Das Erbe der Runen - Monika Felten - E-Book
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Das Erbe der Runen E-Book

Monika Felten

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Beschreibung

Finstere Träume plagen Ajana. Ihre Mutter droht darin, am Verschwinden ihrer Tochter zu zerbrechen. Ajana will wieder in ihre eigene Welt zurückkehren und beschließt, Nymath zu verlassen. Doch das Weltentor versperrt ihr den Weg – das Mädchen ist längst zum Spielball höherer Mächte geworden. Eine Göttin verkündet ihr, dass es nur einen Ausweg gibt, denn nur in dem alten Land Andaurien soll das Tor noch geöffnet sein. An der Seite ihres Gefährten Abbas macht sich Ajana auf den Weg in das sagenumwobene Land, in dem der Dunkle Gott noch immer blutige Ernte hält. Sie hofft, endlich den Weg nach Hause zu finden – und gerät dabei in die Fänge der Feuerpriesterin Vhara, ihrer schlimmsten Feindin. Band 3 der Saga »Das Erbe der Runen«.

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Seitenzahl: 654

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Monika Felten

Das Erbe der Runen

Band 3: Die Schattenweberin

Roman

Für alle,die meine Träume teilen

Solange wir leben, kämpfen wir.Solange wir kämpfen können, sind wir nicht unterlegen.Und wenn uns der Tod nicht als Sieger erblickt,so soll er uns dennoch als Kämpfer finden.

Ehrenkodex der Djakûnreiterinnen

Prolog

»… Es geht die Sage, dem König Sanforan sei in dieser dunklen Zeit nächtens ein geheimnisvolles Katzenwesen aus dem mystischen Walde Andauriens erschienen, um ihm einen letzten Ausweg zu weisen. So erhielt er Kunde von einem Land jenseits der endlosen Wüste und hinter dem großen Gebirge, das ihm als Zufluchtsort verheißen wurde.«

aus: »Die Chronik Nymaths«

Nackte Körper glänzten im Schein der Feuerkörbe. Glühende Kohlen zeichneten die Umrisse dreier Krieger auf die kahlen Felswände der Höhle.

Regungslos standen die Auserwählten da, schwer atmend unter den tönernen Masken mit dem katzenhaften Antlitz des Fruchtbarkeitsgottes Shura. Ihr Blick war starr auf die Felle in der Mitte der Höhle gerichtet, während sie mit jedem Atemzug mehr von dem süßlichen Wohlgeruch einsogen, der die Luft erfüllte.

Draußen, im Dickicht des Waldes, rief ein Nachtara durchdringend und schrill. Dann verstummte er.

Kein Laut war mehr zu hören. Und dennoch …

Ein Schatten schob sich vor das Mondlicht, das eben noch in den Eingang der verborgenen Höhle gedrungen war.

In den schweren Duft des Elixiers, das in den flachen Tonschalen unter der Hitze der Glut langsam verdampfte, mischte sich – wie von einem Windhauch getragen – der strenge Geruch eines Raubtiers.

Die Auserwählten durchfuhr ein Schauder. Nicht mehr lange, dann würden auch sie erfahren, wovon einige wenige Männer ihres Blutes mit leuchtenden Augen zu berichten wussten. Dann würden auch sie erleben, was es bedeutete, auserwählt zu sein.

Leise und verlockend strich ein Schnurrlaut durch die Höhle.

Sie kam.

Mit geschmeidigen Bewegungen löste sich ein Schatten aus dem Eingang und glitt lautlos in die Höhle hinein. Eine Frau, schlank und anmutig, die gleich einer Katze auf allen vieren auf die Felle zupirschte.

Eine Felis! Ein Wesen, halb Mensch, halb Tier und doch gänzlich anders. Makellos schön, aber unberechenbar und immer noch so gefährlich, wie ihre Schöpfer sie einst geschaffen hatten.

Der strenge Geruch nahm zu, verdrängte den süßlichen Duft und schürte die Begierde der Auserwählten. Wie Raubtiere nahmen sie die Witterung der Katzenfrau auf.

Doch die Felis wusste um die Gefahr, die fernab ihrer Heimat auf sie lauerte. Sie nahm sich die Zeit, die Höhle mit ihren empfindsamen Sinnen zu erkunden, ehe sie sich auf den Fellen niederließ.

Ein letztes Mal wandte sie die feine Nase witternd in Richtung des Eingangs, wohl wissend, dass sie von nun an wehrlos und ausgeliefert sein würde. Dann gab sie sich ganz den Instinkten hin, die sie hierher geführt hatten.

Mit ihren geschlitzten gelben Augen suchte sie den Blick des ersten Kriegers und bannte ihn. Seine Muskeln spannten sich, als er sich ihr näherte und sich ehrfürchtig vor ihr verneigte. Der herbe Geruch seines Körpers reizte ihre Sinne. Mit einem begehrlichen Schnurren erwiderte sie den Gruß und bleckte die spitzen Zähne. Die Finger zu Klauen gekrümmt, grub sie die gebogenen Krallen tief in die Felle, während sie voller Ungeduld beobachtete, wie er langsam, fast scheu hinter sie trat.

Die Luft in der Höhle schien sich zu verdichten. In kurzen heftigen Atemzügen sog die Felis Luft in die Lungen, um die Hitze zu lindern, die seine Nähe in ihr entfachte. Wie eine feurige Glut spürte sie das Verlangen in sich aufsteigen, als seine kräftigen Hände sie berührten …

»Ergreift sie!« Der Befehl zerriss die Stille wie ein Donnerschlag.

Das rötliche Zwielicht wich grellem Fackelschein, als mehr als ein Dutzend schwer bewaffneter Krieger die Höhle stürmten. Mit raschen, wohl gezielten Schwertstreichen durchtrennten sie die Kehlen der beiden Männer neben den Fellen, ehe diese sich der Bedrohung auch nur bewusst wurden, während der dritte gleichsam fassungslos auf die blutige Schwertspitze starrte, die ihn hinterrücks durchbohrt hatte. Dickes, zähflüssiges Blut quoll unter seiner Maske hervor und erstickte seinen Atem in einem gurgelnden Laut. Dann sackte er kraftlos in sich zusammen.

Die Felis reagierte instinktiv. Noch ehe sie der Körper des Sterbenden unter sich begrub, schnellte sie hoch, richtete sich auf und wandte sich den Angreifern zu. Die Krieger überragten sie um mehr als Haupteslänge, doch die Katzenfrau zeigte keine Furcht.

»Achtet auf die Augen!« Der warnende Ruf schallte über die Köpfe der Krieger hinweg, die ihr Runkas, Lanzen und Schwerter entgegenstreckten.

Die Katzenfrau fauchte. Sie war eine erfahrene Jägerin und würde sich nicht kampflos ergeben. Die Zähne gebleckt, die geschwärzten Krallen drohend vorgestreckt, wich sie langsam zurück, während sie mit den Augen nach der Spur einer Fluchtmöglichkeit oder einem unvorsichtigen Krieger Ausschau hielt. Doch die Angreifer waren vorbereitet. Die Augen gesenkt, rückten sie Schulter an Schulter immer weiter vor – eine undurchdringliche Wand aus Speeren und Schilden. Ein Käfig, aus dem es kein Entrinnen gab.

Geschmeidig wich sie zurück, bis sie mit dem Rücken zur Felswand stand, umzingelt von grimmig dreinblickenden Kriegern, die den tödlichen Ring immer enger zogen.

Ihre Haltung zeugte von ungebrochenem Mut und einer wilden Entschlossenheit, die sie dem Blut der Djakûn verdankte. Doch da war noch etwas. Etwas Neues, Fremdartiges, das sie verwirrte – sie wusste, dass sie in der Falle saß. Und zum ersten Mal in ihrem Leben verspürte die Katzenfrau Furcht.

1

Sanforan, 596 Winter n. A.

Eisengrau und bedrückend hingen die Wolken über Sanforan, der geschäftigen Hafenstadt an der Küste des schwarzen Ozeans. Nach einem farbenprächtigen Sonnenaufgang in Rot und Orange waren sie schon früh am Morgen von Westen her aufgezogen und hatten die Hoffnung der Menschen auf Licht und Wärme alsbald vertrieben. Noch ehe die Letzten ihr Morgenmahl eingenommen hatten, setzte ein steter Nieselregen ein. Die feinen Wassertropfen verdichteten sich rasch zu stetig herabströmenden Wasserschnüren, die den Blick auf das Meer verschleierten, den Wald im Norden hinter einem grauen Vorhang verbargen und so beständig vom Himmel fielen, als wollten sie niemals enden.

In gleichmäßigen Bewegungen führte Duana den Striegel über das dunkle Fell ihrer Stute und lauschte auf den Regen, der prasselnd auf das Schieferdach der Stallungen niederging. Hin und wieder hob sie den Blick und schaute durch das geöffnete Tor auf den Hofplatz hinaus, wo die eisigen Tropfen einen bizarren Tanz auf den Pflastersteinen aufführten, ehe sie sich in den unzähligen Mulden zu großen Pfützen sammelten.

Die junge Wunandamazone seufzte. Der Lenz war schon weit vorangeschritten, aber die Sonne vermochte sich immer noch nicht gegen die eisigen Winde und die Regenwolken zu behaupten. Die Vorboten wärmerer Tage wagten sich nicht aus der Erde hervor und die Büsche und Bäume hielten ihre prallen Knospen noch fest verschlossen.

Es sah ganz so aus, als wolle der Winter ewig andauern. Duana spürte, wie sich ihr Herz bei diesem Gedanken zusammenkrampfte. Wie lange noch? – dachte sie bei sich. Wie lange muss ich noch warten?

