Das Echo des Bösen - Alyson Noël - E-Book

Das Echo des Bösen E-Book

Alyson Noel

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Beschreibung

Ein gewaltiges Erbe, eine große Liebe und der Kampf gegen dunkle Mächte.

Daire Santos hat ihr Schicksal als Soul Seeker angenommen und damit nicht nur das Leben ihrer Großmutter gerettet, sondern auch deren Seele. Aber der Preis dafür war hoch: Die Erzfeinde der Soul Seeker haben sich nämlich einen Zugang zur Unterwelt verschaffen können. Es ist eine mächtige Familie, deren Mitglieder allesamt magische Kräfte besitzen. Ihr größtes Ziel ist es, die verlorenen Seelen ihrer furchterregendsten Vorfahren zurückzubringen, um ihren Einfluss zu vergrößern. Daire und ihr Freund Dace müssen alles tun, um sie aufzuhalten, damit das Gleichgewicht zwischen Gut und Böse nicht zerstört wird. Diesmal steht allerdings noch mehr auf dem Spiel als nur eine Seele. Denn es geht nicht nur um ihre kleine Stadt Enchantment in New Mexiko, diesmal könnte die ganze Welt von den dunklen Mächten überschattet werden …

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Seitenzahl: 478

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Buch

Daire Santos hat ihr Schicksal als Soul Seeker angenommen und damit nicht nur das Leben ihrer Großmutter gerettet, sondern auch deren Seele. Aber der Preis dafür war hoch: Die Erzfeinde der Soul Seeker haben sich nämlich einen Zugang zur Unterwelt verschaffen können. Es ist eine mächtige Familie, deren Mitglieder allesamt magische Kräfte besitzen. Ihr größtes Ziel ist es, die verlorenen Seelen ihrer furchterregendsten Vorfahren zurückzubringen, um ihren Einfluss zu vergrößern. Daire und ihr Freund Dace müssen alles tun, um sie aufzuhalten, damit das Gleichgewicht zwischen Gut und Böse nicht zerstört wird. Diesmal steht allerdings noch mehr auf dem Spiel als nur eine Seele. Denn es geht nicht nur um ihre kleine Stadt Enchantment in New Mexico, diesmal könnte die ganze Welt von den dunklen Mächten überschattet werden …

Weitere Informationen zu Alyson Noël sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.

ALYSON NOËL

SOUL SEEKER

DAS ECHO DES BÖSEN

ROMAN

BAND 2

INS DEUTSCHE ÜBERTRAGEN VON ARIANE BÖCKLER

PAGE&TURNER

Inhalt

Prophezeiung

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Entweihung

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Dreiundzwanzig

Vierundzwanzig

Fünfundzwanzig

Sechsundzwanzig

Siebenundzwanzig

Achtundzwanzig

Neunundzwanzig

Dreißig

Einunddreißig

Zweiunddreißig

Dreiunddreißig

Vierunddreißig

Fünfunddreißig

Blutender Himmel

Sechsunddreißig

Siebenunddreißig

Achtunddreißig

Neununddreißig

Vierzig

Einundvierzig

Zweiundvierzig

Dreiundvierzig

Vierundvierzig

Fünfundvierzig

Sechsundvierzig

Zeit der Wunder

Epilog

Paloma

Phyre

Xotichl

Dace

Spirituelle Leittiere

Das Rückgrat jeder Schöpfung, das sie stützt wie ein Pfeiler, ist der Glaube. Enthusiasmus ist nichts: Er kommt und geht. Aber wenn man glaubt, werden Wunder wahr.

Henry Miller

Prophezeiung

Eins

Daire

Pferd trägt uns über eine weite Landschaft, während Rabe hoch oben auf seinem Nacken thront. Mit gemessenen Schritten. Sicher. Das Geräusch seiner Hufe, die beim Auftreffen auf der Erde ein sattes Scharren und Knirschen erzeugen, gibt mir immer das Gefühl, dass wir weiterkommen. Fortschritte machen. Obwohl wir bereits seit Wochen auf der Jagd sind, ohne den Feind zu Gesicht bekommen zu haben.

So nenne ich sie – den Feind. Manchmal bezeichne ich sie auch als Eindringlinge oder gar Invasoren. Und wenn mir nach einem besonders langen Tag auf der Jagd nach schlagkräftigeren Worten zumute ist, nenne ich sie Todfeinde.

Doch ich nenne sie nie bei ihrem richtigen Namen.

Ich nenne sie nie die Richters.

Sie mögen untote Richters sein, aber sie sind dennoch Richters, und Paloma hat mich davor gewarnt, Dace von seiner finsteren Abstammung zu unterrichten. Sie hat behauptet, er brauche nicht zu wissen, dass seine Existenz auf Magie der schwärzesten Sorte zurückgeht. Und obwohl ich mir beim Gedanken daran, dass ich eine so schreckliche Tatsache für mich behalte, bestenfalls unaufrichtig und schlimmstenfalls treulos vorkomme, muss ich trotzdem zugeben, dass meine Großmutter recht hat.

Wenn es ihm jemand sagen sollte, dann Chepi, seine Mutter. Doch sie hat bisher geschwiegen.

Ich lockere den Griff um Daces Taille und sehe mich seufzend um. Vor mir erstreckt sich eine mit glänzendem, hohem Gras bestandene Fläche, dessen Halme sich unter Pferds Huftritten biegen. Ein Wäldchen aus hohen Bäumen liegt dahinter und bietet Vögeln, Affen und ein paar Eichhörnchen auf der Suche nach Nüssen Schutz. Angestrengt spähe ich durch das schwindende Licht des Nachmittags – suchend, stets suchend. Doch wie immer gibt es keinen Hinweis auf irgendeine Störung, keinen Hinweis auf ihre Anwesenheit.

Vielleicht hat die Knochenhüterin sie gefunden ?

Ich klammere mich fest an den Gedanken, er gibt mir ein gutes Gefühl. Ich will ihn nicht loslassen, ganz egal, wie unwahrscheinlich er auch ist. Obwohl ich keinerlei Zweifel daran hege, dass die Königin der Unterwelt mit ihrem Schädelgesicht, ihrem Rock aus Schlangen und ihrer Gewohnheit, Sterne zu verschlingen, sie schnappen, wenn nicht gar auslöschen kann, weiß ich doch ebenso, dass es nicht so einfach werden wird.

Nachdem ich dieses Unheil ausgelöst habe, muss ich es auch wieder in Ordnung bringen.

»Trotzdem kommt es mir sonderbar vor.« Ich presse Dace die Lippen auf den Nacken, sodass meine Worte durch seine dunkle, glänzende Mähne gedämpft werden. »Du weißt schon, der ewige Zyklus von Nacht und Tag. Es erscheint mir zu normal, zu gewöhnlich für einen solch außergewöhnlichen Ort.«

Ich studiere den spätnachmittäglichen Schatten, der uns zu verfolgen scheint. Die unwirkliche, lang gezogene Silhouette eines Raben mit einem spindeldürren Hals und zweier lächerlich großer Menschen, rittlings auf einem Pferd, dessen Beine so lang und dünn sind, dass sie uns allem Anschein nach kaum zu tragen vermögen. Die verzerrte Kontur kündigt den baldigen Anbruch der Nacht an.

Allerdings ist das, was in der Unterwelt als »Nacht« gilt, kaum mehr als ein mattes Dämmern, ganz anders als die tiefdunkle Schwärze des sternenübersäten Nachthimmels von New Mexico, an die ich mich inzwischen gewöhnt habe. Trotzdem freue ich mich über ihr Kommen. Ich bin froh, dass der Tag sich zum Ende neigt.

Ich setze meinen Gedankengang fort. »Ganz zu schweigen davon, dass nirgends eine Sonne zu sehen ist – wie kann das überhaupt sein ? Wie kann sie auf- und untergehen, wenn sie gar nicht existiert ?«

Dace lacht, und es klingt so tief, so heiser und so verführerisch, dass ich mich immer fester an ihn drücke, bis es nicht mehr enger geht. Ich will mich unbedingt an jede Senke und jede Biegung seines Rückens schmiegen, da er mich ebenso intensiv spüren soll wie ich ihn.

»Oh, es gibt durchaus eine Sonne.« Er dreht den Hals, bis er mich anschauen kann. »Leftfoot hat sie gesehen.« Seine eisblauen Augen sehen in meine und reflektieren mein langes, dunkles Haar, meine hellgrünen Augen und den blassen Teint, bis ich mich abwende, da sein Blick mich schwindelig macht.

»Und du glaubst ihm ?« Ich runzele die Stirn, außerstande, den skeptischen Unterton aus meiner Stimme her­auszuhalten. Bestimmt ist das nur wieder eine der vielen fantastischen Geschichten, die der alte Medizinmann Dace erzählt hat, als er noch ein Kind war.

