Das deutsche Zimmer - Carla Maliandi - E-Book

Das deutsche Zimmer E-Book

Carla Maliandi

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Beschreibung

Heidelberg, nur nach Heidelberg. Was sie aus Buenos Aires in die deutsche Hauptstadt der Romantik treibt, weiß die na­men­lose Erzählerin dieses schnörkellosen und doch verwunschenen Romandebüts nicht recht. Ganz sicher hat es etwas mit ihren Eltern zu tun, die vor der argentinischen Militärjunta dorthin geflohen waren, mit ihren eigenen Kindheitserinnerungen an die Gassen am Neckar, das Schloss, die Hügel, den Nebel. Doch das begleitet diese Geschichte allenfalls wie ein unterirdischer Fluss. An der Oberfläche findet und verliert die junge Frau alte und neue Freunde, ­probiert Lieben aus, sucht nach Unbestimmtem und traumwandelt durch die Stadt. Eine Geschichte von Leben und Tod, in der die Magie kaum merklich die Wirklichkeit streift. "Ein melancholischer Roman voller ­wunderbarer Einfälle, in dem das Glück sich wie der Zufall einstellt." María Cecilia Barbetta

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Carla Maliandi

Das deutsche Zimmer

Roman

Aus dem Spanischen von Peter Kultzen

Inhalt

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Eins

1

Als ich klein war, habe ich einmal die Namen aller Sternbilder gelernt. Mein Vater hat sie mir beigebracht, er hat aber dazu gesagt, dass ihm der Himmel hier über Deutschland total fremd sei. Der Himmel, die Sterne, die Flugzeuge, das war damals meine große Leidenschaft. Ich wusste, dass ein Flugzeug uns nach Heidelberg gebracht hatte und dass uns auch ein Flugzeug wieder an den Ort bringen würde, an den wir gehörten. Die Flugzeuge unterschieden sich für mich durch ihr Aussehen und ihre Persönlichkeit. Und ich betete, dass das Flugzeug, das uns zurück nach Buenos Aires bringen würde, keins von denen sein möge, die mitten über dem Atlantik abstürzten, so dass wir alle starben. Am Abend vor der Abreise, vor der großen Rückreise nach Argentinien, füllte sich unser Haus in der Keplerstraße mit Philosophen. Wir aßen im Garten, weil die Nacht ungewöhnlich warm und klar war. Unter den Philosophen befanden sich auch mehrere Lateinamerikaner, ein Chilene, der Gitarre spielte, ein ernster Mexikaner mit, wie zu erwarten, großem Schnurrbart, und Mario, ein junger Student aus Argentinien, der damals bei uns wohnte. Die Lateinamerikaner bemühten sich, Deutsch zu sprechen, und die Deutschen antworteten freundlich auf Spanisch. Mein Vater diskutierte lautstark mit einem sehr großen und völlig kahlköpfigen Philosophen aus Frankfurt. Irgendwann bemerkten die beiden, dass ich sie erschrocken ansah, und erklärten, sie würden nicht streiten, sie würden bloß über Nicolai Hartmann diskutieren. Ein paar Jahre später versuchte ich, Hartmann zu lesen, um herauszubekommen, was sie damals dazu gebracht hatte, so leidenschaftlich zu diskutieren, eine Erklärung fand ich aber nicht.

Jetzt sollte ich lieber schlafen, aber ich kann nicht, ich bin von der Reise noch zu aufgewühlt. Durch das Fenster meines neuen Zimmers sehe ich ein Stück des Himmels über Heidelberg. In der Nacht vor unserer Rückreise betrachtete ich diesen Himmel sehr lange und versuchte, ihn mir einzuprägen, als müsste ich mich von etwas verabschieden, was ich nie vergessen dürfe. Ich weiß noch, dass der chilenische Philosoph, der Gitarre spielte, irgendwann anfing, mit heiserer Stimme Gracias a la vida von Violeta Parra vorzutragen, und dass eine Gruppe betrunkener Deutscher um ihn herum sich ihm begeistert und unbekümmert um ihre lächerliche Aussprache anschloss.

