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In einem geschützten therapeutischen Raum beginnt Nina, ihre Geschichte zu erzählen – eine Kindheit, die von Sprachlosigkeit, Angst und dem Versuch geprägt ist, zu funktionieren statt zu fühlen. Erst Jahre später lässt sie zu, was lange verdrängt war: das Erlebte, das Geteilte, das nie Ausgesprochene. Gemeinsam mit ihren Schwestern, getragen von stiller Verbundenheit, durchlebt sie Erinnerung und Aufbruch zugleich. Ihre Familie, die Kunst und die Musik werden zu Inseln des Atemholens – und zu Quellen neuer Kraft. Schutzlos im Glashaus erzählt von innerer Stärke, von der Suche nach Licht in dunklen Räumen – und vom langen Weg, das eigene Leben zurückzugewinnen.
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Seitenzahl: 282
Veröffentlichungsjahr: 2025
Schutzlos im Glashaus
Licht statt Schweigen
Ein Donnerstag zu früh
Singen befreit
Stimmungen die schwanken
Zwischenräume
Zwischen Atemzug und Absturz
Gerade noch rechtzeitig
Arbeit, die Freude bereitet
Das Leben ist schwer
Ein Ausflug der Chor Freundinnen
Steffi zieht um
Kleine Schritte nach vorn
Das Fühlen der Nähe bewirkt das Nachdenken
Ein Nachmittag voller Leben
Wo das Schweigen bricht
Ein Band des Zusammenhalts
Jeden Tag genießen
Verzaubert
Ein Zimmer, vier Stühle, eine Wahrheit
Unfassbares wach halten
Alle müssen gute Nerven bewahren
Der Tag der Abreise
Der neue Ton in ihr
Chorprobe
Freude findet einen Platz
Arbeitsangebot für Nina
Wenn Zuwendung Grenzen braucht
Maßnahme statt Arbeit
Treffen der drei Schwestern
Wenn ein Leben sich neu ordnet
Erst einmal entspannen
Psychopharmaka als Helfer
Steffi schafft nichts mehr allein
Das Leben als Einbahnstraße
Der Psychiater als Erlösung
Nina am Wendepunkt
Steffi noch immer im Krankenhaus
Ninas Geburtstag
Nie gab sie die Hoffnung auf
Nachspann
Es ist noch dunkel, als Nina aufwacht.
Ein vertrautes Ziehen im Körper, leise, aber bestimmt.
Sie weiß, was es bedeutet.
Die Nacht ist vorbei, bevor der Tag beginnt.
Sie bleibt still liegen, atmet flach.
In Gedanken sieht sie die alte Standuhr ihrer Großeltern.
Das Pendel schwingt, ein Gong ertönt:
zehnmal laut, zehnmal leise.
Ein Echo aus einer Zeit, die sie nie ganz verlassen hat.
Im Glas der Uhr erkennt sie ihr Spiegelbild.
Augen ohne Ausdruck.
Ein Gesicht, das sie kaum kennt.
Tränen lösen sich, unbemerkt.
Erinnerungen flackern auf – kurz, grell, verschwinden wieder.
Sie richtet sich auf, steht schwankend.
Kalte Luft, der Körper schmerzt.
Routine: Wasser, Hände, Kaffee.
Normalität ist ihre erste Hilfe.
Dann steht Jan in der Tür.
»Du bist früh wach.«
Sie nickt. »Ich konnte nicht schlafen.«
Er sieht sie an, besorgt, und sie weiß, dass sie nichts mehr verbergen kann.
»Ich habe wieder Angst«, sagt sie leise. »Sie kommt einfach, ohne Grund.«
Ich will ins Krankenhaus.
In einem kargen, weiß gestrichenen Raum sitzen Nina und Jan einer Psychiaterin gegenüber. Jan erzählt, was sich zu Hause zugetragen hat, und dass Nina selbst ins Krankenhaus wollte.
»Frau Blumenthal, ich schlage vor, dass wir Sie vorerst hierbehalten. Sie brauchen jetzt professionelle Hilfe, Ihr Mann kann das allein nicht mehr leisten.«
Die Ärztin beginnt, die Aufnahmeformulare auszufüllen.
Währenddessen lehnt sich Nina hilflos an Jan. Ihre Stimme klingt weinerlich, fast wie ein Lachen:
»Zuhause war’s sowieso nicht so gemütlich.«
»Sonnenberg?« Felicia meldet sich am Telefon.
»Ich bin’s«, sagt Jan. »Hast du einen Moment?«
»Was ist denn los?« Ihre Stimme klingt unruhig. Sie ahnt, dass etwas nicht stimmt – meist ruft ihre Mutter sie an.
»Mama ist in der Psychiatrie. Sie hatte wieder einen Zusammenbruch.«
»Aber ich hab doch gestern noch mit ihr telefoniert. Da war alles gut! Hatte sie viel Aufregung?«
»Eigentlich nicht. Nur die Hochzeitsvorbereitungen, du weißt ja.«
»Hast du schon mit dem Arzt gesprochen?«
»Nur kurz bei der Aufnahme. Sie bekommt jetzt eine hohe Dosis ihrer Medikamente. Vielleicht erfahre ich morgen mehr. Heute kann ich nichts mehr tun – bringe ihr nur ein paar Sachen.«
»Bitte grüß sie von uns und drück sie ganz doll. Ich melde mich morgen wieder.«
»Lass nur, ich rufe euch am Abend an. Ich weiß nicht, wann ich zurück bin.«
»Gut. Tschüss.«
Während Jan ein paar Dinge in Ninas kleinen Reisekoffer packt, kommt Marten ins Schlafzimmer.
