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"Es ist nicht bloß ein Traum", sagte Anna und schaute mich aufmerksam an. "Erstaunlich, dass ihr es immer gleich als Fantasie abtut, sobald ihr erfahrt, dass es ein Traum ist. So als hätte es dann gar keinen Wert mehr." Sie ergriff meine Hand und ich war erstaunt, wie real sich das anfühlte. "Finde heraus, weshalb du träumst! Und warum denkst du, es hätte keinerlei Bedeutung, nur weil du es träumst? Verstehst du, was ich damit meine, Jan?" Eine traumhaft-spannende Geschichte über die Freundschaft zwischen einem todkranken Mädchen und einem Jungen, der sich mit bösen Mächten anlegt, ohne es zu wissen und dabei über sich selbst herauswachsen muss. Ihm zur Seite stehen seine Mitschüler, Lehrer und Bekannte sowie eine geheimnisvolle Person, die nur in seinen Träumen auftaucht.
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Seitenzahl: 318
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Widmung
Für meine Mutter
Soter:Retter oder Erlöser. Diese Bezeichnung bringt zum Ausdruck, dass man sich von ihnen Heil und Rettung erhofft. Die erhoffte Erlösung bezieht sich primär auf den irdischen Bereich, wie Errettung aus Krankheit, Krieg oder Seenot, sie kann aber auch transzendent gemeint sein. (Quelle: Wikipedia)
Ich danke meiner besten Deutschschülerin, Valentina Ragozzino, ohne deren feuriges Interesse und Bereitschaft, die Kapitel sofort gegenzulesen, die vorliegende Geschichte niemals so schnell in dieser Form fertig geworden wäre (besonders gefreut hat es mich, dass Valentina meiner Bitte nachkam, den Brief der Großmutter an Anna zu verfassen – weiter so!).
Es war für mich ein Ansporn zu wissen, dass sie jeden Tag auf das wartete, was ich zumeist am Abend zuvor geschrieben hatte. Und gleichzeitig hatte ich, da ich für ein halbes Jahr ihr Lehrer sein durfte, immer einen lebendigen Menschen vor Augen, dem ich diese Geschichte erzähle.
An dieser Stelle grüße ich alle meine Ex-Schülerinnen und Schüler sowie Kollegen, die mir in meinem Lehrerdasein begegnet sind. Ich trage die Zeit mit euch stets in guter Erinnerung in meinem Herzen.
Und nun wünsche ich viel Spaß beim Lesen!
Dr. Stephan Seidel
Kapitel: Ein kleiner Junge & ein mutiges Mädchen
Erster Traum
Kapitel: Ein gutes Auge gegen böse Mächte
Zweiter Traum
Kapitel: Neue Lehrer, alte Schulfächer
Dritter Traum
Kapitel: Tote Bücher und ein Totenbuch
Vierter Traum – A
Vierter Traum – B
Kapitel: Gewinne & Verluste
Fünfter Traum
Kapitel: Ein altes und viele neue Rätsel
Sechster Traum
Kapitel: Freund und Feind
Siebter Traum
Kapitel: Zwischen Wachen und Schlafen
Achter Traum
Kapitel: Leben und Tod
Neunter Traum
Kapitel: Ein Kreis schließt sich
„Du bist ein Versager!“
Physikalisch betrachtet hört der Mensch Worte, indem der Kehlkopf Luft in eine bestimmte Schwingung versetzt und diese mechanische Welle - auch Schall genannt - auf das Gehör trifft, von wo aus sie weiter ins Gehirn geleitet wird. Dort entsteht dann auf geheimnisvolle Weise das Wort, welches mit einer bestimmten Bedeutung verknüpft ist, und diese wiederum ist Baustein der Sprache. So einfach war das.
Und genauso einfach war auch das, was Dennis, der diese Worte nun ein zweites Mal ausrief, damit bezwecken wollte: „Du bist ein Versager!“
Er trat gegen die Schultasche eines kleineren Jungen und hielt beide Hände mit den Innenflächen nach oben breit zur Seite gestreckt. Man kannte diese Geste von Fußballspielern. Seine Kumpels Ralf und Max klatschten johlend ab und bogen sich vor Lachen. Diese drei Jungen waren der Albtraum eines jeden Schülers und einer jeden Schülerin am Nikolaus-Kopernikus-Gymnasium in Neustadt. Kein Mensch wusste, wieso sie die anderen Kinder schikanierten und drangsalierten. Kein Mensch wusste, wie es überhaupt soweit hatte kommen können. Normalerweise waren alle Kinder auf dem Gymnasium - normal. Unauffällig, ruhig, nett, höflich und zuvorkommend. So würden die Lehrer sie beschreiben, und so würden auch die Eltern von ihren Kindern sprechen. Diese drei Jungen jedoch bildeten eine Ausnahme, und wer nun denkt, sie gehörten leistungsmäßig nicht auf diese Schule und allein darin wäre der Grund für ihr Verhalten zu suchen, der irrt: Dennis, Ralf und Max hatten gute Noten, ihre Eltern waren Leute in gehobenen Positionen und die Kinder somit, wie man es nannte, in geordneten Verhältnissen aufgewachsen.
Wieso dann um alles in der Welt standen sie vor dem zitternden und vor lauter Angst nach Luft ringenden Jan, der zu keiner Zeit auch nur irgendeinen Grund gegeben hatte, dass sich irgendjemand durch ihn belästigt oder provoziert fühlte. Abgesehen davon natürlich, dass solch eine wüste Beschimpfung, wie wir sie hier eben miterlebt haben, ohnehin nicht zu rechtfertigen ist. Aber Jan war für einen Schüler der 5. Klasse eher klein, sein Körper war sehr schmächtig, er trug eine Brille, hatte dunkles Haar, normale Kleidung und war weder ein Streber noch ein – Versager.
