Antikmöbel und Krimskrams wechselten sich ab mit Imbissständen und Hobbymalern, die den Touristen ihre Amsterdam-Bildchen aufschwatzten.

»Morgen, schat! Herrlich heute, oder?« Lotti mit ihrem Verkaufskarren, die Kaffee und Frühstücksbroodjes für die Händler bereithielt. Vollbusig, blondiert und üppig, behandelte Lotti ihn wie einen ihrer Jungs. »In letzter Zeit mal ein paar attraktive Herren bestattet?« Schelmisch zwinkerte sie Dirk zu, der an seinem Stand abgewetzte Tweedsakkos auf einen Kleiderständer hängte.

»Wir bekommen die Leichen doch gar nicht zu sehen«, sagte Posthumus mit gespieltem Bedauern.

»Da schau her! Immer smart und immer ein nettes Lächeln. Ich weiß nicht, allmählich verliere ich die Geduld. Wann stellst du mir endlich die Frage aller Fragen, Süßer? Ich werd nicht ewig auf dich warten. Irgendwer schnappt mich dir weg, und dann guckst du in die Röhre, ich warne dich!«

»Ach, Lotti, ich trau mich einfach nicht.«

»Ich glaube eher, dass du dich noch so richtig austoben willst, du böser Junge. Langsam solltest du mal zur Ruhe kommen. Ein so netter großer Mann wie du. Und so schlecht siehst du auch wieder nicht aus. Ein bisschen dünn, aber damit würde ich schon klarkommen.«

»Ich versprech’s dir, Lotti, wenn ich so weit bin, wirst du es als Erste erfahren.«

»Das sollte verboten werden. Was für eine Verschwendung. Und, schau nur, du wirst ja schon grau!«

Posthumus fasste sich an die Stirn. Sein rotblondes Haar wurde tatsächlich grau an den Schläfen.

»Hast du was gegen den fortschreitenden Verfall? Ich sterbe vor Hunger. Hab noch nicht gefrühstückt.«

»Leckere Erdbeer-Broodjes, speziell für dich, schat.«

Weiche weiße Brötchen mit einem üppigen roten Fruchtklecks. Es war noch früh in der Saison, aber die Erdbeeren waren bereits köstlich weich und süß, der Saft war in die Brötchen gedrungen. Lottis Kaffee schmeckte nach Plastik, aber das gehörte irgendwie dazu. Er nahm einen Schluck und setzte den Deckel drauf, wischte sich den Mund mit einer Papierserviette ab, nickte Lotti, die gerade mit Dirk plauderte, zum Abschied zu und nahm den Kaffee mit – um Lottis Gefühle nicht zu verletzen. Vorbei am hässlichen Stadhuis (zum Glück musste er nicht dort arbeiten) und über die Brücke in die Staalkade, wo seine Abteilung in einem bescheidenen Grachtenhaus mit Schweifgiebel ihr abgeschiedenes Dasein fristete.

Die Staalkade war die Amsterdamer Variante einer Sackgasse, ein vergessener Kaiabschnitt an einer Stelle, wo zwei Grachten beinahe, aber eben nicht ganz zusammentrafen, bevor sie in die Amstel mündeten. Eine Häuserzeile weiter strömten die Leute durch die schmale Straße, die von der einen Brücke zur nächsten führte, aber niemand bog in die langweilige u-förmige Straße ab, es sei denn, man hatte etwas in einem der sechs Gebäude zu erledigen, die an der äußersten Ausbuchtung der Staalkade lagen.

Posthumus ging zu dem dunklen Giebelhaus in der Mitte der Häuserreihe und schloss die Tür auf. Das freistehende Empfangsmöbel aus den sechziger Jahren, das sie vom Vormieter geerbt hatten, konnte inzwischen wieder als modisch gelten. Ein Kunstdruck von Andy Warhols Portrait der Königin komplettierte den Retro Chic, aber Alex gab dem Ganzen immer noch eine persönliche Note. Diese Woche war es eine einzelne Blume, eine gezackte Bird of Paradise in einer schlanken schwarzen Vase. Alex saß am Telefon und winkte ihm zu, als er auf dem Weg nach oben am Empfang vorbeikam. Er goss Lottis Plastikkaffee weg und machte sich in der winzigen Pantryküche im Gang einen Nespresso, während sein Computer hochfuhr. Er hatte die Espressomaschine selbst mitgebracht, nachdem er das schale Gebräu der Abteilung zum ersten und letzten Mal getrunken hatte. Der Duft des frischen Kaffees mischte sich mit dem Geruch von Vanille und Zitrone. Alex musste gerade oben gewesen sein. Der kaum wahrnehmbare Duft ihres Parfüms hing immer noch für ein paar Minuten in der Luft, nachdem sie gegangen war. Allure von Chanel, das wusste Posthumus inzwischen. Er nahm seinen Kaffee und ging zurück ins Büro.

