Das Dorf im Wald - Christian Ehrhorn - E-Book

Das Dorf im Wald E-Book

Christian Ehrhorn

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Beschreibung

"Ich warte auf dich!" Diese Worte stehen auf dem blutverschmierten Zettel, den Susi neben einem rätselhaften Videoband findet. Der Film zeigt sie als Kind, während ihres Urlaubs in dem Dorf im Wald. Die fröhliche Stimmung in dem Video trügt, denn ihr Vater trägt ein dunkles Geheimnis in sich, das ihn mit dem Dorf verbindet. In ihrer Erinnerung reist Susi zurück zu jenem Ort, an dem ein wahrgewordener Albtraum begann. Verfolgt von unerklärlichen Erscheinungen und Gestalten, kommt Susi dem Rätsel des Dorfes immer weiter auf die Spur und deckt den ganzen Schrecken auf, der sich dort verbirgt.

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Seitenzahl: 252

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Kapitel 1 Erinnerungen
Kapitel 2 Das Dorf im Wald
Kapitel 3 Zwischen den Bäumen
Kapitel 4 Das Ritual
Kapitel 5 Erscheinungen
Kapitel 6 Julius
Kapitel 7 Die Entrückung
Kapitel 8 Die Rufe
Kapitel 9 Bruderherz
Kapitel 10 Böse Geister
Kapitel 11 DER SCHATTEN
Kapitel 12 Die Lichtung
Kapitel 13 Ultima ex nobis
Kapitel 14 Die Flammen der Hölle
Kapitel 15 Die Überraschung

Das Dorf im Wald

Von Christian Ehrhorn

Buchbeschreibung:

„Ich warte auf dich!“ Diese Worte stehen auf dem blutverschmierten Zettel, den Susi neben einem rätselhaften Videoband findet. Der Film zeigt sie als Kind, während ihres Urlaubs in dem Dorf im Wald. Die fröhliche Stimmung in dem Video trügt, denn ihr Vater trägt ein dunkles Geheimnis in sich, das ihn mit dem Dorf verbindet. In ihrer Erinnerung reist Susi zurück zu jenem Ort, an dem ein wahrgewordener Albtraum begann. Verfolgt von unerklärlichen Erscheinungen und Gestalten, kommt Susi dem Rätsel des Dorfes immer weiter auf die Spur und deckt den ganzen Schrecken auf, der sich dort verbirgt.

Über den Autor:

Christian Ehrhorn, geboren 1985, ist ein deutscher Journalist, Grafiker und Autor. Er hat in verschiedenen Redaktionen und zuletzt als freiberuflicher Journalist gearbeitet. Während dieser Zeit gründete er sein eigenes Online-Magazin. Der Leidenschaft des Geschichtenschreibens, womit er bereits in Kindheitstagen begann, blieb er in dieser Zeit stets treu. In der Corona-Krise und des damit einhergehenden Lockdowns entstand sein erster vollständiger Roman „ANNA“.

von Christian Ehrhorn

1. Auflage, 2022

© Christian Ehrhorn – alle Rechte vorbehalten.

Königsberger Straße 12

22175 Hamburg

CEVerlag, Hamburg

[email protected]

www.ceverlag.com

Kapitel 1Erinnerungen

2021

Wer war es gewesen? Diese Frage stelle Susi sich unentwegt, als sie auf die Videokassette starrte, welche auf dem weißlackierten Wohnzimmertisch lag. Nachdenklich faltete sie die Hände, stülpte die zum Zelt aufgebauten Finger über Nase und Mund. Jedes Mal wenn sie auf das Etikett der Kassette starrte und den Titel las, rollte ihr ein Schauer eiskalt über den Rücken. »Das Dorf im Wald.«

In Gedanken hatte sie das Band schon unzählige Mal zerstört. Susi stellte sich vor, wie sie vom Zorn der Erinnerungen gepackt, das Videoband mit Gewalt aus der Kassette riss. Sie wollte die aufgenommenen Bilder nie wieder sehen, wollte die Vergangenheit vergessen. Doch immer, wenn sie sich dazu entschloss, das Band zu vernichten, sträubte sich ein Teil von ihr. Eine innere Barrikade. Es war der Gedanke daran, etwas zu zerstören, auf dem ihr Vater zu sehen war. Die letzten Bilder von ihm. Und so schmerzhaft der Rückblick auf die Geschehnisse in der Vergangenheit auch war, wäre es viel schmerzhafter, würde sie die verbliebenen Erinnerungen an ihren Vater zerstören.

Noch immer stierte Susi regungslos auf das Videoband. Es direkt vor sich zu sehen, erfüllte sie mit Furcht. Dieses schwarze Stück Plastik entfachte eine Angst in ihr, wie sie sie seit fast dreißig Jahren nicht mehr gespürt hatte. Und noch immer fragte sie sich, wie es hierhergekommen war. Hatte Mark es im Keller gefunden und war neugierig, was darauf zu sehen war? Dies schien ihr die einfachste Erklärung zu sein. Jenes Szenario, welches am wenigsten ein Gefühl der Beklemmung auslöste und am logischsten zu sein schien. Wäre da nicht ein kleines Detail, über das sie jedoch nicht hinwegsehen konnte. Der blutverschmierte Zettel, der auf der Videokassette gelegen hatte.

