Das Elixier des Lebens - Stephan Seidel - E-Book

Das Elixier des Lebens E-Book

Stephan Seidel

0,0

Beschreibung

"Oh, Anna", lächelte Valentina glücklich, "ich bin froh, dass du es begriffen hast. Träume sind kein Spiel! Und wer sie verändert, der muss wissen, dass es Regeln gibt. Und die Hauptregel ist: Alles hat seine Wirkung! Ihr könnt hier nicht tun und lassen, was ihr wollt, ohne eine Konsequenz heraufzubeschwören. Solange ihr nur träumt, ist alles in Ordnung. In dem Moment aber, wo du den Traum bewusst veränderst, greifst du in den normalen Ablauf des Traumes ein und das bringt eine hohe Verantwortung mit sich." Die Fortsetzung von "Das Pendel der Träume" macht da weiter, wo der erste Band endete: Jan und Anna sind auf der Suche nach dem Elixier des Lebens und begegnen neuen Herausforderungen und Gefahren.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 244

Veröffentlichungsjahr: 2017

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Widmung

Für meine Mutter

Inhalt

Kapitel: Ende und Anfang

Traum eines lächerlichen Menschen

Erster Traum von Anna

Erster Traum von Jan

Kapitel: Berg und Tal

Kapitel: Ein neues altes Geheimnis

Zweiter Traum von Jan

Zweiter Traum von Anna

Kapitel: Mit der Wahrheit lügen

Dritter Traum von Jan

Dritter Traum von Anna

Kapitel: Offenbare Geheimnisse

Vierter Traum von Jan

Vierter Traum von Anna

Kapitel: Denk-Mal

Fünfter Traum von Anna

Fünfter Traum von Jan

Kapitel: Rein ‒ wenn du kannst!

Kapitel: Raus ‒ wenn du kannst!

Kapitel: Jedes Ende ist ein neuer Anfang

Sechster Traum von Anna

Sechster Traum von Jan

Kapitel: Eile mit Weile

1. Kapitel: Ende und Anfang

„Unsere Leser würden gerne wissen: Sind Sie ein Mörder, Baron von Frankenfeld?“ Die Frage tauchte ebenso unvermittelt auf wie die Frau, aus deren Mund sie kam. „Mein Name ist Hillu van Bergen, Redakteurin und erste Frau vor Ort, wo in einer beschaulich-ruhigen Gegend ein so unsagbar überraschender, fünffacher Mord geschah. Was unsere Leser nun natürlich brennend interessiert: War es wirklich Mord?“

Mr. Jennings, der gerade noch von seiner früh verstorbenen Schwester erzählt hatte, stand völlig emotionslos auf, stellte sich vor die Kaffeetafel auf der Terrasse und sagte: „Verlassen Sie unverzüglich dieses Gelände! Sie haben hier nichts verloren!“

Der Rest der Anwesenden, also der Baron und seine Frau, Anna und ihr Bruder Michael und natürlich Jan mit seiner Mutter, starrte verdutzt auf die sich bietende Szene. Keiner brachte ein Wort hervor. „Und Sie da: Hören Sie auf zu fotografieren, das ist ebenfalls verboten!“ Der Fotograf ließ die Kamera sinken und schaute die Redakteurin fragend an; sie verzog spöttisch das Gesicht: „Wir sind Gäste dieses Hotels! Hier sind unsere Zimmerschlüssel. Oder wollen Sie uns etwa Hausverbot erteilen? Sehr interessant! Haben Sie etwas zu verbergen? Dann wäre das die Gelegenheit, Licht ins Dunkel zu bringen und sich von sämtlichen Vorwürfen reinzuwaschen.“

„Welche Vorwürfe?“ Frau Baronin von Frankenfeld blickte ihren Mann entgeistert an. „Die Polizei sagte do‒.“ Der Baron lächelte und unterbrach: „Netter Schachzug, Frau van Bergen. Aber ich weiß nur zu gut: Wer unschuldig ist, braucht sich nicht zu rechtfertigen. Und in unserem Land gilt immer noch die Unschuldsvermutung. Im Übrigen ist das Ermittlungsverfahren der Polizei noch laufend, wie Sie selbst sicherlich wissen werden. Und damit wissen Sie ebenfalls, dass ich mich gar nicht dazu äußern darf. Ich habe also nichts gegen die Presse und ihre Vertreter, doch möchte ich höflichst zu bedenken geben, dass Sie hier nur Ihre Zeit vergeuden. Selbstverständlich steht es Ihnen frei, als Gast die Annehmlichkeiten unseres Hotels zu genießen, wozu jedoch dieser Ort momentan nicht zählt, denn wir befinden uns in einer Familienfeier. Einer privaten Familienfeier“, betonte er mit Nachdruck.