Posthumus klickte auf das Mailsymbol und nippte an seinem Kaffee, während der Computer, leise vor sich hin summend und ohne sich übermäßig zu beeilen, das Programm startete. Noch keine Spur von Sulung oder Maya. Auf Sulungs Schreibtisch, der links von seinem in der Ecke stand, herrschte das übliche Chaos von Aktenstapeln und ungeordneten Papieren. Mayas Arbeitsplatz auf der anderen Seite war das genaue Gegenteil. Ihr Schreibtisch war völlig leer, bis auf den Computer und das Telefon.

An der Wand gegenüber, zwischen den Schreibtischen seiner beiden Kollegen, hing ein Bild, das eine Reihe Backsteinhäuser am Amstelfluss zeigte. Das Aquarell spiegelte genau die Szenerie wider, die man aus dem Fenster hinter Posthumus’ Schreibtisch sehen konnte. Der Computer kam mit einem ›Pling‹ zur Ruhe. Zwei neue Mails, beide von Alex. Die erste ging CC an alle:

Guten Morgen!

Ich denke mal, dass du wieder da bist, Sulung, und hoffe, es geht dir besser!

Neue Fälle:

Auf unsere Faxe wurde schnell reagiert. Leider keine guten Nachrichten.

Frau Vissers Angehörige sind alle tot, und bei Herrn Hageman gibt es keine neuen Spuren (eventuell gibt es einen Bruder, aber beim Einwohnermeldeamt in Amsterdam ist er nicht gemeldet), und Bart Hooft war unter der Adresse nicht einmal gemeldet. Testamente wurden keine hinterlegt, nicht einmal bei Frau Visser. Zwei Hausbesuche bei den beiden Herren, also, bei Frau V. genügt eine schnelle Klärung der Formalitäten.

Maya, kannst du Frau Visser im Zonhof übernehmen (das Zimmer ist bereits geräumt, wende dich an Frau van Dyck, die Pflegedienstleitung, sie wird dich über alles in Kenntnis setzen)?

Sulung, könntest du Herrn Hageman in der Madurastraat übernehmen (mit Pieter als Nr. 2)?

Pieter, übernimmst du Bart Hooft (Identität muss noch bestätigt werden), Mansarde in der Delistraat (Sulung als Nr. 2)?

(Ist beides noch heute möglich? Den Schlüssel für Hageman bekommt ihr bei Eva vom Sozialamt. Den Schlüssel für Hooft habe ich schon bei der Polizei abgeholt. Auch die Bilder von seinen merkwürdigen Tattoos, aber ich vermute, die werden keine große Hilfe sein. Das Auto ist den ganzen Tag für euch reserviert.)

Details zu allen drei Fällen im Ordner »Neue Fälle« unter dem Datum von gestern. Kopien liegen in euren Postfächern.

Alex

Typisch Alex, dachte Posthumus, dass sie bereits herausgefunden hatte, auf welchem Polizeirevier der Schlüssel zu Hoofts Wohnung lag. Sie wusste, wie sehr es ihn nervte, wenn er wie jeder x-beliebige Bürger unter der allgemeinen Nummer der Polizei anrufen musste, was etliche Warteschleifen und automatische Weitervermittlungen nach sich zog, bis er endlich einen echten Menschen von der Vermittlung an den Apparat bekam. Und dann musste er (immer dieselbe) Fahrstuhlmusik ertragen, um endlich zu erfahren, welches Revier den Schlüssel hatte (was nicht immer logischen Kriterien folgte). Eigentlich dauerte all das gar nicht lange. Zehn Minuten vielleicht. Aber schon diese zehn Minuten ärgerten Posthumus. Umso dankbarer war er Alex. Sie hatte sogar die Schlüssel abgeholt. (Wusste sie etwa, dass sich Posthumus in Gegenwart der Polizei unbehaglich fühlte – ein Überbleibsel aus seinen Tagen als Hausbesetzer, als er hin und wieder mit dem Gesetz in Konflikt geraten war? Er war ein paar Mal verhaftet worden: bei Demonstrationen, bei Streitigkeiten im besetzten Haus, einmal bloß wegen ungebührlichen Verhaltens. Es war nie zu einer Anklage gekommen … aber trotzdem.)

Die zweite E-Mail war nur für ihn:

Sorrrry, dass ich dich als Nr. 2 für den Messie eingeteilt habe! Seine Wohnung ist ganz in der Nähe von der Mansarde, deshalb ging es nicht anders. Sinnvoll, dass ihr beides gemeinsam macht.

Ax

Um Viertel vor zehn war Sulung im Büro eingetroffen. Sie hatten die Wohnungsschlüssel beim Sozialamt abgeholt, die Ausrüstung in der schwarzen Reisetasche überprüft (eine Kamera und, nur für den Fall der Fälle, Plastiküberzieher für die Schuhe, Handschuhe und Gesichtsmasken – bei manchen Hausbesuchen sahen sie aus wie Forensiker) und sich auf den Weg Richtung Osten zur Madurastraat gemacht.