Und doch schmerzte ihn dieses Wort mehr, als wenn er von den drei Jungen verprügelt worden wäre. „Versager!“, das bohrte sich in ihn hinein, da krampfte sich ihm das Herz zusammen und er wusste nicht, warum es ihn so tief traf. War es die Überzeugung, mit der Dennis es ihm an den Kopf geschleudert hatte? Oder war es eine dumpfe Ahnung, dass er womöglich Recht hatte? Seine Noten waren nicht mehr so gut wie auf der Grundschule, aber auch nicht schlecht. Am meisten machten ihm die neue Umgebung und die vielen neuen Gesichter zu schaffen. Hätten sich seine Eltern nicht getrennt, wäre er an seinem alten Wohnort geblieben und zusammen mit seinen alten Freunden in die neue Klasse gekommen. Hier jedoch kannte er keinen, was an sich auch nicht so schlimm war, denn schlimm war nur, dass er vom ersten Tag an der Prellbock der „fiesen Drei“, wie die größeren Jungen angstvoll genannt wurden, gewesen war.
„Du mieser, kleiner Dreckskerl!“, sagte Dennis und trat erneut gegen die Schultasche. „Du hast sie extra so hingelegt, damit ich darüber stolpere und mir die Knochen breche! Na warte, das wirst du bitter bereuen!“
Er wollte soeben einen Schritt nach vorne machen, als eine scharfe Stimme ertönte: „Dennis - ab in deine Klasse und nach der Schule kommst du in mein Büro. Das wird ein Nachspiel haben!“
Dennis zuckte erschrocken zusammen. Die Stimme gehörte Frau Saalmann, der Rektorin. Jan wusste nicht, ob sie zufällig vorbeigekommen war, denn üblicherweise saß sie in ihrem Zimmer neben dem Sekretariat, oder ob sie einer seiner Klassenkameraden geholt hatte. In jedem Falle war er froh, sie jetzt hier zu sehen. Mit scharfem Blick wie ein Adler musterte sie die Drei, die sich keinen Millimeter bewegten. „Habt ihr was an den Ohren?“ Sie holte tief Luft und fuhr sich mit der Hand über ihre grauen, zu einem Knoten gebundenen Haare. Den Mund zugekniffen, den Kopf gesenkt verschwanden die drei Jungen. Die Rektorin folgte ihnen, so als wollte sie sichergehen, dass sie auch wirklich in ihrer Klasse ankamen.
„Komm jetzt, wir haben Kunst“, meinte Lea, ein Mädchen aus seiner Klasse. „Es hat eben geklingelt.“
Jan nickte. Dabei hatte er gar nichts gehört. Noch immer zitterte seine Hand, als er nach der Schultasche griff. Nur langsam beruhigte sich sein Atem und der Herzschlag wurde ruhiger. Zum Glück musste dieser blöde Dennis nach der Schule zur Rektorin, so würde er ihm nicht wieder auflauern und durch die halbe Stadt jagen können. Manchmal wünschte er sich, wie die anderen in den Bus zu steigen, denn dort war eine Prügelei nicht möglich. Doch seine Mutter war der Ansicht, der Schulweg an der frischen Luft war gesund und ein Ausgleich dafür, dass er den Rest des Tages las. Zu viel las, wie sie als Erwachsene ausnahmsweise betonte. Hieß es sonst, die Jugend von heute wäre nicht mehr vor die Bücher zu bekommen, so verschlang Jan alles, was er zwischen die Hände kriegte. Am meisten interessierte er sich für alte Geschichten aus längst vergangenen Zeiten. Er wusste selbst nicht, warum er sich so gerne damit beschäftigte. Er war kein Träumer, er war niemand, der mittags feststellte, dass er am linken Fuß einen blauen und am rechten Fuß eine grüne Socke hatte. Er war auch niemand, der sich vor der Welt fürchtete und deshalb immer in seinem Zimmer hockte. Er liebte Spaziergänge am Wochenende in der Natur, er liebte Tiere - nur die Menschen, die fürchtete er manchmal, seitdem er festgestellt hatte, wie böse sie sein konnten. Wie zum Beispiel der alte Nachbar zwei Türen weiter, der die ganze Zeit vor seinem Fenster saß und aufpasste, was auf der Straße vor sich ging. Und wenn jemand ein Bonbon-Papier auf den Boden warf, dann riss er die Fensterflügel auseinander, lehnte sich hinaus und schrie: „Aufheben oder ich sage es deinen Eltern!“ Oder wenn ein Hund kläffte und nicht aufhören wollte, dann schrie er das Frauchen oder Herrchen mit derselben unangenehm krächzenden Stimme an: „Stellen sie das Gebell ab oder ich mache eine Anzeige, es ist Mittagsruhe!“ Und war es später am Tage, so war es Abendruhe. Und war es noch später, dann war es Nachtruhe und Morgenruhe. Der Nachbar, Herr Geiermann mit Namen, fand immer einen Grund, um die Leute zu maßregeln. So verwundert es nicht, dass ihn keiner mochte. Nur der Hausmeister der Wohnsiedlung, Herr Petzold, besuchte ihn jeden Abend und ließ sich ausführlich über die Vorkommnisse des Tages Bericht erstatten. Schließlich entging Herr Geiermann nichts. Und wenn der Hausmeister sich über den zertrampelten Rasen im Vorgarten wunderte, so brauchte er nur zu fragen und erfuhr, wessen Kinder darauf herumgelaufen waren. Selbstverständlich erhielten die Eltern sofort eine Abmahnung!
Nur eines konnten die beiden nicht: Helfen, wenn es nötig war. Jan erinnerte sich, wie er vor einigen Tagen von Dennis und seinen Freunden sogar bis vor die Haustüre verfolgt worden war. Da schrie kein Herr Geiermann und er sagte es auch nicht dem Hausmeister, der ihm doch hätte helfen können. Zumal die Drei vor lauter Wut, dass sie Jan nicht erwischt hatten, die Mülltonnen umtraten und der Unrat bis weit auf den Gehweg flog. Stillschweigend kehrte ihn Herr Petzold zusammen. Nein, von denen konnte Jan keine Hilfe erwarten! Dann schon eher von seinem Karatelehrer, zu dem ihm seine Mutter geschickt hatte, als sie von den Hetzjagden auf ihn erfahren hatte. „Du musst dich selbst verteidigen können“, waren ihre Worte gewesen. Und anstatt ihm die Busfahrkarte zu bezahlen, bezahlte sie lieber den teuren Kurs in der Karateschule. Doch ein Gutes hatte es: Sein Lehrer legte großen Wert auf Ausdauertraining, mit der jede Stunde begonnen wurde, sodass Jans Kondition herausragend genug war, um mit regelmäßiger Sicherheit seinen Peinigern davonzulaufen.
