Joiken - Henning Boëtius - E-Book

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Henning Boëtius

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Beschreibung

Henning Boëtius, der durch seine brillanten Romanbiographien berühmter Schriftsteller bekannt wurde, hat mit seinem Kommissar Piet Hieronymus eine neue Facette in die Kriminalliteratur gebracht. Seine Fans fiebern jedem Fall entgegen. Kenner der Krimi-Szene sind begeistert von der subtilen Spannung, dem exakt recherchierten Hintergrund und dem psychologischen Feingefühl der Geschichten um den holländischen Ermittler.
Diesmal wird Hieronymus in den Hohen Norden gerufen. Dort wurde ein holländisches Ehepaar in seinem Zelt erstochen. Die örtliche Polizei ist ratlos. Hieronymus versucht, Motive für das rätselhafte Verbrechen zu erkennen. Auch ihm scheint der Fall kaum lösbar, bis er sich auf die geheimnisvolle, zum Untergang verdammte Welt der Lappen einläßt...

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Inhaltsverzeichnis

ERSTER TEIL - NEMESIS DIVINA
1. KAPITEL2. KAPITEL3. KAPITEL4. KAPITEL5. KAPITEL6. KAPITEL7. KAPITEL8. KAPITEL9. KAPITEL10. KAPITEL11. KAPITEL12. KAPITEL13. KAPITEL14. KAPITEL15. KAPITEL
ZWEITER TEIL - DER KELO
16. KAPITEL17. KAPITEL18. KAPITEL19. KAPITEL20. KAPITEL21. KAPITEL22. KAPITEL23. KAPITEL24. KAPITEL25. KAPITEL
DRITTER TEIL - LEMMINKÄINEN ZIEHT HEIMWÄRTS
26. KAPITEL27. KAPITEL28. KAPITEL29. KAPITEL30. KAPITEL31. KAPITEL
Copyright

ERSTER TEIL

NEMESIS DIVINA

Die Pastorin Grot von Quickjok und Lule Lappmark hurt mit Regimentsquartiermeister Kock.

Der Pastor wird darüber desparat und versoffen.

Die Tochter wird Hure und von einem Lappen verführt.

aus: Carl v. Linné, Nemesis divina

1. KAPITEL

Ich kannte Henrik Wouwer von der Universität her. Wir hatten beide im selben Jahr mit dem Studium begonnen und gleichzeitig Examen gemacht. Unser Kontakt war nie sehr eng gewesen. Wir hatten uns gegenseitig respektiert, waren jedoch von Anfang an der Meinung gewesen, daß wir für eine Freundschaft zu verschieden sind. Mich interessierten Menschen, Wouwer Bücher. Unsere späteren Karrieren zeigten, daß wir unseren Vorlieben treu geblieben waren. Wouwer hatte, nach glanzvollem Abschluß und einer ungewöhnlich kurzen Phase als Assistent, den Lehrstuhl für Nordistik an der hiesigen Universität erhalten. Ich hatte nach einer weniger gut verlaufenen Prüfung eine Praxis als Psychotherapeut eröffnet. Mein Arbeitszimmer lag im Parterre. Da wir in Holland keine Vorhänge zu benutzen pflegen, konnten die Passanten ungehindert hineinsehen, wenn ich mit einem Patienten beschäftigt war. Wouwers Arbeitszimmer lag im vierten Stock. Es erlaubte einen schönen Blick über die pittoreske Dächerlandschaft unserer Stadt, aber die Vorhänge waren fast immer zugezogen.

Wouwer war Einzelgänger geblieben. Sein Verhältnis zu seinen Studenten war mehr als schlecht. Um so größer war seine Reputation in der wissenschaftlichen Welt.

Ich hingegen konnte mich nach kurzer Zeit nicht mehr retten vor Klienten. Es gab Fälle, bei denen sich herausstellte, daß der Kunde gar keine seelischen Probleme hatte. Er war nur gekommen, weil es ihm Spaß zu machen schien, sich mit mir zu unterhalten. Und dies traf nicht nur auf Frauen zu.

Aber das liegt bereits einige Jahre zurück. Seit ich in meinem neuen Beruf arbeite, ist die Distanz zu den Bewohnern dieser Stadt aus begreiflichen Gründen größer geworden, wenn auch nicht so groß, wie man eigentlich annehmen müßte.