»Ach du Scheiße!« Sulung bekam die Wohnungstür nur mit Mühe auf. Ein umgefallener Stapel Reklamepost und Prospekte – die meisten noch in Plastik verschweißt – blockierte den Flur. »Das reicht ja bis zur Decke!« Vier ramponierte Staubsauger, dazu Bürsten und Rohre von vielen weiteren, ein Stapel alter Eimer, vermutlich irgendwo auf der Straße aufgesammelt, vier, nein sechs Supermarkttüten vollgestopft mit Gummihandschuhen – sortiert: gelbe in den einen, rosafarbene in den anderen Tüten. »Tja, zumindest hatte er wohl vor, irgendwann mal zu putzen.« Ein Blick in die Küche. Coladosen. Hunderte und Aberhunderte Coladosen. Auf dem Herd vier mit Essensresten verkrustete Töpfe – Gott weiß wie alt – und auf den Töpfen, zwischen ihnen, bis hinunter zum Boden, zusammengelegte Fetzen Alufolie. Überall ekelhafter Dreck. Die Tür in ein anderes Zimmer war komplett blockiert. Jahrzehntealte Zeitungen, eine Pyramide aus Plastiktüten, in sich zusammensackende Türme aus Schachteln, in denen noch mehr Zeitungen lagen. Auf dem Boden eine zentimeterdicke Schicht aus Staub, festgetrampelten Papierschnipseln und einzelnen Blättern Papier.

Und dann der Gestank.

Der Bruchteil einer Sekunde, in der man nur etwas Süßliches roch, beinahe angenehm – dann der dunkle, bestialisch faulige Geschmack, der einen hinten an der Gurgel packte und dann tief in den Magen hinunterstieß. Posthumus würgte, vergrub die Nase in der Armbeuge und fummelte in der Tasche nach einer Maske.

»Sie hätten wenigstens ein Fenster aufmachen können«, sagte Sulung. Er war an so was gewöhnt. Machte den Job schon länger, obwohl er mindestens fünf Jahre jünger war als Posthumus. Sulung war ein bisschen merkwürdig, immer freundlich, wohltemperiert, aber zugleich unnahbar. Posthumus konnte ihn nicht recht einordnen. Aber er schätzte inzwischen die seltenen Augenblicke, in denen Sulung ihn direkt ansah, wenn er mit ihm sprach.

»Manche liegen wochenlang rum und riechen kaum, andere stinken schon nach einem Tag«, sagte Sulung. Der penetrante Geruch legte sich über das Gesicht, unter die Nase, auf die Zunge, und dann blieb er dort den ganzen Tag – das kannte Posthumus schon. Noch beim Abendessen würde er ihn riechen.

»Wie kann man es bloß so weit kommen lassen?«, fragte Sulung. »Wir sehen das ja häufig. Ich weiß auch nicht.«

»Manchmal sind die Leute senil, haben Depressionen oder eine Psychose«, sagte Posthumus hinter seiner Maske. »Das nennt man Diogenes-Syndrom.« Nach dem ersten derartigen Erlebnis hatte er Recherchen angestellt. Posthumus war zwar der Neue im Team, aber in den Jahren bei der Internen Revision hatte er gewissenhaftes Ermitteln gelernt. »Das ist eine ziemlich destruktive Mischung. Dreck und Elend, das Horten von Sachen, Verwahrlosung. Dann der völlige soziale Rückzug, das kann bis zur Feindseligkeit anderen gegenüber gehen. Die vom Sozialamt meinten, er hätte seit Jahren niemanden mehr in die Wohnung gelassen.«

»Da hat wohl jemand seine Hausaufgaben gemacht«, sagte Sulung, aber ohne die Schärfe, die Mayas Stimme bei solchen Bemerkungen hatte. Er nahm eine große Kamera aus der Tasche und begann zu fotografieren – zunächst die erste Seite der Akte, um festzuhalten, wo sie sich befanden, und dann die Wohnung. Jedes Zimmer, immer wieder klickte und blitzte es. Eine Standardprozedur. Die Wohnung, wie sie sie vorgefunden hatten. Man konnte nie wissen, ob nicht doch noch Angehörige auftauchten und behaupteten, der liebe, lange vermisste Verwandte habe alles Mögliche an Wertsachen in seiner Wohnung gehabt. Posthumus wartete, bis Sulung fertig war.

»Fangen wir hier an?«, fragte Sulung und deutete auf eine freie Stelle am Boden, etwa in Matratzengröße. Vermutlich war Hageman hier gestorben. »Und arbeiten uns dann durchs Zimmer?«

Er legte die dünne Mappe mit der Fallakte in die Mitte der leeren Stelle, die die Matratze hinterlassen hatte.