»Natürlich.« Dace zuckt die Achseln. »Und wenn wir Glück haben, sehen wir sie vielleicht auch irgendwann.«

Ich reibe die Lippen aneinander und schiebe ihm eine Hand unter den Pulli. Meine Finger sind kalt, seine Haut ist warm, trotzdem zuckt er kein bisschen zusammen, sondern heißt meine Berührung willkommen, indem er sich meiner Handfläche entgegendrängt.

»Das Einzige, was ich momentan sehen möchte, ist …« Ich versuche, mich wieder auf die Aufgabe zu konzentrieren, derentwegen wir hierher aufgebrochen sind, doch der Gedanke verklingt ebenso wie meine Worte.

Offenbar spürt Dace meine Stimmung, denn im nächsten Moment lässt er Pferd wenden. Lenkt ihn zurück über den weiten, grasbewachsenen Abhang, hin zu einem unserer Lieblingsorte.

Ich vergrabe die Knie in seiner Kniekehle. Dabei kämpfe ich gegen den Ansturm von Schuldgefühlen, die mich stets nach einer langen, fruchtlosen Jagd überkommen. Ich habe Paloma versprochen, dass ich sie finde – und vertreibe. Ich habe geschworen, dass ich die Richters aus der Unterwelt werfe, ehe sie dazu kommen, irgendeinen Schaden anzurichten, der auch Mittel- und Oberwelt in Mitleidenschaft ziehen würde.

Ich dachte, es wäre leicht.

Dachte, in einem herrlichen Land voller üppigem Blattwerk und liebevollen Geisttieren würden diese untoten Freaks auf übelste Art und Weise hervorstechen.

War überzeugt, dass Dace und ich sie mit vereinten Kräften locker überwältigen könnten.

Doch jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher.

»Keine Angst«, sagt Dace, und seine Stimme klingt ebenso zuversichtlich wie seine Worte. »Gemeinsam finden wir sie.« Er fängt meinen zweifelnden Blick auf. »Weißt du es denn nicht ?«, fügt er hinzu. »Die Liebe besiegt alles.«

Liebe.

Mir stockt der Atem, und meine Augen werden weit, während jede Erwiderung in meiner plötzlich trocken gewordenen Kehle stecken bleibt.

Er zerrt an Pferds Zügeln und bringt ihn dicht vor der verzauberten Quelle zum Stehen, ehe er mir herunterhilft und meine Hände mit seinen umfasst. »Zu früh ?«, fragt er, da er mein Schweigen offenbar falsch auslegt.

Ich räuspere mich und möchte ihm gerne sagen, dass es überhaupt nicht zu früh ist. Dass ich es in der ersten Nacht wusste, als er mir in meinen Träumen erschienen ist. Dass ich ihn an jenem Tag gespürt habe, als ich ihm beim Rabbit Hole begegnet bin – den Strom der bedingungslosen Liebe, die zwischen uns fließt.

Ich wünschte, ich könnte es einfach sagen – ihm gestehen, dass es mich zugleich erschreckt und beglückt. Dass von ihm geliebt, aufrichtig geliebt zu werden, das Wundervollste ist, was mir je passiert ist.

Ich sehne mich danach, ihm anzuvertrauen, dass ich mich in seiner Nähe immer fühle, als wäre ich mit Helium gefüllt – als würden meine Füße nicht mehr die Erde berühren.

Wir sind füreinander bestimmt.

Schicksalhaft verbunden.

Doch obwohl ich bereits seit einigen Wochen seine Freundin bin, wurde das Wort Liebe soeben zum allerersten Mal ausgesprochen.

Dace wirft mir einen so verträumten Blick zu, dass ich mir sicher bin, er wird sie jetzt sagen – jene drei gar nicht so kleinen Worte –, und ich bereite mich darauf vor, sie auch selbst zu äußern.

Doch er wendet sich einfach stehenden Fußes um und geht auf die sprudelnd heiße Quelle zu, auf deren Oberfläche ein feiner Sprühnebel dampft. Ich bin enttäuscht darüber, dass der Moment ungenutzt verstrichen ist – aber dennoch unerschütterlich von seiner Wahrheit überzeugt.

Wir ziehen uns aus, bis Dace nur noch seine marineblaue Badehose anhat und ich in dem schlichten schwarzen Bikini fröstele, den ich darunter trage. Ich gleite ins Wasser, direkt gefolgt von Dace, wobei mein Herz vor Vorfreude rast, als ich auf die breite Felsbank zuhalte. Ich weiß, dass die Jagd fürs Erste beendet ist – und der Spaß beginnt.

Ich lächele schüchtern. Gebannt vom Anblick seiner starken, breiten Schultern, der glatten, braunen Haut und der Verheißung seiner Hände, die locker seitlich herabhängen. Ich frage mich, ob ich mich je daran gewöhnen werde – an ihn gewöhnen werde. So viele Küsse haben wir schon gewechselt, dennoch kommt es mir jedes Mal, wenn er mir nahe ist, jedes Mal, wenn wir alleine sind, so vor, als wäre es das erste Mal.

Das Wasser reicht uns bis zur Brust, während sich unsere Lippen aufeinanderpressen und miteinander verschmelzen und unser Atem eins wird. Mit den Fingern erkunde ich sein kantiges Kinn, fahre über den Anflug von Bart, der mir zart auf der Haut kratzt, während er mit den Bändern meines Bikinioberteils spielt. Dabei achtet er sorgsam darauf, das Wildlederbeutelchen an meinem Hals nicht zu berühren, da er weiß, dass es die Quelle meiner Kraft birgt oder zumindest eine davon – und dass sein Inhalt nur von Paloma und mir gesehen werden darf.

»Daire …« Mein Name ist ein Flüstern, rasch gefolgt von einer Spur von Küssen, die er über meinen Hals zieht, über meine Schulter und noch weiter hinab, während ich die Augen schließe und scharf den Atem einsauge. Hin- und hergerissen zwischen dem Reiz seiner Berührung und der Erinnerung an einen schrecklichen Traum, der sich genau in dieser Quelle abspielte – in einem Moment, der diesem sehr ähnlich war.

Ein Traum, in dem sein Bruder in unser Paradies einbrach – und Dace sowohl die Seele stahl wie auch das Leben, während ich nur zusehen konnte.

»Was ist denn ?« Er spürt meine veränderte Stimmung und hebt den Blick zu mir.

Doch ich schüttele nur den Kopf und ziehe ihn wieder an mich, da ich keinen Grund sehe, es ihm zu verraten. Keinen Grund, den Augenblick zu zerstören, indem ich Cade erwähne.

Sein Atem geht schneller, als seine Lippen erneut auf meine treffen. Und als er mich auf seinen Schoß hebt, habe ich das vage Gefühl, dass etwas Fremdes, Glitschiges über meinen Fuß gleitet.

Ich versenke mich in den Kuss, entschlossen, es zu ignorieren, ganz egal, was es war. Das hier ist eine heiße Quelle – eine verzauberte heiße Quelle, aber dennoch eine heiße Quelle. Wahrscheinlich war es nur ein Blatt oder eine abgefallene Knospe aus dem Baldachin aus Ranken, der sich über uns erstreckt.

Ich konzentriere mich auf das Gefühl seiner Lippen, die sich hart auf mein Fleisch pressen, und drücke mich fest an ihn. Gerade schlinge ich die Beine um seine, als ein zweites glitschiges Objekt an meiner Hüfte vorbeigleitet, ehe es neben mir an die Oberfläche kommt und dabei ein hörbares Ploppen verursacht, bald gefolgt von einem zweiten.

Und einem dritten.

Bis der Chor von Gegenständen, die ploppend an die Oberfläche kommen, uns zwingt, uns voneinander zu lösen. Uns zwingt, den voneinander verklärten Blick freizublinzeln und voller Entsetzen zuzusehen, wie sich die Quelle mit aufgedunsenen, leblosen Fischen mit weit klaffenden Mäulern füllt, die uns aus leeren Augenhöhlen vorwurfsvoll anstarren.

Ehe ich aufschreien kann, reißt mich Dace in seine Arme und zerrt mich aus dem Becken. Er drückt mich fest an seine Brust, während wir beide atemlos und entsetzt auf eine Wahrheit blicken, die sich nicht leugnen lässt.

Die Feinde laufen immer noch frei herum – gesund und munter – und zersetzen die Unterwelt.

Und wenn wir sie nicht bald finden, werden sie auch die anderen Welten zersetzen.

Zwei

Hast du’s ihr gesagt ?« Dace zeigt auf Palomas blaues Gartentor, als ich in seinen alten Pick-up steige und es mir neben ihm bequem mache.

»Noch nicht.« Ich kaue an der Innenseite meiner Wange und wende den Blick ab. Er grummelt leise und fährt los. Ich interpretiere sein Brummen dahingehend, dass er Folgendes gemeint hat: Ich weiß ja nicht, ob ich mit deinen Methoden einverstanden bin, aber du hast bestimmt deine Gründe.

Dace urteilt nicht.

