Das Erbe der Winslows - Màili Cavanagh - E-Book

Das Erbe der Winslows E-Book

Máili Cavanagh

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Beschreibung

Gay History Romance Clifford, Sohn der einflussreichen, höchst konservativen Familie Winslow, entdeckt in einer alten Familienbibel einen unkenntlich gemachten Namen. Warum hat jemand versucht, die Erinnerung an diesen Menschen auszulöschen? Er beginnt nachzuforschen und stößt dabei auf ein dunkles Geheimnis. Rund 170 Jahre zuvor … Nathaniel Winslow wächst unter der strengen Herrschaft seines Vaters auf. Dieser besitzt hunderte Sklaven, die er schlechter als Tiere behandelt. Im Laufe der Jahre wird Nathaniel das Unrecht bewusst, das auf der Plantage tagtäglich und des Nachts im Schutze der Dunkelheit in und um das Haus geschieht. Eines Tages begehrt er auf – und löst damit eine Tragödie aus. Zwei Geschichten, zwei Leben, die miteinander verbunden sind – zwei Männer auf der Suche nach Liebe, Freiheit und ihrem Platz im Leben.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Über dieses Buch:

Clifford, Sohn der einflussreichen, höchst konservativen Familie Winslow, entdeckt in einer alten Familienbibel einen unkenntlich gemachten Namen. Warum hat jemand versucht, die Erinnerung an diesen Menschen auszulöschen? Er beginnt nachzuforschen und stößt dabei auf ein dunkles Geheimnis.

Rund 170 Jahre zuvor … Nathaniel Winslow wächst unter der strengen Herrschaft seines Vaters auf. Dieser besitzt hunderte Sklaven, die er schlechter als Tiere behandelt. Im Laufe der Jahre wird Nathaniel das Unrecht bewusst, das auf der Plantage tagtäglich und des Nachts im Schutze der Dunkelheit in und um das Haus geschieht. Eines Tages begehrt er auf – und löst damit eine Tragödie aus.

Zwei Geschichten, zwei Leben, die miteinander verbunden sind – zwei Männer auf der Suche nach Liebe, Freiheit und ihrem Platz im Leben.

 

Über die Autorin:

Màili Cavanagh (Pseudonym) ist eine deutsche Autorin, die bevorzugt homoerotische Romane schreibt.

2015 erschien ihr Debütroman „Rough Ride - Rauer Ritt ins Glück“. Im Oktober 2015 folgte „This pain in his heart“ und Anfang 2017 ihr drittes Buch „Rodeo Lover“. Mit dem historischen Roman „Wenn Liebe eine Sünde ist“ entführte sie ihre Leserinnen und Leser in das Irland des Jahres 1848. Zusammen mit Svea Lundberg veröffentlichte sie 2019 den Thriller „Unter weiten Adlerschwingen“. „Shukono“ nahm 2020 ihre Leserinnen und Leser mit in das Reich der Fantasy. Zuletzt erschien 2022 ihr Science-Fiction-Roman „Die Verlorenen von Assandur“.

Die Autorin ist verheiratet, hat einen Sohn und lebt mit ihrer Familie in der Lüneburger Heide.

 

 

 

 

 

 

Impressum

4/2024

© telegonos-publishing

www.telegonos.de

Str. des Friedens 14, 17194 Vollrathsruhe

© Màili Cavanagh

(Haftungsausschluss auf der Website)

Lektorat, Covergestaltung: Alexandra Balzer

Bildrechte: Frontcover – stockadobe.com; Zierrahmen: pixabay.com

 

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowieso Übersetzung, sind vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

 

Die Handlung dieses Werkes und sämtliche Personen sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Wenn reale Persönlichkeiten erwähnt werden, werden sie im Anhang namentlich genannt.

Diese Geschichte enthält explizite Gewaltszenen und homoerotische Inhalte.

Manche Ausdrucksweisen sind sehr direkt und lassen sämtliche Höflichkeitsregeln außer Acht.

In der Realität gilt: Safer Sex.

Dieses Werk enthält weiterhin Passagen, deren Sprache und Haltung aus heutiger Sicht diskriminierend wirken können, aber der damaligen Realität entsprechen und lediglich der

Unterstreichung der Authentizität dienen.

Die COVID-19-Pandemie wird hier zeitlich nicht berücksichtigt.

Es gibt eine Reihe von Bibelzitaten in dieser Geschichte, sie beziehen sich alle auf die Übersetzung aus der Elberfelder Bibel.

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

 

 

 

Das Erbe der Winslows

von Màili Cavanagh

 

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

 

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

 

 

 

Sommer 2019

 

inzige Staubpartikel tanzten in dem Sonnenlicht, das durch das eckige Fenster fiel, welches zwar spiegelblank geputzt war, in der unteren linken Ecke aber ein Loch aufwies. Wie Spinnenweben zogen sich haarfeine Risse von dort aus durch das Glas.

Die Hitze des Tages hatte sich unter dem Dach gestaut, die Luft war abgestanden. Schweiß lief Clifford Winslow den Rücken hinunter. Er sah sich kurz um und seufzte. Wenn es so etwas wie einen Schandfleck auf diesem Anwesen gab, einem der großen noch existierenden Baumwollplantagen in Louisiana, dann war es dieser Dachboden. Seit Jahren, nein, seit Jahrzehnten, vielleicht sogar seit Generationen, hatten seine Vorfahren, die Bewohner der Winslow Plantation, alles, was sie nicht mehr benötigten, jedoch nicht wegwerfen wollten, hier oben gelagert. So hatte sich dieser Raum mit etlichen Dingen gefüllt. Möbel, Koffer, Bilder, altes Spielzeug … Und irgendwo in diesem Chaos musste sich auch die alte, handgeschnitzte Wiege befinden, die er suchte, und in der er bereits gelegen hatte, so wie nahezu alle Mitglieder seiner Familie vor ihm seit ihrer Entstehung. Nun erwartete seine Schwester ihr erstes Kind und sollte sie zur Geburt bekommen.