Seit meinem Wechsel in eine Spezialabteilung der Groninger Mordkommission hatte ich mit Wouwer überhaupt nichts mehr zu tun gehabt. Die Universität scheint ein keimfreier Raum zu sein, was Verbrechen anbelangt. Es kommen höchstens Taschendiebstähle vor. Nun aber brauchte ich wegen eines ungewöhnlichen Falles ein paar Informationen, für die Wouwer die richtige Adresse war. Ich nahm also mein Rad und fuhr in die Marschen vor der Stadt.

Wouwer wohnte allein, jedoch mit einer dem Hörensagen nach unvorstellbar großen Anzahl von Büchern, in einem alten Bauernhof. Das stattliche Gebäude war auf allen Seiten von einem Wassergraben umgeben. Mächtige Eichen standen rechts und links neben der Zufahrt Spalier. Schon von weitem hörte ich das Kläffen eines Kettenhundes.

Die schmale Brücke über das Fleet war von einem Eisentor mit spitzen Dornen versperrt. Man hatte mich informiert, daß Wouwer erst per Knopfdruck öffnete, wenn er sich mit Hilfe einer versteckten Videokamera über den Besucher informiert hatte.

Das Geräusch des Türschnarrens kam jedoch nach meinem zögernden Klingeln ungewöhnlich schnell. Wahrscheinlich konnte ich mir etwas darauf einbilden, so prompt eingelassen zu werden. Wouwer erschien in der Haustür. Er war schmaler, als ich ihn in Erinnerung hatte. Sein asketisches Gesicht zeigte keinerlei Gemütsbewegungen, doch die Art, wie er mir die Hand reichte, mußte für seine Verhältnisse ungewöhnlich herzlich sein.

Er geleitete mich in sein spartanisch eingerichtetes Arbeitszimmer. Bücherregale bis zur Decke, eine Bibliotheksleiter, ein Stehpult, zwei massive Stühle aus grob behauenem Holz. Im Flur sah es nicht viel anders aus, auch in der Küche nicht. Alles war vollgestopft mit Büchern, Folianten, Broschüren. Selbst das Badezimmer sah wie ein Seminarraum mit nachträglich eingebauter Badewanne und Toilette aus. Die Stühle waren wirklich sehr unbequem. Man mußte aufrecht sitzen, in einer Haltung, die die Förmlichkeit der Situation steigerte. Doch möglicherweise förderte sie die Aufmerksamkeit beim Zuhören, denn alles, was Wouwer auf meine geraffte Darstellung des Falles hin sagte, prägte sich mir ein in seiner beinahe wörtlichen Gestalt.

»Es handelt sich also eindeutig um Mord. Selbstmord kommt nicht in Frage, sonst gäbe es die Schnitte im Stoff nicht, von denen du erzählt hast. Alles andere jedoch scheint ziemlich rätselhaft zu sein. Zum Beispiel das Motiv.

Jeder Mensch, der sich für halbwegs vernünftig hält, fragt bei Mord nach dem Motiv. Bei Liebe ist es etwas anderes. Da fragt man nicht nach Gründen. Eine typische menschliche Inkonsequenz. Vor allem in moralisch verwerflichen Dingen werden kausale Zusammenhänge unterstellt.«

Ich weiß noch, wie er an dieser Stelle eine Pause machte, um sich eine Pfeife anzuzünden. Einen Augenblick lang sah er schweigend den blauen Rauchschlieren zu, dann setzte er seinen Vortrag fort.

»Auch ihr Fachleute macht da leider keine Ausnahme.« Er zeigte mit dem Stiel seiner Pfeife auf mich. »Ihr solltet weniger vernünftig sein. Kausalität ist oft nur das Produkt von Denkfaulheit. Bei Mord nach einem Motiv zu fragen heißt rückwärts ein Zimmer zu betreten. Man sieht nichts. Man weiß nicht, was einen erwartet.«

Er beugte sich vor und blies mir den Rauch ins Gesicht. Dann sagte er mit gesenkter Stimme: »Morde sind in den allerwenigsten Fällen das Ergebnis von Motiven. Sie sind die Knoten in einem feinen Netz, das über der Menschheit liegt, die Verdickungen sozusagen, an denen dieses Netz sichtbar wird.«

Ich muß ihn ziemlich verständnislos angesehen haben. Denn er lehnte sich wieder zurück und verlieh seiner Stimme einen normaleren Klang.