Er ist so nett, freundlich und tolerant, dass er nicht einmal auf die Idee käme.

Er ist die buchstäbliche Verkörperung des Guten.

Das Ergebnis einer gespaltenen Seele – er hat die reine Hälfte bekommen –, das Gegenteil seines Zwillings. Dagegen ist meine eher von durchschnittlicher Art und birgt verschiedene Schattierungen von Hell und Dunkel, sodass sie entsprechend den Umständen einmal zum einen und einmal zum anderen neigt.

»Ich wollte ja«, sage ich, wobei meine Stimme zu schrill wird, um überzeugend zu klingen, doch das hält mich nicht auf. »Als du mich abgesetzt hast, hatte sie eine Patientin da – sie empfängt jetzt wieder welche –, und als sie fertig war, habe ich schon geschlafen.«

»Und heute früh ?« Er sieht mich mit zuckenden Mundwinkeln an, da er weiß, dass Paloma eine glühende Verfechterin einer vernünftigen Ernährung ist. Es ist so ziemlich das Herzstück ihres Lebensplans, jeden Tag mit einem gesunden Frühstück zu beginnen. Ich hätte dem Thema – beziehungsweise ihr – nur ausweichen können, indem ich mich komplett entziehe. Was ich getan habe, indem ich bis zum allerletzten Moment in meinem Zimmer geblieben und wie eine Wilde zur Tür gestürzt bin, als ich Dace nahen fühlte. Ich hielt nur so lange inne, dass sie mir eines ihrer frisch gebackenen Bio-Blaumais-Muffins in die Hand drücken konnte, ehe ich zu seinem Pick-up lief.

Es gibt keine elegante Ausflucht. Ich bin schuldig im Sinne der Anklage. »Ich war spät dran«, sage ich und werfe ihm einen verstohlenen Seitenblick zu. »Aber offen gestanden war ich wohl einfach noch nicht so weit.«

Er nickt und umfasst das Lenkrad fester, während er über die von tiefen Fahrrinnen durchzogenen Feldwege rumpelt und ich aus dem Fenster schaue. Mir fällt auf, dass die alten Lehmziegelhäuser in der Umgebung nicht mehr so windschief sind wie früher. Dass die vor den Häusern geparkten Autos ein bisschen weniger rostig wirken und die Hühner, die in den Vorgärten umherstolzieren, ein bisschen weniger ausgezehrt aussehen. All das dank Dace und meinem kleinen Triumph in der Unterwelt, als wir die Knochenhüterin überzeugen konnten, all die armen Seelen freizugeben, die die Richters geraubt hatten.

Trotz unseres Erfolgs macht die Stadt ihrem Namen Enchantment – Verzauberung – noch immer alles andere als Ehre. Aber immerhin ist sie ein bisschen weniger trist, als sie es bei meiner Ankunft hier war, und das erachte ich bereits als Fortschritt.

»Wenn du willst, können wir es ihr gemeinsam sagen.« Dace sieht mich an. »Ich muss zwar nach der Schule arbeiten, aber ich kann auch zu spät kommen, wenn dir das was nützt.«

Ich schüttele den Kopf, von seinem Angebot zu gerührt, um zu sprechen. Dace braucht jeden Penny, den er im ­Rabbit Hole verdient. Wenn er die Miete für die winzige Wohnung in der Stadt, Benzin und Versicherung für seine zwei ramponierten Autos und die kleine Summe, die er Chepi gibt, bezahlt hat, bleibt nicht mehr viel übrig. Unter keinen Umständen lasse ich zu, dass er wegen etwas, das ich längst allein hätte erledigen sollen, einen Verdienstausfall erleidet.

»Ich mache es«, erwidere ich. »Ehrlich. Noch heute. Nach der Schule. Ehe ich wieder in die Unterwelt gehe, sage ich es ihr. Obwohl ich das ziemlich sichere Gefühl habe, dass sie es längst weiß. Paloma weiß alles. Es ist mehr als der sechste Sinn einer abuela – sie ist unfassbar scharfsinnig. Bestimmt spricht mein Schweigen lauter, als es irgendwelche Worte könnten.«

»Trotzdem, diese Fische …« Er verstummt, während sich sein Blick verdüstert. »Ich glaube, ich sollte Leftfoot darauf ansprechen. Und Chepi. Vielleicht können sie helfen ?«

Als er seine Mutter erwähnt, ist es an mir, grimmig zu werden. Nachdem sie Dace seine gesamte Kindheit über von der mystischeren Seite seines Lebens abgeschirmt hat, komme ich daher und zerre ihn kopfüber in all den Aufruhr und all die unheimlichen Machenschaften, die dieser Ort zu bieten hat. Damit habe ich mich bei ihr nicht gerade beliebt gemacht.

Doch laut Paloma war es unser Schicksal, dass wir uns begegnen, genau wie es unser Schicksal ist, zusammenzuarbeiten, um die Richters in Schach sowie Unter-, Mittel- und Oberwelt im Gleichgewicht zu halten. Und wenn es erst einmal in Gang gekommen ist, lässt sich das Schicksal nicht mehr aufhalten.

Ich will gerade fragen, ob er sich vielleicht noch einmal überlegen könnte, es Chepi zu erzählen, als er bereits auf den Schulparkplatz einbiegt und neben Audens uraltem Kombi mit den Holzpaneelen zum Stehen kommt. Er dreht das Fenster weit genug herunter, um einen kalten Luftstoß hereinzulassen, während wir zusehen, wie Auden Xotichl aus dem Beifahrersitz hilft und sie zu uns herüberführt. Ihren Blindenstock schwenkt sie dabei vor sich her.

»Xotichl behauptet, es schneit bis Weihnachten, aber ich sage, ausgeschlossen.« Auden schiebt sich das zerzauste goldbraune Haar aus den Augen und grinst. »Wir nehmen sogar Wetten an – seid ihr dabei ?«

»Du willst allen Ernstes gegen Xotichl wetten ?«, frage ich ungläubig. Xotichl mag blind sein, doch sie ist die hellsichtigste Person, die mir je begegnet ist – nach Paloma jedenfalls.

Auden zuckt die Achseln, legt Xotichl einen Arm um die Schultern und drückt ihr einen Kuss auf die Wange. »Ich müsste es wahrscheinlich besser wissen – gegen sie zu wetten hat noch nie etwas eingebracht –, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sie sich diesmal irrt. In Enchantment hat es seit Jahren nicht mehr geschneit. Seit meiner Kindheit nicht mehr. Und es deutet nichts darauf hin, dass sich das demnächst ändern sollte.«

»Es fühlt sich auf jeden Fall kalt genug an für Schnee.« Mein Atem gefriert zu einem Wölkchen vor meinem Mund, während ich die Handschuhe aus dem Rucksack ziehe und sie überstreife. Dabei denke ich, dass es an der Zeit wäre, meine olivgrüne Armeejacke – die dank einem unseligen Zusammenstoß mit einem gewissen untoten Richter seit Neuestem an manchen Stellen ein bisschen ramponiert ist – gegen etwas Wetterfesteres einzutauschen. »Ich dachte, es schneit so ziemlich überall hier in der Gegend ?«

»Schon«, sagt Auden. »Aber nicht hier. Nicht mehr.«

»Das hat früher einmal gestimmt, aber dieses Jahr ist es anders«, widerspricht Xotichl. Ein wissendes Lächeln lässt ihr schönes, herzförmiges Gesicht aufleuchten, während ihre blaugrauen Augen sich in meine ungefähre Richtung drehen.

»Du spürst Schneeenergie ?« Ich schlinge mir gegen die Kälte die Arme um die Taille, während ich mich von dem Pick-up löse und mich zu ihnen stelle.

»Ich spüre auf jeden Fall etwas.« Xotichl spricht leise und schleppend. Ganz eindeutig genießt sie ihr Geheimnis.

»Also ?« Auden sieht mich an.

Ich blicke zwischen ihnen hin und her und antworte ihm, ohne zu zögern. »Tut mir leid, Auden, aber ich werde wohl so gut wie immer auf Xotichl setzen.«

Auden wirft mir einen bedauernden Blick zu und wendet sich an Dace. »Und du ?«

Dace nimmt solidarisch meine Hand und sieht mich mit seinen eisblauen Augen an. »Und ich setze so gut wie immer auf Daire.«

Auden wendet sich seufzend zu Lita, Jacy und Crickett um, die uns von der anderen Seite des Parkplatzes aus etwas zurufen. »Irgendwie heißen sie bei mir immer noch die ›Fiese Front‹. Ich muss jetzt doch mal unseren Facebook-Status zu ›Freunde‹ updaten.« Grinsend schüttelt er den Kopf. »Was meinst du, soll ich sie überhaupt fragen ?«

»Nur wenn du die Ablehnung verkraftest.« Xotichl lacht, während wir unseren Kreis erweitern, um sie aufzunehmen.