Der Winter war für sie eine einzige Qual gewesen. Allein die Gewissheit, dass ihr Kummer mit dem Ende des Winters endlich ein Ende finden würde, gab ihr Hoffnung. Energisch straffte sie sich und scheuchte die düsteren Gedanken fort.

Bald!

Ein dünnes Lächeln huschte über ihr Gesicht, während sie den Striegel sanft über die Kruppe ihrer Stute führte. Bald würde auch sie wieder lachen können. Nach der endlosen Zeit des Wartens erschien es ihr fast wie ein Traum: Wenn die Bäume das erste Grün zeigten, würde für sie ein neues und glückliches Leben beginnen!

Trabender Hufschlag lenkte ihre Aufmerksamkeit auf den Hofplatz. Zwei Reiter parierten ihre Pferde und lenkten sie auf die Stallungen zu.

»Was für ein grässlicher Frühlingstag!«, hörte sie eine weibliche Stimme sagen. Der Klang war Duana wohlvertraut – es war die Stimme der allseits verehrten Nebelsängerin.

»Gibt es denn nicht mal einen Ausritt ohne diesen Regen?« Ajana schwang sich aus dem Sattel und führte ihren Schimmel in den hinteren Trakt des Stalls.

»Worüber beklagst du dich?«

Das war Keelins Stimme!

»Was hast du? Wir sind doch trocken geblieben.« Auch der junge Falkner war abgesessen. »Inahwen hat dich vieles gelehrt«, lobte er, während er seinen nussbraunen Wallach in einen Stand nahe Duanas Stute führte.

»Sie ist eine gute Lehrmeisterin«, antwortete Ajana. »Und es war ein langer Winter.«

»Ja, das ist wohl wahr. Aber er war nicht lang genug«, murmelte Keelin vor sich hin, so leise, dass Ajana es nicht hören konnte. Er gab einen betrübten Laut von sich, fasste sich aber gleich wieder und sagte gut vernehmlich: »Ich bin sicher, dass du noch vieles von ihr lernen könntest, wenn du nur …« Er stutzte. »Duana! Gilians heilige Feder, ich habe dich gar nicht gesehen.« Keelin schenkte der Wunandamazone ein entschuldigendes Lächeln. »Verzeih meinen späten Gruß. Ich war ganz in Gedanken. Was tust du hier?«

Duana errötete. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass Keelin sie so direkt ansprechen würde, und bemühte sich, gelassen zu wirken: »Ich wollte ausreiten, aber …« Sie deutete mit einem Kopfnicken auf den Hof hinaus. »Aber das Wetter …« Wie zufällig streifte ihr Blick den des jungen Falkners und sie spürte, wie ihr erneut die Röte in die Wangen schoss. Hastig bückte sie sich und bürstete mit kurzen Bewegungen die Fesseln ihrer Stute.

»Ja, der Regen ist lästig«, pflichtete ihr Keelin, der ihre Verlegenheit nicht zu bemerken schien, im Plauderton bei. »Ein wenig Sonne und Wärme würde uns wahrlich guttun.« Mit geübten Handgriffen löste er die Schnalle des Bauchgurts, legte den Sattel auf einen Holzbock und versorgte seinen Braunen.

Duana beobachtete ihn verstohlen aus den Augenwinkeln, während sie versuchte, des Gefühlssturms Herr zu werden, den Keelins unerwartetes Auftauchen in ihr ausgelöst hatte. Die unbändige Eifersucht, die schon den ganzen Winter über in ihr schlummerte, focht einen erbitterten Kampf mit den schmerzlichen, mühsam unterdrückten Gefühlen, die sie immer wieder aufs Neue die Nähe des jungen Falkners suchen ließen.

Duana biss sich auf die Lippen. Auf keinen Fall wollte sie jetzt etwas Unbedachtes sagen. Vermutlich war sie die Einzige in ganz Nymath, die der Nebelsängerin nicht in Ehrfurcht und Dankbarkeit begegnete. Schlimmer noch: Sie hasste sie aus tiefster Seele.

Die Fremde war aus dem Nichts in Nymath aufgetaucht, hatte sich Keelin an den Hals geworfen und damit all ihre Hoffnungen auf eine gemeinsame Zukunft mit dem jungen Falkner zunichtegemacht, der damals wie heute gewiss nichts von ihren tiefen Gefühlen ahnte.

Ajana allein trug die Schuld an ihrer Einsamkeit und ihrem Kummer und Duana sehnte den Augenblick herbei, da sie Nymath für immer den Rücken kehrte. Dann, dessen war sie gewiss, war die Zeit für einen neuen Anfang gekommen. Sie lächelte versonnen. Dann stand ihrer Liebe zu Keelin nichts mehr im Wege.

Duana richtete sich auf und sah, wie Keelin den Arm sanft um Ajanas Schultern legte, als die beiden den Stall verließen. Der Anblick schmerzte sie und sie wandte sich hastig ab.

Wie lange noch, Emo? – dachte sie bei sich. Wie lange werde ich diese Qual noch erdulden müssen?

»Der Frühling in Nymath kann wunderschön sein – wenn die Sonne scheint und der milde Wind den Duft der blühenden Purkabäume vom Wald bis hierher trägt.« Keelin sah Ajana von der Seite her an und strich ihr eine feuchte Haarsträhne von der Wange, während sie auf das Portal des Haupthauses zugingen. »Und wenn dann im Sommer die Purpurheide blüht …«

»Hör auf, Keelin. Das hat doch keinen Sinn.« Ajana hielt inne und seufzte. »Du weißt, dass ich nicht bleiben kann.« Sie blickte Keelin mit einer Mischung aus Unbehagen, Kummer und Mitgefühl an. »Mach es uns nicht noch schwerer.«

»Aber du …« Hilflosigkeit und Verzweiflung spiegelten sich auf seinem Gesicht wider. Er wollte noch etwas hinzufügen, aber Ajana legte ihm sanft den Zeigefinger auf die Lippen »Kein Aber!«, sagte sie bestimmt. »Ich muss zurück. Auch wenn es mir schwerfällt.« Ihre Augen suchten seinen Blick. »Du weißt, wie viel du mir bedeutest«, sagte sie zärtlich und es klang zugleich wie ein Schwur. »Aber ich habe noch ein anderes Leben. Dort gibt es Menschen, die sich um mich sorgen, denen ich auch viel bedeute – die mich vielleicht sogar für tot halten.« Verzweiflung schwang in ihrer Stimme mit, als sie weitersprach: »Niemand kann mir sagen, wie viel Zeit in meiner Welt vergangen ist und was ich zu Hause vorfinden werde, wenn ich heimkehre. Ich muss Gewissheit haben. Verstehst du? Ich muss wissen, ob es ihnen gut geht, und sie sollen sehen, dass ich wohlauf bin.«

»Ich versuche ja, es zu verstehen.« Tiefe Traurigkeit flackerte in Keelins Blick. »Ich wünschte nur, ich könnte …« Er sah auf und verstummte.

Ein Junge im grün-braunen Gewand der Ratsboten kam über den Hofplatz auf die beiden zugeeilt. »Ehrwürdige Nebelsängerin, ruhmvoller Falkner«, sprudelte es pflichteifrig aus ihm hervor, während er eine besonders lange und tiefe Verbeugung vollführte. »Die Herrin Inahwen schickt mich, nach Euch zu suchen. Sie lässt Euch ausrichten, dass sie wichtige Neuigkeiten habe, und bittet darum, dass Ihr sie eiligst in ihren Gemächern aufsuchen möget.«

»Danke.« Ajana nickte dem Jungen zu und schenkte ihm ein Lächeln. Noch immer hatte sie sich nicht daran gewöhnen können, von allen wie eine Fürstin behandelt zu werden. Und obwohl sie sich hin und wieder dabei ertappte, die Annehmlichkeiten und Vorzüge zu genießen, die ein solches Leben mit sich brachte, war sie doch stets aufs Neue peinlich berührt, wenn sich die Menschen ihr gegenüber scheu und demütig verhielten.

Der Junge starrte sie verzückt an und rührte sich nicht von der Stelle. Erst nach einigen Herzschlägen schien ihm sein ungebührliches Verhalten bewusst zu werden. Errötend drehte er sich um und eilte davon.

»Da siehst du es.« Keelin schmunzelte, wurde dann aber übergangslos wieder ernst und fügte voller Wärme hinzu: »Nicht nur ich – alle hier lieben dich.«

»Sie sehen in mir die Friedensbringerin. Eine Erlöserin mit magischen Fähigkeiten. Sie achten und verehren mich, weil Gaelithils Blut in meinen Adern fließt. Aber lieben …?« Ajana schürzte die Lippen und schüttelte den Kopf. »Dafür kennen sie mich doch viel zu wenig. Im Grunde kennen sie mich gar nicht, nur die Mythen, die um mich gewoben wurden. Wer weiß? Vielleicht ängstigen sie sich sogar vor mir und sind nur deshalb so freundlich, weil sie meinen Zorn fürchten.«

»So darfst du nicht denken!« Keelin ergriff Ajanas kühle Hände. »Du hast Nymath vor dem Untergang bewahrt und uns den Frieden gebracht. Und mehr noch: Dir ist etwas gelungen, das weit über dein Erbe hinausgeht. Du hast Menschen und Uzoma vereint. Kruin sitzt als einer der Abgesandten seines Volkes dem Hohen Rat bei und verhandelt auf Augenhöhe mit den Ratsmitgliedern über die gemeinsame Zukunft beider Völker. Ich bin sicher, dass sie einen Weg für einen dauerhaften Frieden finden werden. All das haben wir allein dir zu verdanken. Noch im vergangenen Herbst wäre es undenkbar gewesen.«

»Das ändert aber nichts daran, dass ich für die Menschen in Nymath immer eine Fremde bleiben werde.« Ajana löste die Hände aus Keelins Griff und sah ihn an. »Ich gehöre nicht hierher!«, sagte sie mit einem Anflug von Trauer in der Stimme. »Auch wenn ich es mir noch so sehr wünschte.« Sie machte ein paar Schritte auf das Haupthaus zu, wandte sich dann aber noch einmal zu Keelin um. »Nun komm«, ermunterte sie ihn. »Inahwen erwartet uns.«

Wenig später standen die beiden vor der schweren Tür aus dunklem Purkaholz, die zu den Gemächern der Elbin führte.

