Das chinesische Zimmer - Henning Boëtius - E-Book

Das chinesische Zimmer E-Book

Henning Boëtius

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Beschreibung

Der siebte Fall für Piet Hieronymus

Eigentlich hat sich Piet Hieronymus, ehemaliger Profiler der niederländischen Polizei für Auslandsermittlungen, schon seit längerem zur Ruhe gesetzt. Doch dann erhält er die Nachricht, dass sein finnischer Ex-Kollege und Freund Einar Berglund unerwartet gestorben sei. Piet hat allen Grund, an dem Tod Einars zu zweifeln. Er macht sich umgehend auf den Weg in den hohen Norden, doch ein schwerer Sturz hindert ihn dort lange an weiteren Nachforschungen. Mit Hilfe der Vietnamesin Hue, die ihn im Krankenhaus betreute, und des Samen Matti kommt Piet schließlich einem perfiden Netzwerk skrupelloser Ärzte und Wissenschaftler auf die Spur, deren mafiöse Unternehmungen offenbar mit Einar Berglunds Schicksal in Zusammenhang stehen.

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Zum Buch

Eigentlich hat sich Piet Hieronymus, ehemaliger Profiler der niederländischen Polizei für Auslandsermittlungen, schon seit längerem zur Ruhe gesetzt. Doch dann erhält er die Nachricht, dass sein finnischer Ex-Kollege und Freund Einar Berglund unerwartet gestorben sei. Piet hat allen Grund, an dem Tod Einars zu zweifeln. Er macht sich umgehend auf den Weg in den hohen Norden, doch ein schwerer Sturz hindert ihn dort lange an weiteren Nachforschungen. Mithilfe der Vietnamesin Hue, die ihn im Krankenhaus betreute, und des Samen Matti gelingt es Piet schließlich, das Rätsel um Einar zu lösen.

Sein letzter Fall führt Piet Hieronymus auf die Spur eines perfiden Netzwerks skrupelloser Ärzte und Wissenschaftler, deren mafiöse Unternehmungen offenbar mit Einar Berglunds Schicksal in Zusammenhang stehen. Es wird für ihn aber auch eine Reise in die vom Untergang bedrohte Kultur der Samen – und eine Konfrontation mit seiner eigenen Verletzlichkeit und Vergänglichkeit.

Zum Autor

Henning Boëtius, geboren 1939, ist Verfasser eines vielschichtigen Werkes, das Romane, Essays, Lyrik und Sachbücher umfasst. Bekannt wurde er durch Romanbiografien von Autoren wie Georg Christoph Lichtenberg, Arthur Rimbaud oder Heinrich Heine, durch seine Trilogie autobiografisch fundierter Romane (»Phönix aus Asche«, »Der Strandläufer« und »Der Insulaner«) sowie durch seine Kriminalromane um den holländischen Ermittler und Profiler Piet Hieronymus. »Das Chinesische Zimmer« ist der siebte Piet-Hieronymus-Roman.

Henning Boëtius

Das Chinesische Zimmer

Roman

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Copyright © 2022 by btb Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: semper smile, München

Covermotive: © plainpicture / KuS

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ts · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-28546-3V002

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

1

Nachdem Piet Hieronymus zweimal ohne triftigen Grund gestürzt war – er hatte einfach das Gleichgewicht verloren und war der Länge nach aufs Straßenpflaster geflogen –, entschloss er sich, seine kleine Stadtwohnung aufzugeben und in eine nahe gelegene Einrichtung für betreutes Wohnen umzuziehen. Vor Jahren hatte ihn ein Kriminalfall, in dem er als Profiler für Auslandsfälle der niederländischen Polizei ermittelte, aus seiner Heimat nach Berlin geführt. Er war in dieser Stadt hängen geblieben, und jetzt hatte er seiner Ansicht nach die Endstation erreicht: ein kleines Zimmer in einem Berliner Altenheim. Eigentlich war es kein richtiges Zimmer, eher eine Zelle, ähnlich einer Gefängnis- oder Mönchszelle, aber das machte keinen großen Unterschied. Auch ein Mönch ist ein Gefangener, und zwar der Illusion, durch Askese, Zurückgezogenheit und Gebet Gott näher zu sein als jene, die sich draußen in der Welt aufhalten, um dort ihren Bedürfnissen nachzugehen. Aus kosmischer Perspektive ist übrigens der ganze Erdball eine Gefängniszelle.