Natürlich hätte er einen ihrer Angestellten hochschicken können. Doch er wollte die Gelegenheit nutzen und gleich einmal ein wenig ausmisten. Es gab bestimmt einiges, das wegkonnte. Und was genau das war, wollte er persönlich entscheiden und nicht jemand anderem überlassen.

Seit der Erbauung 1830 war vieles modernisiert worden. Dabei hatte man diesen Teil scheinbar stets vernachlässigt. Nun, wozu auch Geld investieren für einen Raum, in dem sich höchstens Spinnen wohlfühlten? Von außen sah das zweistöckige Gebäude immer noch wie kurz nach der Errichtung vor über zweihundert Jahren aus. Wie viele andere Herrenhäuser zu jener Zeit war es im typischen Antebellum Stil errichtet worden – neoklassische Architektur – pompös, luxuriös, verschwenderisch. Riesige Säulen, große Fenster mit hölzernen Läden, ein Balkon, der um das ganze Haus führte, welches weiß gestrichen war.

Innen ein Foyer, geschwungene offene Treppen, ein Ballsaal, mehrere Speiseräume … Geschmückte Wände, hohe Decken, Stuck. Alte Möbel aus Mahagoni, handgefertigte Wollteppiche, und Marmor, wohin das Auge sah.

Umso moderner jedoch waren die mittlerweile installierten Kameras und Sicherheitseinrichtungen sowie der Zaun, der das gesamte riesige Areal umgab. Außerdem patrouillierte regelmäßig ein privater Sicherheitsdienst über das Anwesen.

Hinter dem Haus befand sich ein Garten mit Blumenbeeten, geometrisch geschnittenen Büschen, mehreren Teichen und Brunnen und einem Pavillon für den sonntäglichen Nachmittagskaffee. Die teilweise überdachte Veranda bot Platz für ausschweifende Feiern, wie sie nur allzu oft von seinem Vater ausgerichtet wurden. Elitäre Zusammenkünfte hochrangiger Politiker oder Geschäftsleute. Lobbyisten. Millionäre. Mitglieder der High Society. Gelegentlich wurden die Männer von ihren zumeist attraktiven und wesentlich jüngeren Frauen begleitet. Der Champagner floss dann in Strömen. Es wurde Kaviar gereicht und zum Abendessen Hummer. Früher im Überfluss vorhanden und Hauptnahrungsmittel von Häftlingen, Dienern und Witwen, war das Krustentier heute eine teure Delikatesse.

Clifford hasste diese Partys.

Thomas Edward Winslow war Politiker. Ein einflussreicher noch dazu. Er besaß nicht nur diese Plantage, sondern Anteile an einem halben Dutzend Firmen, wertvolle Gemälde, darunter ein van Gogh, einige Immobilien im In- und Ausland und ein paar Millionen Dollar auf diversen Konten.

Clifford hatte keine genaue Übersicht über die Finanzen seines Vaters. Dieser hütete sie nämlich, als wären sie ein Staatsgeheimnis. Sollte ihm mal etwas passieren oder er sterben, würde sein langjähriger Freund und Anwalt erst einmal das Vermögen verwalten, ehe es an seine Mutter, ihn, Clifford, und seine Schwester überging. Auch seine Mutter schwamm sozusagen in Geld. Sie hatte von ihren Eltern ein Imperium geerbt. Ihr gehörten mehrere große, noble Hotels, um die sie sich nicht selbst kümmerte. Es gab einen Verwalter, der schon ihre Eltern beraten hatte. Sie widmete sich lieber Wohltätigkeitsveranstaltungen und der Dekoration ihres Hauses.

Clifford war die genaue Höhe des Vermögens seiner Eltern egal. Er war nicht auf das Geld angewiesen, auch wenn es ihm zumindest in finanzieller Hinsicht Sicherheit gab. Er hatte an der Princeton University Politik- und Wirtschaftswissenschaften studiert und einen Job in einem renommierten Unternehmen; er beriet NGOs bei der Entwicklung von politischen Kampagnen, der Analyse von wirtschaftlichen Trends sowie bei der Lobbyarbeit. Dort hatte er Narrenfreiheit. Er konnte im Grunde tun und lassen, was er wollte, denn man war dort lediglich scharf auf seinen Namen gewesen, der nun groß auf dem Geschäftspapier der Firma prangte.

Eines Tages würde er – ob er wollte oder nicht – die Plantage übernehmen. So hatte sein Vater es für ihn entschieden. Schließlich war er der einzige männliche Erbe und ein Verkauf würde für ihn niemals ins Frage kommen. Sein wohlgeratener, gutaussehender Sohn. Sein Vorzeigeobjekt. Der Erbe seines Imperiums. Seine Zukunft. Seine Hinterlassenschaft. Ihn, Clifford, hatte niemand gefragt. Seine Meinung, seine Wünsche, seine Lebensvorstellungen waren unerheblich. Er hatte sich unterzuordnen, zu fügen und gefälligst dankbar zu sein.

Clifford wusste durchaus, wie gut er es hatte. Wie privilegiert er war. Wie bevorzugt und wohlbehütet er aufgewachsen war und dass er sich keinerlei Gedanken oder Sorgen um seine Zukunft machen musste. Doch mit jedem Tag, den er weiter auf dem Anwesen verbrachte, hatte er das Gefühl, dass die unsichtbaren Ketten, geschmiedet aus Liebe und Sorge, die ihn hielten, enger wurden. Sie nahmen ihm die Luft zum Atmen, erdrückten ihn wie die feuchte Sommerhitze dieses Landes. Er führte ein Leben im goldenen Käfig und wollte eigentlich nichts mehr als seine Flügel ausstrecken und die Freiheit genießen.

