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Amira, eine alte Dame, lebt in einer Welt ohne Geld, ohne Profit, ohne Konkurrenz. Die Gemeinschaft um sie kennt keinen Mangel – nur das Maß des Genug. Doch jenseits der grünen Hügel liegt Kapitalum, das letzte Bollwerk der alten Ordnung, wo Besitz noch zählt und Erinnerung unerwünscht ist. Amira hält die Festrede zur Abschaffung des Geldes. Sie erinnert an die Zeit, in der Macht und Gier unermesslich wurden, Kriege um Ressourcen tobten und die Erde an der Erschöpfung zerbrach. Ihre Worte sind Mahnung und Vermächtnis zugleich – denn wer vergisst, wie alles begann, könnte wieder dorthin zurückkehren. Das Dazwischen ist ein stiller, eindringlicher Roman über Wandel, Verantwortung und die Kraft des Erinnerns in einer fragilen Zukunft.
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Seitenzahl: 206
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Das Dazwischen
Vorwort
Die alte Dame
Morgenlicht
Die Verlockung
Kompass als Neugier
Bilder die bleiben
Zwischen Aufbruch und Zweifel
Kakao und Zimt
Wenn etwas kippt
Räume voller Leben
Nicht mit uns!
Ein Tag voller Freude
Kleine Schritte, große Veränderung
Zwischen Sehnsucht und Lüge
Das vernarbte Land
Zeit auf Zeit
Wahrheiten in Regalen
Was nachklingt
Wärme unter der Haut
Wende im Zwischenraum
Glanz der blendet
Ein Ort der bleibt
Hände und Herzen
Zukunft pflanzen
Die Hüterinnen
Henry bekommt Besuch
Ein Tisch, viele Stimmen
Zwischen Kaffee und Klartext
Ausgezeichnet
Und dann: Aufbruch
Anders denken
Die Kraft der Genossenschaften
Gespräch in die Zukunft
Was wir teilen
Gretas Stimme
Lichterglanz
Letzte Festung ist gefallen
Nachwort
Das Dazwischen
Vorwort
Die Erde veränderte sich schneller, als wir es begreifen konnten. Stürme, Fluten, Dürren – erst fern, dann nah. Die Klimakrise wurde zur Katastrophe, zur Fluchtursache, zum Wendepunkt. Doch politische Reaktionen blieben zögerlich. Europa schottete sich ab. Während der Süden brannte, verteidigte der Norden seine Illusionen.
Dann kam der Zusammenbruch. Ein weltweiter Börsenkollaps erschütterte das alte System bis ins Mark. Banken fielen, Märkte versagten, Vertrauen zerfiel. Doch im Nichts entstand Bewegung: Menschen übernahmen stillgelegte Betriebe, organisierten sich neu. Genossenschaften wuchsen – spontan, dezentral, getragen von Eigenverantwortung und Solidarität. Konkurrenz wich Kooperation. Besitz wurde geteilt, nicht gehortet. Ein neues Bewusstsein breitete sich aus – nicht geplant, aber notwendig.
Aus dieser Bewegung entstand mehr als nur ökonomische Stabilität. Städte wurden neu gebaut – offen, grün, atmend. Architektur verband Technik mit Natur: Gebäude speicherten Energie, reinigten Luft, sammelten Wasser. Bildung wurde zu freier Entfaltung, Arbeit zu gemeinsamem Gestalten. Erinnerung wurde politisch – nicht als Rückschau, sondern als Kompass.
Und doch bleibt ein Schatten: Kapitalum. Das letzte Bollwerk des alten Kapitalismus. Ein Land, das sich weigert, loszulassen. Die Elite lebt abgeschottet – gestützt auf Überwachung, Medienkontrolle, ein rigides Klassensystem. Roboter, die andernorts befreien, dienen hier der Unterdrückung. Kapitalum hält an seinen Privilegien fest – koste es, was es wolle.
Doch hinter den Mauern von Kapitalum leben heute Menschen in einer Welt ohne Geld. Nicht weil sie müssen – sondern weil sie es können. Sinn ersetzt Zwang. Gemeinwohl ersetzt Markt. Die alten Muster sind verblasst – doch die Verantwortung bleibt. Amira, einst Geflüchtete, heute politische Rednerin, erinnert in einer Festrede an den Tag, an dem das Geld verschwand. Ihre Worte sind leise – und kraftvoll. Sie erzählen nicht vom Sieg, sondern vom Weg. Vom Dazwischen.
Zwischen dem, was war – und dem, was sein kann.