»Ich warte auf dich!« In blauen, kritzeligen Lettern schlugen ihre diese Worte von dem kleinen Stück Papier entgegen. Sie hatte den Papierfetzen genau in Augenschein genommen. Susi und ihr Mann Mark hinterließen sich immer wieder kurze Nachrichten auf Zetteln, wenn der Partner nicht zuhause war. Kleine Liebesbotschaften, welche an den Kühlschrank oder den Badezimmerspiegel geklebt wurden. Wenige Worte, die erklärten, wo sich der andere aufhielt oder wo man sich treffen würde. Natürlich könnten sie dies über ihre Smartphones erledigen. Und in dringenden Fällen taten sie das auch. Doch nichts war für sie persönlicher als eine handgeschriebene Nachricht. Daher erkannte Susi eines umgehend. Die Worte auf dem Zettel waren nicht von Mark geschrieben worden. Sie kannte seine Handschrift. Und dieser Satz trug sie nicht. Ganz im Gegenteil. Die Schrift wirkte zittrig und verwackelt, fast schon kindlich. So verzerrt, drängte sich die Vermutung auf, dass der Verfasser nur selten schriftlich kommunizierte. Eine beunruhigende Erkenntnis, wie sie fand.

Susi blickte auf. Sah auf den schwarzen Bildschirm des flachen Fernsehers, der ihr gegenüberstand. Sie betrachte ihr Spiegelbild in der gläsernen Oberfläche. Glasig starrten ihr ihre blauen Augen entgegen. Sie wirkte auf sich selber abwesend, von ihren Gedanken der Gegenwart entrissen. Sie hatte die Erinnerungen an jene Zeit verdrängt. Lediglich in ihren Träumen flackerten sie in verblassten Bildern hin und wieder auf. So vage und gebrochen, wie durch ein Kaleidoskop betrachtet, dass sie am nächsten Morgen nicht mehr benennen konnte, was genau sie geträumt hatte. Nur eines biss sich zeckengleich in ihrer Erinnerung fest. Verschwommen, aber dennoch intensiv. Das Rot der wie von Blut gefärbten Blätter. Doch nun, mit diesem Video, lüftete sich der Schleier. Wie aus der geöffneten Büchse der Pandora ergossen sich die albtraumhaften Bilder der Vergangenheit in ihren Kopf. Sie entsann sich an den Namen des Ortes. Hasenaurach. Damals, vor ihrer Reise, war sie entzückt von dem Namen. In ihrer Fantasie war sie dort umgeben von possierlichen Häschen. Auf einer von Sonnenlicht durchfluteten Wiese, geschmückt mit Blumen aller Farben, tollte und kuschelte mit ihnen. Sie malte sich ein Paradies aus. Eine Utopie der perfekten Welt. Der Schein des Namens trog jedoch. Wie sehr, das hätte sie sich in ihren schlimmsten Träumen nicht vorstellen können.

Susi packte die Videokassette und schritt hinüber zu dem weißen Fernsehtisch. Zögernd verharrte sie davor, besah die Fächer unter dem Fernseher, in denen ein Blu-ray-Player sowie ein alter Videorekorder lagerten. Von tiefen Atemzügen begleitet, pochte ihr Herz in donnernden Schlägen, welche sie deutlich in ihrer Brust spürte. Trotzdem sie das Band aufgehoben hatte, hatte sie es sich nie zuvor angesehen. Zu stark war der Drang, die Ereignisse der Vergangenheit zu entmachten. Ihnen die Gewalt über sie zu rauben. Nie würde sie die Bilder jener Zeit aus ihrem Kopf verbannen können. Doch wollte sie die Erinnerungen überlagern. Mit neuen Erfahrungen und Erlebnissen. Heute, fast dreißig Jahre später, war es ihr gelungen. Losgelöst von ihrem Trauma hatte sie ein zweites Leben begonnen. Fernab jeglicher Gedanken an frühere Zeiten. Nun jedoch, kamen gemeinsam mit dem Video auch die Erinnerungen zurück.

Ein Kampf entbrannte in ihrem tiefsten Inneren. Das Band einzulegen erschien ihr falsch, beinahe fahrlässig. Würde das Video sie in einem solchen Maße erschüttern, wie sie es befürchtete, könnte dies mit erdbebenartiger Zerstörung ihre heile Welt einreißen und das Böse zutage fördern, dem sie entflohen war. Was aber, wenn sie sich irrte? Wenn das Ansehen der Aufnahmen sogar helfen würde? Seit den Ereignissen im Wald von Hasenaurach war viel Zeit vergangen. Möglicherweise hätte das Anschauen eine therapeutische Wirkung. Nichts des Schreckens, den sie durchlebt hatte, war aufgezeichnet worden. Es waren schöne Aufnahmen. Es war Zeit, die sie mit ihrem Vater verbrachte. Und trotz allem, was geschehen war, fehlte er ihr sehr. Er hatte gefehlt, in so vielen Episoden ihres Lebens. Und der Gedanke daran, ihn jetzt noch einmal sehen zu können, entfachte ein Gefühl wohliger Wärme in ihrem Inneren.