»Ich weiß nicht.« Posthumus zögerte. »Wir sollten versuchen, uns in ihn hineinzuversetzen.«

»Nein danke!«

»Ich meine das ganz ernst. Das könnte uns Zeit sparen. Alex hat gemeint, es gebe vielleicht einen Bruder. Allerdings nicht in Amsterdam. Ich sehe hier kein Telefon, und es wurde auch kein Handy bei der Leiche gefunden. Das könnte bedeuten, dass er noch altmodisch per Brief kommunizierte. Aber wahrscheinlich hat er sich jeglichem Kontakt verweigert. Keine Besuche, keine Briefe, auch keine von einem Bruder.« Posthumus hielt inne. Vielleicht vor allem nicht die eines Bruders. Wieder Willem. Er konnte ihn einfach nicht vergessen.

»Und was heißt das für uns?«, fragte Sulung.

»Tja, er hatte ja wohl eindeutig was für Papier übrig, vielleicht hat er Briefe aufgehoben. Rückzug und Horten.«

Sulung schaute skeptisch. »Also?«

»Vielleicht müssen wir uns gar nicht durch diesen Müllhaufen wühlen. Die Frage ist nur, wo würde er die Briefe aufbewahren?«

»Falls es sie überhaupt gibt.«

»Falls es sie gibt.«

Nichts im Briefkasten an der Wohnungstür. Nichts zwischen der Reklamepost oder unter der Matratze. Keine Schachteln, die sich von den anderen irgendwie unterschieden.

»Aber er scheint doch ein gewisses System gehabt zu haben«, überlegte Sulung. »Ich meine, Putzzeug im Flur, rosa Handschuhe in der einen, gelbe Handschuhe in der anderen Tüte, Dosen in der Küche, Papier hier im Zimmer. Aber es wird uns nicht viel helfen, wenn die Briefe in einem der Papierhaufen liegen – dann sind wir genauso weit wie vorhin.«

»Es sei denn«, sagte Posthumus, »es sei denn, die Briefe sind für ihn kein Papier.«

»Wie meinst du das?«

»Diese Sache hat ihn im Griff. Die Feindseligkeit, das Horten, das Sortieren, der Dreck. Aber vielleicht will er ja sauber machen. Er besorgt sich einen Staubsauger, kauft Gummihandschuhe. Vielleicht will er Kontakt aufnehmen. Und dann würden die Briefe nicht hier liegen unter dem ganzen Papier, sondern ganz woanders.«

Sie fanden die Briefe in der Küche, in der Warmhalteschublade unter dem Backofen. Alle ungeöffnet. Nicht viele. In den letzten zehn Jahren ein oder zwei pro Jahr. Die ältesten kamen aus Thailand, die jüngsten aus Deutschland.

»Vor zwei Monaten«, sagte Posthumus und drehte den Umschlag um. »München. W.J. Hageman. Und eine Adresse.«

Sulung jauchzte. »Das muss er sein!« Er riss den Umschlag auf und überflog den Brief. »Hoffe es geht Dir gut, blablabla, Maria lässt Dich lieb grüßen … bitte schreib uns doch, blabla … weißt du noch, wie Mama … Ja!« Triumphierend hielt er den Brief hoch. »Das ist er! Muss der Bruder sein … klingt doch ganz freundlich. Der übernimmt bestimmt die Bestattungskosten.«

Posthumus griff tief in den stinkenden Schlund des Backofens. Er holte einen angekohlten Schuhkarton hervor, zur Hälfte gefüllt mit Geldscheinen, dazu noch ein paar geöffnete Umschläge – vielleicht Kontoauszüge oder Versicherungspolicen.

»Sieht aus, als könnte er für sich selbst zahlen. Wir müssen das fotografieren und zählen. Ein paar Tausend, schätze ich. Die Dokumente bringen wir dann den Mädels.« Alex und ihre Kollegin am Empfang hatten die Aufgabe, Fundstücke wie diese durchzugehen, alles Nützliche herauszufiltern und den Papierkram zu erledigen. Posthumus fotografierte die Banknotenbündel und stopfte sie dann in die Plastikmappe, in der sich die Fallakte befand; die Dokumente und Umschläge legte er in eine der sorgfältig zusammengefalteten Plastiktüten, die er für diesen Zweck mitgebracht hatte.

»Das war’s dann wohl«, sagte Sulung. »Wenn Herr«, er schaute auf den Brief, »wenn Herr Willem Hageman die Verantwortung übernimmt, geht alles an ihn. Ich denke, wir können den Fall ruhen lassen, bis wir etwas von ihm hören. Alles in Ordnung bei dir?«

»Ja ja, schon gut«, sagte Posthumus. Dann: »Dein Fall, deine Entscheidung.«

Sulung warf die Wohnungsschlüssel in die Luft und fing sie wieder auf.