Vor dem großen Panoramafenster steht ein Schaukelstuhl, sein beiges Rohrgeflecht weich mit Lammfell bedeckt. Amira sitzt darin und genießt den Blick: ein Wald, eine leicht verwilderte Blumenwiese wie aus einem alten Urlaubsfoto. Wolken liegen wie Schleier über den Baumwipfeln, formen sich zu Inseln am Himmel. Jeden Tag ein anderes Schauspiel: mal zarte Schäfchen, mal schwere, dunkle Gebilde, als wollten sie die Welt überfluten.
Solche Bilder kannte Amira aus ihrer Kindheit in Syrien nur im Winter. Hier, in ihrer neuen Heimat, kommen Sommergewitter plötzlich, leidenschaftlich. Als junge Frau liebte sie es, wenn der Regen ihre Kleidung durchnässte, Tropfen auf der Haut tanzten. Später schätzte sie die stillen Herbsttage, das Kerzenlicht, die Ruhe. Diese Zeit liebt sie bis heute.
Ein kaum hörbares Seufzen. Gedanken drängen sich zwischen die Idylle. Die Klimakatastrophen ließen sich nicht mehr aufhalten. Sie war jung, hoffnungsvoll, doch die Mächtigen blieben starr. Proteste, Mahnungen, wissenschaftliche Appelle – sie verhallten.
Schon in den Siebzigern forderten Forscher ein Umdenken. Jahrzehnte später gingen wir auf die Straße, schrien uns heiser. Niemand hörte hin. Die Klimakonferenzen? Worthülsen. Das 1,5-Grad-Ziel? Verfehlt.
"Wo waren die, die Verantwortung trugen?"
Ihr Blick klärt sich, als hätte jemand eine Linse justiert. Draußen blüht es noch. „Die Bienen verschwinden in den Blüten – so viel Leben in so wenig Fläche. Ihre Arbeit wirkt friedlich, doch sie fordert Kraft.“
Eine Stimme ruft: "Ich bin gleich soweit, Amira!"
"Bitte, Robi, geh zu Tim und hilf ihm."
Der Roboter läuft zum Bad, öffnet die Tür. Tim steht unter der Dusche, genießt das Wasser. Dank Kreislauftechnik bleibt sein ökologisches Gewissen rein. Brauchwasser geht. Klares Wasser bleibt. Technik hilft, sorgsamer zu leben.
Ein letzter Moment unter dem warmen Strahl. Dann schaltet Tim ab. Robi legt ein Handtuch auf den Rollstuhl, hilft hinein, reicht die Kleidung. Die Routine sitzt. Robi ist fast menschlich, immer verlässlich.
Tim bürstet sein nasses Haar. Die Locken sträuben sich. Fast verärgert zähmt er sie. Mit seinen silbergrauen Haaren sieht er noch gut aus. Er rollt aus dem Bad – und kracht gegen den Rahmen.
"Mist!" Eine Schramme im Holz.
Der Zorn verfliegt, Erinnerung tritt ein. Der Unfall vor 55 Jahren: ein Bruch. Karriere als Schwimmer – vorbei. Vorfahrt genommen, er konnte nicht bremsen. Seitdem: gelähmt von der Hüfte abwärts. Doch bald schon packte ihn der Ehrgeiz. Rollstuhlbasketball, neue Medaillen.
Im Wohnzimmer sieht er Amira im Schaukelstuhl. Der Anblick rührt ihn. Zwei Jahre vor dem Unfall hatte er sie kennengelernt. Demo gegen den Klimawandel. Sie trug ein riesiges Plakat, kaum zu halten. Er griff zu, sie lächelte. So begann es.
Nach dem Unfall blieb sie. Aus Liebe. Bis heute. Bei ihrem Anblick wird ihm warm. Er liebt sie. Mehr denn je.
Tim rollt an den gedeckten Frühstückstisch. Amira steht auf, ihre Gelenke brauchen einen Moment, dann geht sie leicht. Mit 82 ist sie gesund, beweglich. In einer Welt ohne Angst und Hetze leben die Menschen bewusster. Früher: Druck, Noten, Berufe ohne Wahl. Viele wurden krank. Medikamente waren Alltag.
Jetzt: Zeit. Frieden. Ein Blick, ein Gespräch, ein Frühstück. Die Sonne wirft warmes Licht, Tau glitzert im Gras.
Ein Summen: der Fahrstuhl. Robi bringt Kaffee, Toast, kleine Marmeladenschälchen.
"Danke, Robi. Sieht köstlich aus."
Tim tippt auf seine Tecwatch: "Guten Morgen, liebe Küche! Danke für das leckere Frühstück. Einen schönen Tag! Amira & Tim, Blumenwiese."