Wie lange habe ich schon nicht mehr durchgeschlafen? Gestern in Buenos Aires hatte ich Angst, nicht mitzubekommen, wenn der Taxifahrer klingeln würde, und wachte immer wieder auf. Als ich zum Flughafen Ezeiza kam, musste ich erst einmal einen extra starken Kaffee trinken, um richtig wach zu werden und die Abflugformalitäten zu bewältigen. Im Flugzeug befiel mich wieder der altbekannte Schwindel, er kam aber nicht von der Angst vor einem Absturz, ich fragte mich vielmehr, was ich eigentlich tun würde, wenn ich heil und unversehrt am Ziel angekommen wäre. Mein Leben auf diesem Flug zu beenden war eine weniger bedrückende Vorstellung als der Gedanke, dass ich einfach so, ohne irgendwem in Buenos Aires Bescheid gesagt zu haben, nach Deutschland verschwand, aus einem bloßen Impuls heraus, ohne genügend Geld, in dem verzweifelten Versuch, zur Ruhe zu kommen und ein längst vergangenes, durch den Tod meines Vaters für immer verlorenes Glück wiederzufinden. So macht man das nicht, ich habe es aber so gemacht, und jetzt bin ich hier. Morgen suche ich ein Telefon, um in Buenos Aires anzurufen und alles, so gut ich kann, zu erklären.

Ich glaube, an diesem Ort, in diesem Bett, werde ich gut schlafen. Das Zimmer ist schöner, als es im Internet aussah, und was die Leiterin mir sonst noch gezeigt hat – der Speisesaal, die Küche und die anderen Räume im Erdgeschoss des Wohnheims –, hat mir auch gefallen. Bestimmt ist das ein guter Platz für Studenten. Ich habe allerdings nicht vor, hier irgendetwas zu studieren. Ich werde jetzt erst einmal versuchen, zu schlafen und mich zu erholen, und dann gehe ich zum Marktplatz und setze mich auf eine Bank, um eine Brezel zu essen und in Ruhe nachzudenken.

2

Ich träume, dass ich auf einer Liege aufwache, die in einer Art Gehege für Menschen steht. Neben mir schläft ein etwa dreijähriger Junge. Ich wecke ihn und frage, wo wir sind, der Junge kann aber nicht sprechen. Ich sage zu ihm, dass wir hier wegmüssen. Ich nehme ihn auf den Arm und gehe los. Ich trage die Kleidung, die ich auf der Reise anhatte, einen grauen Pullover und Jeans, Schuhe habe ich aber keine an. Der Junge ist in eine Decke eingewickelt und ziemlich schwer. Wir durchqueren eine riesige Halle und kriechen danach unter dem Stacheldrahtzaun durch, der das Gelände umgibt. Dann stehen wir auf einem Feld. Kühe sind zu sehen, der Boden wird jedoch von Nebel verdeckt. Neben einer der Kühe kauert ein Mann, er ist damit beschäftigt, sie zu melken. Ich kann nicht allzu viel von ihm erkennen, nur dass er ziemlich groß ist und wie ein typischer Alpenbewohner aussieht. Als wir an ihm vorbeigehen, bietet er uns ein Glas Milch an. Ich nehme das Glas und halte es dem Jungen hin. Da wird der Mann böse und erklärt, die Milch sei für mich. Wir fangen an zu streiten, ich verstehe aber nicht, was der Mann sagt, weil er einen so starken Dialekt spricht. Irgendwann starrt er meine Brüste an, deutet mit dem Finger darauf und sagt, auf einmal klar und deutlich: »Da ist genug Milch für alle drin.« Erschrocken laufe ich mit dem Jungen davon. Ich halte ihn jetzt an der Hand, aber er befreit sich von mir, wieder ergreife ich seine Hand, wieder befreit er sich, wieder ergreife ich seine Hand, wieder befreit er sich. Da wache ich auf.