»Du brauchst keine Angst zu haben, mein lieber Piet, daß ich am Thema vorbeirede. Wir sind in Wahrheit mittendrin. Du willst etwas über den hohen Norden wissen. Deshalb bist du doch zu mir gekommen.«

Ich nickte.

»Einer seiner größten Kenner, Carl von Linné, ein Realist und unbestechlicher Beobachter der Natur, bezweifelte das Kausalitätsprinzip in Morddingen zutiefst. Hierfür haben wir einen erstaunlichen Beweis. Ungefähr hundert Jahre nach seinem Tod entdeckte man in den Archiven der Universität von Uppsala eine Handschrift, die zweifellos von ihm stammte. Sie handelte zur Überraschung der Fachleute keineswegs von Käfern, Moosen, Beeren, von all den Lebewesen der Schöpfung, die Linné bekanntlich zum umfangreichsten Artensystem der Flora und Fauna zusammengestellt hat. Sie handelte von Morden. Von grausamen Untaten, von Totschlag, von Vergewaltigung. In seiner säuberlichen Handschrift hatte Linné die Vorfälle samt den Namen der Opfer und Täter mit knappen, wiewohl drastischen Sätzen festgehalten. Diese Handschrift war sozusagen Botanisiertrommel und Bestimmungsbuch in einem. Er hielt sie geheim. Was hatte er vor, wirst du fragen.«

Ich nickte wieder. Was blieb mir auch anderes übrig. Ich wußte, daß ich am meisten erfahren würde, wenn ich Wouwer nicht unterbrach.

»Er sammelte die Geschichten für seinen Sohn. Er wollte mit ihnen offenbar etwas beweisen, was seinem Sohn bei der weiteren Lebensführung nützlich sein konnte. Es war das geistige Testament eines liebenden Vaters, der erkannt zu haben glaubte, daß es eine höhere Gerechtigkeit gibt, die zu ihrer Durchsetzung tödliche Mittel gebraucht. Nicht Geldgier, Eifersucht oder ähnliches verbirgt sich hinter den meisten Greueltaten, sondern eine verborgene Struktur, die er ›Nemesis‹ nannte. Nemesis heißt Vergeltung, strafende Gerechtigkeit. Es sind keine einfachen Motive, sondern dunkle Verstrikkungen, die Täter und Opfer miteinander verbinden. Beide bilden ein Doppelwesen, untrennbar wie siamesische Zwillinge, die ein gemeinsames Herz haben. Mörder sind Opfer und Opfer Mörder. Sinnlos zu fragen, wer schuldig ist. Es ist das bekannte Problem mit der Henne und dem Ei.«

Wouwer redete jetzt mit geschlossenen Augen, während mein Blick auf dem einzigen Zierat des Raumes ruhte, einer Bleistiftzeichnung in einem goldenen Rähmchen. Es war ein Porträt. Ein Kind, ob Junge oder Mädchen, war schwer zu sagen. Etwas Zartes, Gebrechliches und zugleich Altkluges ging von ihm aus. Es konnte nicht sein Kind sein, jedenfalls nicht sein legales.

»Ich vermute, daß die Linnésche Handschrift von Uppsala unvollständig ist. Sie enthält nur 182 Morde. Zu wenig für einen so gründlichen Mann, der sich vorgenommen hatte, die geheimen Strukturen der Nemesis divina hervortreten zu lassen. Außer jenem Quartbändchen müssen, vielleicht auf einem Dachboden, noch andere Aufzeichnungen existieren. Ich gäbe alles dafür, wenn jemand sie fände.

Linné hatte, als er seine ›Nemesis‹ zu schreiben begann, bereits einen dreijährigen Sohn verloren. Es war wie ein Fingerzeig. Und natürlich ein Grund, schwermütig zu werden. Eine Krankheit des Gemüts, die sich in seinen letzten Lebensjahren verstärkte. Vielleicht teilst du als Fachmann meine Meinung: Ich sehe in der Schwermut nicht nur das Ergebnis, sondern auch die Voraussetzung genauen Beobachtens. Es ist wieder so ein verflixter Zusammenhang: Nur der Schwermütige sieht deutlich, und was er sieht, macht ihn schwermütig.