Seinen Versuch, den Raum ein wenig wohnlich zu machen, hatte er schnell aufgegeben. Nicht nur aus Platzmangel, sondern vor allem weil er sein Leben nicht in einem Trödelladen beschließen wollte, vollgestopft mit Dingen und Bildern, die ihm einst wichtig gewesen waren. Seine Erinnerungen sollten eingesperrt im Labyrinth der Gehirnwindungen verharren, und dort sollten sie gefälligst bleiben bis zum Ende seines Daseins. Sie hatten lebenslänglich bekommen, die Höchststrafe für die Anmaßung, einst Gegenwart gewesen zu sein.

Es gab nur zwei Ausnahmen, was die Gestaltung seiner kleinen Welt anging: einen Korbsessel, den er von seiner vor langer Zeit verstorbenen Mutter geerbt hatte und der so stark knarrte, dass das Geräusch jedes Gespräch behinderte, das man von ihm aus zu führen versuchte. Das kam allerdings nur selten vor, denn er hatte so gut wie nie Besuch, und mit den Pflegern und Ärzten lohnte sich eine Unterhaltung nicht, denn sie redeten nur von medizinischen Fakten, seine Gesundheit betreffend.

Die zweite Ausnahme war ein großes Poster, das er an der weiß getünchten Wand gegenüber dem Fenster angebracht hatte. Es zeigte ein menschliches Skelett, sein eigenes. Es war der vergrößerte Ausdruck einer CT-Aufnahme. Deren Ergebnis: Er hatte Osteoporose und als Folge mehrere Kompressionsbrüche der Wirbelsäule. Das erklärte, warum er zehn Zentimeter kleiner war als früher. Ein Mann, den Piet Hieronymus wegen seiner überragenden Intelligenz besonders verehrte, war der französische Philosoph und Schriftsteller Paul Valéry. Der hatte auch eine Abbildung seines Skeletts in seinem bescheidenen Zimmer hängen gehabt während der zweiundzwanzig langen Jahre, in denen er keine Poesie mehr schrieb, nachdem ihm ein heftiges Gewitter, das er in Genua von einem Balkon aus beobachtet hatte, die schockierende Einsicht vermittelt hatte, dass Poesie angesichts solcher Naturgewalten im Grunde überflüssig sei. Von Valéry stammte der Satz: »Dummheit ist nicht meine Stärke«, den Piet zu seinem Lebensmotto gemacht hatte, wohl wissend, dass er ihm selten gerecht wurde, vor allem wenn es um die Beziehungen zu Frauen ging. Jetzt gab es so gut wie keine Gelegenheit mehr, sich an dieses Motto zu halten. Der knarrende Korbsessel und sein Knochengerüst waren für Piet Mahnungen, sich nur noch auf das Wesentliche zu konzentrieren, und zum Wesentlichen gehörte das Schweigen. Schweigen war wichtig. Es war weit mehr als Stummheit. Es gab Großmeister des Schweigens. Joyce zum Beispiel. Er soll es fertiggebracht haben, stundenlang auf einem Barhocker zu sitzen, ohne ein einziges Wort zu sagen. Oder sein Schüler Samuel Beckett, der in seinen Werken das Schweigen immer wieder thematisierte. Nicht zu vergessen Wittgenstein, dessen Tractatus mit dem berühmten Satz endet: »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.«

Sein Arzt hatte ihm offen gesagt, dass seine Lebensuhr so gut wie abgelaufen sei, weniger wegen seines Sturzes, sondern weil nach einer früheren Operation wegen eines Prostatakrebses wieder Metastasen aufgetreten seien. Zeit also, endlich konsequent zu sein. Früher hatte er versucht, sein Leben zu verlängern, indem er eine Beziehung wechselte oder den Beruf oder das Land. Alles ohne Erfolg. Die Dehnung der subjektiven Zeit, die Einstein in der speziellen Relativitätstheorie als Folge extremer Geschwindigkeit beschreibt, war immer nur von kurzer Dauer. Sie war jedes Mal sehr schnell wieder geschrumpft angesichts einer allgegenwärtigen Normalität.