Er fand die Wiege und räumte sie zur Seite. Sie quietschte beim Schaukeln. Darin stand ein kleiner Karton. Als er ihn öffnete, fand er eine alte Spieluhr. Er zog sie auf und lauschte der Melodie. Erinnerungen kamen in ihm hoch. Erinnerungen an die wenigen Momente, die einem normalen Familienleben glichen. Ein gemeinsamer Ski-Urlaub, ein paar Tage in einem Luxus-Resort … Spielzeug zuhauf, doch keine Nähe. Vorgesungen und ins Bett gebracht hatte ihn eine Nanny.

Selbstverständlich hätte er jederzeit gehen können. Die ganze Welt stand ihm im Grunde offen. Während er sich durch das Gerümpel wühlte und einen alten Schaukelstuhl zur Seite schob, dachte er darüber nach, was ihn hier eigentlich hielt. Dankbarkeit? Die Erwartungen an ihn? Faulheit? Egoismus? Vielleicht war es alles zusammen oder gar nichts davon. Er wusste es nicht.

Seine Schwester Liz würde seinem Vater nun endlich den langersehnten Enkel und Stammhalter schenken. Was seinen Vater zwar auf der einen Seite beruhigte – auf der anderen aber wieder dazu trieb, ihn, Clifford, stetig zu bedrängen, wann er denn zu heiraten und eine Familie zu gründen gedenke, um die Dynastie fortzusetzen. Schließlich seien einige seiner Vorfahren bereits mit der Mayflower nach Amerika gekommen. Ein Stammbaum, auf den sein Vater stolz war und dessen Verbildlichung sein Arbeitszimmer zierte.

Clifford hatte damit keine Eile. Er hatte bisher noch nicht die richtige Person gefunden, mit der er sein Leben teilen wollte. Auch wenn seine Eltern ihm beständig damit in den Ohren lagen. Schließlich sei er mittlerweile einunddreißig und die besten Partien seien bereits vergeben.

Genervt wischte Clifford sich ein Spinnennetz aus dem Gesicht, in das er direkt hineingelaufen war. Er hatte in der Zwischenzeit einiges aussortiert, was seiner Meinung nach wegkonnte – ein dreibeiniger Teetisch, ein stummer Diener, und einiges mehr. Jetzt blieb noch ein alter, wurmstichiger, wuchtiger Schrank übrig.

Zu seiner Überraschung war dieser verschlossen. Verwirrt krauste er die Stirn und stand einen Moment unschlüssig da. Warum war dieses Teil abgeschlossen? Hier kam höchstens selten jemand rauf – und dann auch nur einer von den Angestellten, um die Fenster zu putzen oder etwas hochzubringen. Selbst als Kinder hatten sie hier oben nichts zu suchen gehabt. Der Schlüssel …

Aber bevor er sich auf die Suche danach machen konnte, rief jemand seinen Namen.

„Clifford?“

„Ja, Mutter?“

„Das Mittagessen wird in zehn Minuten serviert!“

„Ich komme gleich!“

Nun, was auch immer sich in diesem Schrank befand – es würde nicht weglaufen.

 

1851

 

as für eine Hitze!“, stöhnte Charles Emerson Winslow, zückte ein blütenweißes, mit einem Monogramm besticktes Taschentuch und wischte sich damit über seine schweißnasse Stirn.

Den Worten seines Vaters konnte Nathaniel nur zustimmen. Es war schwül und drückend und sein Hemd klebte ihm unangenehm auf der Haut. Dazu kam der bestialische Gestank, der hier herrschte. Hier, in New Orleans, auf dem größten inneramerikanischen Sklavenmarkt. Außerdem war es laut und voll. Ein Gedränge und Geschubse. Ein Stimmengewirr sondergleichen.

„Wohin wollen wir, Vater?“

Anders als in vielen anderen Städten gab es in New Orleans mehrere Orte, an denen man die begehrte schwarze Ware erwerben konnte. Nahezu an jeder Ecke, in der ganzen Stadt, kurz, überall wo es Nachfrage gab, wechselten Sklaven ihre Besitzer; in Versteigerungshallen wie die im St. Louis Hotel, in Sklavenställen, Auktionshäusern und sogar in Parks.

„Esplanade Avenue oder St. Louis Street?“

„Ich denke, wir gehen heute direkt zum Hafen. Mir ist nicht danach, mich bei der Hitze in dem Inneren eines Gebäudes aufzuhalten.“

Es gelang ihnen mit Mühe, einen guten Platz zu bekommen, ehe die Auktion begann.

„Gute Sklaven sind wirklich zur Mangelware geworden. Und Schuld daran sind diese Abolitionisten!“, murmelte er dabei.

„Die werden noch dafür sorgen, dass diese gottverdammten Nigger eines Tages dieselben Rechte wie wir haben werden!“

Nathaniel wandte den Kopf. Es war Robert Harris, der das gesagt hatte. Ein guter alter Freund seines Vaters. Er zündete sich gerade eine dicke Zigarre an und blies den Rauch gen strahlend blauen Himmel. „Wenn es so weit kommt, erschieße ich mich! Das fehlt mir noch – ein Schwarzer, der neben mir am Tisch sitzt. Oder gar wählt!“ Er spuckte angewidert aus.

Nathaniel hatte von diesen Abolitionisten ebenfalls schon gehört.

Widerstand gegen die Sklaverei war nichts Neues. Bereits 1652 hatte die Kolonie Rhode Island die Sklaverei für illegal erklärt. Auch die Mennoniten und große Teile der Quäker lehnten sie ab – aus religiösen Gründen. Ihnen waren die Methodisten und Baptisten und einige Jahre später auch die Kongregationalisten gefolgt. Aber das waren nur Minderheiten. Spinner, wie sein Vater sie nannte.

In Nathaniels Augen war sein Vater ein Meister darin, die Dinge und Sachverhalte so auszulegen, wie er sie gerade brauchte. Wie sie zu seinem Vorteil und Nutzen waren. Und wenn er mit Argumenten nicht weiterkam, ließ er den schnöden Mammon sprechen. Oder die Bullpeitsche, gelegentlich auch seinen Gürtel oder was sonst gerade greifbar war.