Übrigens, der Stern der Melancholie ist nach alter Weisheit der Saturn. Er ist auch der Planet der Nemesis. Denke daran, wenn du in dieser eigentümlichen Landschaft bist, die Linné als erster Mensch der zivilisierten Welt mit offenen Augen erkundete. Eine Landschaft von äußerster Schwermut. Die Atmosphäre ist dort so klar, und es gibt so wenige topographische Hindernisse, daß das Beobachten auf weite Entfernung möglich ist. Lappland, das Land mit den höchsten Himmeln. Eine fast gewalttätige Einsamkeit, eine besonders günstige Bühne der Nemesis. Dort ist die Welt noch eine Scheibe, der Horizont ein einziger gewaltiger Messerschnitt rund um den eigenen Gesichtskreis. Wer hier lebt, ist dem Wahnsinn ein Stück näher als unsereins, obwohl auch wir in einem ziemlich flachen Teil der Erde leben. Doch die dichte Besiedlung zwingt uns Normalität auf als eine Art Herdenverhalten.«

Ich fragte mich, ob Wouwer je persönlich in Lappland gewesen war, und ob seine letzte Bemerkung auch für ihn Geltung besaß. Er hatte sich erhoben und die Bibliotheksleiter aufgeklappt. »Du solltest sie mitnehmen«, sagte er. »Wenn dir überhaupt etwas bei deinen Recherchen helfen kann, dann diese beiden Werke. Linnés ›Lappländische Reise‹ und seine ›Nemesis divina‹. Das eine verkörpert die Klarheit, das andere die Melancholie seines Geistes. Der Blick des jungen und des alten Mannes, die sich ergänzen.«

Er zog zwei Bücher aus einem der oberen Regale und drückte sie mir in die Hand. Ich wußte, daß es eine große Ehre war, und bedankte mich umständlich.

»Benutze sie wie Fernrohr und Kompaß, zur Ortsbestimmung«, sagte er. »Und im übrigen wünsche ich dir viel Glück.«

Es hatte beinahe wie eine Drohung geklungen. Als ich die Eisenpforte hinter mir schloß, atmete ich tief und erleichtert durch.

2. KAPITEL

Ich bewohne ein Haus im ehemaligen Arbeiterviertel der Stadt. Heute leben hier hauptsächlich Studenten. Die Häuser sind extrem schmal, jedes Stockwerk hat nur ein Zimmer.

In meinem Parterre steht ein schwarzes Klavier. Ich habe es bei van Houten gekauft, richtiger gesagt in einem der Läden, die seine Instrumente vertreiben. Jetzt stand es da und erinnerte mich an einen Sarg. Wie immer lehnte ich mein Fahrrad dagegen. Ich spiele selten Klavier, und jetzt war mir noch weniger als sonst danach zumute.

Neben dem Klavier steht ein Korbsessel, ein Geschenk meiner lieben Frau Mama. Er knarrt bei jeder Bewegung, wenn man in ihm sitzt, und immer klingt es wie die kleinen Ermahnungen, mit denen mich meine Mutter seit meiner frühesten Kindheit zu traktieren pflegt.

Ich ging die Wendeltreppe hoch in den mittleren Stock. Hier ist die Küche mit der Eßecke. Es roch nach asiatischen Gewürzen und nach Kaffee, doch ich hatte keinen Appetit. Mir war mehr nach einem Schnaps, aber ich habe aus Prinzip keinen im Hause. Es ist ihre Erziehung. Seitdem ich Mama kenne, hat sie meine schlechten Angewohnheiten bekämpft.

Alles war aufgeräumt und blitzsauber. Offenbar Ingrids Werk. Ich verstand nicht, was sie damit bezwekken wollte.

Ich ging weiter nach oben. In diesen Raum voller Grünpflanzen mit dem großen Futon. Ich finde es übrigens ganz passend, in einem dreigeschossigen Haus zu wohnen. Verfügen wir Menschen nicht auch über drei Stockwerke? Bauch, Herz und Kopf? In meinem Haus war der Bauch oben und der Kopf unten. Der Bauch ist das Schlafzimmer, in dem wir uns geliebt hatten, bis gestern noch. Hier war nicht aufgeräumt. Im Gegenteil, es sah aus wie nach einem Einbruch. Schubladen waren herausgerissen und ausgeleert. Ein Topf mit tränenden Herzen, meiner Lieblingspflanze, war heruntergefallen und zerbrochen. Mein Schlafanzug lag wie ein verrenkter Toter daneben.