»Delistraat?«

***

Die Mansarde in der Delistraat bot einen angenehmeren Anblick. Sie war so gut wie leer. Ein billiger Dachausbau – ohne Baugenehmigung, wie Posthumus annahm; die Kücheneinrichtung bestand aus einem Kühlschrank, Kochplatte und Mikrowelle, einem Waschbecken und einer Duschkabine. Die Toilette war im Treppenhaus und stammte wohl noch aus den Tagen, als hier das Personal untergebracht war. Ein Einzelbett, ein Schreibtisch – kein Computer –, ein Stuhl, der vermutlich mitten im Zimmer unter dem Dachgebälk gelegen hatte, als der Tote gefunden wurde. Posthumus hatte bereits mit dem Vermieter telefoniert. »Hat anscheinend als Putzhilfe in einer Bar gearbeitet«, sagte er, während er Fotos machte. »Der Vermieter meint, der Mann hat von zwei Uhr morgens bis sechs gearbeitet, die übrige Zeit war er fast immer hier. Armer Kerl. Heftige Depressionen. Saubere Bettwäsche gehört hier zum Service, aber die blieb manchmal einfach draußen vor der Tür liegen. Die alte Bettwäsche hat er rausgelegt und schlief dann auf der nackten Matratze.«

Immer die gleiche Geschichte, hatte der Polizist am Telefon gemeint. »Trauriger einsamer Typ steht eines Tages auf und macht Schluss.« Die Polizei kannte so etwas nur zu gut. Kein Einbruch. Keine verdächtigen Umstände. Fazit: Selbstmord. Keine definitive Bestätigung, dass er wirklich Bart Hooft hieß, doch die Ressourcen der Polizei waren begrenzt. Also wurde das Etikett »unbekannt, vermutlich illegal« angehängt und der Fall ans Bestattungsteam abgeschoben.

Der Mann hatte ein Prepaid-Handy gehabt, aber entweder war das Adressbuch schon immer leer gewesen oder kürzlich gelöscht worden. Die einzige Nummer, die er gewählt hatte, war nicht mehr aktiv. Der Vermieter wusste nicht, in welcher Bar er gearbeitet hatte, und war wohl sehr damit einverstanden gewesen, dass sein Mieter nicht gemeldet war, weil er so dem Radar des Finanzamts entging. Mit Ausnahme des Namens, den er seinem Vermieter genannt hatte, hatte die Polizei nichts in Erfahrung gebracht. Selbst in dieser durch und durch bürokratisierten Stadt gab es Menschen, dicht unter der Oberfläche, die – aus welchen Gründen auch immer – durchs Raster fielen. Sie arbeiteten zwar, wurden aber bar bezahlt, lebten als nicht gemeldete Untermieter und hofften jeden Tag, dass sie nicht krank wurden oder mit dem Gesetz in Konflikt gerieten, damit sie nie einen Ausweis vorlegen mussten. Sie hinterließen keine Rechnungen, keine Spuren. Bart Hooft, wenn das sein richtiger Name gewesen war, war völlig losgelöst von dieser bürokratisierten Welt durch die Stadt getrieben. Eine angemessene Bestattung für jemanden wie ihn zu organisieren, war nicht einfach. Aber genau das reizte Posthumus an seiner Arbeit. Er schaute sich in dem kahlen Raum um.

Ein einziges Plakat, von einer Mark-Rothko-Ausstellung in Notre Dame, Indiana. Eine Kleiderstange mit drei oder vier Outfits zum Wechseln, eine Lederjacke, darunter eine große Schachtel mit T-Shirts, Unterwäsche und Socken. Über dem Schreibtisch ein Bücherregal. Kaum Bücher. Frühe Sachen von Remco Campert. Ein Buch mit düsteren Cartoons von einem gewissen Leunig. Ein Wörterbuch. Bücher über indische Religion oder etwas in der Art. Essays von Emerson. Ein abgegriffenes Exemplar von Nietzsches Ecce Homo. Die gesammelten Gedichte von Apollinaire, auf Französisch. Keine Romane. Keine Musik.

»Tja, er war eindeutig nicht dumm«, sagte Posthumus und stellte den Apollinaire zurück. Er zog die Schreibtischschubladen auf. Ein Umschlag mit etwa 300 Euro. Das reichte bei weitem nicht für eine Beerdigung. Ein paar Bleistifte, ein Spitzer, ein alter Füller – ansonsten nichts Persönliches. Kein Schnickschnack, keins dieser kuriosen Erinnerungsstücke, die sich bei so vielen ansammeln: das Strandgut des Lebens. Man hätte meinen können, dass Bart Hooft sich auf sein Ende vorbereitet hatte. Als ob er ganz bewusst die Tafel seines Lebens leer gewischt hätte. Vielleicht aber auch schlicht eine minimalistische Existenz in resoluter Anonymität.