»Was machst du da, Papa? Wo ist Mama?«
»Bekomm keinen Schreck. Sie ist heute in die Klinik gekommen, und ich packe ihr ein paar Sachen.«
»Warum hast du mir nichts gesagt? Ich war doch nur eine Nacht bei meiner Freundin, und jetzt ist Mama im Krankenhaus!«
»Marten, du hättest nichts ändern können. Sie war heute Morgen völlig durcheinander. Nach ihrem Notfallmedikament hat sie kurz geschlafen, aber als sie wieder wach wurde, ging es ihr noch schlechter.«
»Musste sie wieder in die Psychiatrie?«
»Ja. Ich fahr gleich nochmal hin.«
»Ich komme mit!«
»Nein, heute besser nicht. Sie bekommt Medikamente und schläft. Ich bringe nur kurz ihre Sachen hin.«
»Soll ich in der Zeit was zu essen machen?«
»Ja, das wäre gut.«
Die Tür klappt zu. Jan bleibt einen Moment stehen, geht dann in den Wintergarten. Er zieht sich die Schuhe an, sein Blick fällt nach draußen.
Vor ihm steht eine riesige Tanne, deren Äste schwer und tief hängen. Daneben leuchtet eine kleine Blumeninsel – eingefasst von niedrigen Holzpflöcken, übervoll mit roten, blauen und gelben Blüten. Noch im Spätsommer blüht sie in verschwenderischer Kraft.
Er lächelt. Nina hat es geschafft, auf diesem sauren Boden eine bunte, lebendige Vegetation zu erschaffen – mit Blumen, Stauden, Sträuchern, die Bienen und Schmetterlinge anziehen. Zierpflanzen hat sie verbannt, damit die Natur Raum findet. Selbst Kröten und Igel haben hier ein Zuhause.
Jan erinnert sich daran, wie er im Frühjahr den Kompost umsetzte und fast eine Kröte mit der Forke erwischt hätte. Er war erleichtert, als sie davonhüpfte.
Ein kurzes Lächeln legt sich auf sein Gesicht, die Grübchen treten hervor, machen ihn weich.
Langsam, fast widerwillig, geht er los. Der Wind fährt durch sein inzwischen schütteres, silberweißes Haar.
Er gibt sich einen Ruck, läuft den schmalen Weg zum Gartentor.
Im Auto schaut er auf die Uhr – 22:30 Uhr – und wählt die Nummer seines Sohnes in Australien.
Sein Handy zeigt die Zeit in Sydney: 6:30 Uhr.
Das Freizeichen ertönt.
»Hallo Papa! Ist alles klar bei euch?«
»Nein, Philipp. Mama ist wieder in der Klinik.«
Nur kurz erzählt er, was passiert ist.
»Mach dir keine Sorgen, sie bekommt Medikamente, damit sie etwas zur Ruhe kommt.«
»Ist sie in derselben Klinik wie damals?«
»Ja.«
»Aber Papa, da war’s so kalt und kahl. Wie soll sie sich da erholen?«
»Sie wollte selbst dorthin. Sie kennt alles und fühlt sich dort sicherer. Ich halte dich auf dem Laufenden.«
»Soll ich kommen? Soll ich in den Flieger steigen?«
»Nein, Philipp. Sie ist stark. Wir warten ab. Ich melde mich morgen.«
»Okay … bis morgen, Papa.«
Nina zieht sich die Decke über den Kopf. Durch den Türspalt fällt grelles Licht direkt in ihr Gesicht. Angst steigt in ihr auf. Sie beginnt zu weinen.
»Frau Blumenthal, beruhigen Sie sich.« Eine Krankenschwester kommt herein.
»Da ist ein Schatten … er wird größer!«
»Hier ist niemand. Ich bin’s nur.«
Die Schwester streicht ihr beruhigend über den Arm. Ein Pfleger kommt hinzu.
»Wir schieben Sie jetzt kurz in den Gang«, sagt er ruhig.
Im Flur angekommen, sieht Nina, dass da wirklich niemand ist. Das beruhigt sie etwas.
»Wir erhöhen Ihre Dosis, dann geht’s Ihnen gleich besser.« Der Pfleger reicht ihr ein Glas Wasser mit einer Tablette.
Nina schluckt sie hastig. »Ihr Mann war vor einer halben Stunde hier und hat Sachen für Sie abgegeben«, sagt der Pfleger. »Er kommt morgen Nachmittag. Wenn etwas ist, rufen Sie mich. Ich heiße Herr Winkel.«
Nina lächelt flüchtig, denkt aber: Er kann viel reden. Ich rufe keinen Mann.
Sie will keine Hilfe von Männern – außer von Jan.
Das Licht der Neonröhren blendet. Nina spürt eine innere Unruhe. Sie steht auf, schlurft den Flur entlang wie eine alte Frau. Vergilbte Wände, keine Bilder. Dann entdeckt sie auf einem kleinen Tisch eine Skulptur: kahle Zweige, ineinander verhakt, überspannt von dünnen Fäden, zwischen denen bunte Perlen hängen.
Zerbrechlich und doch stark, denkt sie.
Ein Frösteln läuft über ihren Rücken. Sie geht weiter, ohne zu merken, dass ihr Nachthemd hinten offen steht. Normalerweise würde ihr so etwas nie passieren. Sie achtet sonst darauf, dass kein Zentimeter Haut sichtbar ist.
Vor ihr treiben Staubflocken über den Boden. Ihr Blick bleibt an einem dunklen Fleck haften.
Wie magnetisch zieht er sie an.
Der muss weg!
Sie reibt mit dem Ärmel darüber. Nichts.
Noch einmal. Spucke auf die Finger. Reiben.
Und da ist sie wieder – die Stimme ihres Vaters:
»Vera, komm mal her!«
Nina sieht das ängstliche Gesicht ihrer Mutter. Dann den Finger des Vaters, drohend vor ihrem Gesicht:
»Wie sieht das hier aus? Mach das sauber!«
Wieder reibt sie, hektisch, bis der Fleck verschwindet.