Jan und Anna sahen sich kurz an: Familienfeier. Hier lag für sie die Betonung. Denn offiziell zählten Jan und seine Mutter gar nicht zur Familie. Sie waren Freunde, aber dennoch: Durch die Erlebnisse, in die alle verwickelt gewesen waren, hatte der Baron nicht übertrieben, wenn er es so formulierte. Und Jan und Anna hatten ja ohnehin bei ihrer ersten Begegnung das Gefühl gehabt, sich schon aus einem vorigen Leben zu kennen, wie man landläufig sagt.

Die Redakteurin schaute ihn mit einer säuerlichen Miene an und reichte ihm ihre Visitenkarte. „Sie werden noch betteln, mir ein Interview geben zu dürfen. Denn die anderen Blätter werden nicht um Ihre Meinung anfragen, sondern haben schon längst ihr Urteil gefällt: Fünf Tote in einem Hotel ‒, das ist kein normaler Fall. Das gibt ein negatives Image“, sie holte tief Luft, „Der Todesfluch schlägt wieder zu ‒, sind fünf Tote erst der Anfang?“ Sie zog ein Notizbuch hervor. „Es sind merkwürdige Gerüchte über dieses Schloss im Umlauf. Ihr Urgroßvater mochte wohl keine Kinder? Knochenfunde bei Ausgrabungen? Nun ein ägyptischer Schatz in einer Geheimkammer entdeckt. Gibt es noch mehr Geheimnisse? Noch mehr Kammern? Schätze? Auf jeden Fall gibt es fünf Tote ‒ fünf! Ein bisschen viel für diese kleine Stadt oder etwa nicht?“

Stumm wies der Baron mit seiner Hand aufs Haus. Mr. Jennings trat mit finsterem Gesicht und verschränkten Armen einen Schritt nach vorne. „Schon gut, schon gut“, sagte die Redakteurin. „Ich wollte Ihnen entgegenkommen, Ihnen Gelegenheit geben, Schlimmeres zu verhindern. Aber wenn Sie glauben, Sie können es sich leisten oder es selbst besser machen ‒ nur zu. Ich weise Sie darauf hin, dass Sie als Unternehmensberater zwar in Image-Fragen kompetent sein mögen, sich dies aber auf Firmen und deren Marktpositionierung bezieht. Von journalistischen Dingen und den Gesetzen der Presse haben Sie ‒ Verzeihung ‒ nicht den Hauch einer Ahnung. Wir hätten beide zusammenarbeiten und von einer guten Story profitieren können. Doch wenn Sie nicht wollen, kann ich Sie nicht zwingen und räume freiwillig das Feld. Guten Tag allerseits!“

Sie drehte sich auf dem Absatz um und stolzierte hoch erhobenen Hauptes hinaus. Der Fotograf folgte, Mr. Jennings ebenso. Der Baron setzte sich. Seine Frau griff nach seiner Hand: „Stimmt das, was sie sagte? Es klang so überzeugend. Kann die Sache zu einem Problem werden?“

„Sie ist bereits ein Problem. Denn selbstverständlich hat sie Recht: Fünf Tote geschehen nicht eben im Vorbeigehen. Und für das Hotel ist es tatsächlich schlechte Werbung. Die Polizei hat die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen, wobei sie meinten, ich solle mir keine Sorgen machen. Die Toten sind ja aktenkundig und einschlägig bekannt. Der Fall ist klar: Hausfriedensbruch, Einbruch, Überfall, Geiselnahme, Gewaltandrohung, zwei Unglücksfälle mit Todesfolge, Pofis hielt die Waffe in der Hand, ich erschoss ihn in Notwehr. Und Mr. Jennings handelte ebenfalls in Notwehr, wenngleich das allerdings vor Gericht verhandelt werden muss, denn er schoss dem einen Leibwächter in den Rücken und der andere hat durchaus auf ihn schießen wollen, doch hier war Jennings schneller. Also ein findiger Anwalt könnte ihm da Ärger machen wollen, doch seien wir realistisch: Wer sollte ihn ernsthaft anklagen? Es läuft eben alles darauf hinaus, dass wieder einmal Gerüchte die Runde machen. Je weniger wir dazu beitragen, umso weniger Nahrung geben wir ihnen. Einfach stillhalten und ruhig bleiben, dann vergeht das Interesse wieder.