Posthumus schaute wieder zur Kleiderstange. Weiße T-Shirts, schwarze und blaue Jeans. Alles andere in dunklen, gedeckten Farben, schwarz oder dunkelgrün. Ein paar Sachen mit Camouflagemuster, Militärklamotten vom Flohmarkt. Gab es hier irgendetwas, das etwas über den Toten erzählte? Auf dem Schreibtisch lag ein Din-A4-Schreibblock. Unbenutzt. Darunter ein großes Notizbuch mit schwarzem Pappeinband. Posthumus kannte diese Notizbücher aus seiner Schulzeit. Das hier war ziemlich dick und abgegriffen. Er schlug es auf.

»Gedichte!«, sagte er. »Bart Hooft schrieb Gedichte.« Seite um Seite war gefüllt, fein säuberlich geschrieben, eindeutig letzte Fassungen. »Das könnte uns weiterhelfen«, sagte er. »Das nehmen wir mit.« Er legte das Notizbuch neben die Fallakte.

Dann öffnete er noch einmal eine der Schreibtischschubladen. »Und den Füller auch.« Er hob ihn hoch. Sulung, der die Taschen der Hosen und Jacken auf der Kleiderstange durchsuchte, sah ihn fragend an. »Ich weiß nicht warum. Der hat irgendwas. So einen hab ich noch nie gesehen.« Posthumus wog ihn in der Hand. Der Füller hatte eine seltsam abgeflachte Spitze und eine altmodische Vorrichtung zum Befüllen. Der schwarze Kolben war golden gefleckt und an einer Seite aufwendig mit einem Paradiesvogel bemalt. »Sieht wertvoll aus«, sagte er. »Wir sollten ihn in den Safe legen. Vielleicht können wir damit ja die Bestattung finanzieren.«

Aber Sulung war ganz vertieft in eine Schachtel mit Socken und Unterwäsche. »Sieh mal einer an«, sagte er. »Vielleicht doch nicht ganz so abgehoben und intellektuell, wie du gedacht hast.« Mit einem metallischen Klirren zog er ein Paar Handschellen hervor, dazu mehrere Lederriemen. Er umwickelte seine Hand mit einem sauberen T-Shirt und hielt einen Dildo hoch, in Größe und Form einem menschlichen Unterarm mit geballter Faust nachempfunden. »Das sollte uns eine Lehre sein: Wer weiß, wer später mal in unseren Sachen herumstöbert.«

»Der arme Kerl«, sagte Posthumus. »Das geht uns eigentlich nichts an.« Dann: »Kann ich das mal haben?«

»Wusste ja gar nicht, dass du auf so was stehst.«

»Nein, schau mal.« Posthumus wendete den Arm. Auf die Unterseite hatte jemand mit schwarzem Edding einen seltsamen Vogel gemalt, drumherum einen Kreis und dann einen fünfzackigen Stern. »Das hatte er auch auf den Arm tätowiert. Du weißt schon, die Fotos, die Alex von der Polizei bekommen hat … die vielen Tattoos.«

»Die hab ich mir nicht richtig angesehen.«

»Ich bin mir sicher. Allerdings hatte das Tattoo keinen Text. Unter der Zeichnung auf dem Dildo stand: Something to remember me by …«

Posthumus schlug den Fallbericht auf. Vier Fotos. Er zog eins heraus.

»Hier, schau mal.«

Nicht am Unterarm, sondern auf der Unterseite des Bizeps, in der Nähe der Achselhöhle. Dasselbe Symbol, nur befand sich darunter ein kleines rotes Herz mit einem Schlüsselloch in der Mitte.

»Also, das Ding nehme ich nicht mit zurück«, sagte Sulung und ließ den Dildo wieder in die Schachtel fallen. »Du kannst ja ein Foto machen, wenn du willst.« Er gab Posthumus die Kamera.

»Nicht nötig. Wir haben ja die Polizeifotos. Und wahrscheinlich führt das ohnehin zu nichts. Ich glaube kaum, dass Tattoo-Studios eine Kartei mit den Tätowierungen ihrer Kunden haben.«

Ansonsten fand sich nichts in der Wohnung, was einen Hinweis auf Bart Hooft gegeben hätte. Sulung und Posthumus waren noch vor dem Mittagessen fertig.

»Ich finde, wir haben uns eine extra-lange Mittagspause verdient«, sagte Sulung. »Das lief doch hervorragend heute Vormittag. Und ich weiß genau das Richtige für uns.«

Ein indonesischer Imbiss nur wenige Straßen entfernt. Die Inhaberin, eine krumme alte Frau mit grauen Haaren, begrüßte Sulung wie einen alten Freund.