Heute jedoch war das nicht nötig. Als es klingelte, spürte Jan keinen Kloß im Hals, sein Herz schlug ruhig, kein Schweiß auf seiner Stirn. Fast gut gelaunt legte er seinen Zeichenblock in den Eckschrank. Na, dann hatte er eben in diesen zwei Stunden nur ein paar Striche auf das Blatt gekritzelt, während seine Mitschüler fast fertig geworden waren. Und der neue Lehrer? Er war ihm gar nicht aufgefallen. War er heute schon da gewesen? Jetzt war der Klassenraum leer. So wie immer am Ende der sechsten Stunde, damit die Reinigungsfrauen problemlos mit ihren Besen und Wischmobs hindurchwedeln konnten. Ja, heute war ein schöner Tag! Auch als er vor das Gebäude trat, hatte er noch dieses beschwingte Gefühl in sich. Normalerweise würden hier die drei Kerle warten und sich ihr Opfer des Tages raussuchen. Meistens ihn, manchmal jemand anders. Funkelnde Blicke würden den so Auserwählten treffen und ihm signalisieren: Die Spiele sind eröffnet! Lauf –, lauf um dein Leben!
Heute setzte er gemütlich einen Fuß vor den anderen. Der Schulhof hatte sich deutlich geleert, in der Ferne fuhr der Bus davon. Warum konnte es nicht immer so sein? Er war überzeugt, dann würde ihm Schule richtig Spaß machen und seine Noten wären um einiges besser. Dies wurde ihm erst jetzt so richtig klar. Die Hände in den Taschen lief er die Straße entlang. Fast war es ihm, als könnte er eine Melodie pfeifen. Da würde sich seine Mutter heute aber wundern, wenn seine Kleider nicht klatschnass geschwitzt waren vom Dauerlauf nach Hause. Und über sein fast fröhliches Gesicht! Und seinen guten Appetit! Und die Hausaufgaben würde er auch direkt anfangen und nicht warten müssen, bis das Zittern aus seinen Händen verschwunden war.
„Na, du kleiner Dreckskerl!“
Diese Worte zerstörten alles in diesem Moment. Er blieb wie vom Blitz getroffen stehen. Sein Gesicht wurde kalkweiß, die Beine gruben sich wie Betonpfeiler ins Bürgersteigpflaster. „Aber, aber das war doch ...“
„Damit hast du nicht gerechnet, was?“ Vor ihm lehnte Dennis selbstgefällig an einer Mülltonne, seine Kumpels standen hinter ihm und hatten sich ebenfalls betont lässig mit den Armen auf den Tonnendeckel gestützt. „Nur um deine blöde Fresse jetzt zu sehen, ist es mir wert, morgen einen neuen Anpfiff von der Alten zu kriegen.“
„Ja“, johlte Ralf und schnitt eine Grimasse.
„Schnauze!“, fuhr ihn Dennis an, so als wolle er diesen Augenblick ganz alleine auskosten. „Du hast wohl geglaubt, wir sitzen bei der vorm Schreibtisch und hören uns ihre Moralpredigt an und du läufst hier unbesorgt durch die Gegend. Ich sag dir eins: Vor uns kann man nicht davonlaufen, wir ...“
Die Wucht des Schulranzens, der ihn ohne Gegenwehr in den Bauch traf, war ein Grund dafür, warum ihm die Luft wegblieb und er augenblicklich zusammensackte. Der zweite Grund war, dass er niemals damit gerechnet hätte! In einer blitzschnellen Bewegung hatte Jan sich zur Seite gedreht, dabei den linken Riemen des Ranzens gelöst und denselbigen nach vorne geschleudert. Es geschah alles in einer solchen Geschwindigkeit, dass Dennis es niemals hätte verhindern können, selbst wenn er es bemerkt hätte. Schlimmer war jedoch: Er hatte die Möglichkeit einer solchen Tat völlig ausgeschlossen! Es lag absolut außerhalb seines Denkvermögens, dass dieser kleine Kerl eine solche Tat vollbringen würde, weshalb das Überraschungsmoment des Angriffs weitaus schockierender für ihn war, als das Gewicht der Schultasche, die gegen ihn prallte. Fassungslos hielt Dennis inne, war unfähig, einen Gedanken zu fassen. Ebenso seine Kameraden, die nach hinten getaumelt waren, als Dennis mit voller Wucht zurück gegen die Tonne prallte, an der sie eben doch noch siegessicher gelehnt hatten. Unsicher torkelten sie nach vorne, griffen nach den Armen ihres Anführers, der sie mit einem Fluch und einer schleudernden Gebärde von sich stieß, sich dann aufrichtete und mit einem Blick hinter Jan herstarrte, der wahrlich Angst einflößend war. Das Weiße seiner Augen trat hervor, die Mundwinkel hingen verzerrt herab, sodass selbst seine Kameraden einen Schritt zur Seite von ihm weg traten.
„Ist alles klar bei dir, Chef?“
„Er ist da lang“, sagte Max und zeigte auf Jan, der an ihnen vorbei gelaufen und soeben in eine Seitenstraße eingebogen war.