Geschafft.
Kälte kriecht in ihren Körper. Sie zieht das Nachthemd hinten zusammen und geht weiter. Vor ihr eine Glastür. Sie weiß, sie ist verschlossen, aber sie zieht trotzdem daran.
»Ich will hier raus!«
Ein Lachen in ihrem Kopf. Laut. Aufdringlich.
»Ich will hier raus!« ruft sie wieder, läuft panisch den Flur zurück.
Der Pfleger rennt ihr entgegen.
»Nein! Geh weg!« Sie hält sich die Hände über den Kopf.
Dann bricht sie zusammen.
Die Krankenschwester kniet sich neben sie, spricht leise auf sie ein.
Nina hört nur noch ihre eigene Stimme flüstern:
»Jan, hilf mir …«
»Bin wieder da«, ruft Jan. Der Duft aus der Küche kommt ihm entgegen. Marten steht am Herd, rührt in der Gemüsesuppe.
»Probier mal, Papa!«
Jan nimmt den Löffel, nickt. »Sehr gut. Vielleicht noch etwas Kurkuma – und ein Löffel Crème fraîche.«
Marten lächelt. »Na, die ist mir gelungen, oder?«
»Ja, und du hast sogar den Tisch gedeckt.«
Während sie essen, fragt Marten leise:
»Hast du noch etwas erfahren?«
»Nein. Ich hab sie nicht mehr gesehen. Nur die Tasche abgegeben.«
»Papa, glaubst du, Mama kommt irgendwann zur Ruhe? Diese Angst, von der sie redet – das muss doch mal aufhören. Manchmal lacht sie mit uns, aber oft kippt es plötzlich. Dann ist sie wieder traurig. Wir spüren das alle. Sie macht doch weiter mit der Therapie, oder?«
»Ja. Sie will es schaffen.«
»Ich wünsche ihr so sehr, dass sie Hilfe bekommt, die wirklich hilft«, sagt Marten leise.
Sie essen schweigend weiter, trinken noch ein Glas Wein.
»Guten Morgen.«
Nina öffnet die Augen. Ihre Bettnachbarin steht vor ihr.
»Ich wollte dich wecken – es gibt Frühstück. Wenn du magst, komm mit.«
Bevor Nina reagieren kann, ist ihre Bettnachbarin schon wieder verschwunden. Benommen, nicht müde, eher wie in eine dicke Hülle eingepackt, steht sie langsam auf. Die Bewegungen fühlen sich schwer an, fast fremd, als hätte ihr Körper seine gewohnten Handgriffe vergessen. Sie duscht, zieht sich an, und kaum ist sie fertig, steht die Bettnachbarin erneut vor ihr.
»Ich habe dir etwas zu essen zurechtgestellt. Beeil dich ein bisschen, sonst räumen sie es weg. Ich heiße übrigens Klara.«
»Danke, Klara.« Nina geht in Richtung Frühstücksraum, orientiert sich an den Patienten, die aus allen Richtungen kommen. Endlich erkennt sie die Tür, tritt ein und entdeckt das Tablett, das Klara wie versprochen bereitgestellt hat. Unschlüssig steht sie im Raum.
Ein Mann wischt gerade die Tische ab und lächelt sie an.
»Setz dich doch hier hin«, sagt er und deutet auf einen Platz vor der Fensterfront. »Von hier aus siehst du den Garten gut.«
Leise murmelt Nina: »Mein erster Gedanke war doch richtig.« Sie wirft ihm noch einen Blick zu. Er lächelt immer noch.
Ich brauche Kaffee, denkt sie, stellt das Tablett ab und läuft zum Spender im Flur. Endlich hält sie die heiße Tasse in Händen. Während sie zurückgeht, verschüttet sie etwas und bleibt wie angewurzelt stehen.
»Das ist schnell erledigt«, sagt der Mann, reicht ihr Papiertücher. »Setz dich, ich mach das schon.«
Zögerlich nimmt Nina Platz. Vor ihr liegt das Brötchen. Der Hunger ist flau, jeder Griff mühsam. Langsam schneidet sie es auf, bestreicht die untere Hälfte mit Butter. Die Folie klemmt, sie zieht sie genervt ab. Endlich! Pflaumenmus darauf – ein Moment kleiner Ordnung. Für einen Augenblick scheint eine dunkle Wolke vom Brötchen weggeblasen zu sein, die Butter leuchtet wie goldene Sonnenstrahlen.
Ihr Blick schweift hinaus. Die großen Laubbäume verlieren erste Blätter. Die Zweige wiegen sich sanft, fast beschützend: Nicht so stürmisch, es ist noch nicht Herbst.
Auf einer Bank sitzt eine Frau mit einem riesigen Loop, der ihren Hals bis zu den Schultern verbirgt. Sie starrt auf den kleinen Teich, rührt sich nicht, wirkt wie eine lebendige Skulptur. Nina beobachtet sie eine Weile. Irgendwann wird es ihr wie mir, ein bisschen besser gehen.
Sie wendet den Blick ab, nimmt ihr Tablett auf, verzichtet auf die zweite Brötchenhälfte und stellt das Geschirr geordnet ab. Eine Stimme erreicht sie:
»Gleich beginnt die Morgenrunde. Du gehst rechts den Flur runter, am Aufenthaltsraum vorbei, zweite Tür.«
Es ist der Mann vom Frühstück, der offenbar auch auf freiwilliger Basis auf sie achtet. Langsam geht Nina los. Schon wenige Schritte später ist der Weg vergessen – ihr Kopf ist leergefegt.
»Wo willst du hin?«
»Zur Morgenrunde … die muss doch schon begonnen haben.«
Klara greift nach Ninas Arm. »Wie heißt du eigentlich?«
»Nina.«
»Wir sehen uns nachher, Nina.«
Im Raum steht ein kleiner Stuhlkreis. Fast alle Plätze sind besetzt, nur einer ist frei. Zögerlich setzt Nina sich. Die Situation, die Abläufe – sie kennt sie, aber hätte nie gedacht, dass sie noch einmal zusammenbrechen würde.