Das ist der Vorteil unserer schnelllebigen Zeit: Die Dinge werden hochgeputscht und genauso schnell wieder vergessen. Wir dürfen das alles nur nicht anheizen, indem wir das Spiel mitmachen.“ Er schaute zu den Kindern und zu Jans Mutter: „Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich der Presse gegenüber nicht äußern. Natürlich werden sie versuchen, über sogenannte «interne Kreise» an Informationen zu gelangen. Ich nehme an, sie werden sogar nicht davor zurückschrecken, den Kindern nach der Schule aufzulauern und sie mit Fragen zu bedrängen. Deshalb meine Bitte: Weitergehen, nichts sagen, sich nicht provozieren lassen! Denn ihr habt ja auch gesehen: Im Zweifelsfall erfinden sie ihre Schlagzeilen, schön mit einem Fragezeichen versehen, damit es keine unwahre Behauptung und damit Verleumdung ist, sondern lediglich eine journalistische Nachfrage. Wir müssen jetzt zusammenhalten!“

„Einer für alle ‒, alle für einen“, rief Michael begeistert und schlug mit der Faust auf den Tisch.

„Klare Sache“, stimmte Anna ihrem Bruder zu und Jan nickte.

Der Baron schien beruhigt und zufrieden, nachdem ihm auch Jans Mutter Diskretion zugesichert hatte. „Dann entschuldigt ihr mich jetzt bitte, ich habe noch einige Telefonate zu erledigen.“ Während er sich erhob und ins Haus ging, stand auch seine Frau auf: „Ich denke, die gute Stimmung ist hin; dann räume ich ab.“

„Und ich helfe Ihnen dabei“, sagte Jans Mutter. „Und was macht ihr?“

„Ich gehe hoch auf mein Zimmer“, erklärte Michael, „aber nicht ohne Wegzehrung!“ Er lud sich noch ein Stück Kuchen auf seinen Teller und trottete davon.

„Und ihr?“

Jan und Anna blickten unschlüssig umher, dann entschieden sie: „Gehen wir halt auch nach oben aufs Zimmer.“

„Aber nicht ins Arbeitszimmer!“, warnte die Baronin. „Das ist immer noch polizeilich versiegelter Tatort und dabei soll es auch bleiben. Ich will nicht, dass es zu irgendwelchen Beanstandungen kommt. Ich will, dass alles so schnell als möglich wieder seinen gewohnten Gang nimmt.“

„Das kann ich gut verstehen! Kommen Sie, bringen wir die Sachen in die Küche.“ Jans Mutter begleitete sie und zurück blieben Jan und Anna, die sich nur kurz ansahen und dann zu den beiden Schaukeln an dem großen Eichenbaum liefen.

„Aber wir müssen noch einmal ins Arbeitszimmer“, beharrte Anna. „Vielleicht hat man ja einen wichtigen Hinweis übersehen?“

„Wichtiger Hinweis? Worauf?“ Jan schaukelte nur mäßig hoch. „Die Polizei hat jeden Winkel durchsucht. Sie haben nichts weiter gefunden. Es gibt dort keine Geheimnisse mehr. Außerdem haben wir noch genug Rätsel, deren Lösung wir nicht kennen, da müssen wir nicht noch zusätzliche suchen.“

„Du meinst das Elixier des ewigen Lebens?“

„Zum Beispiel. Also entweder war Pofis ein Spinner oder dieses Elixier gab es echt. Immerhin gab es diese Schale und ein Rest Pulver war auch drauf, ich habe es genau gesehen. Nur stellt sich mir die Frage, wieso Pofis starb, wenn er von dem Pulver gegessen hatte?“

„Hm“, gab Anna nachdenklich von sich. „Da fallen mir zwei gute Antworten ein: Einerseits hätte er sterben müssen durch den Schuss meines Vaters, aber er blieb am Leben. Gestorben ist er ja erst ‒ auf der anderen Seite.“ Sie sah Jan an, denn sie wusste, dass damit ein Problem verbunden war, über das sie bislang noch nicht gesprochen hatten. Aber Jan ließ sich nichts anmerken: „Du meinst also, dass sein Leben durchaus verlängert wurde, und er auch unsterblich gewesen wäre, wenn er mehr Pulver genommen hätte? So reichte es also nur aus, damit er nicht sofort an den Verletzungen starb?“