Ein gellender Schrei entfuhr der Kehle des großen Jungen, der nichts Menschliches mehr an sich hatte. In ihm kochte Hass hoch, blinder Hass, dessen Grund er selbst nicht kannte. Hass auf einen kleinen Jungen, der es gewagt hatte, sein Schicksal beherzt in die Hand zu nehmen. Hass auf einen kleinen Jungen, der den Bann brechen wollte und ihn in diesem Augenblick für eben diesen einen Augenblick auch gebrochen hatte. Das Blut schoss Dennis in die Schläfen, die wild pochten, die wie sein Herz hämmerten, seine Muskeln anschwellen ließen und mit einem weiteren Schrei setzte er sich wie ein wilder Stier unvermittelt in Bewegung. „Werde Bastard kriegen, krankenhausreif schlagen!“ Das waren die Worte, die ihn antrieben. Da waren auch noch die schrecklichen Bilder seiner zukünftigen Taten, die sie begleiteten, aber zunehmend verblassten, als er durch die Straße raste und dabei eine Geschwindigkeit erreichte, die er nie zuvor besessen hatte. Seine beiden Kumpels gaben ihr Bestes ihm zu folgen, doch ihnen fehlte jene Wut, die diesen zusätzlichen Antrieb verschaffte. So blieb ihnen nur, so gut als möglich mitzuhalten und zuzusehen, wie ihr Anführer dem kleinen Jungen hinterherjagte und dabei Meter um Meter aufholte.
Jan rannte um sein Leben! Er wusste, dass etwas Albtraumhaftes sich Zugang zur Wirklichkeit verschafft hatte. Der erste Schrei und besonders der Schrei danach gaben ihm diese Gewissheit. Das war nicht länger eine einfache Verfolgungsjagd, die mit ein paar Schlägen und Fußtritten endete. Oder der er sogar entkommen konnte, indem er lief und lief und lief. Nein, Jan war klar, er steckte in großen Schwierigkeiten. Hätte er doch bloß nicht den Ranzen gegen ihn geschleudert. Seltsam - dieser Gedanke tauchte kurz vor seinem inneren Auge auf, dann verschwand er vor dem Gefühl der Gewissheit, das Richtige getan zu haben. Nur: Wenn dies das Richtige gewesen war, warum erschien ihm dann die Konsequenz davon so falsch? Natürlich würde er diesmal nicht davonlaufen können! Natürlich würde er diesmal Schläge beziehen, die er sich in seinen schlimmsten Träumen nicht ausmalen konnte. Warum geschah das alles?
Er bog um eine Ecke, wurde langsamer, weil die Straße nach vorne hin zu Ende war, erblickte links ein Gässchen, rannte hinein und immer weiter. Wo war er hier? Das waren keine Straßen der Neustadt, es mussten die verwinkelten Wege der Altstadt sein, in der er noch nie gewesen war. Kurioserweise kam ihm in diesem Moment ein vielen Kindern bekanntes Buch in den Sinn, wo der Held auch ein Junge war und von Mitschülern verfolgt wurde. Dieser Junge war so ganz anders als er: Feige, ein Bücherwurm, dick, unsportlich. Er flüchtete in einen Bücherladen - war hier in der Nähe zufällig ein Bücherladen? Im Laufen spähte Jan hastig nach allen Seiten. Es wäre auch zu schön gewesen. „Das ist eben der Unterschied zu Büchern“, dachte er. „In der Wirklichkeit sieht es anders aus, da gibt es keine rettenden Zufälle!“
Als er erneut um eine Ecke gebogen war, verließen ihn ganz kurz die Kräfte und sein Lauf verlangsamte sich. Vor ihm war zwar immer noch eine asphaltierte Straße, doch die Häuser blieben zurück. Er hatte das Ende der Stadt erreicht! Jetzt war alles aus. Kein Mensch würde ihn hier hören. Ja, das größte Problem war: Es gab hier keinen Ort, an dem er sich verstecken könnte. Oder was war da vorne? Die Straße war links und rechts mit Bäumen bepflanzt, und vielleicht kennt man den Eindruck, den solch eine Allee typischerweise mit sich bringt: Es handelt sich um eine Erscheinung, die als optische Täuschung bekannt ist. So wie ein Holzstab, der schräg in ein Wasserglas gehalten wird, scheinbar an der Oberfläche in Richtung Boden abknickt und eben nicht geradeaus weiterläuft, so glaubt man bei einer Allee durch die Anordnung der Bäume, dass sie am Ende in einem Punkt zusammentreffen. Tatsächlich jedoch bleibt die Straße natürlich gleich breit und am Ende befindet sich kein einzelner Baum oder irgendein Punkt, sondern: „Das Hotel-Schloss!“ Jan erinnerte sich: Etwas auswärts gelegen gab es ein Schloss, das zu einem Hotel umgebaut worden war. Jedes Kind kannte es. Und der Grund dafür war eher unrühmlich: Der alte Schlossherr, so hieß es, hatte früher jedes Kind, das in der Nähe spielte, umgebracht. Einfach so. Er hasste Kinder und er liebte die Jagd. Beides verband er zu einer grausamen Beschäftigung, indem er Kinder, die sich seinem Schloss näherten, mit dem Gewehr erschoss und sie auf seinem Grundstück verscharrte, sodass ihm niemand etwas beweisen konnte. Erst als knapp zwei Jahrhunderte später die Renovierungsarbeiten des neuen Schlossherren Ausgrabungen erforderlich machten, stieß man auf Knochen, die das, was man bisher nur als Gerücht kannte, bestätigten. Und diese Gewissheit umgab das Schloss mit einem schaurigen Schleier: Kein Kind, so wurde in der Stadt erzählt, sollte sich ihm nähern. Zwar war der alte grausame Graf tot, doch sein Geist hatte jenen Ort nie verlassen und wann immer ein Kind verschwand, hatte er es sich geholt und ins Jenseits hinabgezogen.
Wenngleich Jan auch nie von vermissten Kindern in neuerer Zeit in dieser Gegend gehört hatte, so war ihm doch klar: Er musste das Hotel erreichen und dort um Hilfe bitten, ansonsten wäre er das erste Opfer, und das würde rein gar nichts mit einem Gespenst zu tun haben und es war dann auch kein bloßes Gerücht, sondern brutale Wahrheit. Deshalb nahm Jan die Beine in die Hand und sauste los. Noch konnte er Dennis nicht hinter sich sehen, er wollte auch durch ein andauerndes Zurückblicken keine kostbare Zeit verlieren, doch er spürte, wie er näher kam.