»…ich habe keine Lust mehr, in der Malgruppe mitzumachen«, sagt eine Patientin.
Eine Frau in weißer Kleidung, vermutlich die Psychiaterin, reagiert freundlich, aber bestimmt:
»Frau Jung, der Ergotherapeut berichtete, dass Sie gestern nur kurz da waren und gleich wieder verschwunden sind. Am Tag davor in der Töpfergruppe und beim Singen – nirgendwo länger als fünf Minuten.«
»Ich kann mich einfach nicht konzentrieren.«
»Versuchen Sie es heute noch einmal. Herr Kampfer hat viele Motive vorbereitet.«
Frau Jung nickt.
Dann wendet sich die Psychiaterin Nina zu:
»Frau Blumenthal, möchten Sie sich vorstellen?«
»Ich heiße Nina Blumenthal.«
»Sie sind gestern am späten Abend gekommen. Möchten Sie erzählen, wie es Ihnen heute geht?«
»Nicht besonders.«
Stille legt sich über die Runde, bis eine andere Patientin ihre Sorgen schildert.
»Möchte noch jemand etwas sagen? Nein? Dann schließen wir die Runde. Wir verteilen nur noch die Ämter für diese Woche.«
Die Psychiaterin schaut zu Nina:
»Wer zum ersten Mal ein Amt übernimmt, fängt meist in der Küche an und räumt die Spülmaschine ein. Möchten Sie das übernehmen?«
»Ja.«
Bevor die Runde sich auflöst, hört Nina zu, wer welche Aufgabe bekommt. Beim Verlassen muss sie noch eine Patientin fragen:
»Kannst du mir sagen, wo die Küche ist?«
»Geradeaus bis zum Ende, dann links. Gleich siehst du sie.«
»Dankeschön.«
Die Küche ist weißgekachelt. Der Geschirrspüler steht offen, das Geschirr wartet auf Einsortierung. Nina nimmt einen Teller, überlegt kurz, wo er hingehört, und setzt ihn langsam ein. Sie zittert leicht, ihr Herz schlägt schneller. Alles fällt ihr schwer, jeder Handgriff scheint neu. Messer, Gabeln, Tassen – wohin damit? Panik steigt.
Plötzlich steht eine Frau neben ihr, sortiert Tassen in die Spülmaschine, legt Messer und Gabeln in den Besteckkorb.
»Nimm noch die Löffel und steck sie in den Korb.«
Nina greift einzelne Löffel und tut, wie ihr gesagt.
»Danke«, sagt sie fast entschuldigend. »Mir fällt alles so schwer, als müsste ich alles neu lernen. Es ist, als wäre in meinem Kopf alles gelöscht worden.«
Emma, die Frau neben ihr, lächelt.
»Ich bin seit vier Wochen hier. Ich muss auch alles von vorne lernen: Depressionen, Psychose, Medikamente – alles läuft in Zeitlupe. Jede Bewegung fühlt sich an, als würde ich einen Sandsack hinter mir her schleppen.«
»So geht es mir genau.«
»Die akuten Beschwerden – Panik, Unruhe – werden durch Medikamente gedämpft. Ich kann jetzt etwas Abstand gewinnen und werde nach ein paar Wochen wieder nach Hause entlassen. Bei mir ist es nicht das erste Mal. Dabei dachte ich, es passiert mir nur einmal. Weit gefehlt. Ich bin schon das dritte Mal hier.«
»Ich dachte das auch beim ersten Mal. Damals erklärte mir meine Psychiaterin, dass eine Krise wiederkehren kann. Na ja. Danke, dass du mir geholfen hast. Ich muss mich jetzt hinlegen.«
Völlig erschöpft legt sich Nina aufs Bett und schläft ein.
Nina erreicht das Gesundheitszentrum. Sieben Wochen sind vergangen, seit sie das erste Mal ihrer Therapeutin begegnet ist. Heute soll ihre erste reguläre Therapiestunde bei Frau Hain stattfinden. Ihr Herz klopft, Aufregung zieht durch ihren Körper, und sie hat noch keinen klaren Plan, was sie sagen will.
Ach Quatsch, denkt sie, ich kann mir doch nichts zurechtlegen. Es kommt sowieso anders.
Vor dem Fahrstuhl steht sie noch einen Moment, drückt dann den Knopf. Der Aufzug bringt sie ins fünfte Stockwerk. Oben angekommen, führt ein langer, schmaler, weißer Gang ins Dachgeschoss. Kein Mensch ist zu sehen, die Stille wirkt einschüchternd. Angst steigt in ihr auf.
Verunsichert biegt sie am Ende des Gangs ab – und erschrickt leise: Ein Mann sitzt hinter einem Schreibtisch. Ein heller, aufgeräumter Arbeitsplatz, denkt sie, vermutlich erledigt er die Anmeldung. Mit jedem Schritt nähert sie sich ihm, innerlich fragt sie sich, warum keine Frau dort sitzt. Sofort korrigiert sie den Gedanken: Wie albern von mir.
»Ich habe heute einen Termin mit Frau Hain«, sagt sie.
»Name?«
»Blumenthal.«
Der Mann schaut ernst auf den Bildschirm.
»Es ist kein Termin auf Ihren Namen eingetragen.«
»Wie bitte?«
»Warten Sie, ich rufe Frau Hain an.«
Er wählt die Nummer, spricht kurz, dann reicht er Nina den Hörer.