Amira gießt Kaffee ein. Ihre Hand zittert leicht. Sie trifft.
"Wir werden nicht jünger", sagt Tim.
"Aber der Kopf funktioniert noch bestens", lacht Amira.
Sie frühstücken. Aprikosenmarmelade mit Quark – Amiras Lieblingsbelag. Heute wirkt sie energiegeladen, die Wangen gerötet, Sommersprossen leuchten. Tim sieht sie an, verliebt wie am ersten Tag.
"Willst du vor deinem Vortrag noch durch den Niederwald?"
"Ja. Gute Idee. Lass uns bald los."
Sie steigen ins Elektro-Solar-Mobil. Nur fünf Minuten Fahrt, doch jede Sekunde ist kostbar. Amira staunt: begrünte Fassaden, Selbstklimmer in Blüte. Früher: Beton, Hitze, versiegelte Wege. Heute: Lehm, Holz, Carbonbeton. Solardächer, bepflanzte Altbauten.
"Vielleicht lässt uns das Alter so oft zurückblicken", denkt Amira.
"Woran denkst du?", fragt Tim.
"An meine Jugend. Triste Hochhäuser."
"Verwöhnt waren wir nicht."
"Nein, wirklich nicht."
Sie erreichen das Nieder-Wäldchen. Amira geht zügig, Tim folgt mit kraftvollem Schwung.
"Hier atme ich auf", sagt Amira.
"Ich weiß."
"Du weißt immer, was mir guttut."
Tim bleibt stehen. "Sieh mal! Dieses Chaos aus Hasel, Pappel, Hainbuche – wild, aber lebenswichtig."
Amira lauscht. "Hörst du das?"
"Ein Froschorchester – mitten im Schilf."
Eine Entenfamilie zieht vorbei. Amira beobachtet sie still.
"Zum Ameisenhügel müssen wir noch. Ich will sehen, ob er gewachsen ist."
Er reicht ihr fast bis zur Taille.
"Unglaublich, wie sie bauen. Unermüdlich."
Tim lächelt gerührt. Ihre Begeisterung steckt an.
"Jetzt können wir weiter."
"Diese Wälder gibt es viele. Sie schenken Erholung und Lebensraum."
Tim nickt. "Hier wächst Holz für Jahrzehnte. Hochwälder brauchen Zeit – aber sie speichern CO2 wie kaum etwas sonst."
Er sieht sie an. "Ich rede zu viel. Du weißt das alles."
"Und doch tut es gut, es zu hören. Erinnerung ist Wertschätzung."
Die letzten Meter bis zum Tagungsgebäude schweigen sie. In ihnen: Ruhe. Verbundenheit. Dankbarkeit.
Ein Mann betritt die Bühne. Klare Stimme, fester Blick. Vorsitzender des Union-Bündnisses der Länder.
"Willkommen an diesem besonderen Festtag. Heute, am 11. August 2068, jährt sich ein Entschluss zum zwanzigsten Mal: Am 11. August 2048 beschlossen die Menschen, das Geld als Zahlungsmittel abzuschaffen. Ein Wendepunkt. Der Beginn eines neuen Lebens: frei und friedlich – für alle."
Er pausiert.
"Und nun ist es mir eine Ehre, eine Frau willkommen zu heißen, deren Lebensweg und Engagement uns tief bewegt haben. Begrüßen Sie Amira Ahmed – Politik- und Sozialwissenschaftlerin, Mahnerin vergangener Zeiten, ausgezeichnet für ihr Erinnern und Aufklären."
Er hebt den Arm. Der Vorhang geht zur Seite.
Amira tritt auf. Sicheren Schrittes. Dunkelgrüner Mantel, schlicht, würdevoll. Die silbernen Haare streng zum Knoten gebunden.
Der Applaus bricht los.
Laut. Herzlich. Sie bleibt einen Moment stehen, lächelt, blickt in den Saal. Menschen aller Generationen füllen den Raum. Und da ist es wieder – dieses flüchtige Ziehen in der Magengrube. Unruhe, die sie kennt, die kommt, wenn sie vor vielen Menschen spricht. Herausforderungen haben sie nie abgeschreckt – aber auch nie kalt gelassen. Ein Trauma der Kindheit.