Das Geräusch, welches die Kassette beim Einlegen in das Gerät machte, hatte Susi schon eine lange Zeit nicht mehr gehört. Ein Gefühl der Nostalgie überkam sie. Bilder blitzten vor ihrem geistigen Auge auf. Rückblicke auf alte Filme, welche sie als Kind geschaut hatte. Werke wie »Die kleine Meerjungfrau« oder »Das letzte Einhorn« liefen in wahnwitziger Geschwindigkeit in ihrem Geiste ab.

Sie konzentrierte sich wieder auf die Gegenwart. Das Video eingeschoben, kehrte sie zurück zu dem schwarzen Ledersofa. Sie schaltete mittels der Fernbedienung den Fernseher ein. Startete den Videorekorder. Das Surren des abspielenden Bandes versetzte sie in einen Zustand nervöser Anspannung. Rauschen ertönte aus den Lautsprechern des TV-Gerätes. Schwarzweißes Flackern durchzuckte den Bildschirm. Dann bemerkte sie etwas. Störungen rollten wie Wellen über das Bild. Doch sie erkannte, was sich dort auf dem Monitor zeigte. Es war sie selber. Das schmale, in einem spitzen Kinn mündende Gesicht grinste in die Kamera. Ihre kastanienbraunen Haare wehten im sanften Wind. Die Wangen ihres zwölfjährigen Selbst glänzten rosig. Heute war Susi froh, dass sie überhaupt lebendig aussah, wenn sie aus dem Bett kam. Damals jedoch steckte sie noch voller Leben, voller Freude.

Hinter ihr ragten die blattreichen Wipfel der Bäume des Waldes in die Höhe. Im selben blutigen Rot, das sie in ihren Träumen heimsuchte. Ebenso wie ihr mit grünem Moos überzogenes Holzhaus. Dann übertönte etwas das Rauschen. Jemand sprach. Susi schluckte schwer, als sie die Stimme ihres Vaters erkannte. Heimlich schlich sich ein Lächeln auf ihr Gesicht. Während sich Tränen in ihren Augen sammelten. Sie lauschte den Worten, die er an sie richtete. »Wie geht es dir mein Schatz?«

Kapitel 2Das Dorf im Wald

1993

»Wie geht es dir mein Schatz?«

Dass es die Videokamera war, welche ihr Vater als Erstes aus dem Gepäck kramen würde, verwunderte Susi nicht. Er liebte das Filmen und seine Knipskiste, wie ihre Mutter das Gerät scherzhaft nannte, war überall mit dabei.

»Mir geht es gut«, antwortete Susi lachend auf die Frage ihres Vaters, »es ist wirklich schön hier. Und so ruhig.«

»Und wie geht es dir mein Großer?«

Benno schwenkte die Kamera auf seinen Sohn. Lennard rannte durch das hohe Gras. Sein Kopf ragte gerade noch über den grünen Halmen hervor. Das Dorf wirkte verwahrlost. Die Pflanzen wucherten. Hätten um sie herum keine Holzhäuser gestanden, wäre dieser Fleck ein Teil des Waldes wie jeder andere. Wild und unberührt. Den Häusern des Dorfes erging es wenig besser. Susi ekelte sich vor ihnen. Von außen waren die splitterigen Holzbalken mit merkwürdigen schleimigen Schichten überzogen. Grün wie Moos, aber auch schwarz wie Schlamm. Im Inneren des Hauses stand ein moderiger Geruch. Es roch wie die Gräben bei ihnen Zuhause, wenn das Wasser in heißen Sommern verdunstete und die Kadaver verendeter Fische im Matsch verfaulten.

Dennoch, Susi gefiel es hier im Wald. Es herrschte eine Ruhe, die sie aus der Stadt nicht kannte. Keine brummenden Motoren, kein elektronisches Surren, kein Geschrei. Nur das Zwitschern der Vögel und das Rauschen des Windes in den Blättern der Baumkronen. Susi freute sich darauf, den Wald zu erkunden. Sie hoffte, wilde Tiere zu entdecken und bunte Blumen, die sie als Erinnerung mit nach Hause nehmen konnte.

»Lauft nicht zu weit weg«, sagte ihr Vater »wir müssen noch das Haus herrichten. Und alle helfen mit.«

»Okay Papa«, antwortete Lennard mit den Augen rollend.

Benno fuhr seinem Sohn mit der Hand durch die lockigen blonden Haare. »Wenn wir alle mit anpacken, dann geht es auch ganz schnell!«

Das Zerzausen der Mähne ließ Lennards Brille von der Nase rutschen. Er richtete das Gestell mit den runden Gläsern und trottete in Richtung des alten Holzhauses. »Dann lass es uns aber jetzt machen. Nachher habe ich noch weniger Lust dazu.«

Benno nickte lächelnd. »Also, packen wir es an!«

Susi sah zu, wie sich ihr Bruder durch das hohe Gras kämpfte.