»Was ist denn so lustig ? Hab ich was verpasst ?« Lita wirft sich das Haar über die Schulter und lässt es in dunklen Wellen über ihren Rücken fallen, während ihre Augen – nach wie vor dick geschminkt, aber seit Jennikas professioneller Make-up-Beratung wesentlich besser – ängstliche Blicke aussenden. Sie hasst es, von irgendetwas ausgeschlossen zu werden, ganz egal, wie banal es auch sein mag.

»Weiße Weihnachten. Ist das möglich ? Ja oder nein ?« Auden kommt gleich auf den Punkt.

»Ja. Ich stimme definitiv für ja.« Lita klatscht zur Be­tonung in ihre behandschuhten Hände, während die anderen zustimmend nicken. »Allerdings braucht es dazu schon ein echtes Wunder. Das letzte Mal, als es geschneit hat, war ich ungefähr sechs. Aber andererseits ist ja gerade Saison für Wunder, nicht wahr ?«

Sie wippt auf ihren Fußspitzen und vergräbt die Hände unter den Achseln, um so die Kälte abzuwehren. Das Läuten der Schulglocke veranlasst Auden, Xotichl einen Abschiedskuss zu geben, damit er losziehen und mit seiner Band proben kann, während wir anderen aufs Schulgebäude zugehen. An meinem Spind mache ich halt, um ein paar Bücher abzulegen, damit ich nicht so schwer zu tragen habe.

Lita drückt sich neben mir herum und sieht mit missmutigem Schweigen zu, wie mir Dace einen Kuss auf die Wange drückt und einen Treffpunkt für die Pause mit mir ausmacht, ehe er in seine Klasse geht. Sie wartet, bis er außer Hörweite ist, dann streckt sie mir hastig eine Hand hin. »Schnell. Nimm schon. Bevor wir deinetwegen noch alle beide zu spät kommen.«

Ich starre auf den gefalteten Zettel zwischen ihren Fingern. Gerade will ich sie daran erinnern, dass sie aus freien Stücken hier neben mir steht – ihre Verspätung also allein ihre eigene Schuld ist –, doch dann schlucke ich den Satz ganz schnell hinunter. Mit Lita befreundet zu sein heißt, dass man nicht nur lernen muss, die Hälfte dessen, was sie sagt, zu ignorieren, sondern auch nie zu vergessen, dass tief im Inneren ihr Herz zum größten Teil gut ist.

»Weihnachtswichteln«, erklärt sie, während ich den Zettel auseinanderfalte und verwirrt blinzele. Ihre Stimme konkurriert mit dem Geräusch ihres Stiefels, der hart und schnell gegen den Fliesenboden schlägt. »Gestern, als wir in der Mittagspause Namen gezogen haben, habe ich Dace gekriegt. Und ich dachte mir, du willst sicher tauschen, da ihr ja zusammen seid und so. Außerdem käme es mir extrem seltsam vor, ein Geschenk für ihn zu kaufen, nachdem ich mit seinem Zwillingsbruder Schluss gemacht habe.«

Ich nicke zustimmend, da ich weiß, dass es mir wesentlich leichterfallen wird, etwas zu finden, das Dace gefällt und unter unser Zwanzig-Dollar-Limit fällt, als für die Person, deren Namen ich ursprünglich gezogen habe. Als ich ihre erwartungsvolle Miene sehe, sage ich: »Allerdings weiß ich nicht, ob das funktioniert – ich habe dich gezogen.«

Litas Augen leuchten auf. Unübersehbar begeistert von der Idee, sich selbst etwas zu kaufen, wendet sie sich rasch zum Gehen. »Keine Sorge. Mir fällt schon was ein.«

Sie eilt den Flur entlang, wobei das Geräusch ihrer klackenden Stiefel meine Stimme beinahe übertönt, als ich ihr nachrufe.

Sie bleibt stehen und sieht sich mit ungeduldiger Miene um.

»Apropos – hast du Cade gesehen oder mit ihm gesprochen ?«

Sie verdreht die Augen und lächelt selbstgefällig. »Soll das ein Witz sein? Er ist komplett abgetaucht. Völlig außer Reichweite. Wahrscheinlich leckt er seine Wunden und pflegt sein armes gebrochenes Herz. Wenn ich gewusst hätte, wie sagenhaft sich das anfühlen und wie leicht es sein würde, es zu brechen, hätte ich es schon vor Jahren getan.«

Sie schickt ihren Worten ein Lachen hinterher. Es klingt so leicht, so glücklich und so selbstzufrieden, dass ich wünschte, ich könnte es ihr so ohne Weiteres abkaufen. Wünschte, ich könnte an ihre Theorie glauben, dass Cade einfach unter dem unerwarteten Schlag gegen sein Ego litte, zum ersten Mal in seinem Leben von einem hübschen Mädchen abgewiesen zu werden. Dann wirbelt sie herum und rast den Korridor hinab, wobei ihr Haar wie ein Schleier hinter ihr herfliegt, ehe sie ihre Klasse betritt. Sie lässt mich vor meinem Spind stehen, als es zum zweiten Mal läutet, was mich offiziell als Zuspätkommende brandmarkt.

Ich sehe mich in alle Richtungen um, mustere den stillen, leeren Korridor, während ich mir meine Tasche über die Schulter schlinge und denselben Weg zurückgehe, den ich gekommen bin. Eilig rase ich an dem Wachmann mit seinen empörten Ermahnungen vorbei, trete in die eisige Morgenluft hinaus und mache mich auf den Weg zurück zu Paloma.

Drei

Paloma geht durch ihre warme, gemütliche Küche und zieht ihre abgenutzte, himmelblaue Strickjacke enger über eines der akkurat gebügelten Hauskleider, die sie am liebsten trägt. Sie ist nicht im Geringsten erstaunt über meine plötzliche Rückkehr.

Ihre braunen Augen leuchten, und ihr dunkler Zopf mit den Silberfäden darin schlängelt sich ihren Rücken hinab, sodass sie völlig unverändert wirkt. Doch bei näherem Hinsehen bemerkt man, dass ihre Bewegungen langsamer sind – nicht mehr so flink. Vor allem im Vergleich mit der unverwechselbaren Aura von Entschlossenheit und Kraft, die sie an jenem Abend demonstrierte, als ich vor wenigen Monaten zum ersten Mal vor ihrer Tür stand. Kurz nach meinem Zusammenbruch auf diesem Platz in Marokko.

Damals, als ich von entsetzlichen Halluzinationen von leuchtenden Gestalten und Krähen geplagt wurde – und eine Zukunft in der Gummizelle vor mir sah.

Paloma hat mich gerettet. Vor diesem schrecklichen Schicksal bewahrt. Nur um mich stattdessen mit einer derart befremdlichen Wahrheit zu konfrontieren, dass ich mein Möglichstes tat, um ihr zu entkommen.

Aber sie wusste eben etwas, was die Ärzte nicht wussten.

Ich war nicht verrückt.

Wurde nicht von Halluzinationen geplagt.

Die Krähen und die leuchtenden Gestalten – das ist alles real. Und ich war bei Weitem nicht die Erste, die diese Erfahrung machen musste. Jeder Suchende bekommt seinen Ruf – ich war einfach an der Reihe.

Es ist das Familienerbe der Familie Santos. Das Geburtsrecht, das seit unzähligen Generationen von einem Elternteil zum erstgeborenen Kind weitergegeben wird. Die ersten sechzehn Jahre schlummert es nur – doch wenn es dann zum Ausbruch kommt, steht die ganze Welt auf dem Kopf. Und selbst wenn es verlockend erscheint davonzulaufen, ist es doch besser, wenn man akzeptiert, dass das Schicksal einem kaum eine Wahl lässt. Für diejenigen, die das zu leugnen suchen, endet es nie gut.

Mein Vater Django ist das beste Beispiel dafür.

Sein tragischer, allzu früher Tod hat Paloma nur noch entschlossener gemacht, mich zu retten. Als Letzte der Familie bin ich die Einzige, die die Richters aufhalten kann. Doch nachdem meine Ausbildung aufgrund von Palomas kürzlich akut gewordener Erkrankung abgebrochen wurde, bin ich der Aufgabe kaum gewachsen.

Mühsam stellt sie sich auf die Zehenspitzen und streckt den Arm aus, um zwei Becher aus dem Hängeschrank zu nehmen. Ihre Glieder wirken steif und ungelenk. Als müssten die Gelenke dringend geölt werden, damit sie sich wieder mühelos bewegen kann. Der Anblick dient mir als bittere Erinnerung an ihren jüngst erfolgten Seelenverlust, der ihr all ihre Zauberkräfte und fast das Leben selbst geraubt hat – einer der zahlreichen Gründe, warum ich Cade und seine untoten Vorfahren finden muss, bevor alles noch schlimmer wird.