Sie atmet ein. Und findet sich in ihrer Erinnerung wieder. Krieg. Flucht. Hoffnung. Zu Hause in Syrien erlebte sie den Krieg. Schüsse. Bomben. Tote. Ein Alltag, der keiner war. Als Kind war das Unsägliche ihre ständige Begleitung. Später, die Flucht durch die Wüste: Hunger, der ihrem Körper weh tat. Durst, der sie lähmte. Und immer diese Angst – überfallen, vergewaltigt, getötet zu werden. Ihre Eltern schleppten sich weiter. Jeder Schritt eine Entscheidung gegen das Aufgeben. Die Hoffnung auf Freiheit hielt sie aufrecht. Dann – das Meer. Auch das bedeutete kein Aufatmen. Die Boote: alt, beschädigt, überfüllt. Menschen gepfercht wie Waren. Aber sie fuhren. Sie mussten. Und unter noch elenden Bedingungen kamen sie an. Das neue Land – ihre erste Unterkunft: ein Lager. Nicht das, was sie erhofft hatten. Aber ein Anfang. Zum Glück blieben sie nicht lange dort. In einer kurzen Phase der Menschlichkeit wurden syrische Geflüchtete in Deutschland freundlich empfangen. Ein Moment der Offenheit. Europäische Größe. Für Amira bedeutete es: ein Neustart in einem fremden Land. Sie durfte studieren, schloss Freundschaften, baute sich ein Zuhause – ein Leben.
"Das alles ist lange her“, denkt sie. Ein leiser Seufzer gleitet über ihre Lippen. Sie erinnert sich an 2015. Eine mutige Politikerin hatte sich für Menschen wie sie ausgesprochen. Doch bald wurde sie von ihrer eigenen Partei angegriffen und isoliert. Eine Willkommenskultur? Nicht gewollt. Panikmache bestimmte die Debatte. Als würde Europa untergehen. Dabei war längst bekannt: Die meisten Geflüchteten blieben in Nachbarländern ihrer Heimat. Fast alle hofften, bald zurückzukehren, wenn der Krieg endete. Doch dem politischen Druck hielt die Politikerin nicht stand. Stattdessen: ein schmutziger Deal mit der Türkei. Geflüchtete sollten dort bleiben – in überfüllten Lagern. Europa zahlte. Und schwieg. Noch schlimmer erging es jenen, die über Tunesien kamen. Sie wagten die gefährliche Fahrt übers Meer. Wurden zurückgedrängt – auf offenes Wasser. Verdursteten. Ertranken. Oder landeten in Lagern, in denen sie geschlagen, gefoltert, ermordet wurden. "Das war die Haltung Europas. Damals. Mein neues Europa." Sie schluckt. Doch gleichzeitig spürt sie Dankbarkeit. Denn sie selbst hatte das Glück, aufgenommen zu werden. Sich entfalten zu dürfen. Ein Leben führen zu können, das ihr zusteht. Aber sie weiß: Für viele, die nach ihr kamen, wurde alles wieder schlimmer.
Ihr Blick schweift über die Zuhörer. Der Rückblick – nur ein Augenblick. In ihrem Gesicht wechseln sich Mimik und Gefühl fast unmerklich ab – zwischen Ernst und stillem Stolz. Dass ihr auch nach drei Jahrzehnten noch Aufmerksamkeit geschenkt wird, ist erhebend und bestätigt, dass ihre Arbeit wirkt. Geschickt verbindet Amira wissenschaftliche Erkenntnisse mit persönlichen Erfahrungen – das prägt sich ein.
Es ist ein besonderer Tag. Sie darf sprechen. Eine große Ehre. Ein letztes Mal richtet sich Amira auf – ihre Stimme ist klar. In ihren Augen liegt ein Glanz, der von gelebtem Leben erzählt. Jetzt ist sie bereit.
"Ich danke Ihnen von Herzen. Es ist mir eine große Freude – und eine tiefe Ehre –, heute zu Ihnen sprechen zu dürfen. Wir blicken gemeinsam zurück auf den 11. August 2048. Den Tag, an dem das Geld seine Gültigkeit verlor… eine neue Ära begann." Eine kurze Pause. Dann nimmt sie die Zuhörer mit – auf eine Reise durch Licht und Schatten.
"2030 erschütterte ein Börsencrash die USA – und wie ein Sturm raste er über den Atlantik. Europa wurde getroffen. Die Welt erlebte eine Depression. Doch wir waren solche Erschütterungen längst gewohnt. Schon 2008 – Banken pleite. Immobilien unbezahlbar. Krise. „Immer dasselbe Muster: Die Großen gerettet, die Kleinen vergessen.“
Ihre Stimme wird eindringlicher.