„Da vorne ist er!“, hörte er Ralf rufen. Also musste Dennis weiter voraus sein. Also hatte er keinen großen Vorsprung mehr, musste er noch schneller laufen. Da vorne, vor ihm sah er die Umrisse des Schlosses, sah die Mauer – die Mauer! Sein Blick huschte nach links. Das schwere Eisengittertor war verschlossen!
„Du bist erledigt!“, keuchte Dennis, dem nun doch langsam die Puste ausging. Jan wagte eine leichte Kopfdrehung. Wenige Meter trennten sie voneinander! Er konnte jetzt nicht abbremsen, es musste doch einen Ausweg geben. Warum musste auch das blöde Eisengittertor verschlossen sein? Es war doch ein Hotel! Da musste die Türe doch stets offen sein! „Moment“, schoss es ihm da durch den Kopf. „Eisengitter? Gitter? Gitterstäbe? Stab - Zwischenraum!“ Die Gedanken griffen wie ein Uhrwerk ineinander über. Wenn nun die Gitterstäbe weit genug auseinander standen? Wenn er sich quer hindurchzwängen konnte? So schmal wie er war! Er hoffte inständig, dass die Gitterstäbe nicht wie bei manchen Zäunen, die er schon gesehen hatte, ganz dicht beieinander lagen.
Endlich hatte er sie erreicht! Und ja, er hatte Glück: Sie hatten einen breiten Zwischenraum! Zu schmal für einen großen Jungen, breit genug für ihn. Den Kopf quer gedreht, währenddessen die Schultern seitwärts gestellt, hindurchgeschoben, nach rechts fallen gelassen.
„Hab dich!“, schrie Dennis mit sich überschnappender Stimme. „Hab ihn!“
Ein Gefühl verzweifelter Ohnmacht überflutete Jan. So knapp, so knapp! Das konnte doch nicht wahr sein! Er war so kurz davor gewesen, er stand doch schon mit einem Bein auf der rettenden Seite. Ein Bein? Wo war sein anderes Bein?
Jan schaute nach links und blickte in das verzerrte Gesicht von Dennis, dessen Augen einen irren Ausdruck besaßen. Dann wanderte sein Blick nach unten, wo er einen seltsamen Druck verspürte. Jans linkes Bein war ebenfalls durch den Spalt gekommen, nur seinen Fuß hatte er noch umdrehen müssen und das war der Moment gewesen, als Dennis alles auf eine Karte gesetzt hatte und nach vorne gesprungen war, mit Kopf und Körper gegen die Mauer knallte, jedoch beide Hände um den Fuß krallte und diesen wie in einer Bärenfalle festhielt. So schien es. Wieder wollte eine Welle der Angst Jans Körper überfluten und seine Kraft wegsacken lassen. Allerdings zeigte sich ihm bei genauerem Hinsehen jedoch, dass Dennis nur den Fuß, das heißt den Schuh, in seinen Händen hielt. Als Jan das bemerkte und als er weiterhin bemerkte, dass Dennis dies eben nicht erkannt hatte, da presste er konzentriert seine Ferse an die untere Verstrebung zwischen den Gitterstäben und streifte seinen Schuh daran ab. Weil die Schnürung noch fest war, gelang ihm dies nicht sogleich in einem Ruck, wie es nötig gewesen wäre. Sondern es war mehr ein langsames Abziehen des Schuhes, wodurch Dennis, der seinen Kopf siegesgewiss zu seinen Kumpels gedreht hatte und ein lautes Lachen ertönen ließ, nicht sofort sah, wie ihm der Fuß entglitt. Nicht sofort - aber bald.
„Der Schuh, pass auf den Schuh auf!“, brüllte Max.
„Er entkommt!“, schickte Ralf hinterher. Und jetzt kapierte Dennis es. In einer mechanischen Bewegung ließ er den Schuh los, um nach oben ans Fußgelenk zu greifen. Der kurze Augenblick des Loslassens wiederum bewirkte eine Beschleunigung von Jans Bewegung, die ja nun nicht mehr durch den Gegengriff erschwert wurde, sodass er umso schneller sein Bein zurückziehen konnte. Die klobigen Hände umfassten somit nur Jans Socken und dieser bot keinen Halt, sondern ließ den Fuß aus der gefährlichen Situation entschlüpfen und zurück blieb ein verdatterter Dennis mit einer linken Socke in der einen Hand und einem Schuh vor seinem Gesicht. Mit Schwung flog Jan zur Seite und rappelte sich sofort wieder auf. Er hörte noch, wie Ralf rief: „Meine Güte, Chef, wenn du wüsstest, wie blöd du jetzt guckst!“ Dann lachte Max, dann klatschte es zweimal und Dennis schrie erneut: „Durchs Tor! Das muss auf sein! Wir finden die Ratte und dann machen wir ihn alle!“
Erneut kroch Panik in Jan hoch. Das konnte doch nicht wahr sein! Das war doch ein schlechter Scherz! War das Tor wirklich offen? War er denn nirgends in Sicherheit? Er stolperte nach vorne, hetzte über den Rasen zwischen den Bäumen hindurch in einem Bogen aufs Schloss zu. Seitlich. Sollte er dort Hilfe suchen oder sich im Garten verstecken? Konnte er sich vor ihnen überhaupt verstecken?
„Da drüben war er“, schrie Dennis. „Hinterher!“
Jan lief und lief, übersah eine Baumwurzel, fiel hin, raffte sich hoch, weiter ging es, das Haus war schon so nah, dort musste doch jemand sein, eine Puppe lag vor ihm, eine Puppe? Während er noch nachdachte, wieso sie dort lag, konzentrierte er sich zugleich darauf, über sie hinwegzulaufen und genau das war sein Fehler, denn so verkrampfte er einen Augenblick, verzettelte sich, stolperte irgendwie und fiel längs der Nase nach hin, landete mit dem Gesicht im kühlen Rasen.