»Komm«, forderte sie ihr Vater auf.

»Ach, Pummelchen macht das schon«, antwortete sie mit einem gehässigen Grinsen auf dem Gesicht.

»Schhhh...« fuhr Benno seine Tochter an und presste den Zeigefinger auf seine Lippen, »lass ihn das bloß nicht hören. Du weißt, wie er ist. Dann können wir einen ruhigen Urlaub vergessen.«

Ja, Susi wusste wie ihr kleiner Bruder war. Was sein Gewicht anging, reagierte der Achtjährige sehr empfindlich. Erwähnte man nur, dass er etwas zu viel auf den Hüften hatte, war tagelanges Schmollen und Geschrei angesagt. Lennard sprach nicht darüber, doch Susi wusste, dass die anderen Kinder ihn aufgrund seines Übergewichtes hänselten. Weshalb er sich immer mehr zurückzog. Hier jedoch, alleine im Wald, schien ihr Bruder aufzublühen. Der ruhige Junge tobte durch das hohe Gras, lachte und schrie vor Freude. Susi freute sich, Lennard so fröhlich zu sehen. Und dennoch, einen bissigen Kommentar konnte sie sich nicht verkneifen.

»Da ist ja die Dame des Hauses«, johlte Benno, als er seine Frau Jasmin durch die offene Tür der Holzhütte erblickte.

»Wie schön, dass sich der Herr des Hauses auch einmal blicken lässt«, frotzelte sie zurück, während sie einen breiten, rotborstigen Besen über die Holzplanken des Bodens huschen ließ. Graue Wolken stoben aus der Tür, als sie den Schmutz schwungvoll aus dem Haus beförderte. »Ihr könnt hier mal alle mit anpacken. Ich bin nicht zum Putzen hier!«

Drei schmale Stufen führten zum Eingang des Hauses hinauf. Beim Hinaufsteigen ächzte deren Holz unter Susis Füßen. Langsamen Schrittes erstieg sie die Treppe. Dann zögerte sie. Etwas in ihr sträubte sich, den letzten Absatz zu nehmen. Sie konnte sich nicht erklären, was es war, dass sie davon abhielt. Ob es die allgemeine Skepsis vor dem Betreten eines ihr unbekannten Hauses war. Oder etwas an dem Gebäude selber. Die Aura, welche das in die Jahre gekommene Holz ausstrahlte. Nur eines wusste Susi ganz genau. Dieses Haus war ihr unheimlich.

»Was ist mit dir mein Schatz?« Mit einem breiten Lächeln empfing ihre Mutter sie. »Kommt doch rein.«

Zögerlich trat Susi auf die oberste Stufe. Sie klammerte sich an den Türrahmen. Das weiche Holz gab unter ihren Fingern nach und sie hatte das Gefühl, dass sie darin versanken. Sie beugte sich hervor und streckte ihren Kopf in das Innere des Hauses. Ein merkwürdiger und zugleich vertrauter Geruch stieg in ihre Nase. Susi nahm einen langen Atemzug. Dieses Aroma kam ihr so ungemein bekannt vor. Sie schloss die Augen und holte noch einmal tief Luft. Und ein Bild eröffnete sich in ihren Gedanken. Der kleine grüne Eimer mit dem pinken Henkel. Sie erinnerte sich wieder, wonach das Haus roch. Es war derselbe Geruch, den sie vernahm, wenn sie Tee kochte. So jedenfalls nannte sie es. Nach jedem Regen spielte sie in dem Gehölz nah ihres Wohnhauses. Mit einer kleinen blauen Schaufel schöpfte sie Regenwasser, Erde, Moos und winzige Äste in ihren Eimer und rührte diese Mischung sorgsam durch. Der Geruch, welcher dabei entstand, war eben jener, den sie nun in dem Haus vernahm. Immer noch etwas moderig. Doch vermischt mit dem Duft der Putzmittel ihrer Mutter wurde der Gestank abgemildert.

Susi öffnete ihre Augen wieder. Sie blickte durch die Tür in das Haus hinein. Es war sehr spartanisch eingerichtet. Auf der rechten Seite befand sich ein großer, runder Tisch. Das dunkle Holz, aus dem er gefertigt war, wirkte spröde. Splitter und scharfe Kanten ragten aus seiner rauen Platte hervor, so dass er alles andere als eben war. Drei sich kreuzende Holzlatten auf der Unterseite stützten den Tisch. Er wirkte eher provisorisch zusammengeschustert und nicht wie das Werk eines erfahrenen Tischlers.

Auf der linken Seite zerfraß der Rost einen heruntergekommenen Ofen. Nur noch wage erkannte man die zwei Kochplatten zuoberst. Unter jeder der Platten befand sich eine kleine Tür. Für das Feuerholz, wie Susi später erfuhr. Wenige Stellen ließen das dunkle Metall erahnen, aus dem er gefertigt wurde. Das rötliche Oxid hatte überhandgenommen.