Den Abschiedsbrief hatte sie in eine ungespülte Kaffeetasse gesteckt. Wie die Halskrause eines Richters ragte er über den Rand. Kaffeesatz dazwischen, ein halbvolles Sahnekännchen daneben, als gäbe es etwas aufzuhellen an diesem Gedeck.

Der Brief war überzeugend kurz. Es war, als symbolisierte er die ganze Beziehung. Er kam schnell zur Sache, hielt sich nicht mit Abschweifungen auf, gipfelte in einer kargen Liebeserklärung und beschwor wie zum Trost die generelle Absurdität von Zweierbeziehungen. Ihr schöner Name am Schluß kam diesmal ohne das einleitende »Deine« aus. Natürlich, Besitzansprüche waren liquidiert worden. Ein wenig mehr Freiheit war entstanden. Sie hatte allerdings alles zusammengesucht, was ihr gehörte.

Ich ging ins Badezimmer und begann mich zu rasieren, mit viel zu viel Schaum. Dann nahm ich das Rasiermesser, klappte es auf, schärfte es am Lederband und begann, mein Gesicht freizulegen. Zug um Zug entstand so etwas wie eine rosa Maske aus Haut. Meine Hand zitterte. Ich rechnete damit, mich zu verletzen. Der Salmiakstein zum Blutstillen lag griffbereit.

Seit mir vor über zehn Jahren bewußt wurde, daß ich den frühen Selbstporträts Dürers verblüffend ähnlich sehe, habe ich durch lange Haare, Knebel- und Kinnbart die Ähnlichkeit noch unterstützt. Es war wohl ein Spiel mit einer anderen Identität. Ich zog die Blicke auf mich und hielt sie mir gleichzeitig vom Leibe. Die Leute sahen ein Bild. Sie kamen gar nicht erst auf die Idee, in meinen Gedanken lesen zu wollen. Jetzt nahm ich mir den Bart ab. Die Haare würde ich mir vor der Abreise noch schneiden lassen. Sicher war es kindisch. Aber ich wollte nackt sein, ohne Verkleidung.

Ich wusch mir das Gesicht und trocknete es ab. Nirgends war ein Blutstropfen zu sehen. »Ingrid«, flüsterte ich. »Es war schön mit uns. Aber es konnte nicht gut gehen. Es war das übliche Problem. Ein Größenunterschied von über dreißig Zentimetern. Ich wollte klein sein, doch du warst gezwungen, zu mir aufzuschauen.«

Ich sah mir in die Augen. »Kommt doch endlich«, sagte ich. »Kommt doch. Verdammt. Seid doch nicht so zimperlich.«

Es dauerte noch eine Minute, bis ich weinen konnte.

3. KAPITEL

Ich sammelte die Scherben zusammen und stopfte die Blumenerde mit den tränenden Herzen in die Kaffeetasse, in der ich Ingrids Abschiedsbrief gefunden hatte. Dann ging ich ins Parterre hinunter und packte meine Einkäufe vom Vortag aus. Schlafsack, Isomatte, Zelt, Sturmkocher, Fahrtenmesser, Kompaß... eine komplette Expeditionsausrüstung. Selbst eine Taschenlampe war dabei, obwohl ich ihren Nutzen im nördlichen Sommer bezweifelte. Es waren alles Dinge, die auch das Ehepaar van Houten besessen hatte. Teilweise die gleichen Marken.

Ich baute das Igluzelt auf. Es paßte gerade zwischen Klavier und Eingangstür. Dann kroch ich hinein und zog den Reißverschluß zu. Die Deckenlampe schimmerte rötlich durch die Zeltwand. Ich legte mich auf den Rücken und versuchte mir vorzustellen, wie es dort oben im Norden sein würde. Ich hatte kein Konzept. Vielleicht half mir die Nemesis.

Ich packte alles in einen Rucksack und stellte ihn auf die Personenwaage. Er wog gut zwanzig Kilo. Ein bißchen viel für einen untrainierten Mann. Aber ich würde wohl auch nicht weit zu gehen haben. Jetzt endlich spürte ich so etwas wie Vorfreude. Ich übte den Schwung, mit dem man eine schwere Last überwirft, und verließ dann mit meinem Gepäck die Wohnung. Der Himmel war klar, und die opalen Farben der Abenddämmerung weckten die Aufbruchstimmung in mir.