„Psssst“, hörte er ein leises Stimmchen vor sich. „Nicht bewegen!“
Jan blieb am Boden, auch wenn alles in ihm danach verlangte, aufzuspringen und weiter zu laufen. Aber die Stimme musste doch einen Grund gehabt haben, ihm diesen Ratschlag zu geben. Langsam hob er das Gesicht und schaute auf ein blasses Mädchen, welches in einem Rollstuhl saß. Es hatte ein weißes Kleid an, und das Gesicht war mehr als blass, es war ebenso weiß – ein Geist!
„Ein Gespenst!“, rief er angstvoll.
„Ja sicher“, sagte eine Stimme kichernd. „Der Geist eines fast toten Mädchens im Rollstuhl, weil das bequemer ist als zu schweben.“
„Tu mir nichts!“, flüsterte er.
„Still!“, flüsterte sie zurück.
„Wo ist er, Chef?“ Das war die Stimme von Max.
„Er ist weg!“ Das war Ralf.
„Idiot, das sehe ich auch!“ Schritte waren zu hören. Dann Ruhe. „Wir können jetzt nicht aufgeben!“
„Und wenn er im Haus ist?“ Das war wieder Max.
„Hauen wir ihm doch morgen eine rein. Ich habe keine Lust auf Ärger mit den Besitzern hier.“
„Schnauze“, fuhr ihn Dennis an. „Ich hab hier das Sagen, ich bestimme! Und die Besitzer können mich mal. Ich will diesen Kerl heute, hier und jetzt. Ich will ihm die Seele aus dem Leib prügeln, so wie ich es noch nie vorher getan habe. Er muss hier irgendwo sein. Findet ihn!“
In diesem Moment traten die Drei durch einige Büsche, die an der Seite standen. Ein triumphierendes Grinsen trat auf ihre Gesichter.
„Ah“, mit sichtlicher Genugtuung überblickte Dennis die Situation. „Jetzt bist du fällig! Hier kommst du nicht raus.“
„Stopp“, sagte da das Mädchen und ihre Stimme klang zwar immer noch zart und hell, aber doch energischer als eben. „Seht ihr hier die Pfeife um meinen Hals?“ Sie führte sie zum Mund. „Ein Triller und Mr. Jennings kommt. Er ist der Stallmeister hier und hat zwei scharfe Hunde und eine Peitsche, mit der er gut umgehen kann.“
Verdutzt blieben die Drei stehen. Dann lachte Dennis: „Krüppelchen, du glaubst nicht im Ernst, dass ich auf diesen Trick reinfalle? Wenn du da reinpfeifst, wird höchstens ein altes Mütterchen kommen, mit dem du nachmittags auf der Terrasse Karten spielst. Pass auf, ich sag jetzt dir mal was: Du rollst hier ab und mischst dich nicht ein, klar? Das hier geht dich nichts an. Wir haben nur ein Hühnchen mit dem da“, er zeigte auf Jan, der immer noch am Boden lag, „zu rupfen. Hau ab und wir lassen dich in ...“
Es fehlte noch mindestens ein Wort bis zum Ende des Satzes, doch das Mädchen hatte schon längst in die Pfeife geblasen, ein schriller, durchdringender Ton war zu hören, dann herrschte Stille. Die Drei waren kurz zusammengezuckt, doch als nichts passierte, meinte Dennis mit fiesem Gesichtsausdruck: „Na? Habe ich es nicht gesagt? Und weißt du was, Krüppelchen? Ich bin heute so in Spendierlaune, ich glaube, ich haue dir gleich auch noch eine mit rein! Im Rollstuhl sitzt du ja schon, da kann mir keiner sagen, es wäre durch mich passiert!“ Er lachte. Seine beiden Kumpane jedoch lachten nicht mit. Sie traten einen Schritt zurück. Es war unklar, ob dies war, weil sie seinen miesen Plan nicht unterstützen wollten, oder wegen des älteren Mannes, der von der Seite herangeschritten war. In der linken Hand hielt er zwei Hunde an der Leine, in der rechten eine Peitsche.
„Junge, das war ein ganz großer Fehler“, zu diesem Zeitpunkt waren Max und Ralf längst in Richtung Tor gerannt, „der kleinen Baroness hier Gewalt angedroht zu haben!“
Dennis wollte sich in Bewegung setzen und seinen Freunden nachlaufen, doch Mr. Jennings ließ die Leine los, worauf sich die Hunde knurrend näherten. „Eine falsche Bewegung, Jungchen, und die Hunde werden zubeißen.“
„Aber“, stammelte Dennis. „Das ist doch nur ein großes Missverständnis.“
„So? Ja?“ Mr. Jennings schritt auf ihn zu und baute sich vor ihm auf. „Junge, du bist so erbärmlich, ich möchte mir ungern die Hände schmutzig machen und dich am Kragen packen, also sieh zu, dass du zum Haupteingang kommst. Dort werden schon deine Freunde auf dich warten, denn das Tor ist jetzt zu. Ich habe alles vom Fenster oben aus beobachten können und vorgesorgt. Die Polizei ist auch schon unterwegs.“
„Polizei?“ Das Gesicht des Jungen wurde weiß. Dann warf er den Kopf zurück und rief schnippisch: „Pah! Sie können mir nichts! Mein Vater ist Anwalt! Und er –.“ In diesem Moment bekam er eine schallende Backpfeife versetzt, so wie er noch niemals eine in seinem Leben erhalten hatte.