»Hallo, Frau Blumenthal«, sagt die vertraute Stimme ihrer Therapeutin, beruhigend und freundlich. »Sie haben am nächsten Donnerstag um die gleiche Zeit einen Termin. Ich bin heute leider nicht im Haus. Wollen Sie den Termin am Donnerstag wahrnehmen oder einen neuen vereinbaren?«
»Ja, Donnerstag um elf, richtig?«
»Genau.«
Komisch, denkt Nina und lächelt verkrampft, ich war mir sicher, es sei heute. Ach, stimmt – ich hab’s zuhause falsch eingetragen.
Der Mann schaut kurz auf, als sie sich verabschiedet, immer noch wenig freundlich. Draußen vor der Tür atmet sie tief durch, geht nach rechts und folgt der Straße mit den kleinen Geschäften. Menschen eilen vorbei, sie selbst geht langsam, hat alle Zeit der Welt.
Ihr Blick bleibt an einer Schaufensterauslage hängen – knallbunte Alltagsgegenstände. Hier hat sie vor kurzem ein Brillentuch mit der Freiheitsstatue gekauft, herrlich weich, irgendwie lustig. Sie lächelt, wendet sich ab und beschleunigt ihr Tempo, denkt an ein Schmuckgeschäft, bei dem sie die Auslagen oft bewundert hat.
Im Laden bewundert sie einen Ring aus einem Glaskasten: Halbedelsteine in Blau, ein kleiner roter Punkt wie ein Miniaturhimmel. Sie kann ihn sich eigentlich nicht leisten. Wenn ich ihn jetzt nicht nehme, ist er vielleicht weg. Kaufe ich ihn, bin ich am Monatsende wieder im Minus.
»Bitte zeigen Sie mir diesen Ring.«
Die Verkäuferin holt ihn, Nina betrachtet ihn genau. »Hm, eigentlich…«
»Der passt perfekt zu Ihren anderen Ringen«, sagt die Verkäuferin und deutet auf das zarte Kettchen um Ninas Hals, besetzt mit Diamantsplittern und Zirkonia – kleine Lichter wie Sonnenuntergänge.
Stimmt, denkt Nina. Sie öffnet die Kette, lässt die Verkäuferin den Ring darauf platzieren. Drei Ringe – zusammengehörig. Selbst wenn die Therapiestunde heute nicht klappt, habe ich doch schon den ersten Schritt gemacht. Eine Belohnung wert.
Zuhause fällt die Tür ins Schloss, ihre Fleecejacke landet auf dem Boden wie ein flatterndes Segel. In der Küche wartet Jan. Sie tippt auf ihre Kette: »Schau mal, ich habe mir einen Ring gekauft.«
Er geht auf sie zu, betrachtet den Ring, lächelt: »Passt wirklich gut.«
Glücklich strahlt sie ihn an, umarmt ihn überschwänglich, küsst sein Gesicht. »Ich liebe dich.«
Er lacht.
»Oh, lecker, du hast Gemüselasagne vorbereitet. Genau das, worauf ich Lust habe.«
»Wann dachtest du, sie zu backen?«
»Alles vorbereitet. Im Ofen noch 45 Minuten.«
»Prima. Dann gehe ich vorher noch joggen?«
»Klar. Ich schiebe den Auflauf in den Ofen und schreibe noch meinen Artikel zu Ende.«
Draußen staut sich der Verkehr vor ihrer Haustür. Nina biegt in eine ruhigere Straße ab, beschleunigt ihr Tempo. Das Fließtal empfängt sie mit weichem Waldboden, himmlischer Ruhe, nur unterbrochen vom Vogelgezwitscher. Puls und Atmung finden einen Rhythmus, ihre Beine tragen sie federnd, jeder Schritt synchron mit den Armen.
Ein Stein, Feuerwanzen, eine kleine Fliege – fasziniert beobachtet sie das geordnete Chaos. Gedanklich schließt sie den Vergleich zur Menschheit: Grausame Massentierhaltung, Gier und Ausbeutung. Ein kurzes Zucken, sie schüttelt die Gedanken ab, wird schneller. Noch eine Brücke, eine Anhöhe, dann der Wald, wo sie die Freiheit spürt, das Glücksgefühl nach dem Lauf.
Zuhause angekommen, trägt eine leichte Röte ihre Wangen, frische Energie. Sie grüßt die Nachbarin, öffnet die Haustür, trifft Jan. Er arbeitet noch am Rechner, sie rennt ins Bad, genießt das klare Wasser, denkt über ihr Gewissen nach, das ihr sonst alles verdreht. Ich kann es trotzdem genießen.
»Essen ist fertig!«
Sie läuft runter, deckt den Tisch mit dem antiken Service, ihre Mutter hinterließ ihr die Schönheit im Detail. Gedanken schweifen kurz zurück in die Klinik: Schutz, Verständnis, Anderssein. Dann konzentriert sie sich auf die Gemüselasagne.
Jan kommt herein, tief ein- und ausatmen, alles ist in Ordnung, denkt Nina. Sie setzt sich, isst mit Genuss, schöpft nach, murmelt: »Mm, perfekt.«
Du wirst es nicht glauben – ich war heute vergeblich bei der Therapeutin. Der Termin war erst nächsten Donnerstag. In meinem Notizbuch stand heute, aber vielleicht habe ich mich vertan.
»Lecker«, denkt Nina, während sie sich noch ein Stück Lasagne auf die Gabel steckt.
»Ich muss wohl davon ausgehen, dass meine Therapeutin den Termin richtig eingetragen hat.« Sie zwinkert Jan zu und steht auf. »Du, ich gehe nach oben, meine Gymnastik machen.« Obwohl sie keine große Lust hat, legt sie sich auf den Boden, atmet tief ein und aus, öffnet kurz das Fenster und versucht, sich zu entspannen. Die Übungen fallen ihr zunächst schwer, bis sie bei den Yoga-Bewegungen endlich Ruhe findet. Das Zusammenspiel von Atem und Körper schenkt ihr ein Gefühl der Konzentration und inneren Balance, das sie mit unter die Dusche nimmt. Das Wasser auf ihrer Haut tut gut, alles wirkt ruhig und angenehm.