Wie immer wurde ich von fast allen Passanten gegrüßt, ein manchmal lästiges Erbe aus meiner Zeit als Psychologe. Den meisten stand die Neugier ins Gesicht geschrieben; verständlich bei meiner Ausstaffierung mit Goretexjacke, Gestellrucksack, Wanderstiefel.

Schließlich landete ich vor der »Blauen Maus«. Ich mag diese Kneipe in einem windschiefen Häuschen aus dem 16. Jahrhundert. Es kommt mir immer vor, als lagere die Zeit in ihr wie in einem Geneverfaß.

Ich setzte den Rucksack vor der Tür ab und betrat den engen Raum. Kaum hatte mich der Wirt bemerkt, stellte er unverlangt ein Bier und einen Genever auf den Tresen. Ich wußte, daß mir jetzt ein gründliches Verhör bevorstand.

»Urlaub, Herr Kommissar?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Verstehe. Dienstlich natürlich. Häßliche Sache, die Sache da oben.« Er hatte die Lage also bereits richtig erfaßt. »Ich kannte die Leute. Sie waren manchmal hier. Genauer gesagt, er. Sie kam nur, um ihn abzuholen. Weil er nicht mehr fahren konnte. Von hier aus hat er immer angerufen, wenn er betrunken war.«

Der Wirt zeigte auf das altmodische Wandtelefon.

»Er muß mit seinen Klavieren ein Schweinegeld verdient haben. Und jetzt hat er nichts mehr davon. Der arme Kerl. Den gebe ich aus.«

Er schenkte zwei neue Genevergläser randvoll.

»Fünf Messerstiche. Scheußlich, nicht wahr? Wie Schlachtvieh abgestochen. So stand es jedenfalls in der Zeitung. Was meinen Sie zu der Sache, Herr Kommissar?«

Er wartete eine Antwort gar nicht erst ab. Er wußte, daß aus mir nichts herauszuholen war. Aber er schien mein Schweigen deuten zu können.

»Wissen Sie, ich glaube dasselbe wie Sie, Herr Kommissar. Es müssen mindestens zwei gewesen sein. Schon um sicherzugehen.«

Er wischte sich die Schweißperlen aus seinem geröteten Gesicht. »Die Täter konnten die Opfer nicht sehen. Höchstens fühlen. Durch die Zeltwand hindurch. Also haben sie gleichzeitig zugestochen. Jeder von einer Seite. Das liegt doch auf der Hand.«

Ich zahlte und ging. »Viel Glück«, rief der Wirt mir nach. »Wenn es einer schafft, dann bestimmt Sie!«

4. KAPITEL

Vor jeder größeren Reise mache ich bei meiner Mutter einen Abschiedsbesuch. Und immer hat diese Zeremonie einen Hauch von Endgültigkeit. Auch diesmal war es nicht anders. Sie gewährte die Audienz in ihrem Ohrenstuhl, der viel zu groß für sie ist. Eine zarte Frau mit weißen, zu einem Knoten geschlungenen Haaren. Ich werde es nie begreifen, wie es möglich war, daß ich als ihr Sohn über zwei Meter groß werden konnte. Auch mein Vater war nicht besonders groß. Ich habe keine Erinnerungen an ihn, denn er starb kurz nach meiner Geburt an Leukämie. In der Ahnengalerie aus oval gerahmten Bildern hat er einen zentralen Ehrenplatz. Ein sehr blasses Foto von einem Mann mit ausdruckslosem Gesicht. Sternbilder von Stockflecken bedecken das Bild.

»Setz dich, mein Sohn«, sagte sie mit ihrer tiefen, herrischen Stimme, die so gar nicht zu ihrem Körper paßt. »Laß dich anschauen. Ich möchte dich in Erinnerung behalten. Wer weiß, ob dich deine alte Mutter noch einmal wiedersieht. Bei meinem Alter und bei deinem gefährlichen Beruf!«

Ich wußte, daß ich nun zu protestieren hatte. Es gehörte zum Spiel. »Du bist wirklich noch nicht so alt, Mutter. Und du bist gesund. Außerdem ist mein Beruf nicht gefährlicher als der anderer Leute.«

»Ich glaube kaum, daß du das beurteilen kannst. Mein Herz ist nicht in Ordnung. Ich vertrage keine Aufregungen mehr. Du siehst es am Garten. Ich vernachlässige ihn, weil ich einfach nicht mehr die Kraft habe, mich um alles zu kümmern.«