„Halt dein Maul, Junge!“, sagte Mr. Jennings mit scharfer Stimme und setzte hinterher: „Ich schlage wirklich keine Kinder, aber du bist kein Kind, sondern ein Mistkerl, der eine Tracht Prügel verdient hat! Einen kleinen Jungen verfolgen und zusammenschlagen wollen, ein Mädchen im Rollstuhl auch noch. Ich garantiere dir, dein Vater kann Anwalt sein, wie er will, du kriegst eine Anklage, die dir mächtig Ärger einbrocken wird.“ Er wendete sich zu Jan und hielt ihm die linke freie Hand hin, um ihm aufzuhelfen. „Und dir rate ich auch, ihn anzuzeigen. Ich rede gerne mit deinen Eltern darüber. Doch das besprechen wir später. Jetzt erst einmal nach vorne zum Haupttor. Los jetzt!“
Mit gesenktem Kopf trottete Dennis davon, die beiden Hunde immer noch knurrend links und rechts neben ihm. Mr. Jennings schritt hinterher.
„Anna!“, ertönte da eine aufgeregte Stimme. „Anna, was ist los, was ist passiert?” Eine noch sehr jung aussehende Frau kam angelaufen und überschüttete das Mädchen im Rollstuhl mit Küssen auf beide Wangen und Stirn. „Hat der Junge da –?“
„Nein, der Junge ist in Ordnung“, sagte das Mädchen. „Er wurde von drei größeren Jungen gejagt und sie wollten ihn richtig verprügeln und mir haben sie auch Prügel angedroht.“
„Oh, mein Baby!“, sagte die Frau und strich ihr immer wieder über das blonde Haar, welches mit einem Haarreif zurückgehalten wurde und lang auf die Schultern fiel. „Ich hörte nur den Pfiff und war hinten und telefonierte. Ich eilte sogleich ... ach, wenn dir was passiert wäre!“
„Was soll mir denn hier schon passieren?“ Sie schaute zu Jan, der neben ihr stand und sich den Rasen von den Hosen klopfte. „Warum hast du eigentlich nur einen Schuh und einen Socken an?“ Sie lachte. Und Jan hatte plötzlich das Gefühl auch lachen zu müssen. Mit einem Mal war ihm ganz leicht ums Herz. Er war in Sicherheit! Er war – in Sicherheit. Und mehr noch: Es bestand die Chance, dass sein Problem gelöst würde. Falls Mr. Jennings wirklich die Polizei rief und Anzeige erstattete. Und er würde das auch tun! Seine Mutter musste es einfach tun, denn so konnte es nicht weitergehen. Dieser Dennis war gemeingefährlich, das war längst kein Spaß mehr.
„Das ist eine lange Geschichte“, antwortete Jan. Annas Mutter schaute auf ihn, dann auf ihre Tochter, ging hinter den Rollstuhl und sagte: „Mitkommen!“ Auf der Terrasse ließ sie sich erschöpft in einen Stuhl fallen, Anna saß neben ihr am Tisch und bekam ein Glas Saft gereicht und Jan ebenfalls. „Jetzt kannst du alles erzählen!“ Jan staunte: Obwohl er diese Leute gar nicht kannte, nahmen sie sich Zeit für ihn und wollten seine Geschichte hören? Und so begann er zu erzählen. Von den täglichen Schikanen, von den Überfällen auch auf andere Schüler, von der wilden Verfolgungsjagd, von seiner Angst und von dem, was Dennis tatsächlich Anna angedroht hat. Ihre Mutter rang empört nach Luft: „Das sind keine Lausejungenstreiche mehr, das geht zu weit, das ist kriminell! Ist deine Mutter zuhause, mein Junge?“
Jan nickte und gab ihr die Nummer. „Sie wird sich sicher schon Sorgen machen“, meinte sie. „Ich werde sie anrufen und informieren und sie darin unterstützen, keinesfalls auf eine Anzeige zu verzichten. Diese drei Kerle brauchen jetzt einen Denkzettel, sonst werden sie noch viel schlimmer enden. Und wir werden uns das auch nicht gefallen lassen! Wo kämen wir denn da hin? Ihr entschuldigt mich!“ Sie stand auf und ging ins Haus. Anna sah Jan an. „Was ist?“
„Nix“, erwiderte er.
„Von wegen nix. Du denkst dir bestimmt: Warum sitzt die im Rollstuhl?“
„Eigentlich bin ich ganz froh, dass du das tust, denn so war mir klar, dass du echt kein Geist bist“, platzte Jan heraus und schaute dann ganz erschrocken. „‘Tschuldigung, tut mir leid. Das war gemein!“
„Das war ehrlich!“, sagte Anna und lächelte. „Das war ehrlich und gar nicht bös von dir gemeint. Hattest du denn echt solche Angst?“
„Und ob!“, rief Jan. „Kennst du denn die Geschichten um dieses Haus nicht? Von dem alten Schlossherrn, der Kinder jagt und sie tötet und sie dann in seinem Garten ...“ Wieder hielt er einen Augenblick inne. „Noch mal Entschuldigung! Ich bin ein Idiot. Schließlich war das ja dann dein Ur-Ur-Ur-was-weiß-ich-Großvater.“
„Ja und?“ Anna wiegte den Kopf leicht zur Seite. „Und selbst wenn er das wäre, darf man dann nicht die Wahrheit sagen, wenn er etwas Falsches getan hätte? Aber ich kann dich beruhigen“, sie lächelte wieder, „das sind alles Gerüchte. Wirklich nur Gerüchte. Mein Papa hat es mir erklärt. Weißt du, was das für Knochen waren, die man im Garten gefunden hat? Solche Knochen hättet ihr auch im Garten und wir hätten sie auch noch dort, wenn es nicht in der Zwischenzeit eine tolle Erfindung geben würde.“
„Ja?“
„Na, die Mülltonne, du Dummerchen!“
„Die Mülltonne?“ Jan verstand irgendwie nicht, was sie meinte.