Anna dachte, als sie diese Worte hörte, intensiv nach: Wie hatte Jan es formuliert? An den Verletzungen starb? Glaubte er das wirklich? Die Wahrheit war doch, dass er Pofis im Traum getötet hatte! Im Traum ‒, und doch war es kein bloßer Traum gewesen, war es mehr als ein Traum. Und in einem gigantischen Kampf auf Leben und Tod hatte Pofis gegen Jan und Valentina, ihren Schutzengel, verloren. Getötet wurde er durch Jans Hände ‒ erwürgt. Die Ärzte im Krankenhaus hatten Herzstillstand diagnostiziert. Ihr Vater hatte extra nachgefragt: Pofis, so teilten die Ärzte mit, wäre schon vorher in schlechter Verfassung aufgrund seines Lebenswandels gewesen. Der Schuss ihres Vaters war nicht tödlich, wenngleich lebensbedrohlich gewesen. Gestorben sei er aber an seiner schwachen Konstitution. War somit auch Jan frei von jeglicher Schuld? Oder hatte er den Grundstein für den Tod Pofis’ gelegt, als er ihn im Traum tötete? Welche Wirkungskreise beinhaltete das Handeln im Traum überhaupt? Dies war ihr trotz oder gerade wegen der ungewöhnlichen Traumerlebnisse, die sie beide gehabt hatten, noch immer nicht klar.

Und als sie Jan nun so anblickte und reden hörte, da hätte sie am liebsten mit ihm darüber gesprochen, doch etwas hielt sie zurück. War es die Sorge um ihn? Oder die Angst vor der Wahrheit? Wie würde sie damit umgehen, wenn sie wüsste, dass Jan der wahre Mörder war, es aber auch nur getan hatte, um ihr Leben zu retten? War somit in letzter Konsequenz nicht sie selbst die Mörderin? So sehr sie diese Fragen beschäftigten, so deutlich sah sie nun das, was sie in der letzten Zeit oftmals vergessen hatte, weil es auf seltsame Weise in den Hintergrund getreten war: Sie waren noch Kinder!

Jan ging in die fünfte Klasse, sie in die siebte. Andere Kinder, normale Kinder hatten diese Probleme nicht. Sie lebten ihr Leben, freuten sich, hatten Spaß, ärgerten sich über die Schule, wünschten sich dies und jenes und dachten mit Sicherheit nicht über solche Dinge nach, die ihr gerade durch den Kopf gingen.

„Und was ist die zweite Möglichkeit?“, riss Jan sie aus ihren Überlegungen. „Ja nun“, erzählte sie weiter, „wir reden immer über das Elixier des Lebens ‒ des Lebens, verstehst du? Das heißt ja genau genommen, er lebt ewig ‒, solange er nicht stirbt. Also, er altert, wird vielleicht auch krank, aber er ist nicht unsterblich. Das ist doch ein großer Unterschied oder nicht? Ansonsten hieße es ja das Elixier der Unsterblichkeit.“

„Wie grausam“, entfuhr es da Jan. „Stell dir mal vor: Du bist 300 Jahre alt und kannst dich nicht bewegen, bist wie ein Tattergreis, aber du stirbst nicht. Ja, das stimmt schon, das hängt von der Wortwahl ab. Pofis redete immer vom Elixier des Lebens, des ewigen Lebens. Und dann hättest du Recht: Er hätte ewig leben können, was aber nicht ewige Jugend heißt; auch ist er nicht prinzipiell unsterblich, d.h. er ist ja noch verwundbar. Also traf ihn die Kugel deines Vaters wie jeden normalen Menschen und verletzte ihn tödlich. Damit wäre das Rätsel gelöst.“

Wieder musste Anna an sich halten, um jetzt an dieser Stelle nicht nachzuhaken: Wusste es Jan nicht besser oder tat er nur so? Mit einem Mal kam ihr der Gedanke, dass die Träume mehr als nur eine Spielerei waren. Anfangs hatten sie geglaubt, sie könnten, wenn sie im Traum aufwachten und dergestalt zu Bewusstsein kamen, den Traum interessanter und aufregender werden lassen. Traum-Designer hatte sie das genannt. Als "Soter" (Retter) hatte es Jan bezeichnet. Und sie hatten es als Spiel gesehen! Als Variante des normalen Traumes ‒ doch immerhin ein Traum noch. Es war ein Unterschied, ob man etwas träumte und nachher in der Wirklichkeit gewisse Dinge sich genauso abspielten. Es war auch ein Unterschied, ob man etwas träumte und dann das, was sich am Tag zuvor ereignet hatte, besser verstand: der Traum also die Möglichkeit eines Ratgebers oder eines Warnenden annahm. Aber mit dem letzten Traum hatten sie eine Grenze überschritten, das spürte sie deutlich. Das war mehr als ein Traum gewesen! Das war etwas, was vielleicht so nicht hätte stattfinden dürfen. Andererseits: Wäre es nicht geschehen, wäre sie tot; das wusste sie ebenfalls mit hoher Sicherheit.