Nahezu alles hatte Nathaniel mit seinen dreizehn Jahren bereits zu spüren bekommen. Aber eine herzliche Umarmung von ihm – niemals. Ein „Ich liebe dich“ hatte er aus dem Mund seines Erzeugers nicht ein einziges Mal zu hören bekommen. Stattdessen hagelte es nahezu jeden Tag Vorwürfe, dass er Schuld sei am Tod seiner Mutter, die bei seiner Geburt verblutet war. „Ich verfluche den Tag, an dem Mary dich empfangen hat. Und der Teufel hat dafür gesorgt, dass du ihr so ähnlich siehst. Oh, wie sehr du mich mit deinem Anblick an den größten Verlust meines Lebens erinnerst!“

In Nathaniel hallten noch immer die Worte des Morgens nach.

„Wir brauchen frisches Blut aus Afrika!“ Charles Emerson Winslow zog einen Bündel Scheine aus seiner Tasche und zählte sie nach.

„Hm!“ Harris nickte.

Nathaniel ahnte, welcher Wortwechsel zwischen den beiden Männern gleich folgen würde. Nahezu jedes Mal, wenn Harris zu ihnen nach Hause kam, sprachen sie über das Thema. Darüber, dass vom Kongress der internationale Sklavenhandel verboten worden war, der Besitz von Sklaven und der Handel innerhalb des Landes jedoch nicht. Aber kaum jemand kontrollierte das. Und findige Geschäftsleute waren dazu übergegangen, die im Norden freien Schwarzen zu entführen und als Unfreie in den Süden zu verkaufen. Es war ein nicht unerhebliches Risiko, wenn man solch einen Sklaven erwarb. Man war dann nicht nur sein Geld, sondern auch die Arbeitskraft los, denn die zu Unrecht verkaufte Person musste wieder freigelassen werden und der Verkäufer war mit hoher Wahrscheinlichkeit längst über alle Berge.

Während sie warteten, sah Nathaniel zum Hafen. Dort lagen Lastkähne neben Flachbooten und Dampfschiffen. Schornsteine, Masten und Segel ragten in den Himmel. Am Ufer stapelten sich Fässer, Kisten und Säcke mit Bärenfellen, Tabak, Mais, Baumwollballen und Zucker.

Er war zum ersten Mal hier. Bisher hatte sein Vater sich immer gesträubt, ihn mitzunehmen. Hatte stattdessen seinen älteren Bruder Isaac vorgezogen, der ihm ohnehin in allen Belangen lieber war. Sein Augapfel. Sein Ein und Alles.

Nathaniel hingegen – er war nur ein überflüssiges Anhängsel. Der rebellische Sohn, der ständig widersprach und sich nichts sagen ließ. Der Zartbesaitete. O ja, Nathaniel wusste genau, wie sein Vater über ihn dachte. Machte er doch keinen Hehl daraus, musste es ständig kundtun.

Aber genauso wusste sein Vater um die Notwendigkeit, auch ihm das Handwerkszeug für die Leitung der Plantage mitzugeben, sollte seinem Bruder Isaac etwas passieren. Ein notwendiges Übel, mit dem er sich ungern abgab. Zwar besaß Nathaniel noch weitere Geschwister, doch Jane und Anna waren Mädchen, die ohnehin bald heiraten und weggehen würden. Und was Adam betraf … Den Krüppel, wie sein Vater ihn nannte, würde er lieber ersäufen, als ihm auch nur einen Acre Land zu vererben. Und so hatte sein Vater ihn statt Adam mitgeschleppt. Worauf Nathaniel gut hätte verzichten können. Er hatte trotz seiner Erziehung eine tiefe Abneigung gegen die Sklaverei. In den Augen seines Vaters war das ein weiterer Beweise für seine Schwäche.

Nathaniel sah, wie die Gefangenen von den Schiffen getrieben wurden. In Ketten – sofern sie noch lebten. Die Toten warf man einfach über Bord ins Wasser.

Mit klirrenden Eisen marschierte die Kolonne an ihnen vorbei. Die Männer, Frauen und Kinder schleppten sich dahin. Sie waren dreckig, übersät von eiternden Wunden, ihre Köpfe rasiert.

Wie Tiere, dachte Nathaniel.

Harris seufzte. „Ich gehe jede Wette ein, dass das Albrights Transport ist.“

„Wessen sonst? Was macht es schon, wenn einige auf dem Transport verrecken, wenn er sein Geld über die Masse reinbekommt? Ich würde genauso vorgehen. “

„Und garantiert ist die Hälfte seiner Papiere gefälscht!“ Harris grinste.

Harris hatte Recht, zumindest mit dem ersten Teil, wie Nathaniel kurz darauf bemerkte. Es waren Albrights Sklaven. Ein kleines Stück von ihnen entfernt nahm Albright seine Ware in Empfang und begutachtete sie. Er ließ sie sich ausziehen und waschen, in die Hocke gehen und springen und steckte ihnen seinen behandschuhten Finger in die Münder, um den Zustand ihrer Zähne zu prüfen, wie bei einem Pferd.

„Sieh genau hin!“, raunte sein Vater Nathaniel zu. „Nur gute Ware bringt einen guten Preis.“

Erst als Albright fertig war, durften sich die Gefangenen wieder anziehen. „Was ist das denn?“ Als Albright bereits im Begriff war zu gehen, schien er aus den Augenwinkeln noch etwas zu bemerken; drehte sich noch einmal um und entriss einer der Frauen ein Baby. Die Frau schrie und streckte ihre Arme nach dem Kind aus. Brutal wurde sie von einem der Aufseher zurückgezogen. Albright schlug das Tuch zurück, in das der weinende Säugling eingewickelt war, ließ es achtlos fallen und verzog angewidert die Mundwinkel. Dann hob er das Baby hoch.

Nathaniel sah verkrüppelte Arme und Beine.

„Unverkäuflich!“ hörte Nathaniel ihn lautstark fluchen, ehe er den Kopf des Babys kurzerhand gegen die Wand schlug. Das Weinen verstummte abrupt; wurde abgelöst durch das verzweifelte Kreischen der Mutter. Blut lief die Wand hinab.