"Nullzinsen. Strafzinsen. Eine Spirale aus Verlust. 2022: Krieg. Inflation. Strompreise explodierten. Lebensmittel wurden unbezahlbar. Familien gerieten an ihre Grenzen. Und währenddessen – lachten sich Konzerne ins Fäustchen. Sie verdoppelten ihren Reichtum in drei Jahren. Auf Kosten aller anderen."
Ein Raunen geht durch das Publikum. Amira hält inne, lässt den Moment wirken.
„Wieder griff der Staat ein – mit Milliarden. Doch Bedingungen? Keine. Mitsprache? Unerwünscht. Es wurde gezahlt – bedingungslos. Und wer fragte nach Verantwortung? Niemand.“
Ihre Stimme bleibt ruhig, aber darunter glimmt der Zorn von damals – gereift zur Klarheit.
„Während Konzerne Dividenden ausschütteten, suchten andere im Müll nach Pfandflaschen. Das war die Realität.“
Sie senkt ihre Stimme. Alle ihre Gefühle fließen in die Worte.
"Der 'Trickle-Down'-Effekt? Ein Märchen. Die Armen wurden ärmer. Die Reichen unantastbar. Eine Kluft. Ein Abgrund. Weltweit. 811 Millionen Menschen hungerten. Kinder, deren Bäuche leer blieben, während der Reichtum sich zu Festungen türmte."
Amira schaut in die Gesichter vor ihr. Ihre Worte sind eindringlich – doch durchdrungen von Mitgefühl.
"Ich kann erzählen. Ich kann mahnen. Doch kein Wort fasst, was es bedeutet, im Schatten des Überflusses zu leben."
"Und dann kam er – der große Zusammenbruch. Weltweit. Zentralbanken versagten. Märkte implodierten. Der Staat stand am Abgrund. Doch genau in diesem Moment geschah das Unvorstellbare."
Sie lächelt. Zufrieden.
Die Menschen griffen zu. Übernahmen verlassene Betriebe, gründeten Genossenschaften. Und plötzlich war da etwas Neues: Mut, anders zu handeln. Zuversicht, gemeinsam zu gestalten. Die Unternehmen gehörten nicht mehr Aktionären, sondern jenen, die sie täglich mit Leben füllten. Demokratie – endlich auch in der Arbeitswelt.
Was einst utopisch schien, wurde Wirklichkeit. Arbeit war nicht länger bloß Mittel zum Zweck, sondern Teil eines sinnvollen Lebens: kreativ, gemeinschaftlich, getragen von Verantwortung. Genossenschaften wuchsen – ungeplant, unaufhaltsam. Wie eine Idee, deren Zeit gekommen war.
Die Politik versuchte gegenzusteuern. Doch es war zu spät. Der Staat war zahlungsunfähig – und an seine Stelle traten wir.
Ich hätte nie geglaubt, dass die größte Krise zur größten Chance wird. Aber heute stehen wir hier – in einer gerechteren, freieren, solidarischen Welt.
Sie hebt leicht die Hand. Die Geste ist ruhig und bedeutungsvoll.
Ja, es war schwer. Und ja, wir mussten Altes loslassen. Aber was wir gewonnen haben, ist mehr als ein System – es ist ein neues Bewusstsein.
Zwanzig Jahre nach dem Tag, an dem das Geld verschwand, erkennen wir: Überleben hängt nicht vom Kontostand ab. Sondern vom Zusammenhalt. Und vom Respekt vor dem Leben.
"Diese Rede ist keine bloße Erinnerung. Sie ist ein Ruf. An euch. An uns. An alle Generationen: Verliert nie den Mut, weiter zu denken."
Sie senkt den Blick. Ein stilles Nicken. Dann endet sie: "Ich danke Ihnen."
Der Applaus erhebt sich wie eine Welle. Und Amira weiß: Ihre Worte haben etwas bewegt.
Der Applaus hallt noch nach, als Amira das Pult verlässt. Ihre Schritte sind überraschend fest. Fast leichtfüßig geht sie die Stufen hinunter – nicht, weil sie jung ist, sondern weil die Worte ihr Kraft gegeben haben. Worte, die nicht nur erzählt, sondern erinnert haben.
Unten warten bereits Menschen auf sie. Manche wollen danken. Andere haben Fragen. Amira begegnet ihnen mit offenem Blick, hört geduldig zu. Doch während die Gespräche sich ziehen, schleicht sich ein anderes Bedürfnis in ihr Bewusstsein: der Duft. Das Buffet. Immer wieder gleitet ihr Blick in Richtung des Tisches. Es duftet nach frischem Brot, Kräutern, Gewürzen – nach Essen.
Schließlich, mit schelmischen Blick, hebt sie die Hand.