An der hinteren Seite entdeckte Susi vier Türen. Ihre Skepsis das Haus zu betreten wurde von der Neugier vertrieben zu erfahren, was sich in den Räumen dahinter befinden würde.

»Dort hinten, ganz rechts, das ist euer Zimmer«, sagte ihre Mutter, als diese ihr Starren auf die Türen bemerkte, »ganz links ist unser Schlafzimmer. Daneben ist eine kleine Abstellkammer. Aber gehe da bitte nicht alleine rein. Die Tür schlägt von selber zu. Und dann fällt der Metallriegel davor und sperrt dich ein. Ich musste Lennard heute schon zwei Mal dort rausholen. Direkt neben der Kammer ist die Toilette. Wenn man das hölzerne Loch mit dem Eimer darunter als sowas bezeichnen will. Also, ich leere den Eimer nicht aus.«

»Ich ganz bestimmt auch nicht«, entgegnete Susi mit vor Ekel gekräuselter Nase.

Sie ging auf die rechte Tür zu. Anfangs fielen sie ihr gar nicht auf. Auch als sie näher herankam, erkannte sie sie nicht. Starr wirkten sie fast wie das Holz. Etwas gräulicher, aber ebenso spröde. Wie ein Fehler in der Maserung. Im Nachhinein fragte Susi sich immer wieder, ob sie es tatsächlich gesehen hatte. Doch je mehr sie darüber nachdachte, desto klarer wurde sie sich, dass sie da gewesen waren. Gerade im Anbetracht der Dinge, die noch geschehen würden.

Susi trat vor das Zimmer und streckte ihre Hand nach der ebenso vom Oxid befallenen Türklinke aus. Sie sah hinab. Zwischen dem unteren Rand der Tür und dem Fußboden klaffte ein schmaler Spalt. Und aus diesem heraus ragten vier Finger, welche sich in die Tür krallten. Mit wulstigen und splittrigen Nägeln, fahler Haut, deren Farbe jede Lebendigkeit verloren hatte. Kaum hatte Susi die Handglieder erspäht, verschwanden sie wieder. In Windeseile zogen sie sich in den Raum zurück, der hinter der Tür lag. Jenem Raum, der ihr und Lennard als Schlafplatz dienen sollte.

Kurz schrie Susi auf. Hastig trat sie einen Schritt von der Tür zurück. Wandte sich mit weit geöffneten Augen zu ihrer Mutter um. Fragte sich, ob sie das gleich gesehen hatte. Doch ihr von Ratlosigkeit gezeichnetes Gesicht verriet Susi schnell, dass sie nicht wusste, warum ihre Tochter so erschrocken war.

»Was ist los?«, fragte Jasmin mit beruhigender Stimme.

Susi schluckte schwer. Sie wollte etwas sagen, doch brachte kein Wort hervor. Ihr Hals war wie zugeschnürt, als hätten sich die Finger, die sie soeben erspäht hatte, nun um ihre Kehle geschlungen. Stattdessen zeigte sie auf den Spalt zwischen Tür und Boden.

Ihre Mutter stieß ein kurzes Lachen aus. Dann ging sie zu ihrer Tochter und strich ihr sanft über das braune Haar. Das Lächeln, welches sie Susi entgegenbrachte, legte kleine Fältchen um ihre leuchtend blauen Augen.

»Das sind nur Mäuse«, flüsterte sie »ich habe auch schon ein paar gesehen. Die haben es sich hier gemütlich gemacht, solange kein Mensch hier war. Jetzt, wo wir hier einziehen, werden sie schnell verschwinden.«

»Wie geht es meinen Mädels«, drang vom Eingang in das Haus, als Benno und Lennard hereintraten. »Lebt ihr euch schon ein?«

»Susi hat gerade Bekanntschaft mit unseren Haustieren gemacht«, witzelte Jasmin.

»Wir sind im Wald«, erklärte Benno, »das ist Natur. So ist das hier eben. Aber mache dir keine Sorgen, die kleinen Biester haben mehr Angst vor dir, als du vor ihnen.«

Jasmin wandte sich von ihrer Tochter ab und trat zu ihrem Mann. Sie ergriff seine Hand und führte ihn hinüber zu dem alten Ofen. Trotzdem sie nun im Flüsterton mit Benno sprach, verstand Susi jedes Wort.

»Und, meinst du, du wirst deine Albträume hier loswerden?«

Benno legte seine Hände an ihr Gesicht. Strich ihr durch das lange Haar, welches wie goldene Seide auf ihre Schultern fiel. »Ich bin hier, mit euch. In dieser wunderschönen Umgebung. Wie sollte ich da noch schlechte Träume haben?« Dann schloss er sie fest in seine Arme.