Doch dann taucht das morgendliche Telefonat mit ihrer Tochter wieder auf, und Ninas Stimmung kippt. Habe ich Felicia richtig verstanden? War ich zu gehetzt? Hätte ich ihr noch einmal sagen sollen, dass ich komme, um zu helfen?
Reglos greift sie zum Shampoo, bis sie merkt, dass sie handeln muss: Ich rufe sie noch einmal an. Niemand meldet sich. Mist, was nun? Ich muss Markus erreichen.
Kurz darauf meldet sich Markus: »Hallo Nina, wie geht es euch?«
»Danke, gut. Ich will nur hören, ob alles in Ordnung ist?«
»Felicia geht es besser, Finne, Levi und mir geht es gut.«
»Hilfe braucht ihr momentan nicht?«
»Nein, danke.«
Nina atmet auf. Alles ist in Ordnung. Sie geht zu Jan ins Arbeitszimmer. »Heute Morgen hat Felicia angerufen. Ich wollte helfen, sie hat abgelehnt. Markus sagt, alles passt, trotzdem habe ich noch ein ungutes Gefühl.«
Jan lächelt: »Nina, sie kommen zurecht. Vertraue ihnen, sonst machst du dich nur verrückt.«
Erleichtert setzt Nina sich ins Wohnzimmer, nimmt ein Glas Wasser und wählt Philipps Nummer.
»Hallo Mama.«
»Na, Philipp, wie geht es euch?«
»Ganz gut. Ich organisiere gerade ein Konzert für einen Folksänger in zwei Monaten – viel zu tun, macht aber Spaß. Benjamin ist okay, Amy erkältet, alles geregelt. Wir kommen im Sommer zu euch….«
Die Verbindung bricht kurz ab, Jan übernimmt und ruft über das Smartphone an. Philipp nochmal:
»… Alles sehr gut, die Konzerte waren ausverkauft. Die Verantwortlichen wollen, dass ich weitere Gruppen bringe. Gute Netzwerke sind wichtig.«
Nina lächelt erleichtert. Den Kindern geht es gut. Ein Gefühl von Stolz und Dankbarkeit breitet sich aus. Der Stress und die Unsicherheit sind verflogen, und ein ruhiger, zufriedener Moment breitet sich in ihr aus.
»Stell dir vor, ich kann jetzt zehn Stunden in der Woche Nähkurse geben, vielleicht kommen noch ein paar Stunden dazu. Das erste Mal habe ich einen Vertrag für ein halbes Jahr bekommen. Wenn ich Glück habe, wird er verlängert.«
»Steht bitte auf, wir wollen uns einsingen. Tief einatmen und locker auf sss… ausatmen.«
Während der Chorleiter mit den Atemübungen beginnt, erzählt Chris weiter, halb flüsternd, halb atemlos vor Freude über ihren neuen Vertrag. Nina lächelt. Der Gedanke, dass Chris endlich etwas Sicherheit bekommt, beruhigt sie.
Dann konzentriert sie sich wieder auf ihre Stimme. Der Ton wird rund, die Höhe leicht, ihr Atem fließt ruhig. In Gedanken sieht sie ihre Gesangslehrerin vor sich: »Stützen, stützen und nach draußen singen!« Sie folgt diesem inneren Bild und spürt, wie sich in ihr etwas löst. Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht – Musik ist ihr Rückzugsort.
Ein kurzer Moment der Heiterkeit: Eine Sängerin reicht ein Handy herum, auf dem ein Spruch steht – »Ein Schnäppchen ist etwas, das man nicht braucht, zu einem Preis, dem man nicht widerstehen kann.« Das leise Lachen schwappt durch die Reihe, bis der Chorleiter streng und zugleich milde ermahnt: »Meine Damen, das Café ist erst in einer Dreiviertelstunde geöffnet!« Danach lachen sie noch einmal leise, aber liebevoll.
Während der Pause steht Nina etwas abseits, blickt an die hohe Decke der alten Aula und zählt wie so oft die kaputten Glühbirnen der riesigen Kronleuchter. Diese Aula ist nicht schön, aber sie ist voller Erinnerungen. Jahrzehnte schon proben sie hier, und jedes Mal, wenn sie singt, fühlt sie sich lebendig.
Chris tritt neben sie, bunt wie immer, mit grünem Kleid und orangefarbener Hose. Sie lacht, redet, sprüht vor Energie. Nina bewundert sie – und spürt gleichzeitig, wie unterschiedlich sie beide sind. Chris wirkt laut, unbeschwert, frei. Nina eher still, bedacht, in sich hineinhorchend. Und doch verbindet sie etwas: der Wille, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen.
Zurück in den Reihen fließt Ninas Stimme durch die Harmonien, warm und klar. Sie fühlt sich leicht. Für einen Moment ist alles in Ordnung.
Später, zu Hause, bringt Jan ihr Hawaii-Toast an den Sessel. »Genau richtig, die Spätnachrichten haben gerade angefangen«, sagt er. Sie essen, während der Nachrichtensprecher von den überfüllten Flüchtlingslagern in der Türkei berichtet.
Nina legt die Gabel ab. Die Bilder auf dem Bildschirm ziehen sie hinein. Menschen, die in Zelten ausharren, Kinder mit leeren Augen. »Wie kann man so etwas zulassen?«, sagt sie leise.
Jan sieht sie an, sein Blick ernst, müde zugleich. »Das frage ich mich auch. Aber sie reden lieber über Zahlen als über Schicksale.«
»Ich verstehe nicht, wie man über Menschen so reden kann, als wären sie eine Belastung«, murmelt Nina. »Als wäre Menschlichkeit etwas, das man sich leisten muss.«
Jan nickt, und sie reden weiter, ruhig, aber mit der ganzen Wucht dessen, was sie beide bewegt. Über Politik, über Verantwortung, über das, was bleibt, wenn man hinsieht statt wegzusehen.