Nathaniel ballte die Hände zu Fäusten. „Dieses Schwein!“, flüsterte er, vor Zorn bebend. Dann setzte er an loszulaufen. Hin zu Albright, um ihn zur Rede zu stellen. Um ihn zu sagen, dass er ihn für diese Tat verachtete und er hoffte, dass er in der Hölle schmoren würde. Um ihm vor Füße zu spucken und zu fragen, wo er denn in der Kirche gewesen war, als es um Nächstenliebe gegangen war. Aus den Augenwinkeln nahm er wahr, wie die Blicke der Männer und Frauen um sie herum auf ihn fielen.

Gemurmel setzte ein. „Was hat der Junge gesagt?“

Die Züge seines Vaters entgleisten; wandelten sich von Entsetzen über Scham hin zu Zorn. Und schon spürte er die Rechte seines Vaters auf seiner Schulter. „Was hast du gesagt?“ Speichel flog durch die Luft. Traf seine Wange. Als er nicht antwortete, schüttelte sein Vater ihn. „Ich habe dich etwas gefragt!“

„Ich … ich …“ Nathaniel wusste, egal, was er nun antwortete, er würde es bereuen. Doch er kam gar nicht dazu, etwas zu sagen, denn Sekunden später landete die Hand seines Vaters in seinem Gesicht. Der Schlag war so heftig, dass Nathaniel das Gleichgewicht verlor und zu Boden fiel.

„Du bist eine Schande für die Winslows! Es wäre besser gewesen, wenn du anstelle deiner Mutter gestorben wärest!“

Schweigend rappelte Nathaniel sich auf und klopfte sich den Dreck von der Kleidung. Härter als jeder Peitschenhieb es getan hätte trafen ihn diese Worte. Etwas in ihm zerbrach. Alles Kindliche, das er noch in seinem Herzen trug, starb in jenem Moment. Wurde mitgerissen von der Strömung und verschwand in unerreichbare Ferne.

„Und jetzt halt den Mund! Ich habe Geschäftliches zu tun!“

 

Sommer 2019

 

ie die meisten Menschen im Bible Belt und in Louisiana waren auch die Winslows Katholiken. Und so fand sich Clifford an einem Sonntagmorgen im August, ein paar Wochen nach der Aufräumaktion auf dem Dachboden, in der ersten Bankreihe in der St. Louis Cathedral wieder. Das Gotteshaus war voll. Die Familie der Winslows war groß und sie waren von überall hergekommen. Dazu Freunde und Nachbarn, ein paar Schaulustige und sogar Vertreter der Presse. Der Name Winslow hatte in dieser Gegend Gewicht und Ansehen und eine Taufe war ein großes gesellschaftliches Ereignis.

Clifford freute sich für seine Schwester. Sie hatte ihr privates Glück gefunden. Ein liebender Ehemann und jetzt ein gesunder Sohn. Sie standen vorne am Taufbecken, zusammen mit den Paten.

„Welchen Namen haben Sie Ihrem Kind gegeben?“, fragte der Geistliche. Seine tiefe Stimme hallte durch die heilige Halle; brach sich an der Decke mit den detailreichen Malereien.

Das Mittelschiff wurde von einem Tonnengewölbe überspannt. Die Seitenschiffe wurden von Emporen in zwei Ebenen geteilt. Clifford fühlte sich hier drinnen klein. Unbedeutend. Demütig.

„Elias.“

„Was erbitten Sie von der Kirche Gottes für Elias?“

„Die Taufe!“

Der Priester nickte. Und fuhr fort …

Clifford schluckte. Er hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Mit dem Liederblatt versuchte er sich ein wenig Abkühlung zu verschaffen, doch er wusste, dass es weder an der Wärme noch dem hoch zugeknöpften weißen Hemd und der engen Krawatte lag.

„Widersagt ihr dem Bösen, um in der Freiheit der Kinder Gottes zu leben?“

„Ich widersage“, antworteten Elisabeth und Jeffrey einstimmig.

„Widersagt ihr den Verlockungen des Bösen, damit die Sünde nicht Macht über euch gewinnt?“

„Ich widersage.“

„Widersagt ihr dem Satan, dem Urheber des Bösen?“

„Ich widersage.“

Vielmehr war die unsichtbare Maske, die er trug, daran schuld. Er hatte nichts für die Kirche übrig.

Für diese Heuchelei. Für diese Realitätsferne. Für einen Papst, der Liebe, Mitgefühl, Moral, Anstand und Sitte forderte und gleichzeitig seine schützende Hand über die pädophilen Bischöfe hielt. Der Armut predigte und gleichzeitig Millionen scheffelte. Dieser verlogene Verein, der noch in der Vergangenheit lebte, kotzte ihn an. Mit seiner Verachtung Frauen gegenüber. Mit seiner Homophobie.

Im Grunde war er nur seiner Schwester zuliebe hier. Er war froh, als er wenig später an einem der Tische draußen an der frischen Luft stand und an einem Glas Wasser nippte. Elisabeth und Jeffrey hatten sich für ein nahegelegenes Restaurant entschieden. Nobel, mit einem großen Garten, in dem eine lange Tafel aufgebaut worden war. Cremefarbene Tischdecken, Silberbesteck. Blumen. Sekt wurde gereicht, Häppchen. Sonnenschirme spendeten Schatten. Ein Band sorgte für musikalische Untermalung.

„Schön, dass du hier bist!“ Liz hauchte ihm einen Kuss auf die Wange und schenkte ihm ein bezauberndes Lächeln. Sie hatten nie Geheimnisse voreinander gehabt, sich stets alles erzählt, einander anvertraut.

„Du hast es ihnen immer noch nicht gesagt, oder?“, fragte sie, wobei der Hauch eines Vorwurfes in ihrer Stimme mitschwebte. Wie der Nebel, der oft über den Sümpfen Louisianas lag.