Sie seufzte. Wie gerne hätte sie mit Jan darüber gesprochen! Aber wenn sie ihn anblickte, schaute sie in das Gesicht eines zehnjährigen, fast elfjährigen Jungen, der so unbedarft und normal ausschaute, dass niemand vermutet hätte, was er nur kurze Zeit zuvor vollbracht hatte und wofür sie ihm immer unendlich dankbar bleiben würde. Trotzdem beschlich sie das unmerkliche Gefühl einen Fehler begangen zu haben. Sie hatte so eine Ahnung, dass dies erst der Anfang von etwas Größerem war, das sie zu diesem Zeitpunkt nicht einordnen konnte. Und es war auch nicht absehbar, was als Folge daraus geschehen würde. Nur eines wusste sie: Es würde gefährlich werden. Gefährlicher noch als die Begegnung mit dem Dämonen Pofis. Ja, sogar gefährlicher als ihre Krebs-Erkrankung, weil: Sie hatten nicht die geringste Vorstellung davon, was ein Traum wirklich war ...

Traum eines lächerlichen Menschen

Er befand sich in einem Hotel, genauer gesagt im zum Frühstück hergerichteten Raum, wie an den gedeckten Tischen und dem langen Buffettisch zu seiner Rechten zu erkennen war. Doch niemand außer ihm war anwesend. Er sah auf die Uhr und stellte fest, dass er vielleicht etwas zu früh war; so beschloss er zu warten. Nach einiger Zeit beschlich ihn das unangenehme Gefühl, im falschen Hotel zu sein. Auch als er sich vergewissert hatte, verschwand die Beklemmung in seinem Brustkorb nicht. Sein Blick fiel auf das Buffet, welches noch zugedeckt war. Obwohl er keinen Hunger verspürte, stand er auf, ging zu den einzelnen Tellern, Platten und hob den ersten Deckel hoch. Dort befand sich ein Zettel mit einer fremden Schrift verziert. „Ael“, las er und konnte damit nichts anfangen. Er legte den Deckel zurück, griff zum nächsten, hob ihn hoch, sah wieder einen Zettel und diesmal das Wort: „Sukram.“ Nacheinander öffnete er die Buffetplatten: „Iak, Ailuj, Lacsap, Xam, Sinned.“ Er dachte nach: Klang das letzte Wort nicht Englisch? Gespannt hob er den Deckel des größten Tellers hinauf, doch zu seiner Enttäuschung war er leer. Ob der Zettel heruntergefallen war? Er schaute sich um und entdeckte ein in der Gastronomie übliches Tafel-Schild, worauf das Tagesmenü notiert wurde. Hier konnte er die Schrift klar und deutlich lesen: „Dämonenfrühstück.“

Plötzlich hörte er, wie sich Stimmen näherten. Aus einem Instinkt heraus ging er in die Hocke und versteckte sich unter dem Buffettisch, auf dem eine typisch lange, weiße Decke lag. So konnte er nicht gesehen werden, sah dummerweise selbst aber auch nichts, obwohl er gerne geschaut hätte, zu wem jene merkwürdigen Stimmen gehörten. Sie waren für sein Empfinden deshalb merkwürdig, weil sie hohl und fern-verzerrt klangen. Es war, als wäre die Luft gefroren und das Gesprochene hallte nach, variierte dabei in Geschwindigkeit und Lautstärke. Damit war das Gespräch extrem anstrengend mitzuverfolgen, und immer hatte er das Gefühl, nur Bruchstücke und Wortfetzen wahrzunehmen. Von Kindern, von einer Lektion war die Rede, einer Abrechnung, aber auch von einer Chance, einer Gelegenheit, die man sich nicht entgehen lassen dürfte. Dann fragte die Stimme, die dem Leiter der Gruppe gehörte, ob alle wüssten, was zu tun sei? Sie sollten das Ziel der Mission noch einmal wiederholen, und da erklang ein mehrfaches „Nej“, was ja so viel wie Nein bedeutete, woraufhin der Anführer zufrieden lachte. Aber es war kein freundliches Lachen, sondern ein boshaftes. Doch hatte er überhaupt richtig gehört? Er spürte, dass er einen Blick riskieren musste. Er musste wissen, was hier vor sich ging. Eine nervöse Erregung ergriff ihn, dass das alles auch mit ihm zu tun hatte. Ob es nicht möglich wäre, einen Spalt zwischen zwei übereinanderliegenden Tischdeckenenden so anzuheben, dass die eine Seite weiter herabhing und die andere einen winzigen Blick ermöglichte?

Er schob vorsichtig mit seinen Zeigefingern den Stoff zur Seite. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals. Und wie er auch nur einen ersten freien Raum zwischen den Decken gebildet hatte, da blickte er in eine hassverzerrte Fratze! Zwei klauenartige Hände packten ihn und rissen ihn aus seinem Versteck hervor. Mit einer gewaltigen Bewegung wurde er durch die Luft geschleudert und krachte auf den Steinboden. Ihm war es, als würden sämtliche Knochen in seinem Körper zersplittern!