Keelin hob die Hand und klopfte.

»Ajana, Keelin, kommt herein!« Ein Lächeln huschte über Inahwens Gesicht, als sie einen der beiden Türflügel öffnete. »Wo seid ihr gewesen? Ich habe Boten geschickt, aber sie konnten euch nicht finden.«

»Wir sind ausgeritten«, entschuldigte sich Ajana errötend, während sie auf den Kamin zuging. Die Flammen des Feuers sprangen munter knisternd in die Höhe und verbreiteten eine heimelige Wärme, die ihr nach dem unbehaglichen Ausritt mehr als willkommen war.

»Ausgeritten?« Inahwen zog erstaunt eine Augenbraue in die Höhe. »Bei dem Wetter? Das sieht man euch gar nicht an.«

»Wir hatten Schutz.« Keelin warf Inahwen einen vielsagenden Blick zu. »Ihr wart Ajana eine hervorragende Lehrerin.«

»Algiz! Du hast die Schutzrune verwendet, um euch vor dem Regen abzuschirmen.« Inahwen nickte Ajana anerkennend zu. »Ich hätte es wissen müssen.«

»Wie Keelin schon sagte, Ihr habt mich viel gelehrt.« Ajana grinste verschmitzt.

Inahwen nahm das Lob lächelnd entgegen. Dann deutete sie auf die vier gepolsterten, mit moosgrünem Samt bezogenen Sessel, die in einem Halbkreis vor dem Kamin standen, und sagte: »Nehmt Platz. Ich will euch etwas zeigen.«

Die Elbin wartete, bis Keelin und Ajana ihrer Aufforderung nachkamen; dann ließ auch sie sich nieder. Ihr Gesicht war ernst und gab nichts von dem preis, was sie bewegte. Schließlich wandte sie sich um, griff nach einer kleinen hölzernen Schatulle auf dem Beistelltisch und hob den Deckel an. »Wisst ihr, was das ist?« Ajana und Keelin beugten sich nach vorn, um einen Blick hineinwerfen zu können.

Keelin sog die Luft scharf durch die Zähne, sagte aber nichts.

»Das ist … Das wird …« Der erwartungsvolle Unterton in Ajanas Stimme war nicht zu überhören. Vorsichtig holte sie mit Daumen und Zeigefinger eine kleine, harte Hülse in Form einer schlanken Pfeilspitze aus der Schatulle hervor. Die Spitze war aufgebrochen und gab den Blick auf etwas Zartes, Grünes im Innern frei.

»… ein Blatt!« Ajana lächelte, als sie begriff, was die wortlose Botschaft bedeutete. Ehrfürchtig hielt sie die jungfräuliche Knospe ins Licht, drehte sie langsam und betrachtete sie von allen Seiten, als sei sie ein Edelstein von unschätzbarem Wert.

»Ein Blatt!«, wiederholte sie und schaute dann zu Inahwen. »Wie lange noch?«

»Zehn Sonnenaufgänge.« Die Elbin lehnte sich entspannt zurück. »Wenn es schnell wärmer wird, vielleicht auch weniger. Ein Falke trug die Knospe am Morgen nach Sanforan. Sie ist ein Zeichen dafür, dass die Kraft des Ulvars zurückgekehrt ist. Sobald sich die Blätter entfalten, kannst du heimkehren.«

»O Inahwen!« Wie einen Schatz barg Ajana die Knospe in ihren Händen.

»Nur zehn Sonnenaufgänge?« Fassungslosigkeit schwang in Keelins Stimme mit, als er die Worte der Elbin wiederholte.

»Ich hätte nicht gedacht, dass es so bald sein würde.« Ajana flüsterte fast.

»Ich auch nicht.« Keelin erhob sich mit versteinerter Miene und verließ den Raum.

»Keelin, warte!« Ajana sprang auf, aber Inahwen hielt sie zurück. »Lass ihn«, sagte sie knapp. »Es ist schwer für ihn zu verstehen, dass eure gemeinsame Zeit sich dem Ende zuneigt.« Sie schüttelte bekümmert den Kopf. »Nach dem langen Winter hatte ich gehofft, dass er die Botschaft gefasster aufnehmen würde.«

»Ich auch.« Ajana machte eine hilflose Geste und ließ sich wieder in den Sessel sinken. »Ich wünschte, ich könnte ihm den Kummer ersparen.«

»Das kannst du – aber dann müsstest du für immer hier bleiben.« Inahwen lächelte milde.

»Das geht nicht, mir bleibt keine Wahl. Ich muss gehen.« Verzweiflung schwang in Ajanas Stimme mit. »Keelin weiß das. Und er versteht es.«

»Sein Geist versteht es. Aber versteht sein Herz es auch?«, gab Inahwen zu bedenken. »Versteht er wirklich, dass du nicht bleiben kannst? Hat er nie versucht, dich umzustimmen?«

»Doch, das hat er«, gab Ajana zu. »Oft sogar. Und ich habe immer wieder versucht, ihm zu erklären, wie gern ich bei ihm bleiben würde.« Bitternis lag in ihrer Stimme, als sie weitersprach. »Er bedeutet mir so viel, aber …« Sie stockte und fuhr dann fort: »Meine Eltern, meine Freunde … sie alle sind in großer Sorge um mich. Ich muss zurück, um ihnen die Ungewissheit zu nehmen, auch wenn es ihm das Herz bricht. Ich weiß, es ist ungerecht. Aber ich kann nicht anders.«

»Bist du sicher?«, fragte Inahwen geheimnisvoll. »Du bist eine Nebelsängerin, du besitzt das Amulett, den Schlüssel zu dieser Welt, und du hast vieles gelernt. Wenn du es wirklich willst, und das ist meine feste Überzeugung, wird es dir auch gelingen, hierher zurückzukehren.«

»Ihr meint, ich könnte ihn wiedersehen?« Ajanas düstere Miene hellte sich ein wenig auf, aber die Zweifel waren stärker. »Das Amulett war an die Nebel gebunden und ich habe den Bann gebrochen«, gab sie zu bedenken. »Das magische Band, das Gaelithil einst wob, ist Geschichte. Niemals mehr wird eine Nebelsängerin nach Nymath reisen müssen. Wie könnt Ihr da so sicher sein, dass ich den Weg hierher zurückfinde?«

»Du kennst die Macht der Runen und weißt sie zu nutzen«, erklärte Inahwen. »Du warst länger in Nymath als jede andere Nebelsängerin zuvor. Die magischen Nebel sind nicht mehr, das ist richtig, aber die Magie der Runen ist ungebrochen. Du kannst mit ihnen inzwischen so selbstverständlich umgehen wie andere mit Feder und Tintenfass, und sei es auch nur, um dich und Keelin vor dem Regen zu schützen.« Sie maß Ajana mit einem langen, schwer zu deutenden Blick. »Es wird nicht einfach sein, aber ich weiß, du kannst es vollbringen!«

Ajana blieb skeptisch. Bisher hatte sie sich nur vor die Wahl gestellt gesehen, in Nymath zu bleiben oder nach Hause zurückzukehren. Aber jetzt …

»Dann gibt es vielleicht doch eine Zukunft für Keelin und mich«, folgerte sie zaghaft. »Dann wäre es nur eine Trennung auf Zeit, wenn ich Nymath verlasse?« Ihr Herz klopfte heftig, als sie über Inahwens Worte nachdachte. Plötzlich erschien ihr die Zukunft nicht mehr grau und trostlos, sondern voller Hoffnung. »Ich muss mit Keelin sprechen!« Sie wollte aufstehen, aber Inahwen hielt sie zurück.

»Warte! Was du ihm sagen möchtest, will wohl überlegt sein!«, mahnte sie. »Bedenke, es könnten Jahre vergehen, ehe du zurückkehrst. Willst du wirklich von ihm verlangen, dass er all die Zeit auf dich wartet?« Sie schaute Ajana an und es war, als blicke sie ihr bis auf den Grund der Seele.