Später, als sie schweigen, rückt Nina näher. Ein leiser Moment zwischen ihnen – Zuneigung, Wärme, Vertrautheit. Jan streicht ihr übers Haar, sie lächelt, zieht sich kurz zurück. Er kennt diese Bewegung. Kein Unverständnis, kein Druck – nur Respekt.
In dieser Stille liegt etwas Kostbares.
Etwas, das bleibt.
»Komm, wir gehen jetzt ins Bett«, sagt Jan, schiebt sie spielerisch vor sich her. Beide lachen leise, während sie die Treppe hinaufgehen.
Später ist es still. Der Mond wirft kaltes Licht in eine Ecke des Zimmers. Zwei Uhr.
»Nein!«
Jan schreckt auf. »Wach auf, Nina.« Er schüttelt sie sanft und macht das Licht an.
»Du hast wohl schlecht geträumt.«
»Ja«, sagt sie tonlos, »ich höre mich noch schreien.«
Langsam setzt sie sich auf, atmet schwer. »Da war er wieder, der Traum. Ich renne über eine weite Wiese, hinter mir ein Schäferhund, die Zähne gefletscht. Mein Vater steht im Hintergrund, ruft: ‚Fass sie!‘ Ich renne, sehe nur noch den Stacheldraht vor mir – und weiß, dass ich nicht entkommen kann.«
»Schrecklich«, sagt Jan leise. »Geht es dir besser?«
Sie nickt.
»Ich hole dir Wasser.«
Er kommt zurück, sie trinkt fast das ganze Glas.
x»Danke. Ich versuche, noch ein bisschen zu schlafen.«
Jan legt sich wieder hin, aber er bleibt lange wach.
Trotz der unruhigen Nacht steht Nina früh auf. Um sechs sitzt sie am Schreibtisch, ihr Notizbuch aufgeschlagen.
Hier sammelt sie ihre Gedanken, Fragmente, kleine Gedichte, die manchmal ihren Weg in den Blog finden. Schreiben ist ihr Halt – das Einzige, was sich ordnen lässt, wenn innen alles schwankt.
In den letzten Wochen hat sie viel über die Berichte von Journalisten notiert – über den Flüchtlingsstrom, über Angst, über Kinder, die ertrinken. Beim Lesen einer älteren Seite bleibt sie hängen: Menschen, die sich darüber beklagen, dass Flüchtlinge durch ihre Gärten laufen. Sie schüttelt den Kopf.
»Was ist das für eine Moral«, murmelt sie.
In ihr wächst Ärger. Kein lauter Zorn, eher eine tiefe, zähe Wut – gegen diese Kälte, dieses Wegsehen.
Dann schreibt sie auf die heutige Seite:
Mir geht das tote Kind am Strand nicht mehr aus dem Kopf.
Eine Stunde später sitzt sie Frau Hain gegenüber. Beide in denselben schwarzen Ledersesseln, die spiegelbildlich zueinander stehen.
Frau Hain lächelt offen, ruhig, nicht fordernd. Nina wirkt kleiner, zusammengesunken – und zugleich gesammelt, als hätte sie sich vorgenommen, heute etwas wirklich zu sagen.
»Wie war Ihre Woche, Frau Blumenthal?«, fragt die Therapeutin. »Wir haben jetzt alles Organisatorische geklärt, ich kann mich ganz auf Sie konzentrieren.«
Nina überlegt lange, dann spricht sie stockend:
»Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Es ist ruhig um mich. Zu ruhig. Ich bekomme kaum Struktur in den Tag. Selbst einfache Dinge kosten mich Kraft.«
Sie redet weiter – erst tastend, dann fließender.
Von ihren Kindern, der Angst, sie zu enttäuschen. Vom ständigen Gefühl, zu versagen, selbst in Momenten, die schön sein könnten. Vom Nichtverstehen, Missverstehen, vom Schweigen, das daraus wird.
»Ich höre mich sagen: Keiner versteht mich«, sagt sie. »Und vielleicht stimmt das. Aber schlimmer ist: Ich verstehe mich selbst nicht mehr.«
Ihre Stimme kippt kurz. Dann erzählt sie von den Schwankungen – wie sie in einem Moment das Leben spürt und im nächsten kaum atmen kann. Von der körperlichen Schwere, der Angst, dem rasenden Herz.
Ein schiefes, fast trotziges Lächeln folgt: »Wenn ich mir das so anhöre, sehe ich zwei Ninas vor mir – eine glücklich, eine traurig – und beide starren sich verwirrt an. Dann müssen sie lachen.«
Frau Hain lächelt noch. »Sie haben Humor. Das ist wichtig. Humor ist Bewegung.«
Nina nickt. »Ja. Aber ich will endlich reden. Alles loswerden. Schon im ersten Aufenthalt in der Psychiatrie wusste ich, was passiert ist. Ich weiß, was mir angetan wurde.«
Frau Hain antwortet ruhig, ohne Drängen: »Wir gehen das gemeinsam an, Schritt für Schritt. Aber bevor wir sprechen, müssen Sie sich stark genug fühlen. Denken Sie daran: Sie sind erwachsen und bestimmen über sich selbst.«
»Ich bin erwachsen und bestimme über mich selbst«, wiederholt Nina leise. Dann fester. Sie spürt die Worte in sich nachhallen, als würden sie irgendwo anstoßen, wo lange nichts lebte.
»Gut«, sagt Frau Hain. »Und jetzt sagen Sie: Ich darf Fehler machen.«
»Ich darf Fehler machen!«
Die Worte kommen heraus wie ein Stoß – laut, klar, fast trotzig.
Ein erster Riss in der alten Scham.