Piet Hieronymus saß in seinem Sessel und schwieg. Er übte sich darin, keine lautlosen Selbstgespräche zu führen, was nicht ganz einfach war, denn immer wieder meldete sich der Strom des Bewusstseins mit seiner inneren Stimme. Von draußen drang durch die heruntergelassene Jalousie und den zugezogenen Vorhang das monotone An- und Abschwellen des Verkehrslärms.

Er dachte in der letzten Zeit viel über den Tod nach. Als sein Vater starb, hatte das bei ihm keinerlei Gefühle ausgelöst, denn er hatte ihn kaum gekannt. Als seine Mutter starb, war er anfangs fast erleichtert, denn das ewige Kujonieren hatte ein Ende, dann aber begann er sie zu vermissen. Die Trauer hatte in diesem Fall mit einiger Verzögerung eingesetzt und war dann umso größer gewesen.

Vor allem aber Einar Berglunds Tod hatte ihn tief getroffen. Einar war ein finnischer Kommissar gewesen, der ihm vor vielen Jahren bei der Lösung eines Kriminalfalles geholfen hatte. Zwei holländische Staatsbürger waren in Lappland ermordet worden. Er war damals im Auftrag der Groninger Kripo in den hohen Norden gereist, um den Fall zu untersuchen. Jahre später hatten sie noch einmal zusammengearbeitet, in einem dubiosen Fall in Berlin. Sie ergänzten sich gut, Einar war der Analytiker, während er mehr aus dem Bauch agierte.

Aus der Zusammenarbeit mit Berglund war so etwas wie eine echte Freundschaft entstanden. Einar lebte nach seiner Pensionierung in einer Blockhütte in einem geschlossenen Waldstück an einem See, einige Kilometer westlich von Rovaniemi. Piet hatte Einar einige Male dort besucht und musste dazu jedes Mal seine Flugangst überwinden, aber der Kontakt mit seinem Kollegen war ihm wichtig. Sie hatten viel Zeit in der Sauna verbracht, Rotwein getrunken und über das Leben und die Menschen philosophiert. Beide waren sich einig darin, dass es wenig Gründe gab, mit den Verhältnissen dieser Welt zufrieden zu sein.

Sie hatten sich wieder aus den Augen verloren, diesmal wohl für immer. Doch dann kam ein Brief, der Piet nachdenklich stimmte. »Verzeih mir meine Schrift. Ich kann fast nichts mehr sehen. Es ist das verfluchte Alter. Auch mein Gedächtnis lässt nach. Manchmal vergesse ich sogar den Namen meiner Frau, die mich wegen einem Landsmann von ihr verlassen hat, wie du weißt. Ich würde dich gerne noch einmal sehen, ehe es zu spät ist. Einar.«

Piet schrieb zurück und schilderte seinen körperlichen Zustand, der eine so weite Reise unmöglich machen würde. Als er keine Antwort erhielt, rief er bei der Polizei in Rovaniemi an. Einar musste seinen Kollegen einiges von Piet erzählt haben, denn der Mann am Telefon, der sich als Inspektor Mäkinen vorstellte, war erstaunlich mitteilsam. Er sagte, Einar sei tot in seiner Sauna aufgefunden worden. Die Todesursache sei nicht ganz klar, da der Körper bereits stark verwest gewesen sei. Es gebe aber keine Anzeichen äußerer Gewalt und auch kein Gift im Körper. Vermutlich sei er einem Herzschlag erlegen, denn man habe eine große, leere Korbflasche Chianti in der Sauna gefunden. Die Kombination einer hohen Lufttemperatur mit einer größeren Menge Alkohol sei nicht ungefährlich. Vielleicht habe er seinen Tod sogar bewusst herbeigeführt.

Piet Hieronymus war von den Annahmen der finnischen Polizei nicht überzeugt, denn er wusste, dass Einar zwar gerne Rotwein trank, jedoch niemals italienischen, seit ihn seine italienische Frau verlassen hatte.