»Ja. Nein. Ich weiß nicht.« Ajana blinzelte, verwirrt über die eigenen Gefühle, überlegte kurz und sagte dann: »Verlangen kann ich nichts von ihm. Er muss es für sich selbst entscheiden. Ich denke aber, eine winzige Hoffnung ist immer noch besser als keine.«

»Wohl gesprochen.« Die Elbin nickte. »Vielleicht hilft es Keelin schon, zu wissen, dass es kein endgültiger Abschied sein muss. Aber bevor du zu ihm gehst, gibt es noch etwas, das ich dir sagen wollte.« Sie hielt inne, nahm die Schatulle mit der Knospe noch einmal zur Hand und sagte dann: »Morgen tritt der Hohe Rat zusammen, um die Feierlichkeiten deines Abschieds zu veranlassen.«

»Feierlichkeiten?« Ajana versuchte sich ihr Unbehagen über diese Nachricht nicht anmerken zu lassen und sagte höflich: »Ich fühle mich sehr geehrt. Aber, im Vertrauen, lieber wäre mir ein Abschied ohne große Feier. Nur mit Euch, Keelin und …«

»Das dachte ich mir schon, aber daraus wird wohl nichts.« Inahwen lächelte verständnisvoll. »Ehe du uns verlässt, wirst du wohl einige Reden und Lobeshymnen über dich ergehen lassen müssen. Die Völker Nymaths lieben und verehren dich. Sie verdanken dir so viel« – ein unterschwelliger Tadel schlich sich in ihre Stimme, als sie fortfuhr –, »und da wäre es wirklich sehr unhöflich, sich wie ein Dieb davonzustehlen.«

»Also gut!« Ajana seufzte und nickte ergeben. »Wann wird das Fest stattfinden?«

»Vermutlich unmittelbar vor deinem Aufbruch zum Ulvars«, meinte Inahwen. »Du hast also noch ausreichend Zeit, um über ein paar passende Worte zum Abschied nachzudenken.«

*

Die Dunkelheit nahte und breitete ihr samtenes Schattentuch über Nymath. Ein milder Wind, der den Geruch des Frühlings in sich trug, drängte den Regen nach Westen und ließ die Erde schlammig und aufgeweicht zurück. Die Wolkendecke riss auf und gab den Weg frei für das Licht der beiden Monde, die in dieser Nacht rund und voll am Himmel standen.

Der silberne und kupferne Schein spiegelte sich in Abermillionen von Wassertropfen, die der Regen auf den verdorrten Blütenständen der Purpurheide zurückgelassen hatte, und gab ihnen den Anschein, als sei das Land von einem Teppich aus funkelnden Edelsteinen bedeckt.

Die beiden dunklen Gestalten, die sich inmitten der nächtlichen Pracht bewegten, blieben angesichts der Schönheit ungerührt. Ihr Ziel fest im Blick, gingen sie gemessenen Schrittes schweigend den flachen Hügel hinauf, auf dessen Kuppe das bleiche Skelett eines gespaltenen Baumes in den Himmel ragte.

Der Winter hatte die Narben nicht heilen können, die das verheerende Feuer seinem Stamm zugefügt hatte. Immer noch muteten die kahlen Äste wie knochige Finger an, erstarrt in stummem Flehen.

Doch der Baum war nicht tot.

Was von fern kahl und leblos wirkte, offenbarte dem Auge des Betrachters aus der Nähe ein kleines Wunder. An einigen der geschundenen Äste kämpften sich winzige Knospen unter der harten Schicht hervor, die den Baum vor der endgültigen Zerstörung bewahrt hatte. Nicht mehr lange, dann würde das erste grüne Blatt vom Sieg des Lebens über das Verderben künden.

»Ist es recht?« Eine weiße Wolke glitt in der nächtlichen Kälte unter dem Schatten des breitkrempigen Hutes hervor, als der Mann die Frage stellte.

»Das ist nicht von Belang.« Die Stimme seiner Begleiterin wirkte ernst und gefasst. Die fellbesetzte Kapuze des Umhangs verhüllte ihr Gesicht, dennoch schienen ihre Augen in der Dunkelheit für den Bruchteil eines Augenblicks aufzuleuchten, als sie streng hinzufügte: »Wir müssen es tun. Du weißt es.«

»Und dennoch …«, entgegnete er leise, fast so als fürchte er ihren Zorn.

»Was zählt das Schicksal des Einzelnen, wenn es darum geht, eine Welt zu retten?«, fragte sie ihn und fügte unbeirrt hinzu: »Die Knoten der Macht werden neu geknüpft. In Zeiten wie diesen vermag das Fallen eines Blattes genügen, um über Schicksale zu entscheiden.« Sie ging noch ein paar Schritte, hielt dann aber inne und sah ihren Begleiter von der Seite heran. »Wir sind allein, vergiss das nicht«, mahnte sie mit einem beschwörenden Unterton in der Stimme und fügte hinzu: »Wir dürfen das Ziel nicht aus den Augen verlieren. Er darf nicht siegen.«

Der Mann wagte nicht, ihr zu widersprechen. Wie einen unsichtbaren Mantel, der ihm schwer auf den Schultern lastete, trug er sein Unbehagen den Hügel hinauf.

*

Der Platz vor den Stallungen war dunkel. Drinnen verbreiteten die rußenden Öllampen an den Pfeilern der Stallgasse ein schwaches gelbliches Licht. Duana füllte die Heuraufe mit frischem Stroh und strich ihrer Stute zum Abschied noch einmal sanft über die Nüstern.

Es war spät und sie hatte Hunger.

Die meisten Krieger hatten die Abendmahlzeit im großen Speisesaal der Bastei bereits eingenommen und das war ihr nur recht. Ihr lag nichts an den Gesprächen der Krieger, die sich zumeist in Selbstmitleid ergingen. Offensichtlich hatten viele von ihnen durch das Ende des Krieges nicht nur ihren Lebensinhalt, sondern auch ihre Würde verloren. Duana legte keinen Wert darauf, wieder einmal zum Mittelpunkt der anzüglichen Bemerkungen zu werden, denen die Frauen ihres Blutes ausgesetzt waren, seit die Krieger hier nutzlos herumsaßen. Zwar fiel es den Amazonen nicht schwer, sich der Zudringlichkeiten zu erwehren, dennoch hatten die ehrlosen Ausschweifungen dazu geführt, dass immer mehr von ihnen die Waffen niederlegten und in ihre geliebte Heimat nahe dem Mangipohr-Delta zurückkehrten. Inzwischen gab es in der Bastei kaum mehr als ein Dutzend ihres Blutes, und so manche von ihnen spielte ebenfalls mit dem Gedanken, Sanforan den Rücken zu kehren.

Für Duana stand eine Heimkehr außer Frage. Um den Anzüglichkeiten zu entgehen, hatte sie es sich zur Gewohnheit gemacht, die Mahlzeiten entweder frühzeitig oder – wie an diesem Abend – als Letzte einzunehmen.

Bedächtig trat sie vor das Tor, lauschte und spähte in die Dunkelheit hinaus. Alles schien ruhig. Bis auf zwei Stallburschen, die im hinteren Trakt der Stallungen in lautstarkes Gezänk verfielen, und einer schemenhaften Gestalt, die gerade in einer der schattigen Gassen am Rande des Platzes verschwand, war weit und breit keine Menschenseele unterwegs.

Schlimme Zeiten, dachte sie bei sich, als sie den Platz schnellen Schrittes überquerte. Nicht einmal in der Bastei von Sanforan konnte man sich sicher fühlen.

Die Lage war unerträglich. Mit dem Frieden hatte für die Frauen ihres Blutes ein neuer und unberechenbarer Krieg begonnen, in dem nicht mehr die Uzoma die Feinde waren, sondern die eigenen Landsleute, mit denen sie viele Winter lang Seite an Seite im Heer der Vereinigten Stämme gekämpft hatten.

Duana stieß einen leisen Fluch aus.

Der Hohe Rat wusste, wie schlecht es um die Moral der Krieger bestellt war, und versuchte nach Kräften, dem ehrlosen Verhalten ein Ende zu setzen. Doch die Heimkehrer vom Pass waren eine eingeschworene Gemeinschaft, und so konnte man der Unruhestifter kaum Herr werden. Der Hohe Rat hatte zudem noch ein anderes Problem. Acht Monate nach dem Ende des Krieges gegen die Uzoma gab es unter den Angehörigen der Vereinigten Stämme noch immer eine große Zahl derer, denen die dunkelhäutigen Ureinwohner des Landes verhasst waren. Immer wieder kam es zu Handgreiflichkeiten, die oft auch tödlich endeten.

Duana seufzte. Wie es aussah, würden Generationen vergehen müssen, ehe ein friedliches Miteinander in Nymath gelang. Viele Verhandlungen und strenge Gesetze würden nötig sein, den Frieden zu sichern, doch obgleich ihr die Zeit der endgültigen Versöhnung noch in weiter Ferne schien, so wähnte sie Nymath zumindest auf dem richtigen Weg.

Duana hatte das Haupthaus erreicht. Zwei Stufen auf einmal nehmend, eilte sie die Treppe zur Eingangstür hinauf. Sie wollte gerade die Hand nach dem Türknauf ausstrecken, als der hölzerne Flügel von innen kraftvoll aufgestoßen wurde.

Duana erschrak, reagierte jedoch blitzschnell. Mit einer geschmeidigen Bewegung wich sie zur Seite aus und verbarg sich hinter einer der beiden dicken Säulen vor dem Portal.

Als sie hinter ihrem Versteck hervorspähte, sah sie einen hochgewachsenen Mann in der dunklen Gewandung der Falkner die Treppe hinuntereilen. Er wirkte aufgebracht und in Gedanken vertieft, während er mit weit ausgreifenden Schritten auf das Falkenhaus zuhielt. Das spärliche Licht, das den Hofplatz erhellte, fiel auf sein dunkles, schulterlanges Haar …

Keelin, es war Keelin! Und er war allein!

Duana schnappte nach Luft. Der Gedanke, dass sie ihm fast in die Arme gelaufen wäre, ließ ihr Herz höherschlagen. Insgeheim schalt sie sich eine Närrin, dass sie ihm ausgewichen war. Sie konnte nicht anders, sie musste ihm folgen. Natürlich wusste sie, dass es unvernünftig war, doch was zählte alle Vernunft, wenn sie nur für einen einzigen Augenblick in seiner Nähe sein konnte!