Das Bett meines Wohnheimzimmers ist wirklich sehr bequem. Dazu kommt der Blick durchs Fenster in den Garten, die Landschaft, die ich von hier aus sehen kann, hat nicht das Geringste mit dem öden Feld aus dem Traum zu tun. Das Wohnheim übertrifft alle meine Erwartungen einer falschen Studentin.

Nachdem die Heimleiterin Frau Wittmann gestern meine Daten aufgenommen und mir die Räumlichkeiten gezeigt hatte, wies sie mich darauf hin, dass es nur bis halb zehn Frühstück gibt. Ich muss also schnell aufstehen, wenn ich nicht zu spät kommen will. Trotzdem denke ich noch eine Weile über den Traum nach und betaste meine Brüste, sie sind ungewöhnlich stark angeschwollen. Wahrscheinlich bekomme ich bald meine Tage, hoffentlich habe ich nicht vergessen, Sertal einzupacken. Ich stehe auf, ziehe mich rasch an, fahre mir, statt mich zu kämmen, bloß mit den Fingern durch die Haare und gehe in den Speiseaal hinunter. Dort machen sich mehrere Studenten gerade Kaffee und bestreichen Toaste. Mir ist nicht klar, wie das mit dem Frühstück geregelt ist, ich weiß nicht, ob ich mich einfach bedienen darf oder zuerst jemanden fragen muss. Dass dies kein Hotel ist, versteht sich, das Essen servieren wird mir niemand. Jetzt begreife ich, was Frau Wittmann mit »Frühstück machen« gemeint hat. In jedem Fall isst hier jeder etwas Verschiedenes, die einen Toast, andere bloß Joghurt oder Obst oder Müsli. Die Sachen entnehmen sie einem großen Kühlschrank, ich sehe, dass auf den Gefäßen, in denen sich die Speisen befinden, Namensschildchen kleben. Vor der Kaffeemaschine hat sich eine kleine Schlange gebildet, an einigen Tischen werden leise Unterhaltungen geführt, an anderen frühstückt jemand allein vor seinem aufgeklappten Notebook, ohne sich umzusehen. Es ist mir peinlich, so unschlüssig und schlecht gekämmt dazustehen. Ich beschließe, in die Stadt zu gehen und in einem Café zu frühstücken, wenigstens heute.