Wenig später klopfte es. Das war seltsam. Um diese Zeit kam gewöhnlich keine Putzfrau, kein Pfleger, um ihm sein Essen zu bringen, außerdem klopften die Angestellten des Heimes nicht. Sie traten einfach ein. Wer mochte es sein? Er hatte längst keine Freunde mehr, keine Bekanntschaften. Die Menschen, die ihm nahegestanden hatten, waren inzwischen entweder verstorben oder sie interessierten sich nicht mehr für ihn. Wieder klopfte es, diesmal lauter. Schließlich stand Piet mit einiger Mühe auf, verharrte einen Moment zögernd vor der Tür und versuchte, in diesem Geräusch zu lesen. Sprach Ungeduld aus ihm? War es ein Mann oder eine Frau? Als das Klopfen nicht aufhörte, öffnete er. Eine zierliche, hübsche Person stand vor ihm und lächelte ihn an. »Ich bin Anna, die neue Fußpflegerin«, sagte sie mit einem starken Akzent.

Sie hatte einen großen Trolley dabei, dem sie verschiedene Dinge entnahm. Einen Klapphocker, einen Kasten mit ihrem Werkzeug – Scheren, Zangen, Feilen, Nagelknipser, Nagelfräser –, eine blaue Plastikschüssel, einen elektrischen Kocher, eine kleine, sehr helle Lampe und ein Kofferradio mit Kassettenfach. Während sie alles aufbaute und dann das Radio einschaltete, betrachtete er sie von seinem Korbsessel aus, in dem er wieder Platz genommen hatte. Manchmal glich dessen Knarren einer menschlichen Stimme, der Stimme seiner Mutter. »Du hast dir wieder nicht die Zähne geputzt.« – »Künstliche Zähne muss man nicht putzen«, murmelte er dann, wobei er verschwieg, dass er immer noch ein paar echte Zähne hatte. Diesmal aber hielt der Sessel still, so gebannt starrte er die Person vor ihm an. Sie hatte die braunen Haare zu einem Knoten geschlungen, in dem ein strassbesetzter Kamm steckte. Ihr blütenweißer Kittel betonte ihren dunklen Teint. Sie bewegte sich ungeheuer schnell und sicher. Es war schwierig, ihr Alter einzuschätzen: In vielem glich sie einem jungen Mädchen, aber sie hatte auch Züge einer älteren Frau. Während sie mithilfe des elektrischen Kochers und der blauen Plastikschüssel ein Fußbad bereitete, summte sie unaufhörlich zu den Liedern, die aus dem Radio erklangen. »Ich kann ohne Musik nicht arbeiten«, meinte sie. Piet fand, dass sie das Gegenteil ihrer korpulenten und hässlichen Vorgängerin war, die nur das Notwendigste tat und nach zwanzig Minuten fertig war, wobei es häufig nicht ohne kleine, schmerzhafte Verletzungen abging. Früher hätte er sich bestimmt in Anna verliebt. Aber jetzt war ein solcher Gedanke absurd.

Anna zog den Klapphocker heran, setzte sich und band sich eine grün-weiß-rot gestreifte Gesichtsmaske um, eine kleine italienische Trikolore. Ganze siebzig Minuten widmete sie sich Piets Füßen. Einiges von der Musik gefiel ihm. Er erkannte die Stimme von Adriano Celentano, von Lucio Dalla und Paolo Conte. Als die Kassette zu Ende war, legte Anna ein Band mit monotoner, hypnotischer Klaviermusik ein. Piet schlief fast in seinem Sessel ein, so beruhigend und angenehm war alles. Irgendwann hörte er durch den Vorhang der Maske, der sich dabei heftig bewegte, Annas melodische, tiefe Stimme. »Das ist Ludovico Einaudi. Ist das nicht wunderschön? Ich finde, er streichelt die Tasten wie den ausgestreckten Körper einer Frau. Sie haben Hammerzehen, mein Herr, daher die Hühneraugen. Ich werde jetzt die überflüssige Hornhaut entfernen, sagen Sie, wenn es pikst.«

Es pikste nicht, aber es tat höllisch weh, als Anna ein Hühnerauge mit dem Hornhauthobel traktierte. Zum Schluss ölte sie seine Füße ein und massierte sie mit einer Kraft, die er ihr nicht zugetraut hatte. »Ich komme in drei Wochen wieder«, sagte sie zum Abschied. »Ich denke, Sie werden schon jetzt besser laufen können.«

Sie hatte recht. Er hatte ein wunderbares Gefühl in den Füßen und bewegte sich viel leichter. Er hatte auch den Eindruck, besser denken zu können. Irgendwie war er klarer im Kopf. Er ging ein paarmal den Flur auf und ab und fühlte sich dabei wie ein kleiner Junge, der barfuß über einen Strand schlendert.