»Der Garten ist wunderschön, Mutter. Dieses Jahr besonders. Ich erinnere mich nicht, daß der Rhododendron je so intensiv geblüht hat.«

»Es liegt am Dünger, mein Sohn. Ich habe ein Spezialrezept. Aber ich werde das Geheimnis wohl bald mit ins Grab nehmen. Ich finde, etwas im Leben sollte man für sich behalten. Möchtest du noch Tee? Wer weiß, ob wir jemals wieder Gelegenheit zu einer gemeinsamen Tasse haben. Wirst du dort oben überhaupt Tee bekommen?«

»Du weißt doch, daß ich gewöhnlich Kaffee trinke. Nur bei dir trinke ich Tee. Niemand kann ihn so wie du bereiten.«

»Es liegt am Wasser. Ich lasse es stehen. Ein bis zwei Tage. Dann ist es milder. Aber ich finde es trotzdem unerhört, daß man dich auf eine so weite Reise schickt. Als ob sie dort oben nicht genug Polizisten haben.«

»Ich freue mich auf die Reise. Die Landschaft muß eindrucksvoll sein«, wagte ich zu sagen.

»Freu dich nicht zu früh. Es können eine Menge Scherereien auf dich zukommen. Vorfreude pflegt das Unglück anzuziehen, mein lieber Sohn. Hast du auch genug Warmes zum Anziehen mit? Schließlich fährst du fast zum Nordpol!«

»Zu dieser Jahreszeit soll es dort oft so heiß sein wie in Italien. Und das sogar nachts. Italienische Nächte nennen sie es, wenn die Temperatur sogar um Mitternacht nicht unter dreißig Grad sinkt.«

»Du mußt Rheumaunterwäsche mitnehmen. Jemand, der so empfindlich ist wie du, holt sich leicht ein Blasenleiden.«

Sie lehnte sich zurück und schloß die Augen. Ich wußte, daß die Zeremonie zu Ende ging. »Vielleicht hast du recht, Mutter«, sagte ich. »Ich werde daran denken.«

»Braver Junge«, flüsterte sie, als strenge sie weiteres Reden zu sehr an. »Du hast viel von deinem Vater. Er war sich nie zu schade, einen Fehler zuzugeben.«

Ich trat hinter sie und beugte mich tief hinab, um ihr einen Kuß auf die Stirn zu geben. Ihre Haare rochen nach Lavendel. Die trockene Haut ihrer Stirn fühlte sich an wie dünnes Papier.

Sie legte den Kopf zurück und sah mich an. »Sei vorsichtig, mein Junge. Ich habe dir nur ein Leben geschenkt. Wenn man wie du das Böse im Menschen jagt, kann man leicht selber zum Gejagten werden. Es ist immer gefährlich, Schicksal zu spielen.«

Ich ging. Als ich die weiße Gartenpforte hinter mir schloß, war ich genauso erleichtert wie nach dem Besuch bei Henrik Wouwer.

5. KAPITEL

Wir hatten die Reiseroute des Ehepaares van Houten genau rekonstruiert. Am 28. Mai waren sie in Groningen aufgebrochen. Sie hatten beide schwer bepackte Rucksäcke mit. Ein Freund hatte sie in seinem Auto zum Zug nach Bremen gebracht. Dann waren sie über Hamburg, Puttgarden, Kopenhagen, Helsingborg nach Oslo gereist. Hier mußten sie übernachtet haben. Wo, hatten wir nicht herausgefunden. Jedenfalls nicht in einem normalen Hotel.

Am nächsten Morgen sind sie per Bahn nach Bergen weitergereist, dann weiter mit einem Postschiff der Hurtigroute nach Hammerfest, wo sie am 1. Juni eintrafen. Sie übernachteten in einem Hotel am Hafen, liehen sich am nächsten Tag ein Auto und fuhren die Küste entlang nach Alta. Hier machten sie wieder einen Tag und eine Nacht Station. Wo, blieb ebenfalls unklar. Ein Tankwart hatte ausgesagt, daß sie am folgenden Morgen die Straße nach Kautokeino, dem Hauptort der Lappen im Inneren der Finnmark, genommen hatten. Hier hatte man sie am 3. Juni in der Bank gesehen. Sie hatten eine ziemlich große Summe Gulden in finnisches Geld eingetauscht. 60 000 Finnmark. Fast die gesamten Reserven der Bank.