Heidelberg ist ein Ort wie aus einem Märchen, wie aus einer anderen Wirklichkeit, eine der wenigen deutschen Städte, die im Zweiten Weltkrieg nicht völlig zerbombt wurden. Ich versuche, die Straßen wiederzuerkennen. Ich habe die ersten fünf Jahre meines Lebens hier verbracht. Manches ist mir noch vertraut – die Bäckereien, das Neckarufer, der Geruch auf der Straße. Es ist ein warmer, strahlend schöner Tag. Ich gehe in dem Märchen spazieren, atme tief durch, tue, als hätte ich mich verlaufen, finde – welch Überraschung! – den Weg wieder. Am Marktplatz betrete ich ein Café und bestelle ein Frühstück. Es besteht aus Brötchen, Käse, Wurst, Orangensaft und einem großen Milchkaffee. Der Kellner fragt, woher ich komme, er spricht über Fußball, kennt die Namen aller Spieler der argentinischen Nationalmannschaft. Ich nutze die Gelegenheit, um Deutsch zu üben, ohne mich allzu sehr anstrengen zu müssen. Ich habe bereits gemerkt, dass ich die Sprache nicht mehr ohne weiteres verstehe, ich habe viel vergessen, die paar Grammatikübungen, die ich mir vor der Abreise im Internet zusammengesucht habe, haben nicht gereicht, und nur mit meiner guten Aussprache kann ich das alles, anders als gedacht, nicht wettmachen. Während der Kellner mir von Messi erzählt, überlege ich, wie ich das mit der Verständigung am besten hinbekomme. Wenn es nicht anders geht, kann ich auch Englisch sprechen. »Sí, Messi es un genio«, sage ich zuletzt auf Spanisch. Der Kellner lacht und geht zu einem Gast an einem anderen Tisch. Auf dem Weg dorthin wiederholt er amüsiert »genio«, »ein Genie, ha ha«. Ich verschlinge das Frühstück gierig bis auf den letzten Krümel. Ein alter Mann am Nachbartisch beobachtet mich aus dem Augenwinkel, neben ihm sitzt ein kleiner Hund, offensichtlich sein Begleiter. Der Mann streichelt ihn mit der einen Hand, in der anderen hält er seine Tasse. Ich überlege, wie alt er sein mag, und frage mich, was er wohl im letzten Krieg gemacht hat. Was soll’s, selbst wenn er ein Nazi war, lange hat er so oder so nicht mehr zu leben. Plötzlich lächelt der Mann mich an. Vielleicht habe ich einfach zu viele Vorurteile, auf einmal kommt er mir jedenfalls bloß wie ein freundlicher alter Mann vor, der gemerkt hat, dass ich nicht von hier bin. Was denken die Leute, die mich hier sitzen sehen, wohl über mich? Ich versuche, mir vorzustellen, wie ich aussehe, mit dem ungekämmten Haar, das mir auf die Schultern fällt, der schlecht sitzenden Spange, die ich mir heute Morgen in aller Eile angesteckt habe, und der schönen, aber völlig verknitterten Bluse. Auf einmal kommt es mir nur noch lächerlich vor, wie ich hier versuche, die Ruinen zu kaschieren. Kaputt ist kaputt, egal, wo ich mich befinde – im Augenblick Tausende von Kilometern von meinem Heimatland entfernt, ohne mich mit meiner Umgebung richtig verständigen zu können und ohne zu wissen, was ich eigentlich vorhabe.

Wenn ich wieder im Wohnheim bin, werde ich mir von Frau Wittmann eine Schere leihen und mir die Haare schneiden. Schon habe ich etwas vor. Die Haare hätte ich mir längst schneiden sollen. Der alte Mann vom Nachbartisch steht auf und geht hinaus, draußen auf dem Bürgersteig bleibt er noch einmal stehen und winkt mir zum Abschied durchs Fenster zu. Gerührt beobachte ich, wie er mit dem kleinen Hund davongeht. Ich zähle die Münzen für das Frühstück ab, sieben Euro. Sieben Euro ist für mein Reisebudget wahnsinnig viel. Ich frage mich, ob zwei dieser Münzen für mehrere Anrufe reichen. Ob es mir gelingen wird, meine Mutter zu beruhigen, die immer noch jammert, weil ich mich von Santiago getrennt habe, und jetzt auch noch damit wird fertig werden müssen, dass sie mich eine ganze Weile nicht zu sehen bekommt. Ob mir für die Leute, für die ich arbeite, eine gute Ausrede einfallen wird, wo ich diese Arbeit ohnehin fast verloren habe, weil ich im letzten Monat beinahe jeden Tag zu spät gekommen bin. Und ob ich imstande sein werde, den Anschluss des Hauses zu wählen, in dem ich bis vor kurzem gewohnt habe. Ob ich also imstande sein werde, Santiago anzurufen, mit dem ich schon so lange nicht mehr gesprochen habe, um ihm zu sagen: »Hallo, wie geht’s? Ich bin gerade in Deutschland.« Und dabei nur eins im Kopf zu haben – die flehentliche Bitte, an mich selbst und sämtliche Götter dieser Welt, dass mir ja nicht die Stimme versagt.