Mühsam hob er seinen Kopf, doch schon wurde er wieder gepackt und hochgerissen. Ein grobschlächtiger Mann stand vor ihm und hielt ihn an ausgestreckten Armen vor sich. Es war ein menschliches Gesicht und doch war daran nichts menschlich: Die Augen kalt und leer und dunkel, die Gesichtszüge hart und tief eingeschnitten, die Augenbrauen wulstig, der Schädel kahl, das Kinn hervorstechend, die Wangenknochen hervorstehend.

„Erbärmlicher Wurm!“, knurrte die Stimme und dieser vibrierende, verzerrte Ton schnitt ihm in die Ohren, während sein Körper von einer Art Elektrizität durchflutet wurde, die ihn erstarrte, schmerzvoll-verhärtend. „Niemand hält uns auf!“

Dann ließ die Gestalt ihn fallen. Er lag nun so, wie früher die Knechte ihrem König huldigten. Zusammengekauert am Boden, vor den Füßen liegend, die Arme neben dem Kopf, den Rücken gekrümmt, die Beine angewinkelt. Mühsam hob er den Kopf, worauf die Gestalt wütend mit dem rechten Arm ausholte und ihm quer übers Gesicht schlagend mit seinem Finger auf der linken Wange einen Schnitt verpasste. Blut tropfte auf den Boden. Er wachte auf.

Erster Traum von Anna

„Da bist du ja endlich!“, hörte ich eine bekannte Stimme sagen.

„Valentina?“

„Hast du sonst noch einen Schutzengel?“

Wir fielen uns in die Arme, und ein wärmendes Gefühl durchströmte mich. Ja, das war sie! Obwohl: Sie hatte die Haare nun etwas kürzer und sie sah älter aus, doch nicht sehr viel. Eine Brille trug sie diesmal nicht.

„Wir werden alle nicht jünger“, scherzte sie und nahm mich bei der Hand. „Komm, ich muss dir etwas zeigen.“ Zusammen liefen wir einen Hügel hinauf, schon waren wir oben und schauten hinab.

„Mein Land“, sagte ich stolz und schaute zu der Burg, die in der Sonne strahlte. „Es sieht gut aus. Es fühlt sich gut an.“

„Dort“, deutete Valentina mit der Hand nach unten. „Nicht dein Land.“

Erst jetzt bemerkte ich einen weiteren Landstrich, der dunkel und nebelig aussah. Krumme Bäume standen vereinzelt herum, keine Wiese blühte, keine Tiere waren zu sehen.

Ich erschrak: „Gehört es zu mir? Muss ich da hinein?“

„Es ist nicht dein Land, aber es grenzt an dein Land. Du musst aufpassen, dass es nicht deine Grenze überschreitet. Denn dein Land ist kostbar.“

„Und wieder einmal sprichst du in Rätseln“, seufzte ich. „Ich verstehe nicht, warum du mir die Dinge nicht klar und deutlich sagen kannst. Übrigens habe ich noch sehr viele Fragen, die ich dir gerne stellen möchte. Seit unserer letzten Begegnung ist mir vieles durch den Kopf gegangen, auf das ich unbedingt eine Antwort brauche.“

Valentina blickte mich ernst an, in diesem Moment befanden wir uns auf einem der Türme meiner Burg. „Dein Land. Halte Ausschau!“

„Wo ist die Pyramide von Pofis? Wo ist der Bohrturm?“

„Fort sind sie. Und das ist gut so. Du bist nun gesund. Das war wichtig. Das haben wir Jan zu verdanken.“

„Wo du ihn gerade erwähnst“, sagte ich, „ich habe auch einige Fragen zu ihm, das heißt zu dem, was er getan hat. Ja, ich habe zu dem Ganzen noch so viele Fragen. Valentina, du musst mir helfen und sie beantworten.“

„Die Antworten liegen in dir und vor dir.“

„Oh nein“, stöhnte ich genervt. „Komm mir bitte nicht damit! Ich weiß zum Beispiel nicht, ob Jan ein Mörder ist. Ich weiß nicht, wem das Moor dort drüben gehört und warum es an mein Land grenzt. Ich weiß nichts über das Elixier des Lebens, und ob die Gefahr gebannt ist.“

„Doch“, sagte Valentina entschieden, „du weißt das alles ganz genau! Denn du hast bereits darüber nachgedacht und dein Verstand ist ein wichtiges Instrument. Du darfst nicht glauben, der Traum wäre der Ort der Wahrheit, und die Alltagswelt nur ein unwichtiger Zeitvertreib, bis man endlich wieder einschläft. Du sollst nicht schlafen, Anna, du sollst aufwachen!“