Noch immer seine Frau haltend, sah Benno auf. Seine Augen suchten die Kinder. »So ihr beiden«, begann er in einem Befehlston zu reden. »Da wir hier weder Strom noch fließendes Wasser haben, müssen wir für alles selber sorgen. Ich werde gleich nach Feuerholz suchen und den Ofen für das Abendessen anheizen. Ihr beide könnten euch die Eimer draußen schnappen und uns ein bisschen Wasser holen. Gar nicht weit von hier ist ein kleiner Flusslauf mit klarem Quellwasser. Ich zeige euch, wie ihr gehen müsst.«

Kapitel 3Zwischen den Bäumen

Scheppernd schlug Lennards Fuß bei jedem Schritt gegen den Metalleimer, den er demonstrativ vor sich hertrug.

»Kannst du mal aufhören so einen Krach zu machen«, motzte Susi.

»Ich vertreibe die Wildschweine!«, rechtfertigte ihr Bruder sich.

»Welche Wildschweine?«

»Wir sind im Wald«, empörte sich Lennard über das Unwissen seiner Schwester, »im Wald leben Wildschweine. Und die können wirklich gefährlich werden. Also mache ich Krach, damit die nicht zu uns kommen!«

»Was sollten die Wildschweine denn von uns wollen?«

Lennard zuckte mit den Schultern. »Vielleicht denken die, wir haben Futter. Ist aber auch egal. Ich will einfach nicht, dass sie zu uns kommen!«

Susi rollte mit den Augen. Ihren Eimer trug sie stumm neben sich. Sie hatte gehofft, sie könnte auf dem Weg zum Flusslauf die Stille des Waldes genießen. Doch ihr kleiner Bruder hatte andere Pläne. Sie sah sich um. So weit sie sehen konnte, waren nur Bäume. Es war unabdingbar, dass sie auf dem sandigen Pfad blieben, den ihr Vater ihnen gezeigt hatte. Zwischen den Bäumen mit ihren blutroten Blättern würde alles gleich aussehen und sie würden sich verirren. Dessen war Susi sich gewiss. Sie hoffte nur, dass Lennard keine Dummheiten machte. Dass er plötzlich etwas sah, wo er hinlaufen wollte.

»Egal was passiert, wir bleiben hier auf dem Pfad, den Papa uns gezeigt hat!«

»Ja«, stöhnte Lennard genervt, »das hast du jetzt schon tausendmal gesagt. Wir bleiben hier auf dem Sandweg.«

Susi lauschte den Tönen des Waldes. Inmitten des metallischen Schepperns der Eimertritte ihres Bruders horchte sie zwischen die Bäume. Dem Orchester der Vögel, deren Potpourri an Pfeiftönen zu einer einzigen Melodie verschmolzen, und dem Rascheln der Blätter, durch die der Wind fegte, um das Klangspiel der gefiederten Waldbewohner zu untermalen. Während sie den Klängen lauschte, vernahm sie ein weiteres Geräusch. Ein neuer Ton mischte sich in das Lied des Waldes. Als hätte ein unsichtbarer Dirigent ein zusätzliches Instrument zum Einsatz gerufen.

»Sei still!«, fuhr Susi ihren Bruder an, dessen Eimer abrupt verstummte, »hörst du das?«

»Was meinst du?«, fragte Lennard mit irritiertem Blick. Susi kam der Gedanke, dass ihm noch die Ohren klingeln mussten, nach dem ganzen Geschepper mit dem Eimer, und er deswegen die Klänge des Waldes nicht vernahm.

»Hör mal genau hin«, sagte sie im Flüsterton und beugte sich zu Lennard herunter.

Ihr Bruder horchte angestrengt. So angestrengt, dass er die Augen zusammenkniff.

»Na, hörst du es?«, fragte Susi.

»Der Wald macht Lärm«, entgegnete Lennard schulterzuckend.

»Ich sage dir, was ich höre.« Susi hielt ihre Hand an das linke Ohr. »Ich höre das Plätschern von Wasser. Also sind wir gleich da!«

Wieder zuckte Lennard mit den Schultern. »Meinetwegen!«

»Komm, wir laufen den Rest vom Weg!«, schlug Susi vor.

»Och nö«, stöhnte ihr Bruder, »ich will nicht laufen.«

Doch da war seine Schwester bereits im Laufschritt davongeeilt. Wie von einem Orkan gepeitscht schlug der Eimer in ihrer Hand hin und her. Sie rannte davon. Wie noch nie zuvor hatte sie das Gefühl frei zu sein. Nicht eingeengt in der Großstadt, zwischen den Häuserschluchten, Lawinen von Autos und Menschenmassen. Die Luft war frisch und rein und sie roch nach Unendlichkeit. Im Rausch der Freude rannte Susi weiter. Sie musste nicht starr auf einem harten Holzstuhl in der Schule verharren, bis der befreiende Gong der Pausenglocke sie erlöste. Sie war nicht gefesselt an Stundenpläne. Sie war frei. Susi wusste, dass dieses Gefühl nicht ewig andauern würde. Bald musste sie zurückkehren in ihr alltägliches Leben, fest getaktet und bestimmt von Zeiten. In diesem Moment allerdings hatte sie das Gefühl von Endlosigkeit.