„Liz!“ Er zerknüllte die Serviette, die vor ihm lag. Dabei blitzte kurz sein Princeton Absolventenring an seiner rechten Hand auf. Er bereute, ihr von seinen Ängsten erzählt zu haben.

Wahrscheinlich war er einfach frustriert und verwirrt, weil er trotz seines guten Aussehens und Geldes noch immer nicht die richtige Frau gefunden hatte. Eine, die ihn umhaute. Wo es Liebe auf den ersten Blick war. Da kamen einem schon mal blöde Ideen.

„Warum nicht?“

Weil es Quatsch wäre, seine Eltern damit zu erschrecken, wenn es doch bloß Einbildung war; ein Fehlalarm.

„Liz, bitte lass die Sache auf sich beruhen, ja? Vergiss einfach, was ich gesagt habe.“

„Aber …“

„Mutter …“

„Was ist mit mir?“

Clifford zuckte kaum merklich zusammen. Fing sich wieder und deutete eine leichte Verbeugung an, als sie plötzlich neben ihnen stand. „Ich sagte nur gerade zu Liz, dass sie deine Schönheit geerbt hat, Mutter!“

Cathrine Winslow winkte verlegen ab. „Du bist ein alter Charmeur, Clifford!“

„Nein, wirklich, Mom. Du siehst bezaubernd aus!“ Sie trug ein lindgrünes Kostüm, das sie wesentlich jünger als neunundfünfzig wirken ließ und perfekt mit ihrer Augenfarbe harmonierte. Er hingegen hatte die blauen Augen seines Vaters geerbt. Eine Kette mit einer Orchideenblüte aus Diamanten und Rubinen und eine dazu passende, aufwendig gearbeitete Brosche machten ihren Auftritt perfekt. Sie liebte Orchideen. Das ganze Haus war voll davon und an manchen Tagen dominierte ihr Duft sämtliche Räume des Anwesens.

Galant führte er sie zum Tisch und rückte ihr den Stuhl zurecht. Ihn hatte man neben Sarah Humington platziert. Als sein Vater sich ebenfalls gesetzt hatte, beugte sich dieser vor und zwinkerte ihm zu. „Sie ist übrigens immer noch unverheiratet!“

„Thomas!“, entrüstete sich Cathrine.

Clifford seufzte. Das konnte ja heiter werden.

 

1852

 

ie viele andere Familien in den Südstaaten waren die Winslows durch den Anbau von Baumwolle reich geworden. Sie besaßen mehr als sechseinhalb Hektar Land und über fünfhundert Sklaven, die die Plantage bewirtschafteten. Neben Baumwolle wurden auch Weizen und Mais, Obst und Gemüse angebaut und Vieh gehalten, um so gut es ging autark zu sein.

Nathaniels Vater nannte die Baumwolle „weißes Gold“ und hatte nichts für die anderen übrig, die Tabak, Reis oder Zuckerrohr anpflanzten oder gar Rinder oder Schweine züchteten. Er sah sich selbst als freundlicher, verantwortungsvoller, fürsorgender Gentleman, obwohl er Menschen als Besitz betrachtete.

Und alle anderen sahen ihn ebenfalls so. Schließlich war er in Gesellschaft freundlich, aufmerksam, höflich, beherrscht, gottesfürchtig und charmant. Ein glänzender Gastgeber, gebildet und mit scharfsinnigem Witz, der sich niemals betrank und zudem auch noch gut aussah. Die Frauen lagen ihm zu Füßen und er in ihren Betten. Seine wahre Natur ließ er nur im Haus nach außen dringen.

Nathaniel starrte aus dem Fenster, während sein Privatlehrer etwas über die alten Griechen dozierte. Sein Vater legte Wert auf Bildung. Eine Privatschule war gerade gut genug für seine Kinder. Und dazu noch nachmittäglicher Unterricht, damit sie die Besten der Klassen wurden. Musterschüler. Und danach … Darüber hatte sein Vater noch nicht mit ihm gesprochen; seine Pläne für ihn noch nicht offenbart.

Nathaniel wusste, dass es hier auf der Plantage keinen Platz für ihn und Isaac gleichzeitig gab. Sein Bruder kam ganz nach seinem Vater. Nicht nur äußerlich; das blonde Haar, das ebenmäßige Gesicht, das markante Kinn, die blau-grauen Augen. Auch sein Charakter ähnelte dem seines Vaters. Er war arrogant, egoistisch, jähzornig, manipulativ und verlogen. Er liebte es, Tiere zu quälen und seine Geschwister gegeneinander auszuspielen. Wie oft hatte er ihnen die Schuld für etwas in die Schuhe geschoben, was er selbst getan hatte. Isaac war der Liebling ihres Vaters, der Erstgeborene. Und seine Bevorzugung ließ er die anderen jeden Tag spüren.

Draußen, unten, hinter dem Haus, saßen Anna und Jane im Schatten einer uralten Eiche, von deren Ästen Moos hinabhing, und stickten unter der Aufsicht seiner Stiefmutter. Die meiste Zeit verbrachten die beiden auf der Mädchenschule für höhere Töchter, wo man sie in Handarbeit, Etikette, Tanzen und anderen Dingen unterrichtete. Beide spielten sie ausgezeichnet Klavier. Sie waren ebenfalls blond und ähnelten ihrer Mutter sehr. Unten über dem Kamin hing ihr Portrait, das sie in jungen Jahren zeigte, in einem aufwendig mit Perlen bestickten Kleid, den Sonnenschirm über der rechten Schulter. Ein Lächeln in ihrem Gesicht.

Sie hatte Isaac bekommen, als sie achtzehn gewesen war. Danach Anna, dann Adam, dann Jane und zum Schluss ihn. Als sie starb, war sie noch nicht mal dreißig Jahre alt gewesen. Lange hatte sein Vater allerdings nicht um sie getrauert. Bereits wenige Monate nach ihrer Beerdigung war er mit Genevieve von einer Reise zurückgekommen – verheiratet. Sie sollte ihm weitere Kinder schenken und sich um die vorhandenen kümmern. Zumindest war das sein Plan gewesen, der allerdings nur in Teilen aufgegangen war. Obwohl sie bei der Heirat noch jung gewesen war, war sie nie mit eigenen Kindern gesegnet worden. So hatte Genevieve es ihm mal erzählt.