3

Ich bleibe den ganzen Tag in der Stadt. Erst um acht kehre ich ins Wohnheim zurück, da ist es schon dunkel. Frau Wittmann empfängt mich an der Tür und sagt, dass im Speisesaal jemand auf mich wartet. Mein Herz fängt an, wie wild zu klopfen, ich sehe Santiago vor mir, er ist gekommen, um mich zu holen, aber das kann nicht sein, unmöglich. »Auf mich? Sind Sie sicher?«, frage ich. »Ein Student aus Ihrem Heimatland, er möchte mit Ihnen sprechen«, erwidert sie, ohne mich anzusehen. Ich lächle ergeben und bedanke mich. Bevor ich weitergehe, frage ich, ob sie mir eine Schere leihen kann, und Frau Wittmann sagt, sie wird mal nachsehen, ob sie eine findet. Im Speisesaal sitzt ein junger Mann mit dunklem Teint, alles an ihm wirkt unverhältnismäßig groß, zugleich macht er einen etwas kindlichen Eindruck. Er beugt sich über ein Schachbuch. Als er aufblickt und sieht, dass ich auf ihn zukomme, erhellt sich sein Gesicht. Er dürfte nicht älter als fünfundzwanzig sein. Er sagt, er hat den ganzen Nachmittag auf mich gewartet. Ich habe ihn noch nie gesehen, aber er tut, als wären wir verwandt oder würden uns seit Ewigkeiten kennen. Er sagt, er ist aus Tucumán und heißt Miguel Javier Sánchez. Und dass er ein CONICET-Stipendium hat und dazu noch eins vom DAAD, dass er Wirtschaftspolitik studiert, vor einer Woche angekommen ist und heute erfahren hat, dass es noch jemanden aus Argentinien im Wohnheim gibt, mich. Er fragt, was ich studiere. Ich lüge und sage, ich mache einen Master in deutscher Dramaturgie. Frau Wittmann unterbricht uns, überreicht mir eine Schere und sagt, ich soll bitte vorsichtig damit umgehen. Ich bedanke mich bei ihr. Miguel Javier hört nicht auf zu sprechen, er erzählt von seinem Leben in Tucumán, von seiner bescheidenen Herkunft und davon, wie stolz seine Familie auf ihn ist, er ist der Einzige, der studiert, das Wunderkind. Dann fragt er, ob ich morgen mit ihm das Schloss besichtigen will. Ich sage ja, und dass der Weg dorthin herrlich ist, eine meiner schönsten Kindheitserinnerungen. Er erklärt begeistert, dass er belegte Brote mitbringt und außerdem die Kamera, die er sich von der ersten Stipendienrate gekauft hat. Seine Begeisterung rührt mich ein wenig. Er hat den typischen Akzent der Leute aus Tucumán. Er sagt, er hat gelesen, dass das Schloss sehr schön sein soll. Dann höre ich nicht mehr zu und überlege stattdessen, wie ich mir die Haare schneiden soll. Zuerst die Spitzen, und dann so kurz, wie ich mich traue. Wenn es nicht gut aussieht, macht das nichts, hier kennt mich sowieso niemand. Miguel Javier – ein schrecklicher Name, wie sich das anhört! Die Kombination, so wie er selbst sie ausspricht, tut einem fast in den Ohren weh. Da fragt Miguel Javier, woran ich denke. Er sagt, er merkt, dass ich mit dem Kopf woanders bin. Ich erwidere, dass ich einen langen Tag hinter mir habe und müde bin. Dann verabschiede ich mich und sage, wir sehen uns morgen beim Frühstück.

Nach dem Duschen und Haareschneiden bin ich erschöpft. Todmüde falle ich ins Bett, ich, die Prinzessin im Exil, die Studentin, die keine ist, die einsame Reisende, die Flüchtlingsfrau. Ich bin gerettet. In diesem Augenblick gibt es nichts Schöneres auf der Welt als die Einsamkeit dieses gemieteten Zimmers, mein europäischer Unterschlupf, nicht luxuriös, aber sehr komfortabel, mit soliden Fensterläden, einem weißen Federbett und einem makellos sauberen Kissen. Ich erinnere mich an das Märchen von der Prinzessin auf der Erbse, nicht einmal zwanzig Matratzen reichen aus, um sie ruhig schlafen zu lassen, sie spürt die harte Hülsenfrucht trotzdem, aber dafür ist sie adlig. Ich dagegen bin eine falsche Prinzessin, und nichts kann mich um den Schlaf bringen. Keine Stimme flößt mir Angst ein, nichts stört mich, nichts bringt mich zum Zittern, triumphierend schlummere ich ein – ich bin in Deutschland und kann endlich ruhig schlafen. Ich schnuppere an dem frischen Laken und stelle mir vor, ich sei jemand anders, alles, was mich interessiert, ist der morgige Tag, mal sehen, was ich mache, was es zum Frühstück gibt, welche Straßen ich entlangspaziere.