Dann sprechen sie über Arbeit, über Sinn, über den Verlust ihres Vereins.
Während sie redet, verwandelt sich ihr Ton. Aus Müdigkeit wird Wut, aus Wut ein Funken Stolz.
Sie hört sich selbst sagen: »Jetzt, wo ich das hier erzähle, wird mir klar, wie viel ich geleistet habe. Und dass es niemanden interessiert hat.«
Frau Hain nickt. »Das ist kein Versagen. Das ist Widerstand. Sie haben etwas geschaffen, als es nichts gab.«
Zum ersten Mal an diesem Tag sitzt Nina aufrecht. Ihr Blick klar. Ihre Hände ruhig auf den Knien.
Vielleicht ist das der Moment, in dem sie zum ersten Mal wirklich spürt, was es heißt:
Ich bin erwachsen. Ich bestimme über mich selbst.
Doch oft denke ich noch daran, wie wir hören mussten dass wir keine Projekte mehr bekommen. Mein Mann sagte: »Bei uns werden aber sieben Mitarbeiter arbeitslos und viele Honorarkräfte verlieren eine wichtige Einnahmequelle.«
Die Antwort war nur: »Das ist nicht weiter von Interesse.«
Nina spürt, wie sich in ihr alles zusammenzieht. Sie kann die Tränen nicht zurückhalten.
»Sie fühlen sich hilflos?«, fragt Frau Hain.
»Ja.«
»Und was macht das heute noch mit Ihnen?«
»Ich bin traurig. Und enttäuscht.«
»Spüren Sie noch etwas?«
»Ja«, sagt Nina nach einer Pause, »ich merke, dass der ewigen Trauer Wut folgt.«
Frau Hain nickt. »Schließen Sie bitte die Augen. Setzen Sie sich aufrecht, locker. Fühlen Sie, wie Sie ruhig atmen. Und jetzt stellen Sie sich etwas Schönes vor – etwas, das Sie berührt, das leicht ist.«
Nina schließt die Augen. Erst Dunkelheit, dann öffnet sich in ihr ein Himmel von klarem Blau. Vögel zwitschern, leicht und beharrlich. Sie hebt den Kopf, sucht den Himmel ab, sieht die winzigen Punkte kreisen, spielend, fliegend, frei.
Am Horizont tauchen Berge auf, nah und doch unerreichbar, die Felsen glitzern im Sonnenlicht, als trügen sie einen Schleier aus Eis. Zwischen ihnen stürzt ein schmaler Wasserfall hinab, sein Sprühen funkelt wie Glas.
Darunter sammelt sich das Wasser zu einem Bach, der sich ruhig durch eine Wiese zieht.
Nina steht dort, in der Sonne. Barfuß.
Das Gras kitzelt ihre Waden.
Sie geht in den Bach, spürt das kalte Wasser um die Füße, sieht, wie ihre Zehen sich unter der Oberfläche verzerren, wie kleine Strudel entstehen, sich auflösen.
Dann beginnt sie zu frieren, tritt zurück ans Ufer, hört noch das ferne Zwitschern – und lächelt.
Langsam öffnet sie die Augen.
Ein Moment vergeht, still.
Dann sagt sie leise: »Das gibt mir ein gutes Gefühl.«
»Für heute machen wir Schluss«, sagt Frau Hain sanft.
Nina steht auf, noch immer aufrecht, die Schultern gelockert. Sie spürt, wie die Schwere für einen Augenblick weicht.
»Mit dieser Traumreise bin ich gut aus der Wut und Traurigkeit herausgekommen«, sagt sie leise zu sich selbst. »Es ist so einfach, einen Augenblick glücklich zu sein – und so schwer, es zu bleiben.«
Während sie sich verabschieden, meint sie fast zu spüren, wie ihre Mundwinkel sich heben wollen. Zwei sanfte Linien, die gegen die alten, herabgezogenen Falten kämpfen.
»Sie werden dieses Gefühl jetzt öfter erleben«, sagt Frau Hain. »Lernen Sie, es zuzulassen. Geduld ist Ihr Weg. Sie dürfen freundlich mit sich sein – das braucht Zeit.«
»Haben Sie ein Hobby?«
»Ja«, antwortet Nina. »Ich entwerfe kleine Kunstwerke und Schmuck aus Polymer. Manchmal zeichne ich die Ideen vorher auf.«
»Das ist wunderbar«, sagt die Therapeutin. »Überlegen Sie bis zum nächsten Mal, ob Ihnen ein Satz einfällt, der Ihre heutige Stunde beschreibt.«
Draußen steht Nina vor der Tür der Praxis. Ohne innezuhalten, geht sie nebenan in den Buchladen.
Zwischen den Regalen läuft sie langsam, als müsse sie erst ankommen.
Vor dem Regal mit den Hobbybüchern bleibt sie stehen, greift nach einem.
Dann – Kaffeetheke, Latte Macchiato, ein Stück gedeckter Apfelkuchen mit Zuckerguss.
Hinter der Theke eine junge Frau, zierlich, glatt dunkles Haar. Nina sieht sie an – und spürt, wie eine Erinnerung in ihr hochsteigt.
Früher.
Sechs Kinder, sie die Zweitälteste.
»Nina, aufstehen«, ruft die Mutter.
Sie steht auf, schmiert Brote, kocht Kakao, bevor sie sich selbst fertig machen kann. Dann Schule, Fachschule, weite Wege, immer früh.
Sie lächelt innerlich, als sie sich erinnert, wie sie einmal die harte Butter auf die Heizung gelegt hatte – und vergessen. Der Boden klebte, die Mutter konnte nicht helfen, hetzte zur Arbeit, sie selbst kam zu spät zur Schule.
»7,70 Euro bitte«, reißt sie eine Stimme aus der Erinnerung.
»Stimmt so«, sagt Nina, legt das Geld hin, setzt sich ans Fenster.