„Ich bin ja wohl wach, sonst würden wir nicht so miteinander reden!“

Valentina lachte. „Du und wach? Liebe Anna, du bist nicht wach. Wenn du aus diesem Traum aufgewacht bist, hast du das meiste wieder davon vergessen und in ein paar Tagen weißt du es gar nicht mehr. Du und Jan ‒, ihr habt euch eingebildet, ihr wärt aufgewacht, dabei habt ihr nur geträumt.“

Ich war erschüttert und spürte, wie mir schwindelig wurde. Was sollte das? Was redete Valentina da? „Würde ich normal träumen wie früher, dann würde jetzt einfach irgendein Bildergeschehen ablaufen! Dann könnte ich gar nicht so mit dir reden, wie ich es jetzt tue! Also träume ich keinen normalen Traum, sondern bin im Traum aufgewacht! Und natürlich kann ich mich noch an alles erinnern, was ich vorher geträu-.“ In diesem Augenblick brach ich ab, denn ich wusste auf einmal, dass ich mich selbst belog: Tatsächlich konnte ich mich an meine früheren Träume gar nicht und höchstens an einige wenige sehr bruchstückhaft erinnern. Nur der Traum vom Kampf gegen Pofis war mir noch voll bewusst.

„Das ist ja auch ein wichtiger Traum, ein zentraler Traum. Aber trotzdem ein Traum! Anna“, sagte da Valentina bestimmt, „du musst lernen, die Dinge genau zu unterscheiden, sonst verlierst du dich! Das hier ist ein Traum. Und du träumst. Du hast Recht: Es ist nicht so, wie man normalerweise träumt. Es fühlt sich so an, als würdest du wachen. Aber du wachst nicht, denn würdest du das tun, würde etwas ganz Anderes passieren.“

„Was würde passieren?“

„Alles zu seiner Zeit. Zunächst einmal wollte ich dir nur klarmachen, dass du im Traum nicht vollständig wach bist, so wie du ja auch im Alltagsbewusstsein nicht vollständig wach bist. Das kannst du auch gar nicht sein, denn würdest du alles aufnehmen, was deine fünf Sinne erfassen, würdest du unter der Flut von Eindrücken und Informationen zusammenbrechen! Du filterst die Eindrücke. Es ist wichtig, dass du dir das immer wieder ins Gedächtnis rufst, wenn du ein Urteil oder eine Entscheidung fällst. Merke dir: Es kann sein, dass du etwas Wesentliches gar nicht bemerkt hast und womöglich einen Fehler begehst. Anna: Halte dich niemals für unfehlbar! Verstehst du?“

Nachdenklich schaute ich sie an. „Du hast Recht. Ich habe mich schon etwas größenwahnsinnig gefühlt nach der Sache mit Pofis. Und auch zwischendurch. Ich dachte, ich kann im Traum machen, was ich will, denn es ist ja nur ein Traum. Und indem ich wacher bin als andere, kann ich eben den Traum verändern, so wie es mir Spaß macht. Aber seit dem Kampf gegen Pofis bin ich unsicher geworden, ob es wirklich nur ein Spiel war. Immerhin ist er gestorben, weil Jan ihn im Traum erwürgt hat. Oder spielte das keine Rolle und er wäre tatsächlich auch ohne das alles seinen Verletzungen erlegen?“

„Oh, Anna“, lächelte Valentina glücklich, „ich bin froh, dass du es begriffen hast. Träume sind kein Spiel! Und wer sie verändert, der muss wissen, dass es Regeln gibt. Und die Hauptregel ist: Alles hat seine Wirkung! Ihr könnt hier nicht tun und lassen, was ihr wollt, ohne eine Konsequenz heraufzubeschwören. Solange ihr nur träumt, ist alles in Ordnung. In dem Moment aber, wo du den Traum bewusst veränderst, greifst du in den normalen Ablauf des Traumes ein und das bringt eine hohe Verantwortung mit sich. Deshalb war Pofis auch so gefährlich: Er wusste es und hat es gezielt für seine Zwecke eingesetzt. Er wandelte zwischen beiden Welten ‒ ein Dämon eben. Er hat es durch gewisse Verrichtungen geschafft, deine Lebensenergie für sich selbst zu benutzen. Es ist also nicht die Frage, ob es funktioniert, sondern welche Wirkung dabei erzeugt wird. Pofis selbst war schon lange schwer krank. Er hatte Krebs ‒ wie du. Genau genommen müsste ich sagen: schon vor dir. Und er suchte eine Möglichkeit, sich davon zu heilen. Nur so einfach ist es nicht.“