»Der einzige Mensch in der Stadt, der besser kocht als meine Mutter«, sagte er, während sie auf ihr Essen warteten. »Schön, mal wieder in der Gegend zu sein. Ich muss sonst durch die ganze Stadt fahren, wenn ich hier essen will.«

»Scheint sehr gut herzupassen, der Laden«, meinte Posthumus. Die umliegenden Straßen waren sämtlich nach indonesischen Inseln benannt, den früheren Kolonien in Niederländisch-Indien.

»Ah, das Kolonialviertel«, sagte Sulung, obwohl das Viertel heute als »indonesisches Viertel« bekannt war.

Posthumus hob eine Augenbraue. »Das ist ein bisschen gemein«, sagte er.

Sulung zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Ich bin in Holland aufgewachsen, meine Eltern hatten es hier ziemlich schwer, mussten sich an ein neues Land anpassen, versuchen, sich zu integrieren. Und wir Kinder haben auch so einiges abgekriegt. Kleines Dorf im Süden, die einzige nicht-holländische Familie.«

Ein großer Teller mit Satay-Spießen wurde gebracht, verführerisch glänzend, die Erdnusssauce war eindeutig hausgemacht.

»Aber jetzt … jetzt ist das doch anders, oder?«, fragte Posthumus.

»Vielleicht für uns in den großen Städten. Ich glaube, heutzutage bekommen die Marokkaner die ganze Scheiße ab.«

Sulung nahm einen Hühnchenspieß und aß ein Stück Fleisch. »Aber meine Eltern haben sich immerhin bemüht. Das ist es, was mich so ankotzt.«

Draußen auf der Straße gingen zwei tiefverschleierte Frauen vorbei.

»Das macht es schwieriger für uns alle«, sagte er.

Jetzt war Posthumus an der Reihe, mit den Schultern zu zucken.

***

Zurück im Büro übergab Posthumus die Fundstücke aus der Madurastraat dem Mädchen am Empfang, dazu noch Hagemans Geld und den Füller aus Bart Hoofts Dachwohnung. Sie quittierte den Erhalt und verstaute alles im Safe. Alex war nicht da. Eigentlich war sie nur freitags und am Dienstagmorgen in der Uni, aber heute Mittag hatte sie freigenommen, für den Vortrag eines Gastdozenten, den sie unbedingt hören wollte. Posthumus verbrachte den Nachmittag mit der Internetrecherche nach Füllfederhaltern und mied dabei Mayas giftige Blicke. Außerdem las er Bart Hoofts Gedichte.

»Einige sind richtig gut«, sagte er zu Sulung. »Allerdings ziemlich düster. Und in manchen geht es heftig zur Sache.«

Sulung ballte die Faust und hob den Unterarm. Posthumus runzelte die Stirn und sah weg. Er überblätterte eine Reihe Gedichte mit dem Titel (K)Nights in the Black Tulip.

»Es gibt aber auch welche, die sind sehr berührend und schlicht. Eine ganz andere Seite von ihm. Hör mal.«

Er las vor:

Der gute Freund

Ich

War immer

Allein

Im Raum nebenan

Während der, den ich liebte

Sich liebte

Mit ihm, den er mehr liebte.

Maya schlug geräuschvoll eine Akte zu.

»Ergreifend, findest du nicht? Wenn man bedenkt, was passiert ist«, sagte Posthumus.

»Nicht so mein Ding«, sagte Sulung.

»Leider ist nichts dabei, was ich für die Bestattung verwenden könnte«, fuhr Posthumus fort, »aber es macht die ganze Sache noch trauriger. Es ist einfach furchtbar traurig.«

»Wir sollten uns verhalten wie Ärzte«, sagte Maya. »Gefühlsduseleien haben hier nun wirklich nichts verloren.«

3

Wie viele Amsterdamer hatte Posthumus einen bestimmten Weg hin zu einem Ort und einen völlig anderen Weg zurück. Amsterdam, dieses merkwürdige Spinnennetz von einer Stadt, hatte die Eigenschaft, seine Form zu wechseln, je nach Standort – wie ein Kaleidoskop, dessen Muster sich durch leichtes Schütteln veränderte. Es wirkte jedes Mal völlig einleuchtend, eine bestimmte Route zu wählen, auch wenn es jeweils eine andere war. Er bog rechts ab und ging die Staalkade hinunter, wieder rechts an der Gracht entlang, über eine kleine weiße hölzerne Brücke und weiter bis zum Nieuwmarkt. Die Glocken der Zuiderkerk spielten alte Volkslieder. Einen Block vom Nieuwmarkt entfernt, änderte sich die Atmosphäre mit einem Schlag, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Die gedämpfte Eleganz der Grachtenhäuser wich den Neonreklamen, dem Geruch von Fastfood, Cannabisschwaden und der lärmenden Betriebsamkeit des Rotlichtviertels. Und mitten drin, als ob sie aus einer Märchenerzählung hergeweht und auf dem Nieuwmarkt gelandet wäre, stand De Waag. Das trutzige mittelalterliche Stadttor mit seinen Rapunzelfenstern und Spitzdächern, die aussahen wie Zwergenmützen, wurde später zur Stadtwaage umfunktioniert; heute beherbergte es ein hippes Restaurant.