Ich schließe die Augen und hole tief Luft. Dabei fülle ich meinen Kopf mit den konkurrierenden Aromen von würzigem Kräutertee, den frisch gebackenen Ingwerplätzchen und dem rauchigen Duft der vertikal aufgestapelten Scheite vom Mesquitebaum, die im Kamin in der Ecke verbrennen. Ihr melodisches Knistern und Knacken steuert einen seltsam beruhigenden Hintergrundton zu den schlechten Nachrichten bei, die jetzt kommen.

»Nieta.« Sie stellt eine dampfende Teetasse vor mich hin und setzt sich auf den Stuhl gegenüber.

Ich wärme mir die Hände, indem ich den Becher auf beiden Seiten umfasse. Dann blase ich auf die Flüssigkeit und nehme vorsichtig einen ersten Schluck. Ich hebe den Blick zu meiner Großmutter. »Noch immer keine Spur von ihnen«, sage ich.

Sie nickt und bemüht sich nach Kräften, eine stoische, unveränderte Miene zu wahren.

»Obwohl das eigentlich nicht ganz stimmt …« Meine Stimme ist ebenso unsicher wie mein Blick. Ich ermahne mich selbst, dass ich es tun kann, dass ich es tun muss. Zumindest schulde ich ihr die Wahrheit. Ich räuspere mich und beginne erneut. »Was ich meine, ist, dass wir sie zwar nicht aufgespürt haben, aber es gibt untrügliche Anzeichen für ihre Anwesenheit …« Ich beschreibe die Flut von toten Fischen, die wir in der verzauberten Quelle gefunden haben – wobei ich bewusst verschweige, was wir überhaupt dort zu suchen hatten –, doch abgesehen davon, dass sie an ihren Ärmeln herumzupft, bleibt sie ganz ruhig sitzen und lässt sich nichts anmerken. »Und es gibt absolut keine Spur von Cade. Er war nicht in der Schule – und auch nicht im Rabbit Hole. Niemand hat ihn gesehen, und ich weiß langsam nicht mehr, was ich tun und wo ich noch Ausschau halten soll.«

Mein Blick sucht den von Paloma, in der Hoffnung auf Orientierung, Antworten, irgendetwas. Doch sie nickt nur, statt etwas zu sagen, und bedeutet mir mit Gesten, meinen Tee auszutrinken und eines ihrer köstlichen Ingwerplätzchen zu essen. Schließlich erhebt sie sich vom Tisch und führt mich in mein Zimmer. Dort setzt sie sich auf meine Bettkante und weist mich an, die schöne, handbemalte Truhe zu öffnen, die sie mir an dem Abend hingestellt hat, als sie krank wurde.

Ich öffne das Schloss und betrachte den Inhalt. Mein Herz rast angesichts der Erwartung, welche Art von Zauber sie mit mir zu teilen bereit ist. Es ist schon Wochen her, seit sie mich gelehrt hat, mit den Eidechsen zu kriechen und mit den Vögeln zu fliegen – meine Energie mit ihrer zu verschmelzen, bis ich ihre Erfahrung als meine eigene erlebt habe. Und ich muss zugeben, dass ich unsere Lehrstunden vermisst habe. Wie auch unsere Gespräche und die Zeit, die wir zusammen verbracht haben.

Abgesehen davon, dass sie mir Essen kocht und sich um mich kümmert – trotz meiner Proteste, dass das wirklich nicht nötig ist, da ich dank meiner Mutter und meines nomadischen Lebensstils schon von Kindesbeinen an für mich selbst sorgen kann –, hat sie sich in den letzten paar Wochen vornehmlich ausgeruht. Und trotz Leftfoots Versicherungen, dass sie sich bald wieder erholen wird, hatte ich bis jetzt keinen triftigen Grund, ihm zu glauben.

Palomas Bereitschaft, meine Ausbildung als Suchende wiederaufzunehmen, ist das erste greifbare Zeichen dafür, dass sie vielleicht wirklich allmählich gesundet. Und selbst wenn kein Zweifel daran besteht, dass es nie wieder so werden wird, wie es einmal war, spricht doch nichts dagegen, dass wir trotz allem Fortschritte machen können.

»Die Decke.« Sie zeigt auf die aufwendig gemusterte, handgewebte Decke, die ordentlich gefaltet ganz unten liegt. »Breite sie vor dir aus und leg alle Gegenstände darauf.«

Also platziere ich die schwarz-weiße, handbemalte Wildlederrassel neben die Trommel, auf der ein Bild eines Raben mit violetten Augen prangt. Dann beginne ich eine neue Reihe nur für Federn. Jede von ihnen trägt einen Anhänger, der ihren jeweiligen Anwendungsbereich benennt – die Schwanenfeder für Verwandlungskräfte, eine Rabenfeder für Zauberkräfte und eine Adlerfeder fürs Versenden von Gebeten. Und direkt darunter lege ich das Pendel mit dem kleinen Stück Amethyst am Ende. Die Truhe ist jetzt leer, bis auf die kurze, prägnante Notiz von Paloma, die mir in ihrer akkuraten Schrift verspricht, mir eines Tages die Magie zu zeigen, die in all diesen Werkzeugen lebt – eines Tages, der, wie ich allmählich fürchtete, nie kommen würde.

Ich nehme die schwarze Feder und schwenke sie vor mir hin und her. Dabei denke ich, dass sie der in meinem Beutel ziemlich ähnlich sieht, sie ist nur größer, viel größer.

»Als dein Geisttier ist Rabe stets bereit, dich zu führen. Hast du ihn schon angerufen, nieta ?«

»Andauernd.« Ich zucke die Achseln, und meine Stimme klingt so düster, wie ich mich fühle. »Doch in letzter Zeit kommt es mir so vor, als würde er eher folgen als führen. Er sitzt nur auf Pferds Nacken, wie ein zufälliger Begleiter, während Dace und ich reichlich ziellos umherziehen.«

»Und Pferd ?« Sie richtet sich auf und mustert mich aus schmalen Augen.

»Genauso. Wenn Dace ihn nicht antreiben würde, würde er die ganze Zeit nur grasen. Es ist eher so, dass sie, je mehr wir sie brauchen, umso träger werden, bis sie kaum noch kooperieren. Und irgendwie wird es jeden Tag schlimmer.«

Paloma wird blass, während ihre Augen erschrocken aufleuchten. Der Effekt hält allerdings nur einen Moment lang an, dann findet sie ihre gewohnte Ruhe und Gelassenheit wieder – entschlossen, die Sorgen zu verbergen, die sie plagen.

Doch jetzt, da ich es gesehen habe, habe ich nicht vor, es auf sich beruhen zu lassen. Wenn Paloma bereit ist, meine Ausbildung wiederaufzunehmen, dann muss sie ehrlich sein und mit der Geheimnistuerei aufhören. Falls das stimmt, was sie sagt, nämlich dass ich als Suchende die letzte verbliebene Hoffnung bin, dann bringt sie nur alle anderen in Gefahr, wenn sie mich vor der Wahrheit schützt.

»Paloma«, sage ich beschwörend. »Du musst ehrlich zu mir sein. Du musst mir die Wahrheit sagen, egal, wie hässlich sie ist. Als du mir erklärt hast, dass eine Suchende lernen muss, im Dunkeln zu sehen und sich auf das zu verlassen, was sie tief in ihrem Herzen weiß – da dachte ich, du hättest das metaphorisch gemeint. Aber in letzter Zeit bekomme ich immer mehr das Gefühl, als würden Dace und ich nur im Dunkeln herumstochern, und da würde es uns sehr weiterhelfen, wenn du ein bisschen Licht in das Ganze bringen könntest. Ehrlich, abuela, ich bin bereit. Du brauchst mich nicht zu beschützen.«

Sie hebt das Kinn und holt tief Atem. Mit ihren zarten Fingern streicht sie die Falten in ihrem Baumwollkleid glatt. »Deiner Schilderung zufolge muss Rabe wohl verdorben, korrumpiert worden sein. Und Pferd auch. Und auch wenn sie vielleicht nicht gegen dich arbeiten, so arbeiten sie doch auch nicht wirklich für dich. Das alles bedeutet, dass wir uns für Wissen und Orientierung auf andere Quellen stützen müssen, bis wir die Richters aus der Unterwelt vertrieben und alles wieder ins gewohnte Gleichgewicht gebracht haben.« Sie seufzt leicht. »Ich hatte so etwas schon befürchtet«, fügt sie hinzu. »Und glaub mir, nieta, die toten Fische sind erst der Anfang. Wenn wir sie nicht bald aufhalten, dauert es nicht lange, ehe die Auswirkungen auch in der Mittel- und der Oberwelt zu verspüren sind. Jede Welt hängt von der anderen ab. Wenn die eine zersetzt wird, stürzen auch die anderen ins Chaos, und das ist genau das, was Cade will. Wenn die Geisttiere nicht mehr in der Lage sind, uns zu führen und zu beschützen, bekommt er freie Hand und kann schalten und walten, wie es ihm gefällt.«

Instinktiv greife ich nach dem weichen Wildlederbeutelchen an meinem Hals. Ich taste nach der Form des kleinen Steinraben und der schwarzen Rabenfeder, die Anfang und Ende meiner Visionssuche markiert hat. Gegenstände, die ich einst als heilig betrachtete, als die Hauptquelle meiner Kraft, doch jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher. Wurden sie genauso verdorben wie mein Leittier, Rabe ?