Den ganzen Winter über hatte sie vergebens auf eine solche Gelegenheit gewartet. Doch Keelin und Ajana schienen unzertrennlich. Aber jetzt …

Ehe Duana sich versah, stürmte sie schon die Stufen hinunter. Am Fuß der Treppe hielt sie kurz inne und atmete tief durch, dann folgte sie Keelin lautlos wie ein Schatten zum Falkenhaus.

Gedämpftes Licht, das von Wärme kündete, drang durch die kleinen lukenartigen Fenster nach draußen. Drinnen war nichts zu hören. Offenbar war Keelin auch hier allein.

Geh hinein!

Als wispernde Stimme strich die Verlockung durch Duanas Gedanken. Wie von selbst umfasste ihre Hand den Türknauf.

Zögere nicht! Folge ihm!

Sie spürte das kühle Metall unter ihren Fingern, aber etwas hielt sie zurück. Obwohl sie sich eine Gelegenheit wie diese so sehr gewünscht hatte, seit sie Keelin im vergangenen Sommer zum ersten Mal begegnet war, fiel es ihr unendlich schwer, ihren Stolz zu überwinden. Sie war eine Wunand und als solche dazu erzogen, sich Männer zu erwählen. Um einen Mann zu buhlen, galt bei den Frauen ihres Blutes als ein Zeichen von Schwäche, und tief in ihrem Innern verachtete sie sich selbst für diese Untugend.

Tu es! Tu es jetzt!

Duanas Finger umklammerten den Türgriff so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten. Hin und her gerissen zwischen der Tradition und der Stimme ihres Herzens, zögerte sie, die Tür zu öffnen. Die Umstände hatten sie in eine Lage gebracht, die einer Wunand nicht würdig war. Sie hätte da drinnen und Keelin an ihrer statt hier draußen stehen müssen. Vielleicht wäre es auch so gekommen, doch das Schicksal hatte es anders gewollt und Keelins Leben eine unvorhergesehene Wendung gegeben.

Als Duana von seinen Plänen erfahren hatte, mit dem Heer zum Pass zu ziehen, hatte sie nicht gezögert, sich dem Aufruf anzuschließen. Im Pandarasgebirge, so hatte sie gehofft, würde sich gewiss eine Gelegenheit finden, ihm ihre Liebe zu gestehen. Doch auch dort hatte sich ihre Hoffnung nicht erfüllt.

Duana ballte die Fäuste. Warum nur straften die Götter sie so hart?

Auf dem Weg zum Pass hatte Keelin die Nebelsängerin aus den Händen der Uzoma befreit und sie als Kundschafter später zum Arnad und auf ihrem Weg zu den Orma-Hereth begleitet. Als die beiden nach langer gefahrvoller Reise schließlich als gefeierte Helden an den Pass zurückgekehrt waren, waren sie ein Paar gewesen.

Duana erinnerte sich an die Heimkehr, als sei es gestern gewesen. Der niederschmetternde Anblick verfolgte sie noch jetzt bis in ihre Träume. Immer wieder sah sie die Überlebenden der Gruppe, die Ajana zu den feurigen Bergen begleitet hatten, unter dem Jubel der Krieger durch das große Tor in die Festung einreiten: eine Handvoll erschöpfter und staubiger Gestalten im Fackelschein, voller Stolz auf das, was sie erreicht hatten, und erfüllt von Freude über die glückliche Heimkehr. Auf dem Rücken ihrer Pferde bahnten sie sich einen Weg durch die Menge und schüttelten lächelnd Hunderte von Händen, die sich ihnen entgegenstreckten. Duana selbst stand ganz vorn und fieberte mit geröteten Wangen dem Augenblick entgegen, da Keelin endlich an ihr vorbeiritt. Doch er hatte nur Augen für Ajana und als er die Nebelsängerin unter dem Jubel der Menge lange und zärtlich küsste, wusste sie, dass er für sie verloren war …

Enttäuscht und gekränkt hatte sie sich damals von Keelin zurückgezogen. Obwohl Frauen ihres Blutes Eifersucht fremd war, litt sie unsägliche Qualen. Mehr als einmal hatte sie gar mit dem Gedanken gespielt, ihrem Leben selbst ein Ende zu bereiten. Um einen Mann zu buhlen, war eine Schwäche – ihn zu lieben, ohne dass er die Gefühle erwiderte, war eine Schande, mit der sie glaubte, nicht weiterleben zu können.

Irgendwann hatte sie dann erfahren, dass Ajana nicht mehr lange in Nymath bleiben würde. Wenn der Ulvars neue Blätter hervorbrachte, so hieß es, würde die Nebelsängerin für immer in ihre Welt zurückkehren. An diesen Gedanken klammerte sie sich nun und baute all ihre Hoffnungen darauf. Bis heute ahnte Keelin nichts von ihren Gefühlen, doch der Zeitpunkt, da er sich von Ajana trennen musste, kam immer näher, und sie hoffte, dass sie ihm durch ihre Liebe den Kummer über die Trennung erleichtern könnte.

Vielleicht hatte das Schicksal eben diesen Abend dazu bestimmt, ihrer Sehnsucht nachzugeben. Vielleicht …

»Verzeih, hast du Keelin gesehen?«

Duana erstarrte. Das flammende Hochgefühl, das sie eben noch verspürt hatte, wich schlagartig einer eisigen Kälte, die auch in ihrem Tonfall mitschwang, als sie sich zu Ajana umwandte. »Nein.«

»Oh. Dann werde ich mal im Falkenhaus nachsehen. Sicher ist er bei Horus.« Ajanas Stimme hatte nichts an Freundlichkeit verloren. Lächelnd kam sie auf Duana zu. »Wolltest du gerade hineingehen?«, fragte sie arglos.

Die Frage kam für Duana so überraschend, dass ihr die Worte fehlten. Ohne zu antworten, machte sie auf dem Absatz kehrt und eilte davon.

2

»Keelin?« Als Ajana die Tür zum Falkenhaus öffnete, schlug ihr der scharfe, aber vertraute Geruch von Kot und Atzung entgegen. Drinnen war es warm. Leise schloss sie die Tür hinter sich und schaute sich um. Das gedämpfte Licht der Öllampen verbreitete eine heimelige Stimmung, aber es war zu dunkel, als dass sie Einzelheiten hätte erkennen können.

»Keelin?«, fragte sie noch einmal im Flüsterton. Sie wusste, dass die Falkenmeister es nicht gern sahen, wenn späte Besucher die Nachtruhe der Vögel störten. Aber sie wusste auch, dass Keelin sich oft darüber hinwegsetzte. Der Bund zwischen ihm und seinem Falken Horus war so eng, dass es ihm schwerfiel, über einen längeren Zeitraum ohne ihn zu sein. Manchmal verbrachte er sogar die ganze Nacht hier.

Das Falkenhaus, so hatte er ihr einmal anvertraut, war der einzige Ort in der Bastei, an dem er sich wirklich zu Hause fühlte. Ein Ort, der ihm schon in den ersten, oft einsamen Jahren seiner Falknerausbildung Trost und Wärme gespendet hatte – und mit dem er das Gefühl von Heimat verband.

Lautlos schlich Ajana an den Falken vorbei, die dösend auf ihren Blöcken hockten und jede ihrer Bewegungen mit halb geöffneten Augen verfolgten.

»Ajana?«

Ajana erschrak, als sich Keelins Gestalt überraschend aus dem Eingang zur Strohkammer löste. Seine Stimme klang abweisend.

»Keelin, gut, dass ich dich hier finde.« Sie war so aufgeregt, dass sich ihre Worte überschlugen. »Ich muss mit dir reden. Komm, lass uns …«

»Ich weiß nicht, was es noch zu sagen gäbe«, fiel Keelin ihr unwirsch ins Wort. »Wir haben schon viel zu viel geredet. Den ganzen Winter lang. Und was hat es geändert? – Nichts! Der Ulvars treibt neue Blätter aus und du gehst fort. Es ist vorbei.«

»Das ist nicht wahr«, beharrte Ajana, die es nicht erwarten konnte, Keelin die hoffnungsvolle Nachricht zu überbringen. »Ich habe mit Inahwen gesprochen und sie hat …«

»Ich weiß, was sie gesagt hat«, unterbrach Keelin sie erneut. »Dass du bald in deine Welt zurückkehren kannst. Dem gibt es nichts mehr hinzuzufügen.«

Ajana packte ihn am Arm »Aber es geht doch um die Zukunft – unsere gemeinsame Zukunft.«

»Gemeinsame Zukunft?« Keelin lachte, aber es lag keine Freude darin. Er löste Ajanas Hand von seinem Arm und sagte bestimmt: »Es gibt keine Zukunft für uns. Es hat nie eine gegeben.« Er verstummte, blickte Ajana von der Seite an und sagte dann: »Du kehrst heim und wirst mich vergessen – das ist die Zukunft.« Er machte eine überzogene Verbeugung. »Ich hoffe, Ihr hattet eine angenehme Zeit mit Eurem gefälligen Diener. Aber versteht, dass ich von nun an wieder mein eigenes, unabhängiges Leben führen werde.« Mit diesen Worten wandte er sich Horus zu, als sei das Gespräch für ihn beendet.