Nach diesem Tag brauchte Posthumus dringend einen Drink. Und er wollte mit Anna plaudern. Die Arbeit hatte ihn geschlaucht. Diese erste Wohnung. Aber mehr noch Bart Hoofts Gedichte. Jemand in seinem Alter, dessen Leben der Welt – und womöglich auch ihm selbst – nichts bedeutete. Und doch hatte er so bewegende Texte geschrieben. Gedichte, die wahrscheinlich noch nie jemand gelesen hatte. Und niemand mehr lesen würde.

Anstatt also direkt auf der Recht Boomssloot nach Hause zu gehen, ging Posthumus links an De Waag vorbei, direkt unter den Fenstern des Saales, in dem im 17. Jahrhundert die Leichen von Kriminellen, die auf dem Nieuwmarkt gehängt worden waren, zu anatomischen Zwecken seziert wurden (auch hier hatte sich Rembrandt gern aufgehalten), Richtung Zeedijk. Als er zum ersten Mal in dieses Viertel gekommen war – vor fast zwanzig Jahren –, war der Zeedijk die zwielichtigste Straße im schäbigsten Teil der Stadt gewesen, ein Treffpunkt für Junkies und Dealer – dort wo der Rotlichtbezirk auf Chinatown traf. Nachdem die Stadtverwaltung die Gegend zum Sanierungsgebiet erklärt hatte, gab es hier heute viele beliebte Kneipen und Restaurants. Posthumus ging den Zeedijk entlang. Er kam am großen chinesischen Tempel vorbei und winkte dem Besitzer des Wing Kee Eating House zu (nach all den Jahren immer noch sein Lieblingsrestaurant). Links drängten sich Scharen gaffender Touristen. Er mied die schmaleren Gassen, wo sich Schlangen um Schlangen älterer Männer an den Mädchen hinter den Fenstern vorbeischoben. Die nächste Brücke. Eine der wenigen Gegenden von Amsterdam, die wirklich an Venedig erinnerten, weil die Häuser nicht durch eine Straße von der Gracht getrennt waren, sondern direkt ans Wasser grenzten. Weiter zu De Dolle Hond in unmittelbarer Nähe des Rotlichtviertels, wo man seit fast vierhundert Jahren Bier und gute Laune serviert bekam.

Posthumus’ Wein stand schon bereit, als er durch die Tür kam. Ein hervorragender zitroniger Sauvignon Blanc aus Neuseeland, den Anna de Vries extra für ihn einkaufte. Posthumus war kein Biertyp.

»Was ist los?«

Sie hatte es sofort bemerkt. Posthumus und Anna kannten sich schon Ewigkeiten. Aus der Zeit, als er nach Amsterdam gekommen war, ein Dorfjunge aus Krommenie, mit großen Träumen, dem das Leben in der Provinz noch in den Knochen steckte. Anna war Amsterdamerin durch und durch. Das Lokal hatte ihren Eltern gehört und davor ihren Großeltern. Vielleicht reichte die Tradition noch eine Generation weiter zurück, Posthumus konnte sich nicht mehr erinnern. De Dolle Hond gab es sowieso schon viel länger als die Familie De Vries. Anna hatte ihm die Stadt gezeigt. Und auch sonst so einiges. Sie waren ein Paar gewesen, aber das war lange her. Und was waren sie jetzt? Beste Freunde klang zu sehr nach Spielplatz. Eher eine Familie. Sie hatten beide niemanden sonst; weder eine feste Beziehung noch Verwandte. Ihre Eltern waren tot. Sie war ein Einzelkind. Und er … tja, er hatte auch niemanden.

»Später«, sagte er. »Zuerst muss ich was trinken. Den Tag runterspülen.«

De Dolle Hond war leer. Abgesehen von Frau Pling. Tagaus, tagein saß Frau Pling am Automaten und spielte sich die Finger wund. Das machte sie schon seit Jahren. Sie sagte kein Wort, vermied jeden Kontakt. Vielleicht konnte sie gar kein Niederländisch. Und auch kein Englisch – sie hatten es versucht. Sie hatten ihr den Spitznamen Frau Pling gegeben, weil der Spielautomat »pling« machte, wenn sie gewann. Den Spielautomaten gab es erst, seit Annas Vater die Kneipe übernommen hatte. Anna war zunächst dagegen gewesen; sie fand, dass der Automat nicht zur alten Holzvertäfelung der Bar passte, aber irgendwie war er geblieben, auch nach dem Tod ihrer Eltern. Außerdem ließ sich damit etwas verdienen. Vor allem, wenn Frau Pling dran war.