Eine Schande sondergleichen, wie sein Vater Genevieve allabendlich im elterlichen gemeinsamen Schlafgemach für alle anderen im Haus unüberhörbar zu verstehen gab. Mal mit Schlägen, mal mit Ignoranz, mal mit wilden Beschimpfungen.

Und dennoch kümmerte sie sich liebevoll um ihn, Nathaniel, und die anderen.

Isaac kam auch da ganz nach seinem Vater, behandelte sie nahezu wie eine Sklavin. Von Höflichkeit keine Spur. Im Gegenteil. Sie war eine Fremde, ein Eindringling, obwohl sie nunmehr den Namen Winslow trug. Und sagen ließ er sich von ihr ohnehin nichts.

Nathaniels Blick wanderte rüber zu Adam. Seit seinem Unfall nannte sein Vater ihn nur noch „der Krüppel“. An einem Tag im April war er beim Spielen von einem Baum gefallen und hatte sich beide Beine und den rechten Arm gebrochen. Sein Vater hatte ihm wegen seiner „Jammerei“ noch zusätzlich ein paar Ohrfeigen versetzt und erst am übernächsten Tag den Arzt gerufen, um ihm beizubringen, dass ein Mann Schmerzen aushalten müsse.

Der Arzt, ein Mann namens Josiah Abbott, hatte angeblich alles getan, was er konnte, doch den linken Unterschenkel musste er wegen des offenen Bruchs und der beginnenden Sepsis amputieren und den rechten Arm konnte Adam seitdem kaum noch gebrauchen.

Auch das hatte Genevieve ihm, Nathaniel, erzählt, da er sich daran nicht mehr erinnern konnte. Jeden Nachmittag saßen sie zusammen. Offiziell unterrichtete sie ihn in Französisch und europäischer Geschichte. Doch in Wirklichkeit gab sie ihm Bücher zu lesen. Bücher, von deren Existenz im Haus sein Vater niemals erfahren durfte. Bücher der Aufklärung; Philosophie, Theologie und gelegentlich Abenteuerromane – alles, was seine Fantasie beflügelte. Sie sprachen über Politik und das aktuelle Weltgeschehen. Über Moral und Ethik, über Werte und Religion.

Genevieve war tiefreligiös. Sie besuchte nicht nur wie die ganze Familie der Winslows den sonntäglichen Gottesdienst, sondern auch private Bibelstunden. Dazu engagierte sie sich für diverse soziale Einrichtungen.

Nathaniels Vater war das recht. So hatte er mehr Zeit für seine zahlreichen Affären. Natürlich ging er ausschließlich mit weißen Frauen fremd; mit Niggerweibern, wie er sie nannte, gab er sich nicht ab. Es war ein offenes Geheimnis, dass er die Nachmittage und manchmal auch Nächte woanders verbrachte, wenn er nicht gerade über seine Ländereien ritt oder mit den anderen Plantagenbesitzern die Geschicke der Gegend in die gewünschte Richtung lenkte.

Obwohl das Klima nicht optimal für die Pflanze war und es dadurch immer wieder zu Ernteausfällen kam, war die Baumwolle im Laufe der Jahre zum wichtigsten Exportgut des Südens geworden. Die Besitzer jener Plantagen waren gesellschaftlich dominierend. Besaßen Geld, Macht und Einfluss. Sein Vater war das beste Beispiel dafür.

Mit der Ausbreitung der Sklaverei hatte sich eine neue Elite im Land etabliert – und die Winslows gehörten dazu. Plantagenbesitzer beherrschten die Gesellschaft und Politik. Sie sicherten sich die besten Grundstücke und diktierten die Preise. Und wie das funktionierte, mit welchen Mitteln, ob legal oder nicht, hatte sein Vater ihm, kaum dass er sprechen konnte, versucht einzutrichtern.

Nathaniel zuckte zusammen, als der Stock des Lehrers vor ihm auf dem Tisch landete. „Mit Träumereien kommt man im Leben nicht weiter! Und genau das schreibst du jetzt, Nathaniel! Genau einhundert Mal.“

Nathaniel seufzte und fügte sich.

 

Sommer 2019

 

in paar Tage nach der Hochzeit stand Clifford erneut auf dem Dachboden, nachdem der Schrank fast gänzlich in Vergessenheit geraten war. Aber als Liz ihr Baby in die Wiege gelegt hatte, hatte er sich wieder daran erinnert und die Neugier hatte erneut von ihm Besitz ergriffen. Außerdem hielt er es für eine gute Möglichkeit, sich von seinen derzeit ständig im Kreis drehenden Gedanken abzulenken.

Vor allem von Jayden. Sein neuer Kollege, welcher Wirtschaftspsychologie studiert und vor zwei Monaten angefangen hatte. Dies war seine erste Stelle und Clifford hatte die Aufgabe bekommen, ihn einzuarbeiten – was eigentlich ein Kollege gemacht hätte, der aber krank geworden war. Was bedeutete, dass sie viel Zeit miteinander verbrachten. Clifford nahm ihn mit zu Terminen, zeigte ihm die korrekte Benutzung ihres IT-Systems … Es war seltsam, wenn er so dicht neben ihm saß und ihm der Geruch von Jaydens After Shave in die Nase stieg. Er wurde in Jaydens Nähe leicht nervös; seine Hände schwitzig, sein Mund trocken. Etwas, das ihm bisher noch nie passiert war und das ihn verwirrte. Verunsicherte. Peinlich war. Zuerst hatte er es für etwas Normales gehalten. Nervosität vor einem Neuen. Stress, weil er seine Einarbeitung zusätzlich zu seinem normalen Arbeitspensum auch noch schaffen musste. Doch er hegte den Verdacht, dass es das nicht war, sondern etwas anderes. Etwas, das nicht sein durfte. Nein, er wollte sich damit nicht beschäftigen.