Piet erkundigte sich bei der Anstaltsleitung nach der neuen Fußpflegerin. Sie hieß mit vollem Namen Anna Christina Bartolini. Ihr Mann führte eine Pizzeria in der Innenstadt. Piet entschloss sich, das Lokal aufzusuchen. Herr Bartolini war ein schöner Mann. Massig, groß, weißhaarig, breites Kreuz. Er erinnerte in seinem eleganten, etwas abgenutzten beigefarbenen Zweireiher an den alten Raf Vallone. Der Wirt begrüßte die Gäste persönlich mit einem festen Händedruck und setzte sich auch, wenn man bestellt hatte, für einen Moment an deren Tisch. Piet bestellte eine Margherita, für ihn die ehrlichste Pizza und ein guter Gradmesser für das Niveau eines italienischen Lokals. Als Annas Mann neben ihm saß, lobte Piet dessen Frau in den höchsten Tönen. »Ja, das ist wahr. Sie ist eine schöne Person, und sie kann in ihrem Beruf wirklich sehr viel. Aber Anna ist auch ein Besen. Es ist nicht einfach mit ihr.« Er seufzte. »Sie will nicht kochen. Sie mag ihren Hund mehr als mich, aber ich liebe sie unendlich. Als wir uns vor dreißig Jahren am Strand von Sperlonga kennenlernten, war es um mich für alle Zeiten geschehen.«

Die Pizza kam, und sie war vorzüglich. Ebenso der Pinot Grigio. Der Wirt erhob sich und schüttelte noch einmal mit eisernem Griff Piets Hand. Nach einer zweiten Karaffe Wein fuhr Piet in bester Stimmung mit dem Taxi ins Pflegeheim zurück.

2

Nachdem die Fußpflegerin Anna zum dritten Mal da gewesen war, fühlte sich Piet Hieronymus so gut, dass er seinen Arzt aufsuchte, um ihm von dieser Entwicklung zu berichten. Der Arzt meinte: »Ein gutes Beispiel dafür, wie eng die verschiedensten Teile des menschlichen Körpers miteinander zusammenhängen. Das macht ja auch jede Diagnose so schwierig.«

Piet erzählte ihm von seinem Plan, den er in einer schlaflosen Nacht zuvor gefasst hatte. »Ich habe vor, eine ziemlich lange Reise zu unternehmen. Und zwar in den hohen Norden. Nach Lappland. Ich will etwas klären. Es geht um den mysteriösen Tod eines alten Freundes. Ich habe mich während meiner beruflichen Jahre immer an eine Methode gehalten, die ich die Maigret-Methode nenne. Einen Fall nicht durch eine analytische Vorgehensweise zu lösen, sondern dadurch, dass man sich mitten hinein in das Milieu begibt, in dem er stattgefunden hat. Deshalb muss ich jetzt nach Rovaniemi, in die Hauptstadt von Finnisch Lappland. Meinen Sie, ich kann mir eine solch lange Reise zumuten?«

Der Arzt war ein gut aussehender junger Mann von hoher Intelligenz und der Fähigkeit, echte Anteilnahme zu vermitteln.

»Ihre Blutwerte sind nicht schlecht, ich bin zufrieden mit Ihnen. Mit einer Ausnahme. Ihr PSA-Wert steigt wieder. Das müssen wir beobachten. Es ist möglich, dass der Krebs zurück ist. Wir sollten den PSA-Wert nun vierteljährlich ermitteln.«

»Diese Entwicklung motiviert mich zusätzlich, auf eine lange Reise zu gehen. Ich möchte hier nicht einfach so auf meinen Tod warten.«

Piet kaufte online zerlegbare Nordic Walking Stöcke, einen Rucksack, ein Schweizer Offiziersmesser, eine Taschenlampe und einen Taschenkompass. Der Leitung des Hauses, das unmittelbar neben einem Bahnhof lag, erklärte er, er müsse wegen einer Erbschaftsangelegenheit für einige Wochen in seine alte Heimat zurück. Sein Zimmer wolle er jedoch behalten. Dann ließ er sich noch einmal in die Pizzeria von Signore Bartolini fahren. Anna war da. Sie stritt sich vor aller Augen und Ohren mit ihrem Mann. Piet ging zum Tresen und bestellte einen doppelten Grappa. Als Anna ihn bemerkte, lächelte sie und winkte mit einer kleinen Bewegung ihrer Hand. Piet leerte das Glas in einem Zug, drehte sich um und verließ das Lokal.