»Das ist ungerecht!« Ajana sah ihn fassungslos an und ballte in hilfloser Wut die Fäuste. »Ist es das, was du von mir denkst – nach allem, was wir gemeinsam erlebt und durchlitten haben?«

»Was wir gemeinsam durchlitten haben?« Leise Ironie schwang in Keelins Stimme mit, als er die Worte wiederholte. »Du weißt so gut wie ich, dass wir alle nur das getan haben, was uns bestimmt war. Du hattest eine Aufgabe zu erfüllen und mein Auftrag war es, dich dabei mit Horus zu unterstützen. Die Aufgabe war eines Falkners angemessen und wie Bayard, Toralf und die anderen habe ich nicht gezögert, sie anzunehmen. Dabei ging es weniger um dich als vielmehr darum, Nymath vor dem Untergang zu bewahren.«

Alle Farbe wich aus Ajanas Gesicht. Ihre Stimme bebte. »Dann … dann macht es dir in Wahrheit gar nichts aus, dass ich gehe? Du würdest mich nicht vermissen?«

Für den Bruchteil eines Herzschlags huschte ein Schatten über Keelins Gesicht und Ajana bemerkte, wie er sich auf die Lippen biss, aber der Augenblick war zu kurz, um ihn wirklich zu erfassen. Als Keelin antwortete, war von Unsicherheit nichts mehr zu spüren. »Vermissen?«, fragte er betont lässig. »Warum sollte ich mich damit quälen? Es ändert ja doch nichts.«

»Aber du … du hast immer gesagt, dass … dass …« Ajana war verwirrt. Verzweifelt suchte sie nach den richtigen Worten. Sie war hierher gekommen, um Keelin Hoffnung auf eine baldige Rückkehr zu machen, aber das Gespräch nahm einen ganz anderen Verlauf. Ihre Stimme schwankte, als sie leise hinzufügte: »Und ich dachte, es ist mehr als nur Freundschaft. Ich dachte, wir wären ein Paar.«

»Ein Paar?« Keelin schüttelte abweisend den Kopf. »Welch seltsame Wege das Leben doch manchmal geht. Wir hatten eine schöne Zeit – ja. Aber ein Paar?« Sein Blick begegnete dem ihren und er verstummte. Ajana meinte in diesem Blick etwas zu erkennen, das tiefer ging als alle seine Worte, einen Anflug von Wehmut, der so gar nicht zu seinem abweisenden und harten Gebaren passen wollte. Und wirklich …

Einer plötzlichen Gefühlsregung folgend, hob er die Hand und strich ihr sanft über das blond gelockte Haar, zog sie dann aber so ruckartig fort, als täte er etwas Verbotenes. Die Sanftmut in seinen Zügen wich wieder der kühlen Härte und er sagte mit fester Stimme: »Es gibt keine Hoffnung auf ein Wiedersehen …«

»Doch … es gibt sie!«, rief Ajana aus. Endlich konnte sie ihm sagen, was sie bewegte. Endlich ihm das mitteilen, was ihr auf der Seele brannte. »Inahwen glaubt fest daran, dass es möglich ist.« Die Worte sprudelten nur so aus ihr hervor. »Sie sagt, wenn ich nur fest daran glaube, werde ich den Weg zurück nach Nymath finden. Ich habe vieles über Runen gelernt und kann sie …«

»Ajana! Das sind doch nur Träume«, fiel Keelin ihr ins Wort. »Damit machst du es mir nicht leichter. Versteh doch: Es war eine schöne Zeit, die wir gemeinsam hatten, aber jetzt ist sie vorbei.« Er senkte den Kopf, holte tief Luft und sagte gefasst: »Sei vernünftig. Von nun an geht jeder von uns seinen eigenen Weg. Es ist vorbei.«

Fassungslos starrte Ajana Keelin an. Wie konnte er nur so kampflos aufgeben? Empfand er am Ende gar nichts für sie? Tränen schossen ihr in die Augen. Sie konnte ihre Enttäuschung nicht länger verbergen. Wie blind tastete sie nach dem Türgriff und floh in die Nacht hinaus.

Krachend fiel die Tür ins Schloss.

Dann war es still.

Wie versteinert stand Keelin da, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen.

Sie war fort.

Der Gedanke raubte ihm den Atem, doch er schürte auch Wut in ihm. Wut über die Ungerechtigkeit des Schicksals, über die Ausweglosigkeit der Lage – vor allem aber über sich selbst und die Leere, die sich in ihm ausbreitete.

Einer Eingebung folgend ergriff er einen Tonkrug und schleuderte ihn mit voller Wucht zu Boden.

Scherben klirrten, Wasser spritzte. Die Falken schlugen aufgeschreckt mit den Flügeln und gaben schrille Laute von sich. Doch Keelin war viel zu aufgebracht, um es zu bemerken. Als trüge allein der Krug die Schuld an seinem Unglück, trat er mit dem Fuß kraftvoll gegen eine der Scherben. Dann lehnte er sich mit dem Rücken erschöpft an die Wand und sank langsam zu Boden.

Seine Schultern bebten. Er weinte.

*

Die Wälder der Artasensümpfe in Andaurien596 Winter nach der großen Schlacht

Yenu rannte. Ihr Atem ging stoßweise. Bei jedem Schritt hatte sie das Gefühl, ein Messer zwischen den Rippen zu spüren. Ihr dröhnte der Kopf.

Ohne auf die Geräusche zu achten, die ihre schnellen Schritte auslösten, hastete sie den schmalen Pfad entlang durch den Wald. Ihre Füße, nur spärlich geschützt von dünnen Ledersandalen, knickten Astwerk und Zweige und fuhren durch das raschelnde Laub am Boden.

Plötzlich stieß ihr Fuß gegen etwas Hartes. Der Aufprall riss ihr die Beine unter dem Leib weg, ein beißender Schmerz schoss durch ihren Körper und sie verlor das Gleichgewicht. Ihr Schrei gellte durch die Nacht, dann versank die Welt in Dunkelheit.

Der Ruf des Nachtaras holte sie in die Wirklichkeit zurück.

Sie spürte die kühle, von Modergeruch schwere Luft des Waldes und zwang sich, ruhig zu atmen, während sie versuchte, die träge Benommenheit abzuschütteln, die der Sturz bei ihr hinterlassen hatte. Blinzelnd schaute sie sich um. Die Umrisse der Bäume verschmolzen mit den nächtlichen Schatten zu einer verschwommenen grauschwarzen Wand, vor der sich nur das Mondlicht, das durch Lücken im dichten Blätterdach auf den Boden fiel, als helle Flecken abhob.

Yenu biss die Zähne zusammen, richtete sich schwankend auf und fluchte leise. Sie musste weiter! Ihr Fuß schmerzte und sie spürte den metallischen Geschmack von Blut im Mund. Feuchtes Laub, Schmutz und Gräser klebten an ihren Händen, ihrer Haut und auch an der sandfarbenen Tunika, die sie nur unzureichend vor der nächtlichen Kälte schützte.

Sie blinzelte erneut, doch das Bild vor ihren Augen blieb unscharf. Panik stieg in ihr auf und die Furcht, den Rest der Nacht hilflos im Wald umherzuirren, schnürte ihr die Kehle zu.

Mit ausgestreckten Armen tastete sie sich humpelnd voran, bis sie die raue Rinde eines Baumes unter den Fingern spürte. Der stumme Riese gab ihr Halt und das trügerische Gefühl von Sicherheit. Seufzend lehnte sie sich mit dem Rücken an den wuchtigen Stamm, schloss die Augen und versuchte, nicht auf die sich regende Verzweiflung zu achten.

Wilnu!

Ich muss Wilnu finden!

Sie unterdrückte ein Schluchzen und fuhr sich mit den Händen über das Gesicht. Zwei Nächte schon hatte sie in ihrer Hütte auf die Rückkehr ihres Gefährten gewartet, aber Wilnu war nicht zurückgekommen. Irgendwann hatte sie die quälende Ungewissheit nicht länger ertragen und sich auf den Weg gemacht.

Sie wusste, wo sie ihn finden würde.

Alle wussten es.

Melva-Nnab!

Die verborgene Höhle in den Wäldern war allen Hedero ein Begriff. Doch während es den Frauen streng untersagt war, dorthin zu gehen, war sie für die Krieger ihres Blutes ein heiliger Ort, von dem jene, die ihn betreten hatten, nur mit leuchtenden Augen sprachen.

Yenu fühlte, wie die Wut erneut zum Leben erwachte – jene Wut, die sie in ihrem Herzen trug, seit sie erfahren hatte, dass Wilnu als Shura-Wna für eine Felis, eine Katzenfrau, auserwählt worden war.

Sie stieß einen leisen Fluch aus und ballte die Fäuste.

Kein lebendes Wesen in Andaurien war bei den Frauen der Hedero so verhasst wie die Angehörigen der geheimnisvollen Halbmenschenrasse, die ausschließlich weibliche Nachkommen hervorbrachte.

Hatte jemals ein Mann das Lager mit einer Felis geteilt, so zeigte er nach dieser Nacht kaum noch Neigung für die Frauen seines Blutes. Diese Männer zehrten lange von der berauschenden Erinnerung an die unbeschreibliche Begegnung und mieden die Lager ihre Gefährtinnen oft viele Winter lang.

Die Hederofrauen hingegen fügten sich in ihr Schicksal und nahmen die Demütigung hin. In ihrem Stamm waren sie ohne Rechte und lernten schon früh, sich den Männern zu unterwerfen.

Auch Yenu war so aufgewachsen. Sie kannte die Regeln und hatte sich stets gefügt – bis das Los des Auserwählten auf Wilnu gefallen war.