„Man hat die Müllgrube des Schlosses beim Ausheben von Gruben für die Regentanks gefunden. Die Knochen stammen von Tieren, nicht von Menschen! Das wurde sogar per Gutachten bestätigt. Mein Ur-Ur-ja-ich-weiß-auch-nicht-wievielter-Großvater war ein eigenbrötlerischer Kerl. Er hat früh seine Frau verloren und sich danach aufs Schloss zurückgezogen. Er war nie in der Stadt, war nie auf offiziellen Veranstaltungen, gab nie Feste. Irgendwann bilden sich dann halt Geschichten um so einen und auch Gerüchte.“
„Ja, aber ich denke, es sind Kinder verschwunden? Oder etwa nicht?“
„Natürlich!“, sagte Anna da ernst. „Aber früher sind oftmals Kinder verschwunden. Spielten am Fluss, fielen hinein und ertranken und entweder man fand ihre Leichen kilometerweit entfernt oder gar nicht. Das ist wie bei der Pest: Habt ihr das schon in der Schule durchgenommen? Wo man damals glaubte, es wären Teufel und Hexen und schlechte Menschen dafür verantwortlich? Dabei waren die Ratten die Krankheitsüberträger. Es war Unsauberkeit die Ursache!“
Jan trank einen Schluck Saft. „Und warum bist du nun im Rollstuhl?“
„Ach“, winkte Anna ab. „So eine blöde Krankheit in meinem Blut. Eigentlich kann ich ja schon laufen. Schau her!“ Sie stand auf und ging einige Schritte, danach setzte sie sich wieder. „Meine Beine sind nicht kaputt, ich bin nicht querschnittsgelähmt oder so. Ich bin nur schwach von den Medikamenten gegen meine Krankheit. Ich war jetzt wieder lange im Krankenhaus gewesen. Es geht wieder. Ich hoffe, es ist bald vorbei.“
„Wie - vorbei?“ Jan dachte in diesem Moment an ihren ersten Satz über das tote Mädchen. Aber das war ja wohl nur ein Scherz gewesen - oder?
„Naja, mit der Krankheit“, sagte Anna. „Es heißt, sie kann wiederkommen, wenn man sogar Jahre von ihr verschont geblieben ist. Das war bei mir schon einmal so. Da war ich noch kleiner. Die Ärzte sagten, ich wäre geheilt und dann vor ein paar Monaten stellten sie fest, sie ist zurückgekehrt. Deshalb bin ich hier und nicht in der Schule. Ich wäre sonst in der siebten Klasse – und du?“
Plötzlich empfand Jan etwas wie Scham: „Fünfte.“
„Und warum wirst du deswegen so rot?“, lächelte Anna.
Ach, Annas Lächeln! Wie konnte dieses Mädchen, das eine so schwere Krankheit hatte, so warm und zuversichtlich lächeln? In ihrem Beisein verblassten alle Probleme. Ja, er hatte gar nicht mehr an Dennis, seine Mutter, die Schule gedacht. Das war alles in weite Ferne gerückt.
„Ah“, kicherte Anna, „du denkst, du bist zwei Jahre jünger und deshalb können wir nicht befreundet sein. Wir sind doch jetzt Freunde oder?“ Ihr Blick war auf einmal ernst. So ernst, wie ihn Jan nie für möglich gehalten hätte. „Ich habe nämlich keine Freunde, musst du wissen.“
„Nicht?“, entfuhr es Jan ungläubig. Wie konnte das sein?
„Du denkst vielleicht, ich lebe in einem großen Schloss, habe reiche Eltern und deshalb auch viele Freunde. Das ist falsch! Ja, meine Eltern und ich leben hier und wir haben mehr Geld als andere Leute, aber ich bin krank - was nützt mir da das Geld? Ich erhalte keine bessere Therapie. Wenn das so wäre, dann würde ich sagen: Ja, es ist doch schön, wenn man reich ist. Und mir würden all die Menschen leidtun, die arm sind und sich dann eine solche Therapie nicht leisten könnten. Und ich würde es mir zur Aufgabe machen, mein Geld später dafür einzusetzen, so vielen Menschen als möglich solch eine Therapie zu verschaffen –, wenn es sie denn gäbe. Doch das tut es nicht. Sag, kennst du den Spruch: Vor dem Tod sind alle Menschen gleich?“
Jan erschrak! Es war nicht der Spruch, sondern der in die Ferne gerichtete Blick des Mädchens, der ihn erschauern ließ. Ja, sie war krank, sterbenskrank sogar! Er wusste es auf einmal. Sie hatte noch ihr Haar und er erinnerte sich, wie er einmal von dieser Krankheit gehört hatte und dass die Menschen bei der Therapie als Erstes ihre Haare verlieren. Oder hatte sie eine andere Krankheit? Egal, in jedem Falle wusste er in diesem Augenblick, dass sie an der Schwelle des Todes stand. Ihr Lächeln, ihre Zuversicht –, das war nicht gespielt. Doch ihre Schwäche war ebenfalls da und tödlich realistisch. Man sah nur zu leicht darüber hinweg, wenn man mit ihr sprach und zwar das blasse Gesicht bemerkte und sich dann vielleicht dachte, sie müsste mehr an der frischen Luft sein. Ja, man vermutete mit Sicherheit eine Krankheit als Grund dafür, sie wirkte krank – ja. Aber sie war sterbenskrank, das war ein Unterschied. Von einer Krankheit wie einer schweren Grippe erholte man sich wieder. Doch hier hatte er das Gefühl, dass sie sich nicht erholen würde. Und Jan musste heftig dagegen ankämpfen, dass ihm nicht die Tränen in die Augen schossen. Was war bloß mit ihm los? Sicherlich war das ein tragisches Schicksal, doch vor wenigen Minuten hatte er das Mädchen noch gar nicht gekannt und jetzt ging ihm das, was er sah, so sehr nahe –, so etwas hatte er noch nie erlebt!
Zum Glück erschien die Mutter wieder auf der Terrasse. Sofort fiel ihr Blick auf Anna. „Oh, Kind, du siehst müde aus, du wirst jetzt reingehen und dich hinlegen, verstanden?“
Anna nickte. „Hast du seine Mutter erreicht?“
„Ja und sie war sehr froh, dass dir nichts passiert ist. Und sie will mit ihm reden, und sie wird Anzeige erstatten!“