Er öffnete das Fenster und warf einen Blick hinaus. Der Gärtner war dabei, Unkraut zwischen den Blumen zu zupfen. Zwei Schwäne schwammen majestätisch auf dem Teich. Der Himmel war, bis auf ein paar Schönwetterwolken, strahlend blau. Es war idyllisch. Nur zögernd riss er sich von diesem Anblick los.

Irgendwo hier musste doch dieser Schlüssel sein.

Obwohl er sich dabei schmutzig machte, suchte er in jeder Ecke und in jedem Winkel, rutschte auf Knien umher, um unter Regale und ausrangierten Sesseln zu schauen.

Vergebens.

Auch nicht auf dem Schrank oder an die Rückwand oder unter den Boden geklebt.

Seltsam.

Entweder war der Schlüssel verloren gegangen – oder jemand bewahrte ihn sorgfältig auf. Was noch merkwürdiger gewesen wäre. Schließlich besaßen sie einen großen Tresor, der im Büro seines Vaters stand, sowie mehrere Schließfächer bei diversen Banken. Und da lag definitiv kein herrenloser Schlüssel herum. Er kannte schließlich die Inhalte.

Blieben also nur zwei Möglichkeiten: Entweder fragte er seine Eltern, ob sie wussten, wo sich der Schlüssel befand, oder er brach den Schrank einfach auf. Nein, halt, da gab es ja noch eine dritte Möglichkeit. Er konnte die Sache einfach auf sich beruhen lassen. Grübelnd schürzte er die Lippen. Eine Unart, für die ihn seine Mutter ständig rügte. Unfeines Benehmen, seiner, eines Winslows, unwürdig. Ja, ja.

„Benötigen Sie Hilfe, Sir?“

Clifford verdrehte genervt die Augen. Er konnte keine drei Schritte gehen, ohne dass der dienstbeflissene John ihm auf den Fersen war. Er war der gute Geist dieses Hauses und seit über zwanzig Jahren für die Familie tätig. Er war treu ergeben und eine Vorzeigeobjekt eines Butlers. Stets korrekt gekleidet und seinen Dienstherren im besten Fall einen Schritt voraus, allzeit bereit, diskret, höflich, hundertprozentig loyal; mit einem tadellosen Ruf und makellosen Zeugnissen. Ein Butler alter Schule, der sich jedoch hervorragend mit der modernen Technik auskannte. Er verwaltete den Weinkeller sowie die Speisekammer, servierte das Essen, empfing Gäste und organisierte den Tagesablauf der anderen Angestellten wie auch Feste und Empfänge, Reisen und Veranstaltungen. Ihm half Madison, die Haushälterin.

Jetzt stand er in seinem schwarzen Anzug mit behandschuhten Händen neben ihm und wirkte so fehl am Platz wie ein Eiswürfel im Fegefeuer.

„Wie oft habe ich schon gesagt, dass ich nicht Sir genannt werden möchte?“

„Sehr oft, Sir … Mr. Winslow!“

„Haben wir eine Brechstange?“

„Eine bitte was, Mr. Winslow?“ Seine buschigen Augenbrauen wanderten in die Höhe.

„Eine Brechstange!“

„Ich werde eine besorgen.“

„Vielen Dank!“

„Jetzt, Mr. Winslow?“

Clifford holte tief Luft. „Wenn es im Bereich des Möglichen liegt …“

„Ich werde mein Bestes tun – Sir. Mr. Winslow!“

Es dauerte nur ein paar Minuten, bis er wieder da war. Skeptisch sah er sich auf dem Dachboden um. „Darf ich mir erlauben zu fragen, was Sie damit vorhaben, Mr. Winslow?“

„Den Schrank aufzubrechen.“

„Oh!“

Clifford setzte die Brechstange an. Der Schrank war zwar massiv, sah jetzt aber nicht wirklich wertvoll aus.

Es krachte, splitterte, staubte. Der Butler trat einen Schritt zurück.

Clifford zögerte. Für einen winzigen Augenblick, für den Hauch einer Sekunde, erwartete er, wie in einem schlechten Kinofilm, darin ein Skelett zu finden.

Doch alles, was er entdeckte, waren drei Kleider, die an einer Stange hingen. Sie waren anscheinend sehr alt und mottenzerfressen, aber, soweit er es noch erkennen konnte, aufwendig gearbeitet. Eines davon schien einmal ein Brautkleid gewesen zu sein.

„Ich denke, wir können dieses Ungetüm entsorgen, John!“

„Wie Sie wünschen. Wenn Sie erlauben, würde ich mich dann wieder zurückziehen und alles Entsprechende organisieren.“

„Natürlich!“

Nachdem John gegangen war, kniete Clifford sich hin. Auf dem Boden des Schrankes war noch etwas. Er zog es hervor.

Eine Hutschachtel. Er öffnete sie. Lachte auf. Ein schlichter Damenhut. Natürlich. Was sonst?

Doch als er ihn aus reinem Interesse hochnahm, kam zu seiner Verwunderung noch etwas zum Vorschein. Darunter versteckt lag ein Buch. Auf dem schwarzen Einband befand sich ein goldenes Kreuz. Eine Bibel. Der Rücken war verkohlt; als hätte man sie in ein Feuer geworfen oder fallen lassen und wieder herausgeholt.

Er nahm sie und schlug sie auf. Ein Foto fiel ihm entgegen. Es zeigte einen Jungen vor dem Anwesen; vierzehn, vielleicht fünfzehn Jahre alt. Clifford blinzelte. Von den Gesichtszügen her war dieser Bursche eindeutig ein Winslow. Aber er hatte ihn noch nie gesehen. Und dabei kannte er seinen Stammbaum in- und auswendig.

Er drehte das Foto um, doch zu seiner Enttäuschung stand dort nichts. Kein Name. Kein Datum.

Enttäuscht schlug er die Bibel auf.

---ENDE DER LESEPROBE---