"Lassen Sie uns zum Buffet gehen." Ein Lachen geht durch die kleine Gruppe. Sie setzen sich in Bewegung. Zielstrebig greift Amira nach einem Teller. Ihr Blick wandert über das Angebot – eine Vielfalt aus Farben, Formen, Aromen. Alles liebevoll angerichtet. Kleine Schilder: regional, saisonal, ökologisch. Es ist mehr als Essen. Es ist ein Statement. Amira wählt bewusst: Salate, ein Stück Gemüsebrot, Beeren. Sie kostet vieles und kaut genüsslich.
Ihr Blick schweift über den Raum. Da – "Ah, da ist Tim." Er steht mit einer Gruppe junger Menschen. Sie diskutieren lebhaft – wach, konzentriert. Als sie näher tritt, hört sie die Frage einer jungen Frau: "...hat die Elite damals freiwillig auf ihren Reichtum verzichtet?" Amira lächelt. Keine naive Frage. Eine Ehrliche.
"Nicht ganz so freiwillig“, sagt sie ruhig und stellt sich neben Tim. "Der Staat sollte sie stützen – doch seine Kassen waren leer. Die Menschen hatten sich längst selbst geholfen. Und als das System zusammenfiel, verließen viele Reiche das Land. Sie suchten Zuflucht dort, wo der Kapitalismus überlebte."
Sie sieht in die Gesichter der Jungen. Ihre Augen fragen weiter. "Ich spreche von Kapitalum. Ihr habt sicher davon gehört – dem Land, in dem Geld und Macht noch immer das Maß aller Dinge sind." Eine junge Frau nickt langsam. "Ich... habe durch Werbeanzeigen davon gehört. Man kann dort alles kaufen, was man sich hier nicht vorstellen kann. Und ich gebe zu – das hat mich fasziniert.“ Sie zögert. "Aber Ihre Rede… hat mich überzeugt, nicht dorthin zu gehen." Amira tritt näher, legt sanft die Hand auf ihre Schulter.
"Ich danke dir. Werbung ist mächtig. Aber deine Entscheidung zeigt: Erinnerung kann stärker sein." Ein leises Lächeln. Ein Blick, der Hoffnung trägt – auf das, was kommt.
Ein wolkenloser Himmel. Strahlend. Still.
Auf der Terrasse steht Feli, die Arme weit geöffnet. Der Wald liegt ruhig vor ihr, als würde er lauschen. Feuchte Erde, Harz, Laub – der Duft steigt ihr in die Nase, satt und vertraut.
Sie atmet tief ein, hebt die Schultern, streckt sich dem Licht entgegen. Spätsommer. Die Luft trägt einen Hauch von Abschied in sich – kaum spürbar. Ein Windzug, leise wie ein Flüstern.
„Schon wieder Spätsommer“, denkt sie. Und: Wie oft noch?
Sie beugt sich vor, berührt mit den Fingerspitzen ihre Zehen, richtet sich langsam wieder auf. Ein leises Knacken der Wirbelsäule. Ein kleines Lächeln – ein kurzer Moment nur, für ihren Körper. Für sich.
Drinnen umfängt sie Wärme.
Ein Schauer streicht über ihren Rücken – flüchtig wie der Nachklang eines Traums.
Sie geht zu Max’ Zimmer. Es ist noch still.
„Guten Morgen! Aufstehen!“
Ein Rascheln, dann Bewegung. Max blinzelt, streckt sich aus dem Bett. Wortlos schlendert er ins Bad – seine Routine: knapp, effizient. Zurück vor dem Kleiderschrank tippt er aufs Interface. Das Menü erscheint auf der Spiegelfläche.
Hellblaues Sweatshirt mit Surfer Motiv. Jeans. Socken. Alles läuft automatisch. Das Ausfahr-Tablett legt die Kleidung bereit. Max nimmt sie, das System fährt ein. Ein letzter Blick in den Spiegel – kritisch, aber nicht eitel.
Dann springt er die Treppe hinunter – zwei Stufen auf einmal.
„Guten Morgen, Mom.“
Feli sitzt bereits am Tisch. Sie tippt auf die Fläche in der Mitte – das Menü erscheint: Brötchen, Butter, Camembert, Marmelade, Latte.
„Was willst du?“
„Ich mach das selbst.“
Er wählt Schoko-Müsli. Keine Diskussion.
Kurz darauf ertönt das Signal. Der Speiseaufzug ist da. Robi bewegt sich lautlos zum Tisch, stellt die Tabletts ab. Elegant, wie ein höflicher Kellner aus alten Filmen.