Am folgenden Tag machte er sich auf den Weg. Er war aufgeregt wie ein kleiner Junge vor der Weihnachtsbescherung. Schon auf der Treppe zum Bahnsteig wurde ihm deutlich, dass er durch seine körperliche Verfassung Hilfsbereitschaft erregte. Ein junges, dunkelhäutiges Mädchen erbot sich, seinen Rucksack zu tragen und ihn unterzuhaken.

Dann saß er im Speisewagen im Zug nach Hamburg. Er hatte sich vorgenommen, wie durch einen langen Tunnel zu reisen, an dessen Ende kein Licht war. Möglichst mit niemandem reden, möglichst wenig aus dem Fenster schauen. In einem Zustand zwischen Wachen und Schlafen sein, in einer Art Trance oder Hypnose. Dieses Vorhaben erwies sich jedoch als nicht ganz einfach. Er hatte das Kommunikationsbedürfnis des Mitreisenden unterschätzt, der ihm gegenübersaß. Piet Hieronymus ließ sich ein Fläschchen Rotwein kommen, und während er in kleinen Schlucken trank und vor sich hinstarrte, hörte er plötzlich die Stimme seines Gegenübers: »Mit Verlaub, Sie haben sicher auch schon bessere Tage gesehen. Nichts für ungut. Ich weiß, wovon ich rede. Obwohl ich erheblich jünger bin als Sie, habe auch ich mein Päckchen zu tragen. Das geht im Grunde allen so. Hören Sie das Geschrei des kleinen Kindes hinter uns? Es hat wahrscheinlich seinen Schnuller ausgespuckt, weil er ihm nicht schmeckt. So fängt es an. Und so geht es weiter. Immer wieder hat man einen Schnuller, der nicht schmeckt. Ich war dreimal verheiratet, und ich habe mich dreimal scheiden lassen, jedes Mal mit großen finanziellen Verlusten, habe sozusagen dreimal meinen Schnuller ausgespuckt.«

Piet sah sich genötigt, den Kopf zu heben und diesen Menschen anzusehen. Er war unansehnlich, irgendwo um die fünfzig, hatte einen roten Kopf mit schräg über den Schädel gekämmten fettigen Haaren und trank Riesling. »Ich habe jetzt nur noch Freundinnen. Ich kann ja nichts dafür, dass in mir, wie bei allen Männern, der Fortpflanzungstrieb wütet. Dies hier ist meine neueste Flamme.«

Er zückte sein Smartphone, tippte darauf herum und hielt es Piet vor die Nase. Das Foto einer jungen Asiatin war zu sehen. Während Piet noch überlegte, wie er den schmutzigen Redefluss des Mannes austrocknen konnte, fuhr dieser schon fort: »Sie ist eine Thai. Sie heißt Lee. Ich habe sie aus einem Katalog. Sie ist mir sehr ergeben. Eine fantastische Geliebte. Ich erspare ihnen weitere Details. Wir leben vom Sex, aber nicht, wie Sie denken. Wir haben ein tolles Geschäftsmodell. Ein Internetportal, das es den Menschen in Thailand und anderen asiatischen Ländern ermöglicht, sich Kenntnisse in Sachen Sex zu beschaffen. Zum Beispiel, wie man ein Kondom anzieht. Sie werden sich wundern, trotz des Sextourismus ist die Bevölkerung in diesen Ländern sehr konservativ. Über Sex zu reden ist ein Tabu. Meine Freundin möchte ihren Landsleuten helfen. Sie ist die Beate Uhse des Fernen Ostens. Sie kennen doch Beate Uhse? Und Oswald Kolle? Den jungen Leuten von heute sagen diese Namen gar nichts mehr, aber Ihnen doch sicher. Wegen der Webseite haben ihre Eltern sie übrigens verstoßen. Es wäre auch nicht ungefährlich für Lee, in die Heimat zu reisen. Und was machen Sie? Oder besser, was haben Sie vor Ihrer Pensionierung gemacht?«

»Ich bin nicht pensioniert. Ich arbeite immer noch.«

Piet begann in der Zeitung zu lesen, die er am Bahnhof gekauft hatte. Aber der andere ließ sich nicht abwimmeln.