Susi wandte sich um. Ihr Bruder war ebenfalls in den Laufschritt übergegangen. Doch im Gegensatz zu ihr hatte er große Probleme mit dem hohen Tempo. Er schien mehr zu stolpern, als zu laufen, während der Eimer lautstark gegen sein Knie prallte.

»Warte du blöde Kuh«, keuchte er immer wieder mit seiner piepsigen Stimme.

Susi konnte sich das Lachen über den Laufstil ihres Bruders nicht verkneifen. Lautstark grölte sie los. So sehr, dass es ihr nicht mehr möglich war, weiterzulaufen. Gackernd krümmte sie sich.

»Hör auf zu lachen du blöde Kuh«, schimpfte Lennard japsend, der seine Schwester endlich eingeholt hatte.

Noch immer prustend, holte Susi tief Luft, versuchte, das Lachen zu unterdrücken. Beim Anblick ihres Bruders fiel es ihr sichtlich schwer, sich im Zaum zu halten. Leichter war es, als sie sich umdrehte. Plätschernd floss der flache Flusslauf unmittelbar vor ihnen durch den Wald. Bestimmt drei Meter breit, durchschnitt er das Gehölz.

»Wir sind da«, stieß sie fröhlich aus.

»Na endlich«, stöhnte Lennard, »lass uns schnell das Wasser holen und zurück gehen.«

Susi ging voran. Ihre Schritte wurden weicher. Je näher sie dem Flusslauf kam, desto schwammiger wurde der Boden. Bis an das Wasser heran waren die Bäume gewachsen. Dicke Wurzeln wuchsen wie starre Tentakel aus dem Erdreich des Ufers und ragten in das Gewässer. Die Auswüchse der Bäume beherrschten die Ränder des gesamten Flusslaufes. Nur hier, am Ende des Sandweges, war das Ufer kahl. Matschigen Boden hatten die Geschwister vor sich, über den sie zum Wasser gelangen mussten.

»Guck mal«, rief Lennard. Die Tonlage seiner Stimme schoss in die Höhe. Wild fuchtelte er mit dem Zeigefinger und deutete auf die weiche Erde am Wasserrand. »Jemand anders war schon hier!«

»Wie meinst du das?«, fragte Susi irritiert. In diesen Teil des Waldes würde fast nie jemand kommen, hatte ihr Vater gesagt. Das kaum ein Mensch diesen Ort überhaupt kennen würde. »Vergessen« war das Wort, welches er oft für die Beschreibung des Dorfes gebrauchte.

Ihr Blick folgte dem Finger ihres Bruders. Und zu ihrem Erstaunen musste sie feststellen, dass er recht hatte. Tief eingesunken in den matschigen Untergrund entdeckte sie Spuren, welche bis in das Wasser reichten. Die Abdrücke nackter Füße, die sich Schritt für Schritt in Richtung des Flusslaufes bewegten. Susi stellte ihren Fuß neben eine der Fußspuren.

»Das sind aber echt große Füße«, staunte sie über den Abdruck, der die doppelte Länge ihres Schuhs hatte, »wem die wohl gehören?«

Lennard zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich Bigfoot«, gackerte er.

Sein Lachen verstummte hastig, als Susi ihn auf etwas aufmerksam machte. Auf der anderen Seite des Flusslaufes stand jemand. Zwischen den Bäumen. Still, ohne die kleinste Bewegung beobachtete die Gestalt sie. Susi versuchte, die Person zu erkennen, doch es war zu dunkel. Nicht im Wald. Der Himmel war klar und die Sonne leuchtete hell durch die Baumkronen in das Dickicht. Fröhlich tanzten die lichtlosen Silhouetten der Blätter im Takt des Windes über den Waldboden. Der Wald strahlte. Doch die Gestalt auf der anderen Seite des Flusslaufes lag in Finsternis. Wie ein Schatten. Als wäre ein Fragment aus der Nacht herausgebrochen. Nur schemenhaft stach ein Gesicht aus der Schwärze hervor. Doch war nicht auszumachen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte. Es war die Dunkelheit in Person.

Susi war wie versteinert. Ihre weit aufgerissenen Augen begafften starr die Gestalt auf der anderen Uferseite. Aus dem Augenwinkel erkannte sie, wie Lennard sich mit langsamen Schritten vom Flusslauf entfernte.

»Wer ist das?«, fragte er flüsternd. Seine Stimme zitterte.

»Ich weiß es nicht«, antwortete sie ebenso leise.

Mit dem Beenden des Satzes überkam Susi die Erkenntnis, dass etwas anders war, seit sie die Gestalt auf der gegenüberliegenden Uferseite entdeckt hatten. Die Vögel, sie waren verstummt. Kein Piepsen, kein Zirpen oder Pfeifen hallte mehr durch den Wald. Nur das Flüstern des Windes strich durch die flammenden Blätter. Was zuvor als leiser Hauch erklang, wandelte sich in ein abgehacktes Zischen. Fast als trug der Wind die Wörter einer fremden Sprache zu ihnen.