Nun verlor sich die Spur, oder sie wurde mehrdeutig. Angler wollten das Auto auf dem Weg nach Inari Richtung finnische Grenze gesehen haben. Andere auf der einsamen Straße nach Bidjovagge, nordwestlich von Kautokeino. Tatsache ist, daß man vier Tage später den Volvo des Ehepaares am Rand dieser Straße fand. Das Zelt stand zirka hundert Meter weiter in Richtung des Sees von Raisjevarre auf trockenem Tundraboden. Im Zelt lagen zwei tote Menschen. Das Ehepaar van Houten war an Wunden verblutet, die ihnen offenbar mit einem langen Messer beigebracht worden waren.

Ich verband nichts mit all diesen seltsamen topographischen Bezeichnungen; noch nie war ich nördlicher als Kopenhagen gewesen. Mein Einwand, ich sei kein Nordlandexperte, war bei meinen Vorgesetzten auf taube Ohren gestoßen. »Es gibt da oben schon genug Experten«, hieß es. »Die haben vielleicht gerade deshalb etwas übersehen, weil sie Kenner von Land und Leuten sind. Wir brauchen jetzt jemanden mit dem naiven Kinderblick auf die Verhältnisse. Dafür bist du genau der Richtige, Piet.« Es war ein Kompliment, über das man geteilter Meinung sein konnte.

Jetzt saß ich im Zug und starrte mit einem Blick auf die graue Welt, den ich für ziemlich erwachsen hielt. Ich hatte die Trennung von Ingrid erstaunlich schnell verarbeitet, beinahe ein Grund, sich Sorgen zu machen. Man konnte darin so etwas wie ein Erschlaffen der seelischen Muskulatur sehen.

Der Tag war trübe, einer von jener himmel- und schattenlosen Sorte, die sich in keine Jahreszeit einordnen lassen. Ich begann, Linnés Lappländische Reise zu lesen. »Die Lerche sang den ganzen Weg für uns, sie zitterte in der Luft. Der Himmel war rein und warm, der Westwind kühlte mit einem angenehmen Hauch, und vom Westen her begann eine dunkle Farbe den Himmel zu bedecken.«

Wouwer hatte recht. Es war großartige Poesie, nicht durch den Erfindungsreichtum menschlicher Phantasie entstanden, sondern durch die exakte Schilderung einer Natur, die offenbar nicht langweilig war.

Ich versuchte, an Ingrid zu denken. Das Bild von ihr blieb blaß. Das einzig Deutliche waren die feinen Härchen an ihren Beinen.

Einige Stunden später saß ich im Kurswagen nach Oslo. Ich mußte eingenickt sein, denn ich erinnere mich, daß ich von mißtönenden Lauten geweckt wurde. Zwei meiner Mitreisenden sangen laut und falsch. Dazu nickten sie mit den Köpfen und schaukelten mit den Oberkörpern. Sie mußten betrunken sein. Kleine Männer mit faltigen Gesichtern. Dennoch wirkten sie nicht alt. Sie schwenkten halbleere Schnapsflaschen; wenn der eine sang, trank der andere. Sie wurden immer lauter. Der große Rothaarige neben ihnen machte ein angewidertes Gesicht. Wahrscheinlich war er Norweger. Plötzlich erhob er sich fluchend und ging auf den Gang. Die beiden Sänger schien dies zu inspirieren. Ihr Gesinge steigerte sich zu wahren Kakophonien.

Die Frau neben mir schien der Lärm nicht zu stören. Sie tat vielmehr interessiert, lächelte, schaukelte im Rhythmus der »Lalulas« mit. Alles an ihr wirkte handgemacht, das Wollkleid, der Wikingerschmuck, das Fransentuch. Die blonden Haare trug sie seitlich zu einem schweren Zopf verschlungen. Ihr Nachbar mußte ihr Mann sein, so wie er sich betrug. Mit seinen ängstlichen Augen und dem sorgfältig ausrasierten Kinnbart sah er aus wie ein typischer Lehrer. Jedenfalls hatte er etwas von jener Unsicherheit, die für Erwachsene typisch ist, wenn sie beruflich mit Kindern oder Jugendlichen zu tun haben.