Yenu liebte ihren Gefährten. Um keinen Preis wollte sie ihn an eine Katzenfrau verlieren. Obwohl es den Frauen der Hedero nicht zustand, Einfluss auf die Entscheidungen ihrer Männer zu nehmen, hatte sie viele Nächte lang versucht, ihn davon abzuhalten. Erst sanft, dann drängend hatte sie ihn angefleht und darum gebettelt, nicht zu gehen – vergeblich.

In einer strengen, unnachgiebigen Art, die sie so von ihm bisher nicht gekannt hatte, hatte Wilnu ihre Einwände fortgewischt und sie mit Kälte und Missachtung gestraft. Dann war er gegangen.

Aber Yenu war nicht wie die Frauen ihres Blutes. Anders als Miya, ihre beste Freundin, die ihr Schicksal teilte und schon seit dem vergangenen Sommer unter den Erniedrigungen ihres Gefährten litt, hatte sie sich keineswegs dem scheinbar Unausweichlichen gefügt. Ein dünnes Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie noch einmal das Hochgefühl verspürte, das sie empfunden hatte, als sie den Tempel des Blutgottes aufgesucht hatte. Anders als ihre unterwürfigen Leidensgefährtinnen hatte sie sich nicht ihrem Schicksal ergeben und stattdessen den Jägern den Weg gewiesen. Mit Mut und Entschlossenheit hatte sie dafür gesorgt, dass diese Katzenfrauen den Frauen ihres Blutes nie wieder die Männer rauben würden.

Aber Wilnu hätte längst zurück sein müssen …

So schnell wie es gekommen war, schwand das Hochgefühl der inneren Befreiung und wich einer dumpfen Beklemmung, dem Ausdruck ihrer Sorge um den geliebten Gefährten.

Ich muss weiter!

Als Yenu die Augen öffnete, war ihr Blick endlich klar. Die dunklen Stämme der Bäume hoben sich im Mondschein scharf von den Schatten des Unterholzes ab. Nach einigem Suchen fand sie auf den schmalen Pfad zurück, der von ihrem Dorf in den Wald hineinführte, und machte sich humpelnd wieder auf den Weg.

Der Pfad mündete in einer sandigen Bucht des Pilan, einem Nebenarm des Darth. Anders als der reißende Strom, der die Wälder ihres Volkes von den unergründlichen Schattengefilden der Felis trennte, war der Pilan ein seichtes Gewässer, das die Hedero durch seinen Fischreichtum ernährte.

Hierhin zogen die Männer Morgen für Morgen, um in einem ausgehöhlten Baumstamm auf Fischfang zu gehen, während die Frauen ihnen in respektvollem Abstand folgten und in schweren Tonkrügen Wasser holten.

Yenu hielt kurz inne, um ihr schmerzendes Fußgelenk im Wasser zu kühlen, und ließ den Blick über den dunklen, trägen Fluss schweifen, auf dessen Oberfläche kleine Mondlichtfunken tanzten.

Der Pilan wirkte friedlich in dieser Nacht, aber der Schein trog. Ganze Schwärme von gefräßigen Querlas lauerten in dem üppig wachsenden Grün der breiten Uferzone auf ihre Opfer: Menschen oder Tiere, die den Weg durch den Fluss nahmen oder ungewollt hineingerieten. Schon eine leichte Bewegung genügte, um sie aus ihren Verstecken zu locken und das Schicksal des Opfers zu besiegeln.

Sie erinnerte sich noch gut daran, wie ein junger Tarpan ins Wasser gelaufen war. Das gutmütige Packtier war von einer Schlange gebissen worden und außer sich vor Furcht und Schmerz gewesen. Niemand hatte es aufhalten können. Als es bis zum Bauch im Fluss gestanden hatte, hatten sich die gefräßigen Raubfische zu Hunderten auf das arme Tier gestürzt und das Wasser rings um ihr Opfer in eine blutig schäumende Gischt verwandelt, bis nur noch bleiche Knochen am Grund des Flusses von dem grausigen Mahl gezeugt hatten.

Yenu verscheuchte die Erinnerung an den schrecklichen Anblick und lief weiter. Fünfzig Schritte entfernt spannte sich in doppelter Mannshöhe eine schmale Hängebrücke über den Fluss. Ein dickes Seil aus ineinander verflochtenen Ranken war der einzige Weg hinüber. Yenu kletterte hinauf, zögerte jedoch, das schwankende Flechtwerk zu betreten. Es war das erste Mal, dass sie den Pilan zu überqueren versuchte. Nur den Jägern der Hedero und den Auserwählten, so lautete das ungeschriebene Gesetz, war es gestattet, zum jenseitigen Ufer zu gehen. Wer das Gesetz missachtete, wurde unerbittlich bestraft. Doch der Punkt, an dem sie dies von ihrem Vorhaben hätte abhalten können, war längst überschritten. Sie hatte schon viel zu viel Zeit verloren und die Sorge trieb sie voran.

Yenu passierte die Brücke, ohne auch nur einmal nach unten zu sehen. Als sie das Seil auf der anderen Seite hinabglitt und wieder festen Boden unter den Füßen spürte, beschleunigte sie die Schritte. Ohne auf das dumpfe Pochen zu achten, das im Takt ihres Herzschlags durch den verletzten Knöchel hämmerte, folgte sie dem schmalen Pfad von der Brücke fort in den Wald.

Wenige Schritte vom Fluss entfernt standen die Bäume so dicht, dass das Mondlicht in den mächtigen Kronen nur wenige Schlupflöcher fand. Hier war der Pfad kaum breiter als ihr Fuß. Endlos schlängelte er sich durch das üppig wuchernde Unterholz, sodass sie Mühe hatte, ihm zu folgen. Bald hatte sie nicht nur die Orientierung, sondern auch jegliches Zeitgefühl verloren. Sie wusste nicht, wie weit sie schon in den Dschungel vorgedrungen war oder wie weit sie noch gehen musste.

Die Furcht, vom Weg abzukommen, saß ihr wie ein Djakûn im Nacken und sie flehte die Götter um Beistand an, dass sie sie leiteten, während sie sich in der Dunkelheit vorsichtig weiter vorantastete.

Der Ruf des Nachtaras begleitete sie. Die melodische Tonfolge hatte sich nicht verändert, doch Yenu konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass er sie verspottete.

Der Vogel schien jetzt ganz nah. Manchmal glaubte sie, seinen Flügelschlag in den Baumkronen zu hören. Bei den Hedero galt er als Unheilsbringer, dennoch empfand sie seine Nähe nicht als Bedrohung. Im finsteren Dickicht des unbekannten Dschungels hatte seine Gegenwart eher etwas Tröstliches und bald schon ertappte sie sich dabei, dass sie auf seinen nächsten Ruf wartete, wie um sich zu vergewissern, dass sie nicht allein war.

»Du törichte Tarpan-Stute«, schalt sie sich selbst und erschrak, weil ihre Worte überraschend laut durch die Stille hallten. Abrupt hielt sie inne und lauschte mit angehaltenem Atem. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, während ihre Hand den Schaft des kurzen Feuersteinmessers umklammerte, das die Frauen der Hedero stets bei sich trugen.

Die Berichte der Männer, die auf der anderen Seite des Flusses jagten, kamen ihr in den Sinn und schürten in ihr die tief verwurzelte Furcht der Hedero vor den nächtlichen Jägern des Dschungels. Sie wäre nicht die Erste ihres Dorfes, die hier einem Djakûn oder einem der anderen blutrünstigen Raubtiere zum Opfer fiele.

Der Nachtara gab einen spöttisch-gackernden Laut von sich.

Geh! – spornte Yenu sich selbst in Gedanken an. Nun mach schon! Beweg dich!

Und endlich löste sich die Starre.

Zögernd setzte sie einen Fuß vor den anderen. Erst langsam und leise, dann immer schneller humpelte sie den Pfad entlang. Jeder Schritt jagte ihr einen heißen Schmerz durch den Körper, aber sie biss die Zähne zusammen und kämpfte sich weiter voran.

Sie wollte fort, nur fort von hier.

Gehetzt blickte sie sich um.

War dort nicht ein leuchtendes Augenpaar, das sie aus dem Dickicht heraus anstarrte? Yenu blinzelte, doch als sie wieder hinschaute, war es verschwunden. Ihr Herz hämmerte wie wild, der verletzte Knöchel schmerzte, aber sie gönnte sich keine Rast. Irgendwo hinter sich glaubte sie, den hechelnden Atem eines Djakûn zu hören. Der Gedanke an die schwarzen Raubkatzen schürte die Panik in ihr und trieb sie an, noch schneller zu laufen. Kopflos floh sie durch das Dickicht. Die Äste der Bäume und Sträucher schlugen ihr wie Peitschenhiebe ins Gesicht und zerrissen den dünnen Stoff ihrer Tunika.

Yenu spürte, wie ihre Kräfte schwanden. Ihre Schritte wurden unsicher und immer öfter stolperte sie über Baumwurzeln. Lichtpunkte tanzten wie bunte Sterne vor ihren Augen und ein heftiger Schwindel raubte ihr das Gleichgewicht. Erschöpft taumelte sie noch ein Stück voran, dann verließen sie die Kräfte. Fast wäre sie gestürzt, hätten ihre tastenden Hände nicht im letzten Augenblick die borkige Rinde eines Baumes gefunden. Nach Luft ringend lehnte sie sich mit dem Rücken gegen den Stamm, schloss die Augen und wartete, dass sich ihr rasender Herzschlag beruhigte.

Was war sie doch für eine Närrin gewesen zu glauben, Wilnu so einfach folgen und den Weg zur Melva-Nnab allein und ohne Fackel finden zu können.

Irgendwo knackte ein Zweig, gefolgt von dem feinen Rascheln trockener Blätter.