„Guten Appetit“, sagt er mit warmer Stimme.
Max schaufelt sein Müsli in sich hinein. Feli beobachtet ihn. Sogar seine Sätze sind kürzer geworden – als hätte er keine Zeit mehr.
„Du weißt, ich hole dich heute um zwei ab. Kieferorthopädie.“
„Ach ja.“
Er hält inne, denkt kurz nach, trinkt die Milch aus der Schüssel in einem Zug.
„Jetzt muss ich mich wirklich beeilen.“ Ein Grinsen. Ein flüchtiger Kuss auf die Wange.
Robi hilft ihm in die Jacke, reicht ihm den Rucksack.
„Tschüss, Mom. Und grüß Mom Jamela von mir!“
Ein leises Summen durchbricht den Moment. Die Paketstraße. Eine Klappe öffnet sich.
„Mom, da ist noch ein Päckchen.“
Er bringt es, drückt es ihr in die Hand, rennt dann zum Bus. Robi winkt ihm nach.
„Ich wünsche dir einen erfolgreichen Tag!“
Feli sieht ihm nach, das Päckchen auf dem Schoß. Sie öffnet es: ein Gürtel. Dunkelblaues Leder, überarbeitet. Zwei filigrane Blüten aus Polymer Clay in Blautönen. Elegant. Sie streicht mit dem Daumen über das Material. Ein eigenartiges Kribbeln im Nacken.
Noch bevor sie darüber nachdenken kann, tippt sie aufs Menü: Nachrichten. Das Display leuchtet auf.
Klimagipfel: Eiskappen-Schmelze fast gestoppt.
Sie lehnt sich zurück. Endlich. Die 1,8-Grad-Grenze scheint gehalten. CO₂ fast bei Null. Jahrzehntelang war es ungewiss – und doch klingt es noch immer wie ein Wunder.
Eine Hand auf ihrer Schulter lässt sie zusammenzucken. Jamela steht hinter ihr. Die Müdigkeit in ihren Augen erzählt von der Nacht – nicht nur von Schlafmangel.
Sie lächelt – ein müdes Lächeln, das mehr Kraft kostet, als es zeigt.
„Gab eine Not-OP. Ein autonomer Elektrobus ist gegen einen Baum gefahren – der Fahrer hatte den Override genutzt, aber zu spät. Zum Glück waren wir zu zweit. Der OP-Roboter hat reagiert, als hätte er es geahnt – wir haben es in letzter Minute geschafft.“
Feli nimmt ihre Hand. Sie ist kalt.
„Magst du einen Kaffee?“
Jamela nickt leicht. „Ja. Gib mir fünf Minuten. Ich will den Artikel noch lesen.“
Auf dem Display tanzen Lichtpunkte – Roboterarme, die wie Tintenfischarme über den Meeresgrund gleiten. Das Plastik ist geblieben – stur wie das Denken von damals.
„Unfassbar“, murmelt sie. „Nach all den Jahren liegt es noch immer da. Damals hat man einfach Mehrweg draufgeschrieben, statt weniger zu produzieren.“
Jamela tritt näher. Ihr Blick ist wach.
„Wenn du dir anschaust, was alles hergestellt wurde … Spielsachen, Verpackungen, sinnloser Kram. Und dann verschiffte man den Müll – nach Afrika, nach Asien. Einfach weg damit.“
„Ich will mir demnächst einen Recyclinghof anschauen“, sagt Feli. „Ich will wissen, was wirklich passiert.“
Robi serviert den Kaffee. Frisch, kräftig.
„Neue Sorte?“
„Jemen“, sagt Robi.
Jamela nippt.
„Manchmal frage ich mich“, sagt sie leise, „ob sie anders gehandelt hätten, wenn sie zur Verantwortung gezogen worden wären.“
Ein kurzer Blick. So vieles lässt sich inzwischen sagen – ohne Worte.
„Der Gürtel ist da“, sagt Feli.
Jamela nimmt ihn, dreht ihn in den Händen.
„Der ist wunderschön. Den trage ich zum blau-weißen Kleid.“
Ein sanfter Kuss. Feli streicht ihr übers Haar. Ein Moment der Nähe, ruhig.
Dann: Bewegung. Zeit.
„Ich muss los“, sagt Feli.
„Heute Abend machen wir es uns gemütlich“, sagt Jamela rasch.
Robi bringt Orangensaft, eine Schale Früchte. Vitamine für den Tag.
Jamela lehnt sich zurück.
„Ich wollte später auf der Terrasse arbeiten – die Tomaten brauchen Unterstützung.“
„Brauchst du Hilfe?“ fragt Robi.