»Soll ich das dann nicht mehr tragen ?«, frage ich verblüfft von der Panik, die sich in meine Stimme geschlichen hat. Ich habe mich so daran gewöhnt, das Wildlederbeutelchen um den Hals hängen zu haben, dass ich mir gar nicht mehr vorstellen kann, ohne es zu sein.

Paloma zeigt auf die Decke. »Fragen wir doch das Pendel.« Sie kommt zu mir herunter auf den Boden, und so sitzen wir im Schneidersitz nebeneinander. Unsere Knie berühren einander beinahe, während ich das Pendel von meiner Fingerspitze schwingen lasse, bis es von selbst stillhält. »Das Pendel ist ein sehr mächtiges Weissagungsinstrument. Aber lass dich nicht beirren, nieta. Auch wenn man es leicht als Magie bezeichnen könnte, kommen die Antworten, die es liefert, von einem Ort tief in deinem Inneren.«

Ich blinzele und weiß nicht genau, ob ich sie verstanden habe.

»Das Pendel stimmt sich bloß auf dein eigenes höheres Bewusstsein ein und bringt die Antworten zum Vorschein, die du bereits kennst, zu denen du aber möglicherweise keinen unmittelbaren Zugang hast.«

»Willst du damit sagen, dass es durch die Dunkelheit blickt und das findet, was ich in meinem Herzen bereits weiß ?«

»Genau.« Sie erwidert mein Grinsen und schickt ein leises Lachen hinterher, das auf der Stelle das ganze Zimmer heiterer macht. »Oft verheddern wir uns dermaßen in Abwägungen und Entschlusslosigkeit, dass wir keinen Zugang mehr zu der Wahrheit finden, die in uns lebt. Dann kommt das Pendel zum Zug. Es hilft dir, durch den Wirrwarr zum Kern der Sache vorzudringen.«

»Also, wie fangen wir an ?« Ich starre auf den Kristall, begierig darauf, endlich mit der langen Liste von Fragen zu beginnen, die sich in meinem Kopf türmen.

»Zuerst möchte ich, dass du die Augen schließt und dir vorstellst, von Licht umgeben zu sein.«

Ich tue nichts dergleichen und verziehe nur den Mund, da ich die Stichhaltigkeit des Ganzen anzweifele.

»Wann immer du eine Weissagung vornimmst, selbst wenn du lediglich die Antworten tief in deinem Inneren ergründest, musst du dich schützen.«

»Wovor genau muss ich mich schützen ?« Ich runzele die Stirn, da ich nicht weiß, worauf sie hinauswill.

»Vor dunklen Wesen. Niedrigeren Geistformen.« Sie fixiert mich mit ihrem Blick. »Du siehst sie vielleicht nicht, aber sie lauern immer in der Nähe, sie sind allgegenwärtig. Sie finden sich in jeder Dimension der Mittelwelt und leben von der Energie anderer. Deshalb musst du immer gut aufpassen, dich vor ihnen zu wappnen, und ihnen keine Gelegenheit geben, sich an dich zu hängen. Sie können großen Schaden verursachen und nutzen jede Bresche, die du ihnen bietest. Also bieten wir ihnen lieber keine, okay ?«

Mehr brauche ich nicht, um die Augen fest zu schließen und mir mich selbst umgeben von einer strahlend weißen Lichtwolke vorzustellen.

»Gut.« Ihre Stimme klingt weich, erfreut. »Jetzt müssen wir entscheiden, welche Richtung ein Nein als Antwort bedeutet und welche ein Ja. Wir fangen am besten damit an, dass wir ein paar einfache Fragen stellen, auf die wir die Antwort bereits kennen, und warten ab, wie es reagiert.«

Ich senke den Blick, mustere eindringlich den kleinen Amethysten, der in die Spitze des Pendels eingelassen ist, und versuche, einen ernsthaften Tonfall zu wahren. »Ist mein Name Daire Lyons-Santos ?« Verblüfft sehe ich zu, wie das Pendel von selbst zu schwingen beginnt. Zuerst bewegt es sich langsam vor und zurück, doch es dauert nicht lange, bis es einen Kreis im Uhrzeigersinn zu beschreiben beginnt, obwohl sich meine Finger nicht geregt haben.

»Ich glaube, wir können davon ausgehen, dass im Uhrzeigersinn Ja heißt.« Ich schaue zu Paloma, die bestätigend nickt.

»Das Pendel müsste von selbst langsamer werden, dann darfst du es zum kompletten Stillstand bringen, ehe du ihm eine Frage stellst, von der du weißt, dass die Antwort darauf nein lauten wird.«

Ich konzentriere mich auf das Pendel. Sogleich bin ich derart überwältigt von Freude darüber, dass ich wieder mit Paloma üben und mich der Magie nähern darf, die zum Greifen nahe ist, dass ich beschließe, dem Pendel eine Frage zu stellen, die nicht nur zu einem deutlichen Nein führen wird, sondern mich schon zum Lachen bringt, als ich sie ausspreche. »Pendel, sage mir: Bin ich in Cade Richter verliebt ?«

Ich presse die Lippen aufeinander, um mir ein Grinsen zu verkneifen, doch es ist zwecklos. Es ist einfach zu lächerlich. Außerdem hat mich Paloma aufgefordert, eine Frage zu stellen, die zu einem unmissverständlichen Nein führen wird, und die Frage, ob ich in Cade verliebt bin, entspricht dem genau.

Ich starre das Pendel an, und meine Erheiterung verwandelt sich rasch in Verwirrung, als es erneut beginnt, im Uhrzeigersinn zu schwingen. Zuerst in trägen Schleifen, doch dann immer schneller, bis der Amethyst in schwindelerregendem Tempo herumsaust.

Um ihn ein für alle Mal zum Stehen zu bringen, grapsche ich unsanft nach ihm. Ich drücke ihn so fest, dass seine scharf geschliffene Spitze sich in meine Fingerkuppe bohrt und ein dünnes Blutrinnsal herauslaufen lässt. »Es funktioniert eben doch nicht«, sage ich, wobei meine Stimme verrät, dass ich meinen Worten selbst nicht traue. »Entweder das, oder es hat keinen Humor oder es will mir eine Lektion erteilen …«

Mein Redefluss wird von Paloma unterbrochen. »Das Pendel hat nur einen Zweck – die Wahrheit zu offenbaren, die in dir wohnt. Das ist alles, nieta.«

Ich ziehe eine finstere Miene und finde das nicht witzig.

»Du darfst nie vergessen, dass Dace und Cade eine gespaltene Seele sind, also zwei Hälften eines Ganzen.« Ihre Stimme ist so sanft wie die Hand, die sie mir aufs Knie gelegt hat.

»Ja, aber zwei ganz verschiedene Hälften«, fauche ich, die Worte so scharf und bitter, wie mir momentan zumute ist. »Dace ist gut – Cade ist böse. Dace …« Ich halte inne, noch nicht bereit, das L-Wort jetzt schon auszusprechen, obwohl mir ja Paloma selbst gesagt hat, dass wir füreinander bestimmt seien. Ich setze neu an. »Dace habe ich unheimlich gern – Cade hasse ich.«

Ich lasse das Pendel aufs Bett fallen und wische mir den Finger am Hosenbein ab, wo er eine dünne rote Spur hinterlässt. Dann greife ich zu den aufgereihten Federn, wähle die des Adlers, mit der man Gebete senden kann, begierig darauf, das Training fortzusetzen.

»Also, wie funktioniert das ?« Ich schwenke die Feder vor mir. Will das Debakel mit dem Pendel hinter mir lassen und blicke verdrossen drein, als Paloma mir die Feder abnimmt und mir erneut das Pendel in die Hand drückt.

»Du musst es noch einmal versuchen, nieta. Stell diesmal eine andere Frage – eine, die definitiv zu einem Nein führt.«

»Das hab ich doch schon ! Was soll das bringen ?«, schimpfe ich und bereue augenblicklich meinen barschen Ton. Aber mal im Ernst – worauf will sie eigentlich hinaus ? »Glaub mir, in Cade verliebt zu sein ist die lächerlichste Vorstellung überhaupt. Es ist widerlich. Grotesk. Völlig unvorstellbar. Der Stoff für Albträume. Meine persönliche Version der Hölle. Es ist die Definition von einem Nein !«

Grollend schüttele ich den Kopf und knurre leise eine Reihe ärgerlicher Worte vor mich hin, während Paloma geduldig darauf wartet, dass ich mich wieder der Aufgabe widme. Doch das kommt nicht infrage. Ich bin zu verletzt. Zu gekränkt von ihrer Reaktion – dass sie lieber einem dämlichen Pendel glaubt als dem, was ich ganz genau weiß.