Ein Djakûn!

Yenu hielt den Atem an, presste sich fest an den Stamm und schaute sich um. Alles in ihr schrie nach Flucht, aber ihre verkrampften Muskeln gehorchten ihr nicht mehr. Die tanzenden Lichtpunkte vor ihren Augen waren verschwunden, doch die Dunkelheit blieb undurchdringlich und gab nichts von dem preis, was sich in ihr verbarg. Verstohlen tastete sie mit einer Hand nach dem Feuersteinmesser, löste mit zitternden Fingern die Schlaufe am Gürtel – und griff ins Leere. Der dumpfe Aufprall, mit dem die Feuersteinklinge im Laub versank, nahm ihr den letzten Funken Hoffnung, sich der drohenden Gefahr erwehren zu können.

Wieder knackten Zweige, diesmal ganz nah. Yenu hörte den hechelnden Atem eines Raubtiers, während die unverkennbaren Ausdünstungen des gefürchteten Jägers ihre Nase streiften.

Wie dumm ich doch war! Yenu wusste, dass diese Erkenntnis zu spät kam. Viel zu spät. Sie hätte die Verbote nicht missachten dürfen. Wie die anderen Frauen hätte sie im Dorf bleiben und geduldig auf die Rückkehr der Männer warten müssen. Aber sie hatte nicht gewartet, sie war gegangen. Seufzend lehnte sie den Kopf an den Stamm und schloss die Augen. Sie hatte einen Fehler gemacht und würde dafür bezahlen. Das Gesetz des Dschungels war unerbittlich – auf alle, die Fehler machten, wartete der Tod.

*

Das Erste, was Keelin in seinem Unglück bewusst wahrnahm, war ein leichtes Ziehen an der Wange, eine sanfte Berührung seines Geistes und Krallen, die sich durch das Gewebe seines Gewandes in die Haut seiner Schulter bohrten.

Horus!

Er hob den Kopf und wischte die Tränen mit dem Ärmel fort. Der Falke hatte sich auf seiner Schulter niedergelassen und knabberte so zärtlich verspielt an seinen Bartzöpfen, als wolle er ihn trösten.

»Ach, Horus.« Plötzlich schämte Keelin sich, dass er sich hier im Falkenhaus so hatte gehen lassen. Der Raum, in dem die Falken schliefen, war ein Ort der Ruhe, doch er hatte nur seine eigenen Belange im Sinn gehabt und sich nicht annähernd so verhalten, wie es von einem Falkner erwartet wurde. Er hatte den Schlaf der Falken gestört, aber während sich die anderen langsam wieder beruhigt hatten, war es Horus, der immer noch darunter litt.

Keelin spürte, wie gereizt und verwirrt der Falke war. Das kleine Herz schlug ihm so heftig in der Brust, wie Keelin es sonst nur von den Augenblicken der Blutlust kannte, die dem Beuteschlagen vorausging. Jetzt aber war es seine eigene Aufgewühltheit, die sich auf Horus übertrug. Es war seine Schuld, dass der Falke litt.

Beschämt bemühte er sich, gleichmäßiger zu atmen und die heftigen Gefühle, die seine Gedanken begleiteten, zu mäßigen. Der Versuch scheiterte kläglich. Seine Welt, sein ganzes Leben lag in Scherben. Niemals zuvor hatte er sich so leer und ausgebrannt gefühlt wie in diesem Augenblick.

»Es tut mir leid, Horus«, sagte er mit gedämpfter Stimme, um den gefiederten Gefährten nicht noch mehr zu erschrecken. »Ich wünschte, ich könnte uns diese Pein ersparen. Aber ich habe gerade einen Menschen verloren, der mir sehr viel bedeutet hat.« Er seufzte tief und als er weitersprach, klang es fast, als rede er mit sich selbst: »Der Ulvars trägt neue Blätter, weißt du? Ajana wird gehen. Bald. Sie hat nie auch nur einen Zweifel daran aufkommen lassen, dass sie heimkehren wird. Ich weiß, dass sie große Sehnsucht nach ihrer Familie hat, aber ich weiß auch, wie schwer ihr es fällt, zu gehen.

Als ich das Blatt des Ulvars in der Schatulle gesehen habe, wurde mir klar, dass ich sie freigeben muss – auch wenn mir mein Herz etwas anderes sagt.

Ajana ist die Einzige, die mir je etwas bedeutet hat, aber es soll nicht sein, dass sie bei mir bleibt. Ich möchte nicht, dass sie leidet, wenn sie geht – verstehst du? Deshalb habe ich zerstört, was uns verband. Ich hasse mich dafür, dass ich sie so verletzt habe, und wünsche mir nichts sehnlicher, als es ungeschehen zu machen. Aber ich weiß auch, dass ich letzten Endes richtig gehandelt habe. Der Bruch ist endgültig. Sie ist frei.«

Keelin lehnte den Kopf an die Wand, hob das Kinn und schloss die Augen. Das Reden hatte ihm gutgetan. Und es hatte Horus gutgetan. Er fühlte, wie sich der Herzschlag des Falken verlangsamte, spürte das weiche Gefieder an seiner Wange, als Horus den Kopf zärtlich daran rieb, und hatte Teil daran, wie sich die Unruhe in der verstörten Vogelseele legte.

Horus war beruhigt – er war es noch lange nicht.

*

Es dauert lange, bis Ajana an diesem Abend Ruhe fand.

Zusammengekauert wie ein verwundetes Tier, lag sie auf ihrem Bett, dachte an Keelin und an das, was er zu ihr gesagt hatte. Sie fühlte sich so einsam und hilflos wie niemals zuvor, aber es gab niemanden, dem sie sich in ihrem Unglück anvertrauen mochte.

Am Ende weinte sie sich in den Schlaf.

In dieser Nacht träumte sie, wie schon so oft, von zu Hause. Diesmal waren es jedoch nicht die Bilder der Vergangenheit, die ihr der Schlaf in Erinnerung rief; es waren neue, verwirrende Bilder. Der Traum warf sie mitten hinein in eine Szene in der Küche ihres Elternhauses …

Ihre Mutter saß am Tisch. Vor ihr stand eine Flasche. Das Glas daneben war halb leer getrunken. Sie hatte den Kopf auf beide Hände gestützt und starrte mit stumpfem Blick auf einen vergilbten Zeitungsartikel. In den Fingern hielt sie eine Zigarette – offensichtlich nicht die erste. Blauer Dunst hing im Raum und der Aschenbecher auf dem Tisch quoll über von Zigarettenkippen.

Was hatte das zu bedeuten?

Ajana war entsetzt. Ihre Mutter schien um Jahre gealtert. Dabei hatte sie nie geraucht, Alkohol nie angerührt. Ihre Kleidung wirkte vernachlässigt, das stets so gepflegte aschblonde Haar hing ihr wirr und ungepflegt ins blasse Gesicht. Es schien, als sei sie in Gedanken weit fort, müde von durchwachten Nächten und verbittert von einem Kummer, für den es keinen Trost zu geben schien.

»Laura?« Ajanas Vater kam in die Küche. Auch er hatte sich verändert. Das lichte dunkle Haar auf der hohen Stirn war von grauen Strähnen durchzogen, das Gesicht von Sorgen gezeichnet. Dennoch wirkte er gefasst. Er ging auf den Tisch zu und legte seiner Frau die Hand sanft auf die Schulter. »Laura?«

Laura Evans rührte sich nicht. Wortlos starrte sie auf die Tür zum Klavierzimmer, als könne sie dort etwas sehen, das ihrem Mann verborgen blieb.

»Laura!« Seine Finger schlossen sich fester um ihre Schulter. »Laura, es ist schon weit nach Mitternacht. Du solltest versuchen, ein wenig zu schlafen.« Ajana sah, wie er ihr eine Packung Tabletten zuschob. »Hier! Nimm eine davon«, ermunterte er sie. »Und geh zu Bett.«

Sie beachtete ihn nicht. Ungerührt zündete sie sich eine neue Zigarette an.

»Du rauchst zu viel!« Mitleid und Resignation schwangen in seiner Stimme mit. »Und du trinkst zu viel.«

»Und wenn schon.« Laura Evans verzog das Gesicht. »Besser Zigaretten als dieses … dieses Giftzeug.« Die Worte kamen ihr nur schleppend über die Lippen. Mit einer unkontrolliert heftigen Handbewegung fegte sie die Tabletten vom Tisch. »Ihr … ihr habt doch alle … alle keine Ahnung. Du nicht, die … die Kripo nicht und erst recht nicht dieser … dieser Möchtegern-Psy… Psychologe, dem nichts Besseres einfällt, als mir das hier zu verschreiben. Ihr versucht … versucht mir einzureden, dass alles gut wird, dass sie irgendwann wieder zu… zurück nach … nach Hause kommt, dass sie nicht …« Mit einer fahrigen Handbewegung griff sie nach dem Zeitungsausschnitt, zerknüllte ihn und warf ihn trotzig zu Boden.

»Ihr macht mir alle etwas vor!«, rief sie aus. »Sagt, es … es gäbe noch Hoffnung. Dabei …« Sie schüttelte den Kopf und blickte ihren Mann aus leeren Augen an. »Hoffnung!« Die Art, wie sie das Wort aussprach, ließ keinen Zweifel daran, dass es diese für sie nicht mehr gab. »Habt ihr denn immer noch nicht be… begriffen, dass wir … dass wir sie niemals wiedersehen werden?« Schluchzend barg sie das Gesicht in den Händen. Ihre Schultern bebten. Sie weinte.