„Vielleicht später.“
Die Haustür fällt ins Schloss. Stille. Fensterflügel öffnen sich, Vögel zwitschern. Der Morgen atmet.
Ein Rascheln – ein Eichhörnchen huscht über das Geländer.
„Ganz schön mutig“, murmelt Jamela.
Ihre TecWatch blinkt. Nachricht von Sarah:
Sehen wir uns?
Café Zur Luise?
Bis gleich.
Sie zieht die Gartenhandschuhe an, holt Geräte aus dem Abstellraum. Vieles teilen sie mit den Nachbarn. Ein dezenter Summton – Abgleich im Gemeinschaftsregal.
Gerade beugt sie sich über das erste Beet – da steht Max plötzlich wieder hinter ihr.
„Was ist los?“
„Sportzeug vergessen. Heute ist Basketball.“
„Dann los, beeil dich.“
Er winkt, läuft zurück. Jamela bleibt einen Moment stehen. Lauscht. Dann geht auch sie los – den Blumenweg entlang. Ihre Gedanken verweilen noch bei der Nacht: Notfall, Verantwortung, schnelles Handeln. Ihre Atmung wird kurz schneller. Dann ein Lächeln – im Gedanken an Sarah.
Jamela biegt um die Ecke. Der Blumenweg wird breiter. Die Sonne liegt weich auf den Steinen. Der Alltag regt sich. Noch ist es ruhig – aber sie weiß: Der Tag wird fordernd.
Sie holt tief Luft. Der Duft von frischem Kaffee weht ihr aus einem Fenster entgegen. Sie streicht sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, fasst ihre Tasche und geht entschlossen auf das Café zu.
Der Arbeitstag rückt in den Hintergrund. Am Eingang lächelt sie. Jetzt ist Zeit für Sarah.
Wie gewohnt läuft sie direkt auf die Terrasse. Und da sitzt sie schon – winkt fröhlich. „Hallo Jamela!“ – Eine herzliche Umarmung.
„Schon wieder länger her, als wir wollten.“
„Ja. Ich denk so oft an dich, und dann kommt wieder was dazwischen.“
„Aber jetzt – sitzen wir endlich hier.“
Sarah beugt sich vor, tätschelt Jamelas Hand. Vertrautes Lächeln, offene Blicke, leises Lachen – und diese kleinen Berührungen, die nichts erklären müssen.
Sie kennen sich seit dem Sandkasten. Schulzeit, Studium – gemeinsam. Dann kam das Leben: Partnerschaften, Kinder, Beruf. Eine Pause entstand. Doch später spielten ihre Kinder auf denselben Plätzen wie sie einst. Heute besuchen sie wieder dieselbe Bildungseinrichtung.
Zwischen ihnen bleibt nichts ungesagt. Auch jetzt nicht.
Wie nebenbei tippt Jamela aufs Menü. Latte Macchiato und Rhabarbertarte. Sarah wählt grünen Tee und Mochi-Eis.
„Jeremy ist gerade auf Bildungsreise – in Südfrankreich, Camargue. Es gibt so schöne Bilder! Er ist auf einem Reiterhof, reitet täglich, hilft mit. Neulich war er dabei, als ein Wildpferd eingeritten wurde. Abenteuer pur. Er hat ein Reisetagebuch online gestellt – hier, schau mal.“
Hanna bringt die Bestellung. „Lasst es euch schmecken!“
Ein Lächeln. Dann öffnet Sarah ihre TecWatch, die Anzeige vergrößert sich. Jamela sieht Kinder auf Pferden, umgeben von einer Herde.
„Sie sammeln sich … und dann – sieh mal – laufen sie los. Anmut pur.“
„Fast wie fliegende Schatten.“
„Sag mal, was macht Max?“
„Stimmt – die beiden haben sich auch länger nicht gesehen.“
Er arbeitet an einem Umweltprojekt – Mikroplastik im Wasser.“
„Gut so. Das Thema ist ja immer noch aktuell.“
Ein kurzer Moment der Stille.
„Und deine Arbeit?“
„Dritter Tag in der Redaktion der Internationalen Handelsorganisation. Ich mag’s – aber es ist mehr los als gedacht. Wir sind gerade nur zu zweit, es gab eine Neubesetzung im Kulturbereich.“
„Einarbeiten im Trubel – das kennst du ja.“ Sarah lächelt halb erschöpft, halb belustigt.
Hanna tritt noch einmal an den Tisch. „Alles in Ordnung? Noch ein Wunsch?“