Es klopft an der Tür, und ich wache auf. Zuerst glaube ich, ich habe das Geräusch bloß geträumt, aber dann klopft es wieder, und ich stelle fest, dass es draußen bereits hell ist. Ich stehe auf und mache, noch im Nachthemd, die Tür auf. Vor mir steht der Tucumaner und sieht mich zufrieden und vorwurfsvoll zugleich an: »Es ist schon halb neun!«, sagt er.

Ich sage, er soll bitte unten warten, ich muss mich noch fertig machen. Dann schließe ich die Tür. Während ich mich anziehe, sage ich vor mich hin, was ich davor nicht zu ihm gesagt habe: »Was schaust du so? Klopf bloß nicht nochmal so früh bei mir an, verpeilter Tucumaner.«

Ich gehe in den Speisesaal hinunter, der Anblick der frühstückenden Studenten unterscheidet sich in nichts von dem des Vortags, abgesehen davon, dass jetzt ein Bekannter unter ihnen ist. Dort drüben steht er, in der Schlange vor der Kaffeemaschine. Als er mich sieht, hebt er den Arm und schwenkt einen Teelöffel. »Hier, hier bin ich!«, ruft er.

Als wir schließlich zusammen am Tisch sitzen, erklärt der Tucumaner, dass Kaffee und Milch vom Wohnheim gestellt werden, alles Übrige müssen die Studenten selbst kaufen und mit Schildchen versehen, wenn sie es im Kühlschrank aufbewahren wollen. Da ich noch nichts zum Frühstücken habe, sagt er, ich soll mir von seinen Sachen nehmen, und fügt hinzu, dass die Läden hier am Sonntag zu haben, weshalb ich heute auf dem Rückweg vom Schloss unbedingt noch einkaufen sollte. Der Tucumaner hat unter anderem Schinken, Frischkäse und Süßkartoffelgelee anzubieten. Er öffnet eine Tupperdose und zeigt mir die dick mit Mayonnaise bestrichenen Sandwichs darin. Er sagt, er hat sie für unseren Ausflug gemacht, schon ganz früh heute Morgen, als ich noch schlief.

Das Schloss liegt hoch über der Stadt, der Weg vom Wohnheim bis dorthin dauert etwa eine Stunde. Der Tucumaner geht mit seiner Kamera voraus. Alle zehn Schritte dreht er sich um, kommentiert etwas oder macht ein Foto von mir. Während er durch den Sucher blickt, lässt er sich über meine Frisur aus, er sagt, die langen Haare hätten mir viel besser gestanden. Ich sage mir, dass wir uns noch kaum kennen, eigentlich dürfte er nicht so offen mit mir sprechen, aber die Umgebung ist viel zu schön, als dass ich meinem Begleiter irgendetwas übelnehmen könnte. Auf halber Strecke fühle ich mich plötzlich sehr müde und muss eine Pause einlegen. Miguel Javier macht sich über mich lustig. Eine amerikanische Familie, die ein kleines Stück entfernt hinter uns herging, holt uns ein und fragt, ob wir sie fotografieren können. Die Eltern sind um die vierzig, ihre drei Kinder irgendwas zwischen fünf und zwölf. Sie posieren wie professionelle Fotomodels. Als ich ihre Kamera zurückgebe, umarmt der Jüngste mich. Die Mutter zerrt ihn am Arm fort, und sie gehen weiter. Ich muss an den Traum von der Ankunftsnacht denken, an die kleine Hand des Kindes, das sich immer wieder losriss, während wir vor dem Bauern davonrannten, der meine Brüste anstarrte. Der Tucumaner sieht mich an und sagt, ich sei ganz blass. Er öffnet den Rucksack, holt die Tupperdose raus und bietet mir ein Sandwich an. Ich sage, dass ich nichts möchte, dass mir nicht gut ist – und trete an den Wegrand und übergebe mich. Der Tucumaner hält mir die Stirn, und als ich alles von mir gegeben habe, reicht er mir seine Wasserflasche und eine Serviette, damit ich mich saubermachen kann. Eine Weile sitzen wir schweigend da. Von hier oben sieht man den Fluss, der durch Heidelberg fließt, die roten Dächer und die Kirchenkuppeln. Schließlich sage ich zu dem Tucumaner, dass es mir wieder besser geht, und stehe auf, um den Weg fortzusetzen. »Wenn du mich fragst, bist du in anderen Umständen«, sagt er und erhebt sich. »In was für Umständen?«, frage ich wie gelähmt. »Du bist schwanger«, erwidert er und spricht auf dem restlichen Weg kein Wort mehr mit mir.