»Was ist hier los?«, wisperte Susi.

Das noch vor Kurzem empfundene Gefühl der Freiheit war mit dem Verstummen der Vögel verschwunden. Nun regte sich etwas anderes in ihr. Einsamkeit. Sie und Lennard waren alleine. Alleine mit dieser Gestalt. Niemand konnte sie hören oder sehen. Sie wollte um Hilfe rufen. Doch wusste sie, ihre Schreie würden im Wind verhallen. Im Wind. Susi blickte zu Boden. Betrachtete die Schatten der Blätter. Sie tanzten nicht mehr. Das Zischen, es war verschwunden. Keine Brise wehte. Nicht einmal ein Lüftchen.

Der Strom des Wassers, er kam zum Erliegen. Das Plätschern verstummte. Und absolute Stille trat ein. Der Wald erstarrte.

Susi sah zu ihrem Bruder. Blanke Angst stieß ihr aus seinen Augen entgegen. Sein Gesicht spiegelte ihre Emotionen. Sie war erfüllt von purer Furcht. Diese Gestalt, welche auf der anderen Uferseite verharrte, strahlte eine Bedrohlichkeit aus, wie Susi sie noch nie zuvor gespürt hatte. Es war eine neue Art der Angst.

Krachend ließ Lennard seinen Eimer auf den Boden fallen. Ohne ein Wort zu sagen, hetzte er los. Den Sandweg zurück in das Dorf.

Susi richtete ihren Blick auf die Gestalt auf der anderen Seite. Dann ließ auch sie ihren Eimer fallen. Und rannte.

Kapitel 4 Das Ritual

2021

Eine Taubheit durchflutete ihren Körper. Sie fühlte sich wie benommen, gefangen zwischen Traum und Wirklichkeit. Feuchtigkeit sammelte sich in den Innenflächen ihrer Hände, unter deren Haut es wie von tausenden Würmern befallen kribbelte, und hinterließ dunkle Flecken auf ihrer hellblauen Jeans. Mit der Wucht von Faustschlägen hämmerte Susis Herz gegen ihren Brustkorb. Wie beim Anblick der von Finsternis umhüllten Gestalt, war sie in eine Starre verfallen. Nur ihre Augen huschten wie Pingpongbälle hin und her. Suchten nach Auffälligkeiten. Nach bedrohlichen Dingen, die in dem Raum auf sie lauerten. Langsam trat sie aus dem Dämmerzustand hinüber in die Realität. Erst in diesem Moment nahm sie wahr, dass sie am ganzen Körper zitterte. Diese Erinnerungen. Susi hatte sie lange Zeit verdrängt. Sie tief in ihrem Gedächtnis vergraben in der Hoffnung, dass sie nie wieder den Weg an die Oberfläche finden würden. Doch nun waren sie zurück. Und trafen sie mit der Wucht einer Abrissbirne.

Susi erhob sich von dem schwarzen Ledersofa. Ihre Knie waren weich und vermochten sie kaum zu tragen. Es war ein Gefühl, als würde sie schweben. Jeder Schritt war wie auf Wolken. Dunklen, bedrohlichen Wolken, durch die sie im Nu hindurchstürzen und in die Abgründe ihrer dunkelsten Gedanken fallen könnte.

Sie blickte auf den Fernseher. Das Video lief noch immer und zeigte sie und ihren Bruder auf das Holzhaus zugehen. Kurz geriet die Eingangstür in den Focus, in dessen Holz tief eingeritzte Lettern prangten. Mit den Buchstaben »B-E-N-N-O« hatte ihr Vater vor vielen Jahren seinen Namen im Zugang der Hütte verewigt. Heimlich, mit einem spitzen Stein, wie er Susi kurz nach der Aufnahme preisgab. Lachend verriet er, in dem Glauben eines dummen und naiven Jungen, sicher gewesen zu sein, nicht ertappt zu werden. »Doof nur, dass ich meinen eigenen Namen in die Tür geschnitzt habe«, erzählte er seiner Tochter mit einem schelmischen Grinsen auf den Lippen. Da es so selten vorkam, vermisste sie es schon damals, sein Lächeln zu sehen.

Susi griff nach der Fernbedienung auf dem weißen Wohnzimmertisch. Abrupt pausierte sie das Geschehen auf dem Bildschirm. Und fror ein breites Lachen auf dem Gesicht ihres zwölfjährigen Ich ein.

Wie war dieses Video nur hierhergekommen? Susi wusste, wo sie es versteckt hatte. Doch sie fragte sich, ob es sich tatsächlich um das Band handelte, welches sie verborgen hielt. Natürlich musste es sich um ihre Kassette handeln, sagte ihr der klare Menschenverstand. Doch die Dinge, die sie gesehen hatte, die ihr erschienen waren, konnte sie auch nicht mit rationalem Denken erklären. Somit war sie für jede Möglichkeit offen, so absurd sie erscheinen mochte. Susi musste sicher gehen. Sie wollte es wissen.