»Ich vermute, Sie haben mit Ihrem Kopf gearbeitet. Sie sind bestimmt ein Geistesarbeiter.«

Piet seufzte und hob den Kopf. »Ich bin Profiler, das sind Leute, die hinzugezogen werden, wenn ein Mordfall als unlösbar gilt. Sie haben das Talent, sich in den Täter hineinzuversetzen. Dadurch können sie manchmal auch komplizierte Fälle aufklären.«

»Darf man fragen, wohin die Reise geht?«

»In den hohen Norden. Nach Lappland.«

»Zu den lieben Lappen. Ein lustiger Name, finden Sie nicht?«

»Diese Bezeichnung wird von den Einheimischen als Beleidigung empfunden. Jedenfalls wenn sie von Fremden verwendet wird. Der Name Lappe ist eine Erfindung der Russen und Schweden. Er wurde später mit dem germanischen Begriff für Lumpen identifiziert. Sie selbst nennen sich Samen, das bedeutet Sumpfleute.«

Wieder lachte sein Gegenüber exaltiert. »Samen ist auch gut. Das passt zu Lappen. Man wischt den verspritzten Samen mit dem Lappen auf.«

Es wurde Piet zu viel. Er stand auf, rief den Kellner, zahlte und ging. Dabei murmelte er: »Dummheit ist nicht meine Stärke.« Der andere rief ihm nach: »Wenn ich mal jemanden ermorden sollte, sind Sie mein Lieblingsprofiler.« Piet drehte sich noch einmal um. »Dummheit ist nicht meine Stärke«, rief er, diesmal laut. Fast alle im Speisewagen starrten stumm auf ihre Smartphones oder Tablets.

Er ging in den nächsten Wagen, fand einen freien Platz und starrte aus dem Fenster. Die Landschaft, die draußen vorbeizog, schien keine Seele zu haben. Sie war flach und bestand fast nur aus Äckern, Knicks, einzelnen Gehöften und Weideflächen. Sie erinnerte an eine langweilige Auslegware in den endlosen Fluren einer sinnlosen Welt. Er sah sein Gesicht, das sich in der Scheibe spiegelte. »Was bist du eigentlich für ein Mensch?«, flüsterte er. »Wenn ich das wüsste«, antwortete er sich. »Ich kenne nur ein paar Eigenschaften von mir. Gute und schlechte. Viele passen nicht zueinander. Es ergibt sich kein einheitliches Bild. Wollte ich ein Porträt von mir anfertigen, würde ich Picassos Technik der Zerlegung in disparate Teile anwenden, analytischer Kubismus nennt man es, glaube ich. Ich führe fast nur noch Selbstgespräche. Dabei ertappe ich mich immer wieder dabei, mich siezen zu wollen, so fremd bin ich mir inzwischen. Im Übrigen versuche ich, mich auf meinen Tod vorzubereiten, ohne auf ihn zu warten. Das ist keine einfache Sache. Es ist, als ob man das Licht anmachen möchte, um besser sehen zu können, wie man es ausmacht. Man kann auf seinen Todeskampf warten, aber nicht auf seinen Tod. Der Grund ist einfach. Mit dem Tod beginnt das Nichts. Er ist die hauchdünne Wand, die uns vom Nichts trennt. Auf das Nichts kann man nicht warten, weil es nicht existiert. Darum habe ich auch nur Angst vor dem Todeskampf, nicht aber vor dem Tod.«

Kurz nach 21 Uhr war er in Kopenhagen. Die Umsteigezeit in den Zug nach Malmö betrug eine knappe halbe Stunde. Piet Hieronymus ging in die Vorhalle. Vor einem Buchladen standen Kästen mit vielen DVDs, die meisten davon Hardcorepornos, wie man an den Hüllen unschwer erkannte. Fotos zum Beispiel, die unverblümt Oralsex zeigten. Ein älteres Ehepaar stand davor. Beide trugen elegante Kaschmirmäntel. Sie zogen verschiedene DVD