Der Eintritt ins Schloss kostet zehn Euro, die wir ein wenig geknickt bezahlen. An der Tür erklärt man uns, die Führung auf Spanisch beginne in zehn Minuten, wir sollten bitte warten. Miguel Javier sieht mich nicht an und sagt weiterhin nichts, man könnte meinen, er kennt mich überhaupt nicht inmitten all der Touristen. Ich breche das Schweigen.

»Woher weißt du das?«

»Was?«

»Woher weißt du beziehungsweise wie hast du gemerkt, dass ich schwanger … sein könnte?«

Der Tucumaner sieht mich auf einmal ganz anders an. Sein Gesicht, das mir im ersten Moment etwas kindlich vorkam, wirkt jetzt reif, als wäre er ein Träger uralten Wissens.

»Ich habe sechs Schwestern und fast zwanzig Nichten und Neffen. Bei jeder und jedem habe ich die Schwangerschaft mitbekommen, mit allem, was dazugehört, ich weiß, wie das abläuft. Und du hast dich nicht nur gerade übergeben, man sieht es dir auch am Blick an.«

»Was ist denn mit meinem Blick?«

»Deine Augen glänzen irgendwie, als wärst du betrunken.«

»Du kennst mich doch gar nicht, vielleicht sehe ich ja immer so aus.«

»Kann sein, aber an deiner Stelle würde ich schleunigst einen Test machen und dem Vater Bescheid geben.«

Da kommt der Touristenführer und sagt, wir sollen uns bitte im Halbkreis vor ihm aufstellen, weil es jetzt losgeht.

4

Ich warte noch drei Tage, bis ich den Schwangerschaftstest mache. Ich stelle idiotische Berechnungen an – wenn der Juli einunddreißig Tage hat und der August auch, hätte die letzte Menstruation … Keine Ahnung. Vom letzten Monat mit Santiago erinnere ich so gut wie nichts, bloß die Streitereien, die verletzenden Äußerungen, das dunkle Zimmer, Santiagos Körper auf mir, wir sehen uns aber nicht an, alles ist viel zu traurig. Ich weiß auch nicht mehr, wann ich das letzte Mal meine Tage hatte. Dafür weiß ich noch genau, wie ich eines Nachts zu Leonardo kam, wir haben eine Unmenge Wodka getrunken, und ich habe ihm erzählt, dass ich dabei bin, mich zu trennen, da hat er gesagt, ich soll bei ihm übernachten, irgendwann saß ich dann auf ihm, in seinem Bett, und als es draußen langsam wieder hell wurde, lag er neben mir und schnarchte, und ich wollte bloß noch fort, an einen Ort nur für mich, weit weg von allem.