Eine Weile bleiben wir so sitzen – Paloma schweigend und ich ein wutschnaubendes Häufchen Elend. Und dann kommt mir der Gedanke, dass sie etwas zurückhält.

»Was verschweigst du mir ?« Ich beäuge sie misstrauisch. »Was ist hier los – worum geht es hier wirklich ?«

Ich stehe auf, wobei meine Knie dermaßen zittern, dass ich ums Gleichgewicht ringen muss. »Sag’s mir !«, zische ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Sag’s einfach, was immer es ist. Denn ich schwöre dir, was ich denke, ist wesentlich schlimmer, als die Wahrheit es je sein könnte.«

Sie greift nach meiner Hand, nimmt sie fest in ihre und zieht mich wieder zu sich herunter. »Nein, nieta«, sagt sie mit so beklommener Stimme, dass ich mich gleich noch schlechter fühle. »Wenn ich eines gelernt habe, dann, dass hier in Enchantment die Wahrheit oft viel schlimmer ist als alles, was man sich in Gedanken ausmalen könnte.«

Vier

Ich versuche es noch einmal.

Und noch einmal.

Und danach noch ein paarmal. Doch das Ergebnis bleibt stets dasselbe.

Jedes Mal, wenn ich dem Pendel eine Frage stelle, die ein unmissverständliches Nein ergeben müsste, reagiert es, wie es soll, indem es gegen den Uhrzeigersinn schwingt. Aber jedes Mal, wenn ich die Frage wiederhole, ob ich in Cade verliebt bin, schwingt es in die andere Richtung.

Das Ritual frustriert mich dermaßen, dass ich nicht mehr an mich halten kann. »Paloma, was soll das ?«, schimpfe ich, da ich nicht begreife, was es bedeuten könnte, warum das Pendel darauf besteht, mich zu quälen.

Und dann fällt mir etwas ein, was die Knochenhüterin gesagt hat.

Etwas in dem Sinne, dass Dace das Echo sei.

Was Cades spöttische Bemerkung widerspiegelt, die er mir bei unserer letzten Begegnung an den Kopf geworfen hat.

Du arbeitest seit dem Tag für mich, als du zum ersten Mal diese Träume von meinem Bruder hattest … du weißt schon, das Echo ?

Ein Echo ist eine Wiederholung.

Ein Spiegelbild.

Eine Figur aus der griechischen Mythologie, die sich nach Narziss verzehrte, bis nur noch ihre Stimme von ihr übrig war.

Was sollte das mit Dace zu tun haben ?

Ich sehe Paloma forschend an, da ich dringend Antworten brauche.

»Sie sind miteinander verbunden, nieta. Das ist alles, was ich weiß. Wie tief diese Verbindung reicht, musst du selbst herausfinden. Aber sie ist eindeutig tief genug, dass das Pendel die beiden verwechselt.«

»Das ist unmöglich !«, rufe ich. »Sie sind sich überhaupt nicht ähnlich !«

Doch Paloma nickt nur und legt ihre Hand über meine. »Meine Patientin wird bald hier sein. Machen wir mit den Federn weiter, solange noch Zeit ist.«

Als Palomas Patientin eintrifft, mache ich mich auf den Weg nach draußen. Doch als ich an einem Fenster vorbeikomme und einen Blick auf einen dunkel dräuenden Himmel er­hasche, kehre ich rasch um und gehe in mein Zimmer, wo ich vor meinem Schrank stehen bleibe und überlege, was ich tun soll.

Sosehr ich die alte Armeejacke liebe, die ich ständig trage – und die ich von der Kostümbildnerin bei einem Blockbuster-Film bekommen habe, an dem Jennika vor zwei Jahren mitgearbeitet hat –, sie ist nicht geeignet für einen Winter in New Mexico. Ich brauche etwas Schwereres, Dickeres, etwas, das mich zuverlässig vor der harten Winterkälte schützt.

Ich betrachte meine mageren Besitztümer, bestehend aus Jeans, Tops, lässigen Stiefeln und nicht viel mehr. Das Wärmste, was ich besitze, ist der schwarze V-Pulli, den ich mir im Duty-Free-Shop am Charles-de-Gaulle-Flughafen auf dem Weg nach Marokko gekauft habe, damit ich im Flugzeug etwas Warmes anzuziehen habe.

Immerhin hat mich das Leben aus dem Koffer gelehrt, meine Habseligkeiten auf ein Minimum zu beschränken. Bücher, Klamotten, Schuhe, Schmuck – alles, was ich nicht mehr brauche, gebe ich entweder weiter oder lasse es liegen. Und da mein letzter Wohnort L. A. war, bin ich in puncto Winter etwas mager ausgerüstet.

Ich trommele mit den Fingern auf meine Hüften, verziehe den Mund und blicke herum, als würde ich damit rechnen, dass aus dem Nichts etwas Neues auftaucht. Dann überlege ich, ob ich vielleicht etwas von Paloma borgen kann, bis ich in einen vernünftigen Kleiderladen komme, obwohl ich bezweifele, dass sie etwas Brauchbares besitzt. Ganz egal, wie tief die Temperaturen auch sinken, ich habe sie noch nie etwas Dickeres tragen sehen als ein Baumwollkleid und eine Strickjacke.

Ich richte den Blick nach oben und mustere den noch unerforschten braunen Pappkarton im obersten Schrankfach. Obwohl ich jetzt schon mehrere Monate in diesem Zimmer wohne, fällt es mir immer noch schwer, es als meines zu betrachten. Irgendwie bin ich es einfach nicht gewohnt, mir Räume anzueignen. Seit ich ein Kind war, waren alle meine Wohnsitze bestenfalls vorläufig. Und obwohl mir Paloma freie Hand dabei lässt, alles Erforderliche zu tun, um das Zimmer zu meinem eigenen zu machen, sind die einzigen Zeichen für meine Existenz ein paar Kleidungsstücke im Schrank, ein kleiner Stoß Socken und Unterwäsche in der großen Kommode und der Laptop, den ich auf den alten, hölzernen Schreibtisch gestellt habe – was allesamt locker in eine Reisetasche passt, wenn es Zeit ist weiterzuziehen.

Dieses Zimmer ist immer noch sehr stark Djangos Zimmer, und so gefällt es mir auch. Dadurch fühle ich mich meinem Vater auf eine Weise nahe, wie ich es bisher noch nie erlebt habe.

Auf der Frisierkommode steht in einem hübschen Silber­rahmen ein Bild von ihm, das gemacht wurde, als er sechzehn war, genauso alt wie ich jetzt. Und seine Initialen sind direkt neben meinem Computer in die Tischplatte geritzt – das schroffe D. S. halb so groß wie meine Hand. Selbst der Traumfänger über dem Fensterbrett gehört ihm, also habe ich wohl wie selbstverständlich angenommen, dass der Inhalt der Schachtel oben im Schrank auch ihm gehört. Und bis jetzt hatte ich nicht das Gefühl, ich hätte das Recht herumzuschnüffeln.

Obwohl ich mit meinen eins achtundsechzig nicht gerade klein bin, ist das Regalbrett das entscheidende Stückchen zu hoch für mich, um nach der Schachtel zu greifen, ohne zu riskieren, dass sie mir auf den Kopf knallt. Ich überlege, die handbemalte Kiste, in der sich die Instrumente für meine Arbeit als Suchende befinden, zum Schrank herüberzu­zerren, damit ich daraufsteigen und die Schachtel herunter­holen kann, doch dann fällt mir etwas Besseres ein.

Ich beschließe, ein wenig von der Magie einzusetzen, die ich geübt habe, die Telekinese, an deren Beherrschung ich noch feilen wollte, und konzentriere mich fest auf die Schachtel. Dabei beachte ich Palomas Ratschlag, vom Ende her zu denken, denn sie behauptet, das sei die zweitwichtigste Zutat der Magie und komme gleich nach der Entschlusskraft.

»Das Universum arbeitet die Einzelheiten aus«, hatte sie gesagt. »Das Wichtigste, was du tun kannst, ist, deine Entschlossenheit zu erklären und dir dann das Ergebnis vorzustellen, als sei es bereits eingetroffen.«

Und statt mir nun vorzustellen, wie sich die Schachtel von dem Regalbrett hebt und sachte zu Boden schwebt, wie ich es früher getan habe, male ich mir aus, wie sie bereits wohlbehalten vor meinen Füßen steht. Prompt muss ich mit ansehen, wie sie sich vom Regalbrett löst und ungebremst auf den Boden kracht. Da muss ich wohl noch ein paar telekinetische Mängel ausbügeln.

Ich spähe zur Tür, in der Hoffnung, dass Paloma den Lärm überhört hat und nicht auf die Idee kommt nachzuforschen. Dann hocke ich mich neben die alte Kiste und öffne sie. Auf der Stelle weht mich ein Muff von Staub und Moder an, gefolgt von einem erdigen Geruch nach Gewürzen, Mesquite und ein paar anderen namenlosen Düften, die ich mittlerweile mit dem Ort hier assoziiere.