„Du meinst also, er hat eine Verbindung zu mir hergestellt und mir seine Krankheit gegeben?“ Ich war zutiefst geschockt über das Verbrecherische dieses Tuns. „Wieso hast du es nicht verhindert?“

Valentina fühlte sich nicht von dem Vorwurf getroffen: „Das hätte ich, doch du hast mich nicht gelassen. Du hattest ein Abkommen mit Pofis! Du hast ihm versprochen, die Krankheit anzunehmen, wenn er etwas für dich tut.“

Ich glaubte, meine Ohren nicht zu trauen! Was erzählte Valentina da nur? Sprach sie die Wahrheit? „Ich kann es nicht“, stammelte ich, „das kann doch nicht, ich meine, das würde ich niemals ‒.“

„Deine Großmutter war schon alt, und er versprach, dass sie länger leben würde, wenn du ihm zu dem Elixier des Lebens führen würdest. Der Preis dafür war, dass er etwas davon abhaben wollte. Den Rest sollte deine Großmutter erhalten. Dann würde sie länger leben. Das Einzige, was fehlte, war die Zeit, das Elixier zu finden. Diese Zeit solltest du ihm verschaffen, indem du seine Krankheit übernimmst. Er sagte, er würde sie dir dann wieder abnehmen, wenn er das Elixier besäße, denn dann könnte er die Krankheit überwinden. In der Zwischenzeit würde dein junger Körper mit ihr kämpfen und besser mit ihr klarkommen als sein schon älterer Organismus.“

„Entschuldige mal“, widersprach ich, „das klingt völlig absurd. Da würde dich jeder für auslachen!" Pause. "Wieso sollte ich so etwas Dummes tun?“

„Weil du geschlafen hast ‒ im Traum. Du warst noch ein Kind, das bist du ja jetzt auch noch, nur bist du nun etwas älter. Du hast ihm einfach geglaubt. Und du hast deine Großmutter geliebt. Du wolltest ihr helfen und hättest alles für sie getan. Und Pofis wusste das. Und er nutzte es aus. Er hat jemanden wie dich gesucht, lange gesucht. Es passte alles.“

„Moment: Wenn doch alles passte, wieso ist es dann ganz anders gekommen? Immerhin ist meine Großmutter kurz nach Ausbruch meiner Krankheit gestorben. Und Pofis hat mir nicht geholfen! Er wollte mich ja sogar töten!“

„Natürlich. Er hat gelogen. Ein Dämon lügt so selbstverständlich, wie normale Menschen die Wahrheit sagen. Sein Plan war, das Elixier an sich zu bringen, seine Krankheit bei dir zu lassen und dann zu verschwinden.“

„Und es hat nicht funktioniert, weil du Jan dazu geholt hast!“, sagte ich mit einem Gefühl des Triumphes in der Stimme.

„Nicht ganz“, korrigierte Valentina. „Ich habe erkannt, dass er dir helfen könnte. Und so stellte ich den Kontakt zu ihm her. Und nun frage dich selbst: War es Unrecht, dass er Pofis getötet hat? Hätte er Pofis töten können, wenn dieser gesund gewesen wäre? Warum war er nicht gesund? Weil dein Vater ihn lebensgefährlich verletzt hat. Ist also dein Vater schuld? Oder bist am Ende gar du schuld, weil du so dumm warst, ihm zu glauben?“

„Ich glaube, es geht hier gar nicht um Schuld, kann das sein?“ Ich sah sie ernst an. „Ich denke, das ist es, was du mir sagen willst: Ich muss verantwortungsvoller handeln ‒ im Leben und im Traum. Es ist eben alles kein Spiel, wie wir dachten. Und die Wirkungen sind kompliziert und nicht auf den ersten Blick durchschaubar. Das heißt, ich muss umsichtiger vorgehen und genauer beobachten, um bei meinen nächsten Entscheidungen nicht etwas Wichtiges zu übersehen.“

Valentina strahlte und umarmte mich. „Deine schnelle Auffassungsgabe und Wahrheitsliebe mochte ich vom ersten Augenblick an bei dir. So ist es! Es ist nichts Menschenunmögliches, was verlangt wird. Aber doch geht es über das normale unbekümmerte Menschsein hinaus. Mache immer einen Schritt langsam nach dem anderen. Du weißt jetzt, woran du bist und worauf du achten sollst. Alles Weitere besprechen wir das nächste Mal.“

„Oh“, sagte ich traurig. „Muss ich schon wieder aufstehen? Heute ist mein erster Schultag nach der Krankheit. Dann wird wohl gleich der Wecker klingeln. Doch andererseits freue ich mich auch drauf.“

„Es ist Zeit zu schlafen“, erwiderte Valentina.

Erster Traum von Jan