Ich gebe mir große Mühe, mich daran zu erinnern, wann ich zum letzten Mal mit Blutflecken, Binden und Ibuevanol zu tun hatte, aber ich komme einfach nicht darauf. Ich ärgere mich, dass ich lauter Sachen aus dem Gedächtnis hervorkramen soll, ich bin doch gerade deshalb so weit weggefahren, damit ich mich von alldem erholen kann. Dann sage ich mir, kann ja sein, dass es bald losgeht. Am Morgen bleibe ich ewig lang im Bett, fürs Frühstück ist es deshalb zu spät, mittags mache ich einen Spaziergang, und danach lege ich mich gleich wieder hin. Einmal komme ich mit einer Japanerin aus dem Wohnheim ins Gespräch, sie ist sympathisch, studiert deutsche Philologie und heißt Shanice. Sie ist fast die einzige Person, mit der ich mich in diesen Tagen unterhalte. Ich merke, dass auch sie auf der Flucht ist, allerdings hat sie die Sache viel besser organisiert. Ein Studium in Deutschland ist für Japaner offenbar so etwas wie eine große Party. Wie die meisten Studenten hier im Wohnheim ist auch Shanice mehrere Jahre jünger als ich. Einmal erzählt sie, dass sie beschlossen hat, aus Japan fortzugehen, nachdem zwei Studienkollegen von ihr Selbstmord begangen hatten. Lächelnd sagt sie: »Es ist so einfach, sich vor einen Zug zu werfen, das ist ganz leicht, auch wenn es einem eigentlich gut geht, kann man das machen.«

Miguel Javier steht sehr früh auf und verbringt fast den ganzen Tag in der Universität, wir laufen uns kaum noch über den Weg. Ich lasse also drei Tage verstreichen, aber es tut sich immer noch nichts. Ich weiß nicht, wie ich hier an einen Schwangerschaftstest kommen soll. Ich frage Shanice, ob sie mir helfen kann. Sie hört aufmerksam zu und übernimmt die Sache, als handelte es sich um einen Geheimauftrag, bei dessen Erledigung uns nicht der geringste Fehler unterlaufen darf.

Schon bald steht sie wieder vor mir in meinem Zimmer und übergibt mir eine Schachtel, die sie in der Apotheke gekauft hat. Zusammen lesen wir die dreisprachige Gebrauchsanweisung – in das Döschen pinkeln, den Teststreifen reinlegen, drei Minuten warten, ist anschließend nur ein Strich zu sehen, ist das Ergebnis negativ, sind es zwei Striche, heißt das: positiv. Ganz einfach, also, los geht’s. Ich bedanke mich bei Shanice, aber sie bleibt vor mir stehen. Sie sieht mich an und erwartet offensichtlich, dass ich jetzt ins Bad gehe und ihr danach sage, was rausgekommen ist. Ich nehme meinen ganzen Mut zusammen und sage, sie soll mich bitte allein lassen. Nein, erwidert sie, in so einer Situation lässt sie mich doch nicht allein. Sie steht da wie ein japanischer Soldat, und ich habe das Gefühl, ihr etwas schuldig zu sein. Andererseits weiß ich nicht, wie ich ihr in diesem Augenblick etwas klarmachen soll, was auch immer, mir fehlt die Kraft dazu. Schließlich nehme ich die Schachtel mit dem Test und gehe ins Bad. Ich mache alles genau, wie es in der Gebrauchsanweisung steht: Ich pinkle in das Döschen, stelle es auf den Boden und lege den Streifen hinein. Dann warte ich, wie angegeben, drei Minuten. Währenddessen versuche ich, mich mit meinem Spiegelbild abzulenken. Ich werde meiner Mutter immer ähnlicher. Als meine Eltern damals nach Heidelberg kamen, war sie schwanger, aber das wusste sie nicht. Ob sie sich gefreut haben, als es feststand? Ob mein Vater Brot, Würstchen und eine Flasche Wein gekauft hat? Ob sie darauf angestoßen haben? Ob sie die ganze Nacht wach waren und Zukunftspläne gemacht haben? Ob sie gleich zu Hause anrufen wollten, bei ihren Familien, und die Nachricht bekanntgeben? Ob sie gelacht haben?