Ich krame durch den Inhalt. Schiebe einen selbst gestrickten Pulli beiseite, der mir auf den ersten Blick missfällt, ein altes Karohemd, das fast zu Tode getragen wurde, einen Stapel vergilbte T-Shirts, die einmal weiß waren, bis ich auf eine schwarze Daunenjacke stoße, die vielleicht ein bisschen groß sein könnte, aber für meine Zwecke definitiv ausreicht.

Schon will ich den Karton schließen und wieder nach oben stellen, als mir ganz unten ein Stapel Blätter auffällt, den ich mir noch ansehen will. Ich finde ein altes Schulzeugnis von Django mit Einsern in Spanisch und Sport, einem guten Zweier in Englisch und Dreiern in Geschichte und Naturwissenschaften. Ich lehne mich zurück und streiche über das verknitterte Blatt. Dann schließe ich die Augen und stelle mir vor, wie er damals war – ein gut aussehender Junge mit einer Nase wie der meinen – ein durchschnittlicher Schüler, der eine nicht ganz so durchschnittliche Zukunft vor sich hatte, der er sich nicht zu stellen wagte.

Ich lege das Zeugnis beiseite und stöbere weiter. Ich fühle mich seltsam schuldig, weil ich herumspioniere, bin aber ebenso begierig nach allem, was ich in die Finger kriege. Ich lese alles. Weitere Schulzeugnisse, Stundenpläne, ein zusammengefalteter Zettel von einem Mädchen namens Maria, die offenbar auf ihn stand, falls man aus den um den Rand herum gemalten Herzchen Schlüsse ziehen darf. Schließlich komme ich zu dem Brief, den er Paloma an dem Tag hinterlassen hat, als er davongelaufen ist, ohne zu ahnen, dass seine Reise tragisch und kurz sein würde. Dass er sich kurz nach seiner Ankunft in Kalifornien in meine Mutter verlieben und sie schwängern würde, nur um noch bevor sie ihm das sagen konnte, auf einer hektischen Stadtautobahn in L. A. bei einem Unfall geköpft zu werden.

Ich hole tief Luft, und meine Hände zittern, während meine Augen über die Zeilen wandern:

Mama,

wenn du das hier liest, bin ich schon lange weg, und auch wenn du versucht sein wirst, mir zu folgen, bitte ich dich, mich ziehen zu lassen.

Ich bedauere die Enttäuschung und den Kummer, die ich dir bereitet habe. Ich wollte dir nicht wehtun. Ich kann mich glücklich schätzen, eine so nette, liebevolle und unterstützende Mutter zu haben, und ich hoffe, du begreifst, dass mein Verschwinden nichts mit dir als Person zu tun hat.

Die Stadt erstickt mich einfach. Ich halte das nicht mehr aus. Ich muss weit weg von hier – irgendwohin, wo mich niemand kennt.

Wo mich die Visionen nicht finden.

Du sprichst von Bestimmung und Schicksal – aber ich glaube an den freien Willen.

Die Bestimmung, die ich wähle, erfüllt sich an einem weit von hier entfernt gelegenen Ort.

Ich melde mich, wenn ich Fuß gefasst habe.

Alles Liebe,

dein Django

Ich lese den Brief noch einmal.

Und dann noch einmal.

Und nachdem ich ihn so oft gelesen habe, dass ich nicht mehr mitzählen kann, falte ich ihn ordentlich zusammen, lege ihn zurück in die Schachtel und stelle sie wieder an ihren Platz oben im Schrank.

Dann schlüpfe ich in die alte Daunenjacke meines Vaters und durchsuche die Taschen. Sorgfältig taste ich jeden Saum ab und halte inne, als ich etwas Kleines, Glattes entdecke, das jedoch ein erstaunliches Gewicht hat.

Ich öffne die Faust, und zum Vorschein kommt die kleine Steinskulptur eines Bären, die im selben Stil gehalten ist wie der Rabe in meinem Beutelchen. Der Rabe, der unerklärlicherweise nach meinem ersten Besuch in der Unterwelt modelliert wurde, als ich unterstützt von Palomas Tee auf eine Seelenreise ging. Und jetzt frage ich mich zwangsläufig, ob Bär auf die gleiche Weise zu Django kam.

Ich war immer davon ausgegangen, dass Django, geplagt von den entsetzlichen Visionen, die den Beginn der Berufung jedes Soul Seekers markieren, abgehauen ist, ehe Paloma das Ritual mit ihm vollziehen konnte – doch da bin ich mir jetzt nicht mehr so sicher.

Trotzdem freut es mich, dass ich ein Souvenir von meinem Dad habe, wie klein es auch sein mag. Und so reihe ich es in meine Sammlung von Talismanen ein und denke an das, was Paloma gesagt hat, nachdem das Pendel bestätigt hatte, dass ich das Beutelchen weiterhin um den Hals tragen solle: Du sollst die Geisttiere nicht verlassen, wenn nicht sie dich aus freien Stücken verlassen haben.

Ich gehe hinaus in den Garten und spaziere an den verschiedenen Beeten vorüber. Eines für die Kräuter, die Paloma für ihre Arbeit als Heilerin braucht, eines für das biologische Obst und Gemüse, mit dem sie all unsere Mahlzeiten zubereitet. Ich halte inne und mustere das Stück Land, das für ihre Hybridexperimente reserviert ist – wo seltsame, missgestaltete Pflanzen aus der Erde sprießen und ununterbrochen blühen, ganz unabhängig von der Jahreszeit –, bevor ich schließlich am Brunnen und der kleinen Steinbank vorübergehe und zu guter Letzt an Kachinas Stall haltmache.

Als ich meinen Adoptivkater schlafend in der Ecke liegen sehe, schleiche ich mich extra leise näher heran. Doch sowie er meine Anwesenheit spürt, schnellt sein Kopf in die Höhe, er spitzt die Ohren, dann springt er auf die Füße und schießt davon – hüpft über den nächstgelegenen Zaun und verschwindet im Garten der Nachbarn.

»Offenbar hasst Kater mich noch immer.« Ich liebkose Kachinas Nüstern, fahre ihr mit der Hand über die akkurat gestreifte braun-weiße Mähne, während sie zur Begrüßung leise wiehert. »Meinst du, du könntest ein gutes Wort für mich einlegen ? Ihn daran erinnern, dass ich diejenige bin, die ihn füttert – dass ich es bin, die ihn gerettet hat ?«

Kachina reibt ihre Nase an meiner Seite und drängt mich in Richtung Stalltür – ein sicheres Zeichen dafür, dass sie will, dass ich sie losbinde und mit ihr ausreite. Und auch wenn mir die Idee ebenso gut gefällt wie ihr, fallen mir zwangsläufig all die anderen Dinge ein, die ich stattdessen tun müsste.

Wie zum Beispiel zur Schule zurückkehren, damit meine Verspätung nicht in ein Schwänzen ausartet.

Oder, weit wichtiger noch, in die Unterwelt zurückkehren, damit ich einen Vorsprung auf der Jagd nach den Richters bekomme.

Doch bevor ich mich für das eine oder das andere entscheiden kann, trifft eine SMS von Dace ein:

Hab dich in der Pause vermisst – alles okay ?

Ich zögere. Hin- und hergerissen zwischen dem Verlangen, ihn zu sehen, und dem Wissen, dass er, wenn ich ihm auch nur den leisesten Hinweis darauf liefere, dass ich die Jagd fortzusetzen gedenke, nicht nur die Schule, sondern auch noch die Arbeit schwänzen wird, um mir zu helfen. Und das kann ich nicht zulassen. Wenn er sich die Aussicht darauf bewahren will, aufs College zu gehen, dann muss er sowohl einen guten Abschluss schaffen als auch ein regelmäßiges Einkommen haben.

Und so tippe ich meine Antwort ein:

Keine Sorge. Alles bestens. Ich bin bei Paloma. Kommst du heute Abend nach der Arbeit vorbei ?

Ich kaue auf meiner Unterlippe herum und warte auf seine Antwort. Ich habe wegen der Lüge ein schlechtes Gewissen – einer Notlüge, aber trotzdem einer Lüge –, während ich mir selbst einrede, dass es nicht anders ging.

Sowie er antwortet und mir versichert, dass er später kommt, zäume ich Kachina auf, steige auf ihren Rücken und lenke sie aus dem Stall. Dann dirigiere ich sie auf den zerfurchten Feldweg und habe nur noch ein Ziel vor Augen.

Fünf

Paloma hat mir einmal erzählt, dass es in Enchantment viele Pforten gebe. Sie meinte, es existiere eine Reihe von Portalen, die Zugang zu den Anderwelten gewähren, und dass ich eines Tages lernen würde, sie alle